Programmheft »Manon Lescaut«

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MANON LESCAUT Giacomo Puccini


INHALT

Die Handlung

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Synopsis in English

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Über dieses Programmbuch

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Der Mythos von Manon → Ian Burton

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Das Manon-Syndrom → Interview mit Robert Carsen

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Tränenreicher Libertinismus → Thomas Stauder

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Die Metamorphose der Manon → Nobert Abels

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» Protagonista non è Manon, ma la passione di Des Grieux « → Josef-Horst Lederer

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Ein Textbuch von allen und von keinem → Roberto Scoccimarro

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Die Musik von Manon Lescaut → Dieter Schickling

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Ein italienischer Tristan → Christian Springer

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Der Weg der unheilvollen Begabungen → Rotraud A. Perner

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Korngolds Fehlurteil → Andreas Láng

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KOLUMN EN T IT EL

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Le mie colpe travolgerà l’oblio ma l’amor mio non muor! Meine Schuld wird das Vergessen hinwegfegen, aber meine Liebe stirbt nicht! Manon Lescaut, 4. Akt

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KOLUMN EN T IT EL


MANON LESCAUT → Dramma lirico in vier Akten Musik Giacomo Puccini Text nach Abbé Prévost

Orchesterbesetzung 3 Flöten (3. auch Piccolo), 2 Oboen, Englischhorn, 2 Klarinetten, Bassklarinette, 2 Fagotte, 4 Hörner, 3 Trompeten, 3 Posaunen, Basstuba, Pauken, Schlagwerk, Celesta, Harfe, Violine I, Violine II, Viola, Violoncello, Kontrabass Bühnenmusik Flöte, Kornett, Schellen, Glocke in g, Trommel Spieldauer 2 Stunden 45 Minuten (inkl. einer Pause) Autograf Verlagsarchiv Ricordi Mailand Uraufführung 1. Februar 1893, Teatro Regio, Turin Erstaufführung an der Wiener Staatsoper 15. Oktober 1923




DIE HANDLUNG

Manon, ein schönes junges Mädchen aus der Provinz, soll von ihrem Bruder Lescaut in ein Kloster gebracht werden. Der Student Des Grieux verliebt sich auf den ersten Blick in sie. Geronte, ein reicher alter Mann ist ebenfalls von Manon beeindruckt und plant sie zu entführen. Des Grieux wird von seinem Freund Edmondo über die Absichten Gerontes informiert. Nachdem Des Grieux Manon seine Liebe gestanden hat, fliehen sie gemeinsam. Lescaut versichert Geronte, dass Manon das Leben in Armut bald satt haben und sich freiwillig Geronte und seinem Wohlstand zuwenden werde. Lescauts Prophezeiung hat sich bewahrheitet: Manon hat Des Grieux verlassen, um an der Seite Gerontes ein Leben in Reichtum zu führen. Allerdings gesteht sie ihrem Bruder Lescaut, dass der neu gefundene Wohlstand Des Grieux’ Jugend und Liebe nicht aufwiegen könne. Geronte protzt vor seinen Freunden mit Manon. Manon wird von Des Grieux überrascht. Er macht ihr bittere Vorwürfe. Als sie um Vergebung fleht, verfällt er wieder ihrem Bann. Kaum ist das leidenschaftliche Liebespaar wieder vereint, kehrt Geronte zurück. Manon verlacht Geronte, der sich daraufhin – Rache schwörend – entfernt. Lescaut erscheint und warnt die beiden, dass Geronte Manon einkerkern lassen will. In ihrem verzweifelten Versuch, möglichst viele Juwelen, Kleider und Geld auf die Flucht mitzunehmen, verliert Manon zuviel Zeit: Geronte erscheint und lässt sie festnehmen. Des Grieux’ und Lescauts Plan, Manon zu befreien, misslingt. Manon erlebt die öffentliche Demütigung und Schande: Sie soll deportiert werden. Der von ihr besessene Des Grieux erwirkt, dass er sie begleiten darf. Des Grieux und die sterbende Manon befinden sich in einer Einöde. Des Grieux begibt sich auf Manons Wunsch auf die Suche nach Wasser. Allein gelassen, lässt sie ihr Leben Revue passieren und erkennt ihre Fehler. Als Des Grieux zurückkehrt, gesteht sie ihm ihre Liebe und stirbt in seinen Armen. DIE H A N DLU NG

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Giacomo Puccini

» Und der liebe Gott berührte mich mit dem kleinen Finger und sagte: › Schreib für das Theater; merke es dir gut: nur für das Theater ‹ – und ich habe den höchsten Rat befolgt. «

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SYNOPSIS

Manon Lescaut, a beautiful young girl from the provinces, is being taken to a convent by her brother Lescaut. Des Grieux, a student, falls in love with her at first sight. Geronte, a rich old man, is also attracted by Manon and plans to abduct her. Des Grieux is warned of Geronte’s plot by his friend Edmondo. Des Grieux confesses to Manon that he is in love with her and the young couple run off together. Lescaut assures Geronte that Manon will soon tire of a life of poverty with Des Grieux: it will not be long before she turns to Geronte and his wealth. Lescaut’s plan has been successful: Manon has left Des Grieux in favour of a life of luxury with Geronte. She admits to her brother that in spite of her newfound wealth, she misses Des Grieux. Geronte shows off Manon to some of his friends. Left alone, Manon is startled when Des Grieux suddenly appears. He reproaches her bitterly for having deserted him. She begs his forgiveness and he falls under her spell again. The two lovers are reunited passionately when Geronte suddenly returns. Manon laughs at him and he leaves, threatening revenge. Des Grieux urges Manon to escape immediately, but she is reluctant to abandon the luxuries of her new life. Lescaut suddenly appears and informs them that Geronte intends to have Manon imprisoned. Manon frantically attempts to gather up jewelry, money and clothes, but she takes too long: Geronte returns and has her arrested. Des Grieux and Lescaut are planning to rescue Manon, but their plan fails. Manon’s humiliation and disgrace are made public: she is to be deported. Des Grieux remains obsessed by her and begs to be allowed to go with her. ← Sorin Coliban als Geronte und Olga Guryakova als Manon Lescaut, 2010

Manon is dying in the desert. She begs Des Grieux to try and find some water. Left alone, she reviews her life, acknowledging the mistakes she has made. When Des Grieux returns, she finally tells him that she loves him before dying in his arms.

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SY NOPSIS


ÜBER DIESES PROGRAMMBUCH Spätestens ab der triumphalen Uraufführung seiner Manon Lescaut am 1. Februar 1893 galt Giacomo Puccini als legitimer Nachfolger Giuseppe Verdis. Dem Erfolg war eine langwierige Arbeit an dieser Oper vorausgegangen, bei der Puccini zahlreiche Textdichter beschäftigte und intensiv um die Form des Werkes rang. Der Musikwissenschaftler Roberto Scoccimarro eröffnet ab S. 48 einen präzisen Einblick in die Werkstätte Puccinis und zeichnet die komplexe Entstehungsgeschichte der Oper und vor allem ihrer dramaturgischen und textlichen Grundlagen nach, die im Schaffensprozess Puccinis stets einen entscheidenden Stellenwert besaßen. Der rasch für Furore sorgenden Oper liegt ein 1731 erstmals unter dem Titel Erinnerungen und Abenteuer eines Mannes von Stand, der sich aus der Welt zurückgezogen hat erschienener, kulturgeschichtlich ungemein wirkungsträchtiger Kurzroman von AntoineFrançois Prévost zugrunde. Thomas Stauder folgt biografischen Linien des Autors und beleuchtet Handlung wie Rezeption dieses erfolgreichen Buches ab Seite 24. Der Roman des Abbé Prévost beschäftigte neben Puccini auch zahlreiche andere Künstlerinnen und Künstler verschiedenster Disziplinen, wie Norbert Abels ab S. 30 in einem Beitrag über die Bearbeitungen des Manon-Stoffes ausführt. Regisseur Robert Carsen gibt ab S. 16 in einem Gespräch Einblick in sein – die Handlung in eine Wolkenkratzer- und Shopping Mall-Umgebung verlegendes – Regiekonzept, das die Zeitlosigkeit und Allgemeingültigkeit fataler Verführungs-Mechanismen von Statussymbolen und Scheinwerferlicht reflektiert. Josef-Horst Lederer und Dieter Schickling heben Aspekte von Puccinis Musiksprache in der Manon hervor (S. 38 bzw. 58), Ian Burton verortet die Oper im europäischen, kulturellen Zeitgeist des späten 19. Jahrhunderts (ab Seite 10), Christian Springer setzt sich ab S. 66 mit der Charakterzeichnung des Des Grieuxʼ auseinander. Ergänzend durchleuchtet Rotraud A. Perner ab S. 74 die Figuren, ihr Handeln und Umfeld aus psychoanalytischer Sicht. Warum die Wiener Staatsoper in puncto Manon Lescaut-Rezeption anfangs ein wenig zögerlich war, das Werk sich aber dennoch sehr bald als Erfolgsstück etablierte, beschreibt zuletzt Andreas Láng in seiner Skizze ihrer Aufführungsgeschichte im Haus am Ring (Seite 82). Ü BER DIE SE S PROGR A M MBUCH

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Giacomo Puccini

» Ich liebe die kleinen Dinge, und ich kann und will nur die Musik der kleinen Dinge machen, wenn sie wahr, leidenschaftlich und menschlich sind und zu Herzen gehen.«

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KOLUMN EN T IT EL


Ian Burton

DER MYTHOS VON MANON

Puccinis Manon Lescaut (1893) ist ein Werk, das für die Zeit, ja sogar für das Jahr, in dem es verfasst wurde, typisch ist. Der europäische Zeitgeist, der im Theater herrschte, hatte den Naturalismus der Jahre 1870 und 1880 verabschiedet. Der neue Stil war der symbolische Realismus, sehr charakteristisch für die Werke, die Ibsen in der Mitte und am Ende seiner Karriere schrieb, und auch für die Stücke von Strindberg und Tschechow. Das Rokoko war wieder in Mode. Aubrey Beardsley illustrierte Popes The Rape of the Lock und Congreve’s Way of the World; Oscar Wilde schrieb die Sozialsatiren der Restaurationszeit neu; art nouveau-Maler und -Architekten griffen zurück auf die Zeit Ludwig XV. und ließen sich von seinem Luxus inspirieren; Mozart war nach einem Jahrhundert der Vernachlässigung wieder beliebt. Die psychologischen Subtilitäten der französischen Romane aus dem achtzehnten Jahrhundert – von Diderot, Rousseau, Prévost, und vor allem von Chloderlos de Laclos – standen wieder hoch im Kurs. I A N BU RTON

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Es war kein Zufall, dass man der Welt des Rokoko mit ihren zahlreichen, sich widerspiegelnden Facetten eine derart große Bewunderung entgegenbrachte. Diese Welt bot den Künstlern und Autoren der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts eine Zufluchtsstätte, in der sie dem überwiegend naturalistischen Geist, der in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts herrschte, den Rücken zukehren konnten. Am Rande eines katastrophalen gesellschaftlichen Umsturzes balancierend, flüchteten sie in die glitzernde, mythische Welt von Reinheit und Unsittlichkeit, Verlangen und Leidenschaft. Prévosts Roman war am Ende des achtzehnten Jahrhunderts äußerst populär; diese Popularität hielt während des gesamten neunzehnten Jahrhunderts, ja sogar bis in den Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts an. Hunderte illustrierte Ausgaben der Erzählung, Opern- und Bühnenversionen, sowie später Filme sorgten dafür, dass das tragische Thema der unmoralischen Glückssucherin und des sie verehrenden Chevalier sich einen Platz zwischen den volkstümlichen Traditionen und Mythen eroberte. Die höchste Krönung war sicherlich die Tatsache, dass man ihren Namen für die herrlichste aller mit Obers gefüllten Süßigkeiten verwendete – für die belgische »Manon«-Praline! Zolas Thérèse, Ibsens Puppenhaus und Strindbergs Fräulein Julie werden allgemein als die Meisterwerke des naturalistischen Dramas betrachtet. Werden sie in die Sprache der Oper übersetzt, so erhalten wir das verismo von Charpentiers Louise, Mascagnis Cavalleria rusticana und Leoncavallos Pagliacci. Aber sogar sogenannte naturalistische oder Verismo-Werke verwenden ausgiebig Elemente, die normalerweise nicht zum Bereich des Naturalismus gehören. Diese Elemente sind der Symbolismus, die poetische Metapher und Anspielung, die Berufung auf das Transzendente, das Übernatürliche und die Welt der Träume und Mythen. Die 90er Jahre des 19. Jahrhunderts, in denen Puccini seine ersten Meisterwerke schrieb, wurden ebenfalls durch die Wiederentdeckung und Vertiefung der Quellen der Mythen und Religionen gekennzeichnet. Nietzsches frühe Kritik an Wagner, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, greift auf alt-griechische Mythen und Theorien zurück; Sir James Frazers The Golden Bough verschafft Zutritt zu den Weltmythologien, von der entferntesten Vergangenheit bis heute. Die sogenannte Décadence der europäischen Literatur und Kultur bietet zahllose Beispiele von Dichtern und Komponisten, die in ihren Werken mythische Archetypen verwendeten. Einige dieser Archetypen waren die Allumeuse, wie Carmen, der Androgyne, wie Dorian Gray, und die kühlen und perversen Mägde, die Maeterlinck, Barbey d’Aurevilly und Wilde auf die Bühne brachten, und für die Salomé ein Beispiel ist. Von Manon Lescaut bis Turandot machte Puccini ausgiebig und auf mehrere Arten von diesen archetypischen Figuren Gebrauch, während seine leidenschaftliche musikalische Lyrik den Stereotypen innerliche Emotionen einhauchte. 11

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Es war ebenfalls in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts, dass Carl Jung seine Theorie der Archetypen vorstellte. Hiermit baute er weiter auf der Studie des verborgenen psychologischen Lebens auf, die Freud vor ihm durchgeführt hatte. In The Romantic Agony beschreibt Mario Praz die wichtigsten Archetypen sowie die Reichweite und Verschiedenartigkeit ihrer Anwendung in der Literatur, den Theaterstücken und Opern dieser Periode. Puccinis Verwendung des »Mythos von Manon«, der perversen und habgierigen, koketten Frau, einer Mischung aus sorglosem jungen Mädchen und weltkluger Aventurière, und die Betonung, die er in einer Aufeinanderfolge von vier entscheidenden Momenten eher auf die mythische Darstellung der Geschichte als auf einen naturalistisch dargestellten, sich allmählich entfaltenden Bericht legt, wie Massenet dies tat, ist angesichts der Probleme, die das Zustandekommen des endgültigen Librettos umgaben, eine bemerkenswerte Leistung. Die Verwirrung, die mit dem Entstehen dieses Librettos einherging – es haben daran nicht weniger als sieben Personen gearbeitet, darunter Puccini und Ricordi selbst – ist wahrscheinlich auf die Tatsache zurückzuführen, dass Puccini hier nicht zum ersten Mal eine aktive und kreative Rolle bei der Gestaltung sowohl der dramaturgischen als auch der musikalischen Elemente der Oper spielen wollte. Er brachte die verschiedenen Teile ständig durcheinander und wies wiederholt die Arbeiten eines Verfassers zurück, um sie durch die eines anderen zu ersetzen. Er betrachtete das Ganze aus einer immer wechselnden Perspektive, wie ein Maler, der sein Gemälde immer wieder stehen lässt, um danach wieder dorthin zurückzukehren. Was Puccini in jedem Fall betonen wollte, war die zeitlose und mythische Seite der Erzählung. In einem Brief, den er im September 1890 an Ricordi schrieb, spricht er vom »mythischen Einzug des Géronte«, einem der Elemente, die er vor der Bearbeitung des Librettos durch Oliva sicherstellen will. Im endgültigen Libretto entspricht dies klar der Entführung von Proserpina durch Pluto, einer ironischen, von Edmondo gesungenen Fußnote. Vecchietto amabile, incipriato Pluton, sei tu! La tua Proserpina di resisterti forse avra virtu? So wird Manon nicht nur mit Persephone, der Göttin des Frühlings, verglichen – während Geronte der Gott des Todes ist –, sondern später auch noch mit der Göttin der Liebe selbst, Venus, Ciprigna. Dieser Vergleich wird von den Gästen des Geronte angestellt, den sie schmeichelnd besingen. Nun ist Geronte Merkur geworden, ebenfalls ein Gott, der mit dem Tod in Zusammenhang gebracht wird.

I A N BU RTON

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Evviva i fortunati inammorati! Ve’ Mercurio e Ciprigna! Con amore e dovizia Oh! qui letizia Con amore e dovizia leggiadramente alligna! Diese Hinweise auf die griechischen und römischen Mythen sind durchgehend im ganzen Text zu finden, und helfen oft, eine ironische Rokoko-Atmosphäre zu schaffen. Die Summe all dieser Hinweise sorgt dafür, dass vor allem Manon zusätzlich Glanz und Bezauberung erhält, was den Kontrast zu ihrer Erniedrigung am Ende ihres Lebens noch verstärkt.

DER MY T HOS VON M A NON


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DAS MANONSYNDROM Robert Carsen, der Regisseur der Manon Lescaut-Produktion, im Gespräch mit Peter Blaha

Prévosts Roman Manon Lescaut hat nicht nur Puccini, sondern auch Auber, Massenet und Henze zu Opern inspiriert. Was macht diesen Stoff für die Oper so interessant? Manon Lescaut ist ein faszinierender Archetyp, der uns auch in anderen bekannten Figuren begegnet, etwa in Pandora, Semele oder Lulu. Er erzählt uns viel über menschliche Schwächen und Leidenschaften. Manon ist ein junges Mädchen, das alles haben möchte und dadurch schuldig wird. Aber in diesem Schuldigsein ist doch auch sehr viel Unschuld ROBERT CARSEN

ROBERT CA RSEN U N D PET ER BLA H A IM GE SPR ÄCH

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enthalten. Manon ist jung und schön, alle begehren sie, und daher glaubt sie, alle Türen würden ihr offen stehen. Was sie aber lange nicht begreift, ist, was sie ihren Mitmenschen antut. Auch wir leben in einer Zeit, in der jeder alles haben will. Wir sind gezwungen, jung und schön auszusehen, und man versucht uns weiszumachen, dass wir durch den Besitz von Gütern, die als Statussymbole dienen, noch glücklicher werden könnten. Man könnte dies das Manon-Syndrom nennen. Doch bedeutet dieses Manon-Syndrom keineswegs, dass wir nicht mehr liebesfähig wären. Gerade das hat Puccini so wunderbar beschrieben. Manon giert zwar nach Luxus, aber sie ist kein Ungeheuer. Sie kann immer noch lieben. Auch wird sie von ihrer Umgebung ja geradezu dazu verleitet, ihre Hände nach dem Luxus auszustrecken. Sie wird rasch zu einer Berühmtheit, was durchaus Parallelen zur Gegenwart hat. In unserer oberflächlichen »Seitenblicke-Gesellschaft« werden immer wieder Menschen aus dem Nichts heraus zum Star und verlieren, kaum dass sie sich dessen versehen, auch wieder alles. Dass Manon erst am Schluss begreift, wohin ihr Leben sie getrieben hat, dass sie niemals lernte, die Liebe als das höchste Gut zu achten, das ist die Tragik ihrer Geschichte. Spricht uns Manon Lescaut heute auch deswegen so besonders an, weil wir in einer Zeit des Materialsmus leben, in der – als Kehrseite der Medaille – die Sehnsucht nach Spiritualität besonders groß ist? Sicher, obwohl man schon dazu sagen muss, dass sich viele Leute, die vorgeben, sich für geistige Werte einzusetzen, von handfesten materielle Interessen getrieben werden. Ich glaube, Manon Lescaut macht uns auf einen anderen Gegensatz aufmerksam, den von Geld und Liebe. Mit Geld lässt sich vieles kaufen, daher ist es für viele Menschen auch so faszinierend. Bei der Liebe jedoch ist man auf sich selbst zurückgeworfen, Liebe lässt sich nicht kaufen. Manon ist von unbeschreiblicher Schönheit. Doch sie hat nicht genug Selbstwertgefühl, so dass sie glaubt, all den Luxus, die teuren Kleider und Schuhe, den Schmuck und das Parfum zu brauchen, um in den Augen ihrer Mitmenschen wertvoll zu sein. Echte Liebe aber fragt nicht nach solch äußerlichen Dingen, sie ist das genaue Gegenteil davon. Sie fragt nicht danach, was ich will, sondern was der geliebte Mensch will. Manon aber ist so mit sich selbst beschäftigt, dass sie Des Grieux vergisst. Freilich ist ein solches Verhalten nur allzu menschlich. Man wird nur selten auf wirklich selbstlose Liebe stoßen. Manon Lescaut ist für mich ein sehr modernes Stück, nicht zuletzt seiner dramaturgischen Anlage wegen. CARSEN

Weil es die Handlung nicht lückenlos erzählt, sondern in den vier Akten einzelne Stationen, einzelne Bilder aus dem Leben Manon Lescauts herausgreift? 17

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Genau aus diesem Grund. In den vier Akten sehen wir Manon, wie sie zunächst war, dann, was aus ihr geworden ist, weiters, was man ihr antut und zuletzt, wie sie stirbt. Man hat das Stück oft seiner Brüche und Sprünge wegen kritisiert. Ich liebe es genau aus diesem Grund, genau darin liegt nämlich seine Stärke. Denn Puccini ist dadurch gezwungen, die einzelnen Bilder sehr stark zu verdichten, was wiederum dazu führt, dass er auf knappem Raum sehr viel erzählt. Er wiederholt sich nicht. Er ist eben ein echter Theaterkomponist, er denkt immer an die Bühne. CARSEN

Sie haben Manon Lescaut schon einmal, im Rahmen Ihres PucciniZyklus in Antwerpen, inszeniert. Wodurch unterscheidet sich Ihr neuerlicher Zugang von damals? Als ich Manon Lescaut in Antwerpen inszenierte, orientiere ich mich mehr an der Atmosphäre des 18. Jahrhunderts, in dem Prévosts Roman nicht nur entstanden ist, sondern in dem er auch spielt. Diesmal habe ich mich entschlossen, die Handlung in die Gegenwart zu versetzen, was einen großen Unterschied ausmacht. Natürlich lese ich Manon Lescaut nicht gänzlich neu, aber in der Wiederbeschäftigung mit dem Stück sind mir doch auch andere Dinge stärker aufgefallen als früher, haben sich manche Akzente verschoben. Problematisch ist das Libretto, weil so viele Autoren daran beteiligt waren. Sieben Männer haben sich damit herumgeschlagen, so dass es schwierig war, eine einheitliche Linie hineinzubringen und das Ganze zu fokussieren. Vor allem der erste Akt hat Mängel. Er ist wie ein Filmscript geschrieben, in dem sich Close ups und Totale ständig abwechseln. Dieser Akt setzt sich aus unglaublich vielen Einzelheiten zusammen. Die große Schar der Autoren ist sicher der Grund, warum der Verleger Ricordi die Namen der Librettisten in der Partitur und im Klavierauszug verschwiegen hat. Das war völlig ungewöhnlich. CARSEN

Trotzdem gelingt es Puccini, die disparaten Einzelszenen durch bestimmte musikalische Motive zu verklammern, ja geradezu einen großen Bogen zu spannen. Keine Frage, musikalisch ist die gesamte Oper ein großer Wurf. Es findet sich kein Takt, der uninspiriert wäre. Schon dieser relativ junge Komponist, der Puccini zur Entstehungszeit der Manon Lescaut noch war, verfügte über große Meisterschaft und einen unverwechselbaren Stil. Seine Musik ist »sexy«, voll von Erotik und Leidenschaften und setzt mit voller Absicht auf starke Kontraste zwischen tief empfundener Emotionalität und oberflächlichem Glamour. CARSEN

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Kritik wurde auch am vierten Akt geübt, der eigentlich ein einziges großes Duett zwischen Manon und Des Grieux ist, in das die Arie der sterbenden Manon eingebettet ist. Er wurde meistens stark gekürzt, erst Toscanini hat sich für die ungekürzte Version stark gemacht. Laut Libretto spielt dieser Akt in einer Wüste nahe New Orleans. Aber eigentlich hat man das Gefühl, auf die reale Umgebung komme es gar nicht mehr an. Manon und Des Grieux stehen hier fast schon außerhalb von Zeit und Raum. Manon Lescaut ist ein moralisches Lehrstück, zwar nicht im Sinne Brechts, aber doch in der Art, wie viele Stücke, Romane oder auch Bilder des 18. Jahrhunderts moralisch wirken wollten. Denken wir etwa an Henry Fieldings Tom Jones oder seinen Joseph Andrews, an Samuel Richardsons Pamela, an Daniel Defoes Moll Flanders, an Voltaires Candide, oder, im Bereich der zeichnerischen Satire, an William Hogarth, dessen Bilder Vorbild von Igor Strawinskis The Rake’s Progress sind. In dieser Tradition steht auch Prévosts Roman, was bedeutet, dass eine gewisse Distanz erforderlich ist – auch das nicht im Sinne Brechts, der auf Brechungen setzte, aber doch so, dass man sich nicht sklavisch einem naturgetreuen Realismus unterwerfen sollte. Würde man einen solchen zum Maßstab machen, dann wäre das Stück voller Fehler, zum Beispiel: Um New Orleans herum gibt es keine Wüste, wie uns das Textbuch weismachen möchte, nur Sümpfe. Wichtiger als die äußere Geographie ist es, die inneren Stationen von Manons Reise zu zeigen. Sie ist ein Mädchen vom Lande, das es in eine Großstadt verschlägt. Diese ist reich an Verführungen, denen sie nicht widerstehen kann. Im zweiten Akt sehen wir sie im Besitz all der verführerischen Dinge, die sie haben wollte. Im dritten Akt wird sie gedemütigt, und zwar durch die Öffentlichkeit. Das ist eine unglaubliche Szene. Puccini hat es großartig verstanden, gewisse Formen des Sadomasochismus in Musik zu setzen. In Turandot wird Liù gepeinigt, Scarpia lässt Cavaradossi physisch quälen und quält Tosca psychisch, ähnliche Stellen finden sich auch in La fanciulla del West. In Manon Lescaut wird Manon gedemütigt, und auch Des Grieux’ Haltung ist von Masochismus nicht ganz frei. Im vierten Akt verstehe ich diese Wüste als Symbol, als ein Sinnbild dafür, wohin Manons missglücktes Leben sie gebracht hat. Jetzt erst begreift sie, was sie Des Grieux angetan hat, was ihre Verantwortung, ihr Anteil an der Schuld an all dem ist. CARSEN

Von Ihrem Puccini-Zyklus in Antwerpen war bereits die Rede. Wenn man sich in so einem Zyklus auf das Werk eines Komponisten konzentriert, welche Einblicke, welche Erfahrungen konnten Sie da machen?

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Puccini war kein Komponist, den ich von Anfang an zu meinen Favoriten gezählt hätte. Dann aber entdeckte ich seine musikalischen und dramaturgischen Qualitäten und musste mir eingestehen, dass er viel moderner ist, als ich ursprünglich gedacht hatte. Natürlich wurzelt er in der italienischen Tradition seiner Zeit, doch blickt er stets nach vorne. Man kann das auch an Manon Lescaut hören, seiner dritten Oper, aber seiner ersten, in dem seine musikalische Handschrift voll ausgeprägt ist. Was sich als roter Faden durch sein gesamtes Schaffen zieht, ist seine Vorliebe für starke Frauen. Ich dachte zunächst, Puccinis Figuren seien alle nur Opfer. Zum Teil sind sie das natürlich auch, aber trotzdem sind sie stark und wissen genau, was sie wollen. Mimì in La bohème zum Beispiel ergreift die Initiative: Sie klopft an Rodolfos Tür und knüpft den Kontakt. Und sie bekommt, was sie sich wünscht. Oder Cio-Cio-San in Madama Butterfly: Sie setzt sich über die starren Regeln der traditionellen japanischen Gesellschaft hinweg und geht die Ehe mit Pinkerton ein, an dessen Untreue sie letzen Endes zerbrechen wird. In dieser Linie muss man auch Manon Lescaut sehen: Auch sie bekommt, wonach sie verlangt. Es sind starke, unabhängige Frauen. Puccini war es, der diesen starken, unabhängigen Frauen auf der Opernbühne zum Durchbruch verhalf, genau zu jener Zeit, als die Frauen Europas für ihre Rechte und ihre Gleichberechtigung den Kampf aufnahmen. CARSEN

Sie haben nicht nur einen Puccini-Zyklus, sondern auch einen Janáček-Zyklus und einen Verdi-Shakespeare-Zyklus inszeniert. Warum diese Vorliebe für Zyklen? Ich schätze es, wenn man in der gemeinsamen Arbeit mit Kollegen näher zusammenkommt, und dafür sind Zyklen eine gute Voraussetzungen. Und natürlich bekommt man ein besseres Gespür für einen Komponisten, wenn man sich mit mehreren seiner Werke auseinandersetzt. Als wir den Puccini-Zyklus machten, waren wir nicht darauf aus, die Vielfalt seiner Werke auf einige wenige Parallelen oder Gemeinsamkeiten zu reduzieren, sondern ließen uns umgekehrt von dieser Vielfalt, diesem Reichtum an Ausdrucksmitteln, überraschen. In dem Dirigenten Silvio Varviso hatte ich dafür einen wunderbaren Partner, so wie jetzt mit Seiji Ozawa, der unsere Bohème aus Antwerpen nach Tokio zum Youth Opera Festival brachte. CARSEN

Überblickt man Ihre bisherigen Inszenierungen, so fällt auf, dass Sie nicht zu jenen Regisseuren zählen, die einen Personalstil über alle Stücke, egal welcher Provenienz, stülpen, sondern immer das jeweilige Werk und dessen Besonderheiten als Ausgangspunkt Ihrer Regie wählen. Stimmt dieser Eindruck?

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Dieser Eindruck ist das größte Kompliment, das man mir machen kann. Genau das versuche ich zu tun. Ich bin ein Geschichtenerzähler, aber ich erzähle nicht meine Geschichten, sondern jene, die von Librettisten erdacht und von Komponisten in Musik gesetzt wurden. Ich versuche, mich in eine Geschichte zu versenken und mir zwei Fragen zu beantworten: Erstens, warum hat der Komponist genau diese Geschichte gewählt, warum wollte er uns genau diese Geschichte erzählen? Ich möchte wissen, was war das Neue, das Überraschende, vielleicht auch das Schockierende, als diese Oper ihre Uraufführung erlebte. Man darf nämlich nicht vergessen, dass jeder bedeutende Komponist Neues im Sinn hatte, Visionen hatte, die seiner Zeit voraus gewesen sind und diese Visionen eben mit Hilfe dieser Geschichte, sie mag alt und wohlbekannt, oder aber selbst auch völlig neu gewesen sein, zum Ausdruck bringen wollte. Und zweitens frage ich mich, was uns diese Geschichte heute bedeutet, welche Relevanz sie für Menschen von heute hat. Wäre ich der Ansicht, die Geschichte ginge uns heute nichts mehr an, sie wäre also bestenfalls von historischem Interesse, dann würde ich die Finger davon lassen. CARSEN

Das Interview fand 2005 anlässlich der Neuproduktion statt.

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Abbé Prévost

» Manon war ein Geschöpf von merkwürdigem Charakter. Nie hing ein Mädchen weniger am Geld als sie, aber wenn die Angst sie befiel, es könnte ihr daran fehlen, war sie ruhelos wie ein gehetztes Wild. Vergnügen und Zeitvertreib, das war es, was sie brauchte. Wäre es ohne


Geld zu haben gewesen, sie hätte nie einen Sou angerührt. Obwohl sie auch zärtlich liebte und ich, wie sie zugab, der einzige war, bei dem sie die Wonnen der Liebe voll empfand, war ich doch so gut wie sicher, dass ihre Zärtlichkeit jenen Angstgefühlen gegenüber nicht standhalten würde. «


Thomas Stauder

TRÄNENREICHER LIBERTINISMUS

Die Manon Lescaut des Abbé Prévost


Das abenteuerliche Leben des Verfassers Antoine-François Prévost – den Beinamen des Abbé, unter dem er in die Literaturgeschichte einging, erhielt er erst später mit den geistlichen Weihen – wurde 1697 (also noch zu Lebzeiten des Sonnenkönigs Louis XIV) in Hesdin in der nordfranzösischen Artois-Region geboren; er entstammte einer wohlhabenden Bürgerfamilie (sein Vater war Staatsanwalt und stieg in den Amtsadel auf ). Ab 1711 von den Jesuiten erzogen, flüchtete er von diesen bereits 1712 erstmals zur Armee, zunächst noch als einfacher Soldat, um dann nach weiteren Jahren kirchlich geprägter Studien 1718/19 als Offizier gegen Spanien zu kämpfen; 1720 wird er zum Benediktinermönch und 1726 schließlich sogar zum Priester. Dieses Hin und Her zwischen weltlichem und geistlichem Stand teilt Prévost mit dem Chevalier Des Grieux, der männlichen Hauptfigur seines Romans Manon Lescaut; dieser gehört zunächst den Malteserrittern an, bevor er sich dann für das Studium der Theologie entscheidet. Wie Des Grieux zerstritt sich Prévost bereits in jungen Jahren – im Jahre 1720 – wegen einer von diesem nicht erwünschten Liebschaft mit seinem Vater; wie Des Grieux – der mit Manon nach Amerika geht – verließ Prévost 1728 seine französische Heimat für ein mehrjähriges Exil in England und Holland, von dem er erst 1734 zurückkehrte. Als siebten Band der 1728 begonnenen Mémoires et aventures d’un homme de qualité veröffentlichte er 1731 in Amsterdam als in diese eingeschobene Binnenerzählung die Histoire du chevalier Des Grieux et de Manon Lescaut; 1733 erschien der Roman erstmals unter seinem eigenen Titel. Trotz seiner geistlichen Studien war Prévost offenbar Zeit seines Lebens amourösen Abenteuern nicht abgeneigt; eine Stelle als Erzieher des Sohnes des Londoner Bürgermeisters verlor er, weil er dessen Schwester verführte. Entgegen der vorschnellen Vermutung biographiegestützter Interpreten gab Prévosts legendäre Liebschaft mit der verruchten Hélène Eckhardt, genannt Lenki, die ihn um große Geldsummen erleichterte – ein anderer ihrer Günstlinge, der Chevalier de Ravanne, bezeichnete sie als »véritable sangsue«, als »echte Blutsaugerin« – keineswegs das Vorbild für Des Grieux’ Affäre mit Manon Lescaut ab, denn Prévost lernte Lenki zwar damals in Holland kennen, traf sie aber erst nach der Veröffentlichung des siebten Bandes der fiktiven Memoiren. Prévost lebte in der in Frankreich »Régence« genannten Epoche, der Übergangszeit bis zur Volljährigkeit (und, was noch länger dauern sollte, tatsächlichen Regierungsfähigkeit) von Ludwig XV.; seine literarischen Zeitgenossen waren Lesage (Verfasser der Picaro-Romans Gil Blas, erschienen zwischen 1715 und 1735) sowie der Dramatiker Marivaux (unter dessen Liebeskomödien die bekannteste Le jeu de l’amour et du hasard aus dem Jahre 1730 ist). Nach seiner Rückkehr aus dem Exil und der Aussöhnung mit der katholischen Hierarchie war er in Paris noch als Hausgeistlicher des Prince de Conti tätig, bevor er sich mit einer Kirchenpfründe nach Chaillot (damals Vorort, heu 25

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te Teil der Hauptstadt; einer der Schauplätze des hier interessierenden Romans) zurückziehen konnte; er starb 1763 in der Nähe von Chantilly.

Handlungssynopse des Romans In der Anfang 1715 einsetzenden Rahmenhandlung trifft Renoncour, der »homme de qualité«, in der Normandie erstmals auf Des Grieux, der gerade dabei ist, sich mit der wegen ihres unmoralischen Lebenswandels zwangsdeportierten Manon Lescaut nach Amerika einzuschiffen; zwei Jahre später sieht er ihn, der gerade erst aus dem fernen Kontinent in die Heimat zurückkam, zufällig in Calais wieder, und dieser erzählt ihm nun seine tragische Liebesgeschichte. Sie beginnt, als Des Grieux im Jahre 1712, damals erst siebzehnjährig, die etwa ein Jahr jüngere Manon kennen lernt; diese soll auf Wunsch ihrer Familie und gegen ihren eigenen Willen in ein Kloster geschickt werden – ein Thema, das später auch Diderot in La religieuse behandeln sollte –, ihr gelingt jedoch mit seiner Hilfe die Flucht. Nach einigen Wochen glücklichen Zusammenlebens voll sexueller Leidenschaft – der Erzähler spricht von »Eheleuten ohne den Segen der Kirche« – wird Des Grieux auf Betreiben des an Manon interessierten Nebenbuhlers Monsieur von B. mit Gewalt zurück zu seiner Familie gebracht; er lässt sich dort ins Gewissen reden (u. a. von seinem stets als gütiger Mahner auftretenden Freund Tiberge) und besucht ein Jahr lang das Priesterseminar von Saint-Sulpice. Von Manon schließlich wieder heraus gelockt, lässt er sich mit dieser in Chaillot nieder, wo er deren kriminellem Bruder begegnet; als dem Liebespaar das Geld ausgeht, leitet dieser Des Grieux zum Betrug beim Glücksspiel an. Als Manon den alten Herrn von G. M. (auch hier werden nur die Initialen genannt) unter Einsatz ihrer weiblichen Reize finanziell ausnutzen will, lässt dieser sie und Des Grieux verhaften, doch beide können aus dem Gefängnis entkommen. Nach einer Affäre Manons mit dem jungen G. M. (dem Sohn des Vorgenannten) ist ihnen wieder der Vater auf den Fersen, der diesmal die Zwangsverschickung Manons in die damalige Kronkolonie Louisiana erwirkt. Weil er ihr dieses Schicksal nicht ersparen kann, will Des Grieux sie zumindest dorthin begleiten; in Amerika angekommen, scheint sich zunächst alles zum Guten zu wenden, und die beiden träumen von einem anständigen Leben samt nachgeholter Eheschließung. Dazwischen kommt jedoch Synnelet, der Neffe des französischen Gouverneurs, der sich in Manon verliebt; Des Grieux muss sich mit ihm duellieren und flieht mit Manon in die Wüste, nachdem er diesen verwundet hat. Dort stirbt Manon an Entkräftung; Des Grieux wird nach einigen Wochen der Trauer von seinem treuen Freund Tiberge abgeholt und zurück nach Frankreich begleitet.

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Sexuelle Freizügigkeit und moralischer Relativismus Des Grieux muss sich wegen seiner sittenwidrigen Affäre mit Manon Lescaut im Laufe des Romans mehrfach als »libertin« tadeln lassen; dieser Begriff hatte im 17. Jahrhundert noch einen philosophischen Freigeist bezeichnet, nahm zu Lebzeiten des Abbé Prévost aber zunehmend die Konnotation sexueller Ausschweifungen an. In Frankreich pflegt man für das 18. Jahrhundert sogar vom »roman libertin« als einer eigenen literarischen Gattung zu sprechen, deren Ausbreitung durch die Aufklärung begünstigt wurde; Beispiele wären Le sopha von Crébillon fils (1742), Les bijoux indiscrets von Diderot (1748), Les liaisons dangereuses von Choderlos de Laclos (1782) sowie die damals wie heute schockierende Justine des Marquis de Sade (in der letzten Fassung von 1797). Neben der zweifellos vorhandenen Freude am Schwelgen in erotischen Details stellen all diese Werke sich und den Lesern jedoch auch ernsthafte moralische Fragen; Des Grieux verteidigt in einem langen Streitgespräch mit Tiberge das am besten durch die – auch und gerade sinnlichen – Freuden der Liebe zu erfüllende Streben der Menschen nach irdischem Glück gegen die vermeintliche Forderung der Religion, in asketischer Entsagung einzig auf die Belohnung im Jenseits zu hoffen. Manon, die Des Grieux mehrfach mit anderen Männern betrügt und die auch nicht zögert, sich von diesen ihr selbst meist gleichgültigen Bewunderern finanziell aushalten zu lassen – was der Prostitution zumindest sehr nahe kommt –, beruft sich auf eine von ihr selbst offenbar aufrichtig gemeinte »fidélité du cœur«, eine »Treue des Herzens«, die sie unabhängig von der Promiskuität des Körpers zu wahren glaubt. Des Grieux wundert sich bis zuletzt über den Charakter dieser naiven Verführerin, dieser moralisch unschuldigen »femme fatale«, die auf für die damalige Zeit neuartige Weise den literarischen Typus der ›edlen Hure‹ prägte (später fortgeführt u. a. in Victor Hugos Marion Delorme und in Émile Zolas Nana). Aus der Sicht der modernen »Gender Studies« (die sich mit den sozial geprägten Geschlechterrollen beschäftigen) ließe sich Manon jedoch auch als Vorkämpferin für die sexuelle Selbstbestimmung der Frau interpretieren, was im 18. Jahrhundert noch notwendig als ›unanständig‹ galt.

Tränenreichtum als Vorbote von Empfindsamkeit und Romantik Mit einer Häufigkeit, die an Rousseaus dreißig Jahre später (nämlich 1761) veröffentlichte Julie ou La Nouvelle Héloïse erinnert, werden hier sowohl vom männlichen als auch vom weiblichen Protagonisten des Romans bereits heiße Tränen der Rührung vergossen, derer sich keiner der beiden schämt. Anlass dafür ist entweder das Geständnis gegenseitiger Liebe, oder ein von Des Grieux zu Recht oder zu Unrecht gehegter Verdacht einer Untreue Manons, sowie dann auch die letztendlich stets eintretende Versöhnung. Des Grieux 27

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und Manon weinen immer, wenn sie von ihren Gefühlen überwältigt werden, wobei es keine Rolle spielt, ob sie gerade glücklich oder unglücklich sind. Ein derart ungehemmtes Zur-Schau-Stellen der eigenen Emotionen war bis zum Ende des 17. Jahrhunderts sowohl im realen Leben als auch in der Literatur noch unüblich; die Helden Corneilles, des wohl größten Dramatikers des »siècle classique«, zeichneten sich noch durch die stoische Beherrschung ihrer Passionen aus. Durch die empfindsame Art der Liebesdarstellung und das damit einhergehende neuartige Menschenbild war der Abbé Prevost in der Epoche der Frühaufklärung seiner Zeit voraus und darf bereits unter die Vorläufer der Romantik gezählt werden.

Zeitgenössische Rezeption und spätere Nachwirkung In den Jahren unmittelbar nach seinem Erscheinen wurde dem Roman ein spektakulärer Skandalerfolg zuteil: Einerseits beklagte 1733 das Journal de la Cour et de Paris die darin gezeigte Sympathie für einen Betrüger und eine Hure (»un escroc et une catin«), woraufhin das Buch schließlich auch beschlagnahmt und öffentlich verbrannt wurde; andererseits erschienen davon zu Lebzeiten des Abbé Prévost insgesamt 24 Auflagen, was für die damalige Zeit ungewöhnlich viel war. Während sich bereits Montesquieu und Diderot anerkennend zum moralischen Gehalt der Manon Lescaut äußerten, begann der eigentliche Manon-Kult doch erst mit der dafür von ihren Idealen her prädestinierten Romantik; Alfred de Musset sah in Prévosts Heldin die archetypische Verkörperung rätselhafter Weiblichkeit und rief ihr zu: »Comme je t’aimerais demain, si tu vivais!« Die Romanvorlage wurde im 19. Jahrhundert nicht nur zu einem Theaterstück umgearbeitet (1830 von Carmouche und Courcy, 1851 von Barrière und Fournier), sondern auch zu einem Ballett (1830, von Halévy), sowie zu einer ganzen Reihe von Opern, von denen die bekanntesten jene von Jules Massenet (1884) und Giacomo Puccini (1893) sind. Im 20. Jahrhundert wurde der Roman mehrfach verfilmt, als Stummfilm bereits 1910 von Giovanni Pastrone, später u. a. 1948 von Henri-Georges Clouzot und 1968 von Jean Aurel (mit Catherine Deneuve in der Hauptrolle).

→ Olga Guryakova als Manon Lescaut, 2010

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KOLUMN EN T IT EL


Norbert Abels

DIE METAMORPHOSE DER MANON

Wandlungen eines Stoffes in 220 Jahren


Eine kaum aufzuzählende Konjunktur erlebte die Prévost’sche Manon im 19. Jahrhundert. Alexandre Dumas wies ausdrücklich auf den Modellcharakter hin, den Manon Lescaut für Marguerite Gautier, seine Kameliendame, besaß. »Sie ist derart gezeichnet, dass ich sie gekannt zu haben meine.« Eugene Scribe etwa schrieb sowohl für Halévys dreiaktiges Ballett Manon Lescaut als auch für Aubers gleichnamige und ebenfalls dreiaktige Opéra comique (UA 1856) Libretti. Massenet versuchte sich in Zusammenarbeit mit drei Librettisten gleich zweimal am Stoff. 1884 wurde die fünfaktige Oper Manon uraufgeführt. Henri Meilhac und Philippe Gille hatten das Textbuch verfasst. Für Massenets einaktige Opéra comique Le Portrait de Manon schrieb L. J. V. Georges Boyer das Libretto (UA 8. Mai 1894). Andere musikalische Adaptionen des Stoffes stammten von Pio Bellini, Michael William Balfe, A. A. Lopez oder Mathias Strebinger. In Aubers Oper wird die moralisierende bürgerliche Perspektive übermächtig. Scribes Libretto macht aus dem Chevalier eine Art Bohemien oder – wie Albert Gier schrieb – einen »Bürgerssohn aus gutem Haus, der sich mit seiner Familie überworfen hat und nun versuchen muss, ohne den monatlichen Wechsel auszukommen«. Bei Auber wird er fast zur Nebenfigur, der nicht einmal eine eigene Arie zukommt. Manons Sünde scheint hier weniger in der Verausgabung ihres Körpers zu liegen, als in der sinnlosen Verschleuderung ihres Kapitals, das sich am Ende als Nemesis aufspreizt; und das gerade in Louisiana, dessen auf Sklaverei beruhender ökonomischer Ordnung Scribe keinerlei Kritik entgegenbringt. Massenets Manon nähert sich wieder der Prévost’schen Vorlage an. Auch hier steht allein Manon im Zentrum, deren Tragik der Widerspruch von selbstloser Zuneigung und narzisstischem Geltungsdrang ist. Der Conte Des Grieux, aus solider alter Familie stammend, wird zum Störfall in der auf vollständigen Utilitarismus aufgebauten Aufsteigerwelt der Kurtisane aus kleinen Verhältnissen. Cio-Cio-San, Minnie, Magda, Liù, Mimì oder Manon: Puccini wusste, dass die großen Helden und unsterblichen Gestalten für die Historiographen, aber viel weniger für die Künstler taugen. Deshalb schrieb er: »Ich bin nicht der Musiker der großen Dinge, ich empfinde die kleinen Dinge, und nur sie lieb ich zu behandeln. So gefiel mir Manon, weil sie ein Mädchen von Herz war und nicht mehr.« Getilgt ist hier der bei Auber noch vorhandene letzte Rest einer belehrend-edukativen Attitüde. In den Mittelpunkt des Interesses tritt das kleine, unbedeutende Geschöpf, die liebenswerte Sünderin, an deren unvergleichlichem Reiz auch die am Ende des 19. Jahrhunderts gepriesene Milieutheorie scheitern musste, die Repräsentantin der »schlichten Liebe«, nach Maupassant eigens geschaffen, zu lieben und geliebt zu werden: »Sie stürzte sich kopfüber in die Liebe, wie man sich, um sich zu ertränken, in einen Fluss stürzt…« Solche Typisierungen einer auf dem Grat von Jungfräulichkeit und erotischer Erfüllung angesiedelten Weiblichkeit waren die Kunstfiguren, die der 31

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Naturalismus und der Verismus den entpersönlichten weiblichen Vamps der Jahrhundertwende, der stereotypen femme fatale, dem Strindberg’schen Halbweib oder der Lasziven Baudelaires, mit Erdbeermund und Moschusausdünstung, zuschrieb. »Ich bin nichts als ein armes kleines Ding, unbekannt und tauge zu nichts« singt geradezu programmatisch Minnie, das Mädchen aus dem goldenen Westen. Ganz ähnlich Manon Lescaut, die in einer endlosen öden Landschaft an Erschöpfung stirbt, wenngleich nicht ohne Erkenntnis der tragischen Aufgabe der ihr zugewiesenen Rolle: »Meine Schönheit hat mir nur Unheil gebracht. (...) Meine Schuld wird bald vergessen sein, doch meine Liebe, die stirbt nicht.« Dem Roman von Des Grieux und Manon Lescaut folgten bis in die Gegenwart – etwa der Spielfilm Irma la Douce mit Shirley MacLaine – immer neue Adaptionen, allein elf musikalische Bühnenwerke, vier Ballette, eine Operette und sechs Opern – darunter die Kompositionen Aubers (1856), Massenets (1884 und 1894) und Puccinis (Uraufführung in Turin am Teatro Regio an 1. Februar des Jahres 1893). Auf den Spuren von Dumas’ Kameliendame und Verdis Violetta fixierte sich bei Massenet und Puccini die Aufmerksamkeit auf die weibliche Hauptfigur, deren ursprüngliche Ambivalenz, die Dialektik von Geld und Lust, Besitz und Liebe nun dem Mythos von der heiligen Dirne geopfert wurde. Die Hagiographie der Prostitution geriet zum ästhetischen Stereotyp der Epoche. Von Prévosts Dichtung hat sich in Puccinis Libretto nur wenig erhalten. Die getreue Textangabe nimmt sich aus wie das Abbild des vom Konkurrenzkampf beherrschten Marktes, ein publizistisches Tohuwabohu: »Dichtung von Ruggero Leoncavallo, Marco Praga, Domenico Oliva, Luigi Illica, Giuseppe Giacosa, Giulio Ricordi, Giuseppe Adami und Giacomo Puccini, nach dem Libretto von Henri Meilhac und Philippe Emile François Gille zu der Opéra comique Manon (Paris 1884) von Jules Massenet, nach der« – und jetzt kommt endlich der Abbé aus dem achtzehnten Jahrhundert – Histoire du chevalier Des Grieux et de Manon Lescaut. Prévosts Sprache der Liebe hat sich einzig in Puccinis Musik geflüchtet. In Sternheims 1921 veröffentlichtem Drama Manon Lescaut pflegen Des Grieux und Manon lange Dialoge, streiten über die Habgier der Gesellschaft, deren Pendant ihre aufdringliche Nächstenliebe zu sein scheint. Manon und der Chevalier sind einzig hier, in dieser spätexpressionistischen Variante, gleichberechtigte Subjekte. Manon ist es vorbehalten, dies auf der Flucht, kurz vor ihrem Tod, auszusprechen: »Über alle Anfechtung der Welt – welcher Welt Des Grieux! – sind wir immer wieder, starke Vögel, zusammengeflogen, haben uns tiefer vereint, und endlich steht in unseren Augen nichts als des anderen Bild mehr.« Des anderen Bild in den Augen: Mit der Metaphorik des Augenblickes schließt auch Henzes Oper Boulevard Solitude. Indessen erscheint gerade in diesem Motiv die triste, existenzielle Erfahrung des Nichts, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg den Lebensbegriff der Intellektuellen beherrschte. NOR BERT A BELS

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220 Jahre liegen zwischen der Manon Lescaut des unentwegt in Skandalaffären verwickelten französischen Libertins Prévost und dem Manon-Libretto der nur knapp dem Holocaust entkommenen deutschen Schriftstellerin Grete Weil. Ihr ging es, als sie die Arbeit am Textbuch für Henzes erste große Oper aufnahm, nicht mehr wie dem Abbé um »allerlei Betrachtungen über die Unbegreiflichkeit des weiblichen Charakters«. Weder solch ominöser Geschlechtscharakter noch der Individualcharakter ihrer modernen Manon Lescaut interessierten die Librettistin und den Komponisten. Manon gehört zu der schemenhaften, unbeweglichen, in starrer typologischer Fixiertheit fast leblos erscheinenden sonstigen Figurenwelt der Oper. Einzig der von zunehmendem Bewusstsein des existenziellen Sinndefizits immer stärker in die Isolation der Großstadtwüste getriebene Student Armand erscheint als Individualität. Expressive Monologe sind allein ihm vorbehalten. Der in Prosa abgefasste Monolog zu Beginn der Kaschemmenszene zeigt ironische Distanz zum eigenen Untergang in der Drogenwelt: »Hier die Scheine, wechselt sie um! In den unvergleichlichen Traumstoff, der mir die faulende Welt in eine komfortable Hölle verwandelt.« Hernach erst, beim Eintritt der anderen Gestalten, die in konventioneller Reimform sich artikulieren, wird der Bruch zwischen dem subjektiven Wahrnehmungssystem des Protagonisten und dem stereotypen Automatismus der anderen Figuren geradezu plastisch. Vollends am Schluss kommen Grete Weil und Hans Werner Henze ganz ohne die amerikanische Sandwüste des Romans und auch ohne bebende letzte Worte Manons aus. Aus der Großstadt führt kein Weg heraus, da sie sich längst schon in die ausweglose Topographie der Seele eingraviert hat. Keine weite Ebene, sondern graue Gefängnismauern erscheinen. Prévosts Chevalier konnte noch erleben, dass er in dem Augenblick, da Manon ihren Geist aufgab, ihre Liebe spürte. In Boulevard Solitude aber vermeidet es Manon, umgeben von anderen gefesselten Mädchen und eskortiert von Polizisten, Armand überhaupt noch anzusehen. Und der Student Armand? Er singt: »Ich wollte, ich wäre blind, denn die Welt ist mir verloren.« Armand ist ein wirklich existenzialistischer Held. Manons Wegschauen und Armands Wunsch nach Blindheit stehen am Ende. Es gibt keine Liebe mehr, weil es das Geheimnis des Augenblicks nicht mehr gibt. Man erinnert sich an Sartres Worte aus L’etre et le Neant: »Der Blick des Anderen formt meinen Leib in seiner Nacktheit, lässt ihn entstehen, modelliert ihn, bringt ihn hervor, wie er ist, sieht ihn, wie ich ihn sehen werde. Der Andere besitzt ein Geheimnis: das Geheimnis dessen, was ich bin.«

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DIE META MOR PHOSE DER M A NON


BÜHNENWERKE, FILME UND PROSA

basierend auf Prévosts Manon Lescaut-Roman


OPERN THE MAID OF ARTOIS von Michael William Balfe (Grand serious Opera in 3 Akten; London, UA: 27. Mai 1836) MANON LESCAUT von Daniel-François-Esprit Auber (Opéra comique in 3 Akten; UA: Paris, 23. Februar 1856) SCHLOSS DE L’ORME von Richard Kleinmichel (Romantische Oper in 4 Akten; UA: Hamburg, 8. Oktober 1883) MANON von Jules Massenet (Opéra comique in 5 Akten; UA: Paris, 19. Jänner 1884) MANON LESCAUT von Giacomo Puccini (Dramma lirico in 4 Akten; UA: Turin, 1. Februar 1893) LE PORTRAIT DE MANON von Jules Massenet (Opéra comique in einem Akt; UA: Paris, 8. Mai 1894) BOULEVARD SOLITUDE von Hans Werner Henze (Lyrisches Drama in 7 Szenen; Hannover, UA: 17. Februar 1952)

BALLETTE MANON LESCAUT von Jacques- François-Fromental Halévy (Libretto von Eugène Scribe; UA: Paris, 1830) MANON LESCAUT von Mathias Strebinger (Libretto von Giovanni Golinelli; UA: Wien, 22. Jänner 1852)

THEATERSTÜCKE MANON LESCAUT von Pierre François Adolphe Carmouche und Frédéric de Courcy (drei Akte, UA: Paris, 26. Juni 1830) MANON LESCAUT von Théodore Barrière (UA: 1851)

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BÜ HN EN W ER K E , FILME U N D PROSA


FILME (Auswahl) MANON LESCAUT – Regie: Giovanni Pastrone (Stummfilm, 1909) MANON LESCAUT – Regie: Arthur Robinson (1926) WHEN A MAN LOVES – Regie: Alan Crosland (1927) MANON LESCAUT – Regie: Carmine Gallone (1940) MANON LESCAUT – Regie: Henri-Georges Clouzot (1948) GLI AMORI DI MANON LESCAUT – Regie: Mario Costa (1955) MANON LESCAUT – Regie: Jean Aurel (1968)

PROSA LE RÉGENT MUSTEL von Alexandre Dumas fils (1852) dialogisierende Vorrede zu MANON LESCAUT von Alexandre Dumas fils (1875)

→ KS Anna Netrebko als Manon Lescaut, 2016

BÜ HN EN W ER K E , FILME U N D PROSA

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→ Nächste Seiten: Szenenbild, 3. Akt

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IM DEU TSCHEN DOM


Josef-Horst Lederer

» PROTAGONISTA NON È MANON, MA LA PASSIONE DI DES GRIEUX « Bemerkungen zu Stoff, Musik und Rezeption von Puccinis Manon Lescaut


Mit voran stehendem Zitat aus dem Ritratto della Manon Lescaut des bekannten Musikhistorikers und Dirigenten Gianandrea Gavazzeni wurde 1958 ein Phänomen in Puccinis Manon Lescaut angesprochen, das zwar schon zeitgenössischen Rezensenten aufgefallen war, dem aber (wie leider der Oper insgesamt) später in der Fachliteratur kaum einmal größere Aufmerksamkeit geschenkt wurde, in jüngerer Zeit am ehesten noch in einer Werkbetrachtung von Jürgen Maehder aus dem Jahre 1984 Beachtung fand. Die Rede ist davon, dass in diesem vieraktigen »Dramma lirico« der Protagonist eine weitaus größere, später nie mehr zugestandene musikalische und dramatische »Zuwendung« erfährt als die Protagonistin und der so ins Zentrum des Interesses gerückte Des Grieux es sogar legitimiert, die Berechtigung von Manon als Titelheldin zu hinterfragen. Dieses Phänomen, dessen Diskussion die Oper aus einem eher ungewöhnlichen Blickwinkel betrachtet, sei hier neuerlich aufgegriffen und nachfolgend zum Thema gemacht. Als Puccini nach den schlechten Erfahrungen mit Ferdinando Fontana, von Verleger Ricordi vorgegebener Librettist seiner beiden ersten Opern, daranging, sich im Sommer 1889 nach einem neuen Opernstoff umzusehen, stand für ihn fest, dass er von nun an – und so sollte er es bis zur Turandot halten – Wahl und Gestaltung des Stoffes selbst in die Hand nehmen würde und sich die Librettisten bedingungslos seinen Wünschen unterzuordnen hätten. Dies bedeutete, dass bei Manon Lescaut nicht weniger als sieben (!) mehr oder weniger involvierte Textdichter »verschlissen« wurden, was in der Geschichte der Opernlibrettistik einen einzigartigen Fall darstellt und die frühesten Drucke dieses Werkes sogar auf die namentliche Nennung eines Textautors verzichten ließ. Des Komponisten erste »freie Wahl« fiel bekanntlich auf die Histoire du Chevalier Des Grieux et de Manon Lescaut (1731) des Antoin-François Prévost d’Exiles, womit sich, nach Alfred de Musset, schon damals Puccinis besondere Vorliebe für die französische Literatur herauskristallisierte –, eine Vorliebe, die ihn nachfolgend ja auch noch zu Henri Murger, Victorien Sardou und Didier Gold als »Lieferanten« von Opernvorlagen greifen ließ. Dass Prévosts Roman bereits mehrfach als Ballett oder Oper (Halévy 1830, Balfe 1836, Auber 1856, Kleinmichel 1883) dramatisiert und erst wenige Jahre zuvor (1884) von dem damals im Zenith seines Schaffens stehenden Jules Massenet sogar zu einem Welterfolg geführt worden war, hat Puccini (wie später ja auch bei Leoncavallos Bohème) keineswegs gestört, und überzeugt, dass auch seine Manon die Herzen der Zuhörer erobern werde, meinte er gemäß einem bereits viel strapazierten Zitat, dass es Massenet »alla francese, con la cipria e i minuetti« versucht habe, er es »all’italiana, con passione disperata« tun werde. Puccini, von dem man nicht sicher weiß, ob er Massenets fünfaktige Opéra comique jemals auf der Bühne erlebt hat, aber das Werk selbstverständlich bestens kannte, war sich allerdings auch im Klaren darüber, mit dieser Oper nur dann konkurrieren zu können, wenn es ihm gelänge, auffällige Ähnlichkeiten in der Aktanlage 39

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sowie in der Charakterisierung der Hauptpersonen zu vermeiden, ja dass er damit gleichsam ein neues Stück zu schreiben habe. Ergebnis davon war, dass nach einem anfänglich Massenet bzw. Meilhac & Gille allzu ähnlichem und daher wieder verworfenen Konzept der Librettisten Praga und Oliva in der nachfolgenden Neugestaltung durch Illica auf die ursprünglich nach dem Amiens-Akt (I) vorgesehene Pariser Liebesidylle verzichtet wurde und auf Gerontes Palais (II) nunmehr der nach Puccinis Vorstellungen gänzlich neu geschaffene Le Havre-Akt (III) sowie schließlich der in einer Wüstengegend nahe New Orleans spielende Schlussakt (IV) folgten. Dabei blieb es auch, wenngleich Puccini schon damals mehrfach auf die damit auf der Strecke gebliebene Kontinuität im Handlungsablauf sowie vor allem auf die Problematik des »fragwürdigen« Schauplatzes der Handlung im letzten Akt aufmerksam gemacht wurde –, ein Akt, der sowohl von der Zeitkritik als auch von späteren Puccini-Biographen immer wieder als überflüssig angesehen wurde und die Frage aufwarf, warum Puccini seine Manon nicht bereits auf dem Weg nach Le Havre sterben ließ. Diese Aktfolge – um Verwechslungen mit Massenet auszuschließen, wurde auch als Titel »Manon Lescaut« gewählt – machte es (wie schon angedeutet) mit ihren unvermittelten, die kinematographische Technik des »Schnitts« geradezu vorwegnehmenden Handlungsbrüchen dem Publikum zwar schwer, dem dramatischen Ablauf Logik und Glaubwürdigkeit abzugewinnen, doch hatte Puccini für seine Zwecke ganz Entscheidendes erreicht. Zum einen wurde durch die Eliminierung der genannten Liebes­idylle in der Pariser Mansarde vermieden, Manon und Des Grieux jemals in unbeschwertem Liebesglück zu zeigen, zum anderen standen nach Eintritt der Handlungsperipetie für die Darstellung von Leiden bzw. Sterben der Liebenden noch die ganze restliche Oper, genau genommen mehr als zwei Akte, zur Verfügung. Und damit war auch jene düstere und affektive Plattform geschaffen, die es erlaubte, die Protagonisten überwiegend in physischen und psychischen Ausnahmesituationen zu zeigen, was Puccini ja in seinen Folgewerken immer wieder getan hat und ihm sogar den Vorwurf »sadistischer Freude« am Leiden seiner OpernheldInnen einbrachte. Es sind dies dramatische Situationen, in denen das Interesse nicht primär auf die vordergründigen Aktionen der Bühnenfiguren, sondern vielmehr auf die Gefühle der dahinter stehenden Menschen aus »Fleisch und Blut« gerichtet ist, auf das Ausleben elementarer Affekte, dessen musikalische Darstellung wohl kaum einem italienischen Musikdramatiker dieser Generation so eindrucksvoll gelang wie Puccini. Und wollte man diesen (wenn überhaupt) dem Verismo zuordnen, wäre dies sicherlich nur in dieser Hinsicht möglich. Geht man einen Schritt weiter und fragt, was Puccini bewogen haben könnte, nicht (wie nach dem Titel der Oper zu erwarten) Manon, sondern Des Grieux zur Zentralfigur seiner Oper zu machen und ob er (wie vermutet) letzterer sogar autobiographische Züge verlieh, wird man wohl kaum zu konkreten Ergebnissen kommen, sondern sich vielmehr mit spekulativen ÜberJOSEF-HORST LEDER ER

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legungen begnügen müssen. Was aber als gesichert gelten kann, ist dessen Orientierung an der besonderen Anlage von Prévosts Roman, an jener der Rahmenerzählung. In dieser steht ja der Chevalier Des Grieux ganz eindeutig im Mittelpunkt, und dies sogar in zweifacher Hinsicht: einmal als Erzähler und einmal als handelnde Person. Puccini übernimmt ganz offensichtlich diese »Prévost’sche Dominanz«, doch konzentriert er sich auf das, was der junge Romanheld mit Worten nicht annähernd zu beschreiben vermag und nur mit Hilfe der magischen Kraft der Musik überzeugend zum Ausdruck gebracht werden kann: die bedingungslose und geradezu elementare Leidenschaft zu einer Frau, die in ihrer Intensität bis in emotionale Grenzbereiche vorstößt. Dass mit der Fokussierung der Gefühlswelt von Des Grieux dessen Geliebte in den Hintergrund rücken würde, war vorauszusehen, doch scheint sich Puccini – und dafür gibt es Hinweise – über das diesbezüglich wahre Ausmaß erst zu einem Zeitpunkt bewusst geworden zu sein, da es für eine »Richtungsänderung«, d.h. für eine dramatische »Aufwertung« Manons bereits zu spät, die Komposition schon zu weit fortgeschritten war. Doch damit nicht genug! Was sich als mindestens ebenso gravierend erwies und dem Komponisten von Kennern des Romans sowie von Massenets Oper immer wieder zum Vorwurf gemacht wurde, ist die Tatsache, dass er seine Manon weitgehend ihrer charakteristischen Attribute »beraubt« hat. Denn zweifellos fehlt ihr nicht nur die einer Titelfigur adäquate (Konstanz in der) Bühnenpräsenz, sondern auch jene frivole Weiblichkeit einer femme fatale, die Sinnlichkeit und exzessive Freude an Genuss und Luxus ausstrahlt sowie glaubhaft machen kann, dass sie ohne moralische Bedenken mit den Kleidern den Charakter wechselt. Alles Eigenschaften, die insgesamt Enttäuschung und Verzweiflung Des Grieux’ über das ambivalente Verhalten seiner Angebeteten auch erst verständlich und nachvollziehbar erscheinen ließen. Aber gerade das Gegenteil ist der Fall: Bereits in der glitzernden und morbiden Scheinwelt des Salotto von Gerontes Palais von Zweifeln und Reue geplagt, sehnt sie sich hier (selbst wenn sie für ihren alten Galan eine »Pastorella« singt) nach nichts anderem als nach der »wahren Liebe«, erfährt im Hafen von Le Havre ihre tiefste und öffentlich zur Schau gestellte Erniedrigung, um schließlich unter sengender Wüstensonne nur noch ihre Schönheit zu verfluchen (»Ahi! Mia beltà funesta…«) und als reumütige Sünderin ihr Leben auszuhauchen. Dazu kommt noch, dass sich die Musik dieser somit mehr büßenden als genießenden Manon kontinuierlich von jener Des Grieux’ »absetzt«, zunehmend »blasser« wird und damit deren Rolle als Büßerin nur noch verstärkt. Besonders evident wird dies bei Manons einprägsamen »Personal-Thema« (»Manon Lescaut mi chiamo«), das zwar in unzähligen Varianten und dramaturgisch richtig den charakterlichen Wandel der Bühnenheldin mit vollzieht, dabei aber mehr und mehr seine (anfängliche) melodische und harmonische Bestimmtheit einbüßt, in den elegischen Ton von Puccinis Crisantemi flüchtet und sich im Schlussakt zwischen »Tristan-Chroma« und 41

» PROTAGON ISTA NON È M A NON, M A LA PAS SION E DI DE S GR IEU X «


schon impressionistisch anmutenden Klängen verliert, ja sich in seine Bestandteile auflöst. (Dass mit diesem Rückzug in die »musikalische Isolation« sich letztlich der Part Manons rein kompositorisch als wesentlich »moderner« und interessanter erweist als jener ihres Geliebten, ist ein weiteres, hier allerdings nicht zu diskutierendes Phänomen.) Ganz anders Des Grieux! Zu Beginn (auch) musikalisch-thematisch noch ganz im Banne Manons (s. Nb.), rückt Puccini dessen Gefühlsskala in ihrer ganzen Bandbreite stetig wachsend in den Vordergrund: Ein riesiges emotionales Crescendo, das vom unschuldig aufkeimenden Glück erster Liebe

bis zum Verlust der Selbstbeherrschung reicht und am Höhepunkt von Angst, Schmerz und Verzweiflung das jammervolle »Guardate, pazzo son« (III) oder auch das »Vedi, vedi, son io che piango« (IV) gemäß Puccinis Vorstellung tatsächlich »zu einem Fleischextrakt aus Nachdruck und ergreifender Rührung« macht. Mit diesen Beispielen kaum noch zu steigernder »passione disperata« zeigt sich auch, wie meilenweit des Franzosen Des Grieux von jenem des Italieners entfernt ist, welchen Unterschied der deutsche PucciniBiograph Richard Specht auch mit der treffenden, wenngleich fast schon »despektierlichen« Bemerkung kommentiert hat, dass in den Adern von Puccinis Musik eben »Blut und nicht wie bei Massenet Limonade« fließe. Versucht man die musikalischen Mittel zu konkretisieren, mit denen Puccini die Figur des Des Grieux im angesprochenen Sinne gestaltet, wie es ihm gelingt, dieselbe mit immer neuen Varianten von Expressivität zu versehen, ja nach erfolgtem Handlungsbruch die Szene insgesamt und permanent in dunkle, düstere Farben zu tauchen und den Hauch des Todes atmen zu lassen, braucht man sich nur jene Techniken in Erinnerung zu rufen, die der Komponist in seinen späteren Werken bei dramatisch verwandten, sich in ähnlichen Ausnahmesituationen befindlichen Figuren, wie z. B. in La bohème, Madama Butterfly, Tosca oder Suor Angelica, zur Anwendung gebracht hat. Es handelt sich hier um Techniken, die in Manon Lescaut schon mehr oder weniger voll ausgebildet erscheinen, später selbstverständlich noch verfeinert wurden, die sich aber grundsätzlich nicht mehr verändert haben und zum speziellen Kennzeichen für Puccinis »Musik gemarterter Menschen« geworden sind. Im einzelnen geht es dabei um eine vokale Kantabilität, deren Intensität aus strenger Periodizität und aus weitgehend stufenweiser FortschreiJOSEF-HORST LEDER ER

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tung resultiert, um die Sequenz als Mittel zu deren emphatischer Fortspinnung, oder um die die Singstimme durch mehrfache Streicherverdoppelung intensivierende Technik der sogenannten »sviolinata« etc. Dazu kommen im harmonischen Bereich die ungewöhnliche Häufung von Moll-Tonarten, die Bevorzugung dunkler, »satter« Klangfarben, freie Vorhaltbildungen, die Anreicherung der Diatonik durch leiterfremde »Reiztöne« sowie vielfach auch ausgedehnte Ostinato-Bildungen, die mit ihrer »bohrenden« Insistenz wechselweise melancholische Traurigkeit, Monotonie, Trostlosigkeit, Einsamkeit, Verzweiflung und ähnliches suggerieren. Letztere beherrschen u. a. ja auch Manons berührendes Schlusslamento »Sola perduta abbandonata« sowie die große Chorszene des Le Havre-Akts, die in ihrer bedrückenden und bedrohlichen Wirkung später vielleicht nur noch in der Kirchen- oder »Füsilierungsszene« von Tosca erreicht wurde. Alle diese Gestaltungsmerkmale können natürlich auch als allgemeine Charakteristika von Puccinis Stil gelten, doch wenn sie, wie hier, gehäuft und affektiv fast ausschließlich »negativ« besetzt auftreten, kommt es zu jener für Puccini so typischen musikalischen Gefühlspotenzierung, die das Publikum geradezu zwingt, sich mit den Darstellern auf der Bühne zu identifizieren. Dies trifft selbst dort zu, wo sich der Komponist einer musikalischen Sprache bedient, die für ihn eigentlich nicht als typisch anzusehen ist. Gemeint sind damit (insbesondere) der große emotionsgeladene Dialog der Liebenden gegen Ende des 2. Aktes sowie das nachfolgende, wohl eines der berührendsten Instrumentalstücke des Meisters darstellende Intermezzo sinfonico. In diesen »Nummern« hat Puccini bekanntlich seiner Begeisterung für Richard Wagner, insbesondere für dessen Tristan freien (musikalischen) Lauf gelassen –, eine Begeisterung, die er zwar zeitlebens für den berühmten Deutschen hegte, in späteren Jahren aber nie mehr so offen zur Schau stellte. Dem Italiener ist hier, ohne sich dabei musikalisch selbst zu verleugnen eine einzigartige Symbiose Wagner’scher und eigener Stilelemente gelungen, was selbst seinen schärfsten Kritikern in Deutschland Respekt abverlangte und verlauten ließ, dass mancher schon versucht habe, sich mit dem Meister aus Bayreuth zu messen, »keiner es aber so gut verstanden habe, aus musikalischen Ansätzen Wagners so schöne Musik zu machen«. Dass es gerade der Tristan war, der hier »Pate stand«, war freilich kein Zufall, gelang es doch mit der »stilistischen Annäherung« an diese Oper, bereits in genanntem leidenschaftlichen Dialog der Wiedervereinigung von Manon und Des Grieux (also noch im Zustand höchster Liebes-Euphorie) rein »atmosphärisch« in den Raum zu stellen, dass deren Liebe keine Erfüllung beschieden sei. Die unmittelbare Bestätigung dafür erbringt das zwischen den Akten II und III stehende Intermezzo sinfonico, das nicht nur (wie dessen Untertitel anzeigt) eine musikalische Illustrierung auf der Bühne nicht gezeigter dramatischer Vorgänge, sondern, als retardierendes Handlungselement, auch ein letztes Innehalten vor Anbruch der Katastrophe zum Ziel hat. Wie Mascagnis berühmtes Pendant aus 43

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Cavalleria rusticana dramaturgisch bewusst an dieser Stelle platziert, lässt es einerseits mit fatalistischer Beklemmnis in die Zukunft blicken, andererseits beschwört es wehmutsvoll nochmals das Glück der Vergangenheit herauf, um aber spätestens mit dem im »pp« versinkenden »Hymnus der Liebenden« dasselbe als unwiederbringlich zu besiegeln. Von da an nimmt, wie wir wissen, das Schicksal dieses unglücklichen Paares seinen Lauf. Manon geht auf der »strada maledetta« ihrem bitteren »amerikanischen« Ende entgegen, Des Grieux folgt ihr als Gefangener einer Leidenschaft, die ihn, wie es ausdrücklich in vorangestelltem Motto zu eben jenem Intermezzo sinfonico heißt, zur »più sfortunata creatura che vive« macht. Die Uraufführung der zwischen 1889 und 1892 entstandenen Manon Lescaut, an der Puccini noch bis 1922 zahlreiche Revisionen vornahm und von deren Erfolg er sogar einen möglichen Berufswechsel abhängig gemacht hat, fand am 1. Februar 1893 im Teatro Regio in Turin statt und erwies sich für den Komponisten geradezu als Triumph. Nach dem eher mäßigen Abschneiden mit Edgar und Le villi war ihm der erste große Durchbruch gelungen, er war über Nacht berühmt geworden, was noch im selben Jahr Bühnen wie jene von Buenos Aires, Rio de Janeiro, Petersburg und Madrid nach dem Werk greifen ließ. 1894 folgten Prag, Mexiko City, Philadelphia, die Scala Milano und London, wo ihm im übrigen G.B. Shaw weitsichtig eine glänzende Karriere prophezeite und ihn als den »wahrscheinlichsten« Erben Verdis bezeichnete, schließlich 1907 (unter Puccinis persönlicher Anwesenheit) die Metropolitan Opera New York sowie 1910 Paris, um nur die wichtigsten Stationen anzuführen. Wurde an diesen Bühnen die Oper stets mit größter Begeisterung aufgenommen, verlief deren Rezeption auf deutschsprachigen Bühnen (denen hier naturgemäß etwas mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden soll) gänzlich anders und es dauerte rund 30 Jahre bis das Werk eine entsprechende Würdigung fand. Die Ursachen dafür liegen darin, dass man nach einer anfänglich geradezu überschwänglichen Begeisterung für die Einakter Mascagnis und Leoncavallos dem Verismo sehr bald äußerst ablehnend gegenüberstand, in dessen rasanter Verbreitung bzw. Vereinnahmung des deutschen Bühnenspielplans eine ernsthafte Bedrohung der (vermeintlichen) deutschen Vormachtstellung auf dem Gebiet der Oper und insbesondere von Wagner sah. Als daher Manon Lescaut am 7. November 1893 in Hamburg ihre deutsche Erstaufführung unter der Leitung von Otto Lohse (und nicht unter Gustav Mahler, wie immer wieder fälschlich zu lesen ist) erfuhr, wurde Puccini, der ebendort (29. November 1892) bereits einen Achtungserfolg mit Le villi erzielt hatte, mit seiner Oper nicht nur an der in Deutschland damals nur zu bekannten und ungemein beliebten Manon Massenets gemessen, sondern auch bedenkenlos den genannten führenden Vertretern des Verismo, also jenen sogenannten »Jung­italienern« zugezählt, denen, wie es damals hieß, in ihren JOSEF-HORST LEDER ER

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Mord- und Ehebruchsopern »das Blut von den Händen floss«. Dass darauf bezogene, vergleichende Urteile Puccinis Oper zum Nachteil gereichen würden, war demnach bereits »vorprogrammiert«, und die überwiegend negativen Kritiken haben zweifellos das ihre beigetragen, dass Manon Lescaut in Hamburg über fünf Aufführungen nicht hinauskam. Ähnliches gilt auch für die wenigen Aufführungen im Folgejahr 1894 auf den Bühnen von Leipzig, Mannheim und Köln, in letzterer zumindest mit dem Zugeständnis, dass Puccinis »ein großes Talent« sei, sowie 1898 in Breslau. Dann versank die Oper für nicht weniger als zehn Jahre vollkommen in der »Versenkung«. Daraus hervorgeholt hat man sie erst wieder im Jahre 1908 in Wien und Berlin, nachdem Madame Butterfly im Jahr zuvor ebendort jeweils sensationelle Erfolge erzielt hatte, Puccini nunmehr allen anderen Jungitaliener voran im deutschen Bühnenspielplan dominierte, ja seine dortige Präsenz gegenüber 1907 sogar um 100 Prozent steigern konnte. Der internationale Durchbruch Puccinis war somit auch hier endgültig geschafft, und als am 22. Jänner 1908 an der Wiener Volksoper (die Staatsoper folgte erst 1923) die österreichische Erstaufführung von Manon Lescaut über die Bühne ging, stand man nicht an, die fünfzehn Jahre alte »Talentprobe« des Meisters nunmehr sogar als dessen »wertvollstes Werk« zu betrachten. Und damals wurde im Übrigen, womit abschließend nochmals zum Ausgangspunkt zurückgekehrt sei, auch schon ganz konkret auf die hier thematisierte Problematik verwiesen bzw. der Vorwurf laut, dass Puccini mit der Figur des Des Grieux »den Schwerpunkt nach der Seite düsterer, pathetischer Stimmung gebracht und hiedurch den Charakter der Hauptheldin verwischt« habe. Auf den Punkt gebracht hat schließlich diese nur zu richtige Beobachtung der bekannte Wiener Kritiker der Neuen Freien Presse, Julius Korngold, und zwar mit der Feststellung, dass der Werktitel Manon Lescaut nicht halte, was er verspreche, Puccinis Oper »eigentlich Des Grieux heißen sollte«. Womit Korngold allerdings nicht recht behalten sollte, ist die Prophezeiung, die italienische und die französische Manon könnten zwar »eine zeitlang« nebeneinander bestehen, doch würden sie »eines schönen Tages freilich beide gestorben sein: Massenets Manon natürlich in Havre, die Puccinis in Amerika (!)«. Denn: Seit mehr als einem Jahrhundert erfreuen sich beide, längst als Meisterwerke anerkannte Opern »bester Gesundheit« und zeigen keinerlei »Altersschwäche«. Nach wie vor verfehlen sie – jede auf ihre Art – nicht die Wirkung auf das Publikum: die eine »alle francese, con la cipria e i minuetti«, die andere eben »all’italiana con passione disperata«! → Folgende Seiten: KS Neil Shicoff als Des Grieux und Barbara Haveman als Manon Lescaut 2005

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Roberto Scoccimarro

EIN TEXTBUCH VON ALLEN UND VON KEINEM Die Korrespondenz Puccinis und seiner Librettisten über Manon Lescaut


»Ich habe im August Manon!«. Diese zuversichtliche Mitteilung, die in einem von Puccini an den Musikverleger Giulio Ricordi geschriebenen Brief (19. Juli 1889) zu lesen ist, stellt den ersten Hinweis des Komponisten auf sein drittes Theaterwerk, nach Le villi und Edgar, dar. Die schwer durchschaubare Entstehungsgeschichte des Librettos von Manon Lescaut warf aber ihre Schatten bereits 1885 voraus: Während Puccini noch an Edgar gearbeitet hat, stellte der Librettist Ferdinando Fontana eine dramatische Adaptierung von Prévosts L’Histoire du chevalier Des Grieux et de Manon Lescaut in Aussicht. Ricordi war darüber nicht begeistert, weil ihm der Erfolg von Massenets Manon (1884) ein Hindernis zu sein schien für eine neue Oper über dasselbe Sujet. Die Anregung Fontanas musste noch vier Jahre warten, eher sie Früchte trug – und Fontana war nicht derjenige, der sie erntete. Die Genese des Textbuches zog sich bis zum Jänner 1894 hinaus, etwa einem Jahr nach der Uraufführung der Oper am 1. Februar 1893. Während der Vorbereitung war eine ganze Reihe von Künstlern am Libretto beteiligt: Marco Praga, Domenico Oliva, Ruggero Leoncavallo, Giuseppe Giacosa, Luigi Illica, Giulio Ricordi, der Komponist selber und Giuseppe Adami. Noch länger dauerte das Komponieren der Musik: Überlegungen und Änderungen zogen sich bis 1922/23 hinaus – als die Oper in einer historischen Aufführung an der Mailander Scala von Arturo Toscanini dirigiert wurde. Eine wichtige – aber nicht immer genaue – Zusammenfassung der Vorfälle, die sich während der Entstehung des Librettos ereignet haben, stammt von Marco Praga, dem Sohn des Schriftstellers Emilio, Vertreter der Mailänder literarischen Strömung »La Scapigliatura«. Da der Vertrag zwischen Praga, Oliva und Ricordi bereits im Juli 1889 abgeschlossen wurde, müssten sich die folgenden Erinnerungen auch auf das selbe Jahr bezogen haben – und nicht auf 1890: »Es war – ich erinnere mich nicht mehr genau, ob im Frühling oder im Herbst des Jahres 1890. Ich befand mich eines Abends wie gewöhnlich bei Savini, um ein Spielchen zu machen, als Puccini eintrat, der mich zu sprechen wünschte... Plötzlich sagte er mir, ganz unerwartet: »Du musst mir ein Textbuch schreiben.« – Sosehr mich dieser überraschende Vorschlag in Erstaunen versetzte, so gestehe ich doch, dass meine Freundschaft und meine Bewunderung für Puccini bewirkten, dass ich mich kaum wehrte. Ich hatte noch niemals ein Libretto geschrieben, hatte auch nie daran gedacht, es zu tun. – »Das macht gar nichts«, erwiderte der Maestro, »um so weniger, als du dich um die Wahl des Themas nicht im Geringsten zu kümmern brauchst: es handelt sich um Manon Lescaut. Du hast einen sicheren Bühnenblick. Du verstehst aufzubauen. Wenn du die Verse nicht selbst schreiben magst (ich hatte, obschon Sohn eines Dichters, vorher brüsk erklärt, dass ich mich aufs Versemachen keinesfalls einlassen würde), so wirst du dir selbst einen Mitarbeiter aussuchen, der dein Vertrauen und deinen Beifall genießt.« 49

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»Was das betrifft – antwortete ich – ein Dichter ist schnell gefunden. In der Tat hielt ich Domenico Oliva für sehr geeignet, und ich schlug ihn Puccini vor, der auch einverstanden war. Bevor wir uns trennten, empfahl er mir, den Roman von Prévost noch einmal zu lesen, mich aber gar nicht mit dem Textbuch von Massenets Manon zu beschäftigen, um meine Fantasie nicht festzulegen; ich sollte so bald als möglich einen Entwurf niederschreiben und mir dabei vor Augen halten, dass es seine Absicht war, eine Opera comica im klassischen Sinn des Wortes zu komponieren.« Wie der Herausgeber von Puccinis Korrespondenz, Eugenio Gara, festgestellt hat, bezieht sich der Komponist hier offensichtlich auf die Gattung der tragischen Opéra comique, deren bekanntestes Beispiel Carmen ist. Bemerkenswert ist die Entschlossenheit, mit der Puccini seine neue Oper von der vorangegangenen Massenets abgrenzen will – als ob ihn die Konkurrenz nicht behindern, sondern geradezu beflügeln würde. Nach nur wenigen Tagen schlug Praga den folgenden Handlungsablauf vor: »Begegnung von Des Grieux und Manon. Dann das elende Quartier der beiden Liebenden unter dem Schutz des auf seinen Gewinn bedachten Lescaut, sein schnödes Spiel, seine gemeine Gesinnung, seine zynischen Ratschläge. Dann Manon im Überfluss und Luxus, den Geronte ihr verschafft, das Eindringen des verliebten Edelmannes, Raubversuch und Fluchtpläne, die Überrumpelung, die Gefangennahme. Endlich Wüste und Tod. Puccini war damit überaus zufrieden.« Von der endgültigen Version des Werks unterscheidet sich dieser Entwurf durch das Bild des »elenden Quartiers der beiden Liebenden«, das später auf Wunsch des Komponisten gestrichen wurde. Obwohl Puccini die Herausforderung angenommen hatte, sich mit Massenet zu messen, war es ihm offensichtlich bewusst, dass er mit diesem Bild dem französischen Werk zu nahe kommen würde. Praga setzt fort: »Ich schreibe den Entwurf nieder, unterbreite ihn noch einmal Puccini und Giulio Ricordi. Man billigt ihn. Domenico Oliva, dem ich gleich zum Anfang davon erzählt hatte und der voll Begeisterung seine Hilfe zugesagt hatte, schreibt in Kürze die Verse. Das Libretto ist fertig. Im Sommer – die Familie Ricordi war damals zur Sommerfrische in Cernobbio – traf ich dort mit Oliva und Puccini zusammen, und wir hielten Leseprobe. Auch Paolo Tosti war zugegen. Der Erfolg war glänzend... Es war eine Opera comica wie Puccini sie sich erträumt hatte. In Mailand wird der Vertrag abgeschlossen, und Puccini reist mit seinem oder vielmehr: mit unserem Manuskript ab. Die Dinge hätten nicht besser stehen können. Aber dieser heitere Frieden sollte nicht lange dauern. Der Maestro war ein paar Monate später mit der Anlage und mit der Einteilung der Akte nicht mehr zufrieden. Es wollte ihm nicht gelingen, sich in das Werk einzufühlen. Er wollte den zweiten Akt streichen, ihn durch den dritten erROBERTO SCOCCIM A R RO

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setzen, und für den dritten eine dramatisch mitreißende Situation finden. Ich, als gewissenhafter Komödienschreiber, konnte den Übergang nicht recht einsehen, und ich fühlte mich meinerseits nicht bewogen, die Struktur des Librettos zu ändern, und so lehnte ich diesen Antrag ab, indem ich ihn mit aller Weitherzigkeit gänzlich dem Urteil Olivas anheimstellte.« Man kann sich vorstellen, was für Praga hier unakzeptabel war: Der Verzicht auf eine logische und chronologische Reihenfolge der Ereignisse – die der Zuschauer leichter hätte verfolgen können – zugunsten einer von narrativen Sprüngen getragenen Struktur. Der Wechsel von Manons und Des Grieux’ Flucht im ersten Akt zum wohlhabenden Leben der Protagonistin mit dem alten und reichen Geronte im zweiten war vermutlich zu abrupt. Der neue Librettist Domenico Oliva – so Praga weiter – »folgte dem Plan Puccinis. Er arbeitete alles um. Der zweite Akt verschwand. Es entstand der Akt in Le Havre mit dem Aufruf der Dirnen und der Einschiffung. Aber auch diesmal ging nicht alles glatt. Jeden Augenblick verlangte Puccini Änderungen und Umstellungen. Oliva wurde es schließlich müde. Kam zu mir und erklärte, er wolle die Arbeit nicht fortsetzen und verzichte seinerseits auf das Unternehmen. Zu diesem Zeitpunkt übernahm Luigi Illica unser Werk und führte es zu Ende. Von da an habe ich von dem Libretto der Manon und seinen Schicksalen nie wieder etwas gehört.« Die Umarbeitung, die zur Streichung des ursprünglichen zweiten Aktes und zur Entstehung des neuen zweiten und dritten »Le Havre«-Aktes führte, ging sehr langsam voran – und nicht so schnell, wie man aus der Erzählung Pragas vermuten könnte. In einem Brief an Ricordi vom 20. Mai 1890 bezieht sich Oliva noch nicht auf den im Haus Gerontes spielenden zweiten Akt der definitiven Fassung – wo die Versöhnung zwischen Des Grieux und Manon, sowie Manons Verhaftung stattfinden – sondern auf ein früheres Arbeitsstadium. Die Einschiffung in Le Havre wurde Mitte Oktober 1890 noch nicht als eigenständiger dritter Akt, sondern als zweite Szene dieses Aktes konzipiert. Der »Le Havre«-Akt nahm erst zwischen April und Juni 1892 seine fast definitive Gestalt an. Die Überarbeitung zog sich aber noch bis August 1892 hin. Sorgen um die Schwierigkeiten beim Schreiben des Librettos hatte Puccini bereits im Juni 1890 geäußert: »Ich bin zu Manon zurückgekehrt, aber ich verzweifle am Libretto, ich musste es wieder umarbeiten lassen. Und jetzt findet man keinen Dichter mehr, der dir etwas Gutes macht!« Das ist wahrscheinlich der Zeitpunkt, als Praga aus dem Projekt ausstieg. Einen Monat später arbeitet Oliva fleißig weiter und zeigt noch kein Zeichen von Ungeduld. Er schreibt an Ricordi: »Ich habe [Puccini] den ersten Teil des dritten Aktes abgegeben, der ihn zufrieden gestellt hat.« Aber bereits im Oktober 1890 schreibt Oliva in einem Brief an Ricordi über seine ersten Zweifel: 51

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»Vor Manon Lescaut wusste ich noch gar nichts über die Schwierigkeiten beim Schreiben eines Librettos; ich habe einige kritische Bemerkungen auf dem Gewissen... Jetzt erwarte ich selbst geschlagen zu werden: vielleicht wird es ausgleichende Gerechtigkeit: chacun à son tour.«» In einem Brief an Puccini von Mitte Oktober 1890 stellt Oliva Lescauts Angriff an den Prostituiertenkonvoi in Frage: Welchen Gewinn soll der zynische Gauner Lescaut daraus ziehen, indem er dem Paar hilft? Offensichtlich stammte diese dramatische Situation nicht von Oliva und Praga – jemand anderer musste inzwischen Änderungen vorgenommen haben. Es war Leoncavallo – der sich damals noch zwischen Komposition und Literatur nicht entscheiden konnte – der zu diesem Zeitpunkt in das Projekt eingestiegen war. Nach den neuesten Forschungen ging Leoncavallos Mitarbeit nicht im Sommer 1889 zu Ende, wie das Giuseppe Adami, der Librettist von La rondine und Suor Angelica, angedeutet hat, sondern erst 1890. Allerdings sind weder der Umfang noch die genaue Dauer seines Beitrags einfach zu bestimmen. Im Oktober 1890 schickt Ricordi einen von Leoncavallo geschriebenen Entwurf des zweiten Aktes an Puccini, der noch in Des Grieux’ Wohnung spielt. Oliva schreibt die Verse dazu. Daraufhin erklärt Puccini in einem nicht genau datierten Brief an Ricordi aus dem Jahr 1890, warum er mit der Arbeit von Leoncavallo und Oliva nicht zufrieden ist. Er legt besonderen Wert auf das Urteil des Verlegers. Zu diesem Zeitpunkt kommt also Giulio Ricordi als »Richter« über den Text ins Spiel. Im Brief zieht Puccini nicht nur bestimmte Szenen in Zweifel, sondern erwähnt auch einige Versentwürfe, an die sich Oliva nicht gehalten hat: »Schauen Sie sich das Manuskript an, Sie werden Anmerkungen dort finden, wo Lescaut mit Des Grieux spricht. Der Entwurf ist klar: ›Also, mein Lieber, es gibt so viele Möglichkeiten, Geld zu verdienen, wenn man nur klug ist: das Glücksspiel, die schönen, mehr oder weniger jungen Mädchen, usw. usw.‹. Dagegen, wie Sie aus dem Libretto sehen werden, all das ist unsicher, verworren, lang...« Von dieser Passage findet man heute in der Oper nur eine Spur: Den Auftritt Lescauts im zweiten Akt. Er erzählt Manon, dass er Des Grieux überredet hat, sich am Glücksspiel zu bereichern. Die eben zitierte Stelle im Brief zeigt, wie sich Puccini am Libretto beteiligt, in dem er Dialoge genau gestaltet. Im selben Brief beschreibt Puccini auch, wie er sich eine dramatische Situation vorstellt, womit sein Einfluss auf das Libretto eine neue Qualität bekommt: »Kommen wir zum Quartett. Wie anmutig, logisch, interessant war das vom Entwurf her! Jener mythologische Eintritt Gerontes!... Jene Plauderei von Geronte und Manon! Wohin ist jener kleine Toast zu viert verschwunden, der sich so gut traf?« Von dieser Szene können wir im aktuellen zweiten Akt nur den »mythologischen Eintritt Gerontes«, der die Liebenden ertappt, wiederfinden – während andere Elemente, wie das »kleine Quartett am Tisch« verschwunden sind. ROBERTO SCOCCIM A R RO

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Fast ein Jahr später, im Frühling 1891, kündigte Oliva seine Mitarbeit am Libretto auf. Die Arbeit wurde von Luigi Illica übernommen, der später mit Giuseppe Giacosa zum Hauptdichter Puccinis wurde. Nach der Absage Olivas musste Giacosa nicht nur als Vermittler zwischen Ricordi und Illica auftreten, sondern auch im Sommer 1891 beim Verfassen des Textes behilflich sein – in welchem Umfang lässt sich nicht genau sagen. In seinem ersten, von Eugenio Gara im Frühling 1891 datierten Brief an Illica, stellt Puccini die Idee zur Diskussion, den neuen zweiten Akt einzufügen und den alten zu kürzen – besonders das Duett von Manon und Lescaut. Trotzdem spricht er immer noch vom Bild, in dem das glückliche Leben der beiden Liebenden gezeigt wird. In diesem Bild zeigt sich die besondere szenische Vorstellungskraft Puccinis: »Es sollte ein Bild voller Liebe, Frühling, Jugend sein. Das Bühnenbild: Ein Gemüsegarten, voll von kleinen blühenden Bäumen fast bis zur Rampe – mit Gras, schmalen Wegen und einigen Bänken. Ein langes Bühnenbild, weil sich die blühenden Bäume im Unendlichen verlieren sollten. Ein Anblick von Frische, von übermäßiger Blüte.« Im Briefwechsel mit Illica – z. B. im Brief vom Jänner 1892 – ist noch von einem weiteren Einfluss Puccinis auf das Libretto die Rede: »Wenn Musikstücke eine mehr oder weniger vollendete Gestalt erreicht haben, verlangt der Komponist eine Umformulierung der Verse, da sie sich der Musik anpassen müssen.« Mit Illica bespricht Puccini zwei grundsätzliche Fragen: Das widersprüchliche Verhalten Lescauts und die Realisierung des dritten Aktes mit der Einschiffung in Le Havre. Zwischen Februar und April 1892 versucht Illica das erste Problem zu lösen: »So sehr ich es auch versucht habe, kurz wie möglich zu sein, habe ich jedoch den raschen und unlogischen Charakterwandel von Lescaut zwischen dem ersten und zweiten Akt zu rechtfertigen; er schreit und brüllt im ersten den Entführer seiner Schwester an, während er im zweiten nicht nur als Freund von Des Grieux und Manon in Erscheinung tritt, sondern auch noch ihre Liebe unterstützt.« Im April 1892 beginnt eine intensive Diskussion zwischen Illica, Puccini und Ricordi über den »Le Havre«-Akt. Illica erklärt Ricordi seine Auffassung vom dritten Akt, der in vieler Hinsicht bereits seine aktuelle Form zeigt: Lescaut bereitet einen Streich, um Manon zu befreien, während die beiden Liebenden das »Duett am Fenster« singen; dazwischen erklingt das Lied des Laternenanzünders. Nachdem der Fluchtversuch misslingt, werden die gefangenen Kurtisanen aufgerufen. Die Aufbausschwierigkeiten dieser Szene stellt sich Illica in einem Brief vom 24. April 1892 so vor: »Hier scheint mir die Sache wirklich verwirrend zu sein: Die Idee des Aufrufs ist gut aber nicht gut durchdacht; sie wird von einer künstlichen Kürze abgewürgt – die nützlich ist, wenn es um Langeweile geht, die aber 53

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schädlich ist, wenn die Situation zu etwas Neuem und Originellem Anlass gibt. Um es zu verdeutlichen: Der Aufruf war nur auf wenige Namen beschränkt und war isoliert, während die Chöre im Überfluss vorhanden waren: Die Kurtisanen hatten zwei, das Volk drei, die Soldaten zwei und all das war konfus zusammengestellt – und das Concertato war ohne Seele, ohne Wahrheit... Ich habe den Aufruf als Basis des Concertatos ausgedacht, indem ich ihn den Soldaten (Bässen), dem murmenlden Volk, den teilweise frohen, teilweise traurigen Kurtisanen anvertraut habe, und das Quintett darauf aufgebaut; und all das mitten in jenem seltsamen Gehämmer von Namen, die kurz, herb, sich steigernd erklingen. Der letzte Name ist Manon – und ihr Name bereitet dem Concertato ein Ende.« Am Schluss des Aktes stellt sich Illica Des Grieux vor, wie er den Kapitän anfleht, sich zusammen mit seiner Geliebten einschiffen zu dürfen. Im Gegensatz zu Illica möchte Puccini das Flehen Des Grieuxs in den Mittelpunkt des Concertatos stellen. Der Komponist schickt Illica seinen Entwurf und erwartet vom Librettisten, dass er die geignete Antwort des Kapitäns auf die Bitte des Geliebten findet. Es wird aber Ricordi sein, der die Lösung finden wird, indem er die folgenden Verse vorschlägt: ›Wünschen Sie sich, junger Mann, Amerika zu besiedeln?‹. Wir haben bereits festgestellt, dass Ricordis Beitrag viel größer war, als nur diese Verse. Es geschah auch nach seinem Rat, dass das Intermezzo »Die Fahrt nach Le Havre« entstand. Puccini hatte so ein Vertrauen in ihn, dass er in einem Brief vom August 1895 schreibt: »Mein ausgezeichneter Dichter, der Abhilfe für die Fehler der anderen schafft«. Anfang Mai 1892 hat Illica einen Kompromiss zwischen seiner Meinung und der des Komponisten gefunden. Er möchte mit dem Aufruf beginnen und zwar möglichst realistisch. »Inzwischen hat sich Des Grieux Manon genähert, dieser Manon, die jede Hoffnung auf eine Flucht verloren hat, deren Seele nicht nur wegen der gewaltsamen Trennung von Des Grieux mit Angst erfüllt ist, sondern auch von finsteren Vorahnungen geplagt wird. Und Manon verabschiedet sich hier zum letzten Mal von ihrem Geliebten. Hier würde ein von tiefer, unermesslicher Wehmut getragenes Solo beginnen, eine echte Melodiewelle (Manon hat sonst keine Gefühlsstücke in der Oper). Im Hintergrund hört man das Flüstern der Soldaten. Der mutlose Des Grieux weint und kann vor Rührung kein Wort mehr sprechen. Aber als ihn der Name ›Manon‹ doch dazu zwingt, setzt er seine letzte Hoffnung auf den Kapitän, dessen Mitleid er erregen möchte. Und er bittet! So ist alles einfacher. Weg mit dem Gesang der Kurtisanen, der manierlich wäre, und mit jenen langweiligen a parte des Kommandanten, des Kapitäns, des Sergeants und Genossen; es würde dagegen ein kräftiges aber doch einfaches Musikstück bleiben, das Manon sympathischer machen würde. Das Publikum würde endlich eine neue Seite von ihr sehen: die des Gefühls.« ROBERTO SCOCCIM A R RO

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Aus dieser Zeit stammt ein Brief von Puccini an Ricordi (2. August 1892), der beweist, dass Leoncavallo erneut am Schaffensprozess teilnimmt, obwohl er jetzt nur wegen wenigen Versen zu Rate gezogen wird. Von den hinzugefügten Versen erklingen heute in der Oper nur die letzten zwei, die von Des Grieux im zweiten Akt, am Ende seines Solos, »Ah! Manon! Mi tradisce il tuo folle pensier«, gesungen werden. Nachdem das Problem der Aufruf-Szene gelöst wurde, verlangt Puccini im Oktober 1892 eine Kürzung des Duetts im ersten Akt, weil es sonst zum »Duett des Tristans werden würde.« Die leichte Ironie dieses Satzes verdeutlicht Puccinis Verhältnis zur Wagner’schen Musiksprache: Gerade in dieser Oper, wo der Komponist mit einer persönlichen Leitmotiv- und Reminiszenztechnik arbeitet, kann er auch auf Distanz zu einem von seinen Vorbildern gehen. Im Jänner 1893, nachdem das Libretto seit etwa zwei Monaten beendet war, vertraut Illica Ricordi seine persönliche Meinung über den Schaffensprozess im Musiktheater: Der Librettist sollte nicht dem Komponisten untergeordnet sein. Als ideales Vorbild wird das Verhältnis Verdi-Boito hingestellt: »Erlauben Sie mir, Ihnen zu sagen, dass ich keine Kraft habe, die Musik wieder zu paraphrasieren – und erlauben Sie, dass ich Ihnen mitteilen kann, wie schlecht ich dieses System finde – gerade heutzutage besteht der große künstlerische Versuch von Verdi und Boito darin, der Musik die ganze Wahrheit und Wirksamkeit des Wortes zu verleihen, was das Merkmal des Theaters ist. Trotz allem weigere ich mich nicht ein Libretto für Puccini zu schreiben, dieses Libretto sollte aber eine gut durchdachte Handlung haben und dabei soll es bleiben. Hätten Sie noch die Lust, sich mit der Unentschlossenheit auseinanderzusetzten, wie das bei Manon der Fall war?« Ein paar Monate später, Ende Oktober 1893, besucht Illica in Mailand eine Aufführung von Massenets Manon. Trotz der einstimmigen Begeisterung für die Oper von Massenet verteidigt er Puccinis Werk. Der Vergleich führt aber zu einem Verbesserungsvorschlag im ersten Akt: »Beim Hören von Massenets Manon bin ich auf eine Idee gekommen: Wenn man für La Scala mit einem kühnen Scherenschnitt das erste Finale schneiden könnte und sich stattdessen etwas für Lescaut und Geronte einfallen lassen würde, wäre dann der zweite Akt nicht verständlicher?« Die Aufführungen von Puccinis Manon im Jänner und Februar 1894 in Neapel und Mailand folgten Illicas Rat: Sie schlossen das kleine aktuelle Duett ein, wo Lescaut – nach der Flucht der Liebenden – Geronte tröstet, indem er ihn auf Manons Schwäche für ein Leben im Wohlstand aufmerksam macht. Nach dieser Änderung fing die Geschichte der Partiturnachbesserungen an, die bis 1923 dauern wird, worüber die Korrespondenz Puccinis mit dem Verlag Ricordi Auskunft gibt. Zu den Nachbesserungen gehört auch die Wiedereinführung der Arie »Sola perduta abbandonata«, die eine Zeitlang ge 55

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strichen worden war. Die Manon, wie wir sie heute kennen, entspricht dem Libretto vom Anfang 1894, nach der letzten Änderung Illicas im ersten Finale. Viele Jahre später – am 1. November 1923 – schrieb Puccini an Giuseppe Adami: »Würdest du mir einen Gefallen tun? Das Textbuch der Manon stammt jetzt von allen und von keinem. Es handelt sich um Manons Arie im vierten Akt (die gewöhnlich gestrichen wird); sie wiederholt da ewig, drei- oder viermal: »allein nun, von allen preisgegeben, ich, arme verlass’ne Frau«. Man müsste an die Stelle dieser Wiederholungen andere, gefühlvollere Worte setzen. Vielleicht braucht es nur ein einziger Vers zu sein. Sie machen das in fünf Minuten... Ich entsinne mich, dass seinerzeit (wie lange ist das her!) diese Repetitionen mich schrecklich geärgert haben.« So kam, wenige Jahre vor dem Tod des Komponisten, noch eine Hand hinzu, um eine letzte Änderung im Libretto vorzunehmen. Nach der Uraufführung der Oper und der ersten Librettoausgabe – die anonym erschienen war – waren dreißig Jahre vergangen: Nun war das Textbuch mehr denn je »von allen und von keinem«.

→ Szenenbild

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Dieter Schickling

DIE MUSIK VON MANON LESCAUT

Der Anfang der Oper ist eines von Puccinis notorischen Selbst-Plagiaten: Er verwendet das Thema eines der drei bereits Jahre alten Menuette für Streichquartett. Aber bei identischem musikalischem Material ist der Ton völlig anders geworden. Der harmlose vierstimmige Satz hat sich in eine Musik verwandelt, die die turbulente Stimmung einer Kneipe in Amiens charakterisiert. Technisch vollbringt Puccini das dadurch, dass er das Thema in die hohen Holzbläser und Violinen legt und die konventionelle Gegenstimme des Violoncellos ersetzt durch Staccato-Akzente der Blechbläser und Pizzicati der tiefen Streicher. Die scheinbar kleine Veränderung weitet den Klangraum erheblich und bringt ein ganz neues Klangbild hervor: Das traditionelle Menuett scheint zwar noch immer als formales Muster durch – Manon Lescaut spielt schließlich in der Zeit des Rokoko –, aber es ist Musik kurz vor 1900 geworden, die das 18. Jahrhundert bloß reflektiert. DIET ER SCHICK LING

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Das knappe Orchestervorspiel geht ohne Zäsur in die Anfangsszene über, einen Chor mit tenoralem Vorsänger. Die Szene besitzt nach den vielen mühsamen Chorstellen der früheren Puccini-Opern eine bemerkenswerte musikalische Frische, sie entbehrt des gewohnten Nummern-Charakters. Gleichsam beiläufig wird darin auch der männliche Held eingeführt: Des Grieux’ Beteiligung an dem eigentlich konventionellen Genrebild ist bis hin zu seinem ersten kurzen Arioso »Tra voi, belle, brune e bionde« von genialer Leichtigkeit. Dabei nimmt Puccini diesem Stückchen seine mögliche Belanglosigkeit, indem er im Mittelteil den Gesang nur von den Holzbläsern in Quintparallelen begleiten lässt, was die scheinbar so lockere Situation fahl einfärbt. Mit der Ankunft der Postkutsche, aus der Manon mit ihrem Bruder und der alte Geronte aussteigen, wird der heitere musikalische Gestus der Einleitungsszene instrumental abgeblendet, ohne dass ein erkennbarer kompositorischer Bruch eintritt: Puccini beherrscht die so schwierige Kunst des Übergangs bereits perfekt. Der erste Dialog zwischen Des Grieux und Manon mit seinen irritierenden Blechbläserakzenten über schwirrenden Streicherakkorden signalisiert, dass die Geschichte sehr vermutlich kein gutes Ende finden wird. Daraus entwickelt sich ein weiteres Des Grieux-Arioso, »Donna non vidi mai simile a questa!«, für das Puccini thematisch seine alte Examensarbeit verwendet hat, die Gesangsszene Mentìa lʼavviso von 1883. Es ist eines seiner so typischen Tenorstücke mit den kurzen melodischen Bögen, die abwärts zielen, mit den Oktavbegleitungen des Orchesters, nun aber schon kunstvoll zwischen verschiedenen Instrumentengruppen wechselnd. Das Thema gewinnt als Des Grieux’ Liebesmelodie von jetzt an leitmotivisches Gewicht und damit eine strukturelle Bedeutung, wie sie Puccini in den Opern zuvor kaum nutzte. In die folgende Chorszene ist der Dialog eingefügt, in dem Lescaut seine Schwester an Geronte verschachert. Auch hier wird durch ständig fließende Übergänge jeder Nummerncharakter vermieden; Puccini beachtet Wagners musikdramatische Lehren sorgfältig. Wieviel Puccini sogar technisch aus seinem Wagner-Studium gelernt hat, zeigen die gleich anschließenden Passagen, vor allem die große Freiheit selbst der instrumentalen Deklamation beim Gespräch zwischen Edmondo und Des Grieux (etwa nach Ziffer 52); und zu Manons Wiederauftritt nimmt das Orchester geradezu eine meistersingerische Klanggestalt an (vor Ziffer 53), als handle es sich um Eva. Das zweite Manon-Des Grieux-Duett setzt diesen Stil fort, übrigens auch in der Disposition des Dialogs: Bis auf die vier kurzen Takte des Liebesbekenntnisses gehen die Stimmen nie zusammen, sondern wechseln sich ab, auch hierin Wagners Theorie der Natürlichkeit im Musikdrama folgend und nicht der italienischen Operntradition. Ganz schlackenlos ist das alles aber noch nicht bewältigt, wie etwa der völlig unvermittelte und unerklärliche Tanzrhythmus (bei Ziffer 60) zeigt, der wie aus Südamerika und in einem aufdringlichen Fortissimo ertönt. 59

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Das Finale nach Manons und Des Grieuxs gemeinsamer Flucht ist später neu getextet und neu komponiert worden: Lescaut tröstet den ausgetricksten Geronte mit der Hoffnung auf Manons Luxusbedürfnisse, die sie in Paris sehr bald dazu bringen würden, den armen Des Grieux zu verlassen und Gerontes Reichtum zu erliegen. Mit der Wiederaufnahme des »Tra voi«Ariosos durch den Chor kommt der erste Akt zu einem eleganten und knappen Schluss. Der zweite spielt im Haus Gerontes, dem Manon gemäß Lescauts Prophezeiung bereits als Mätresse gehört. Unter Gesichtspunkten einer kontinuierlichen dramaturgischen Logik ist es sicher ein Fehler, dass Puccini das ursprüngliche zweite Bild, Manons und Des Grieuxs Liebesidyll, gestrichen hat und von ihm nur noch in einem kurzen Solo des Lescaut im nächsten Bild berichtet. Aber im abrupten Nebeneinander von Liebesausbruch und Verrat an der Liebe aus Genusssucht zeichnet die Dramaturgie der Oper sehr genau den Charakter Manons nach, der sich ja gerade aus so scheinbar schroffen Gegensätzen konstituiert. Puccini vollzieht den Bruch auch kompositorisch. Die Musik am Anfang des 2. Akts präsentiert ein nachgemachtes Rokoko, in einer atmosphärisch dichten Instrumentation, die von Flöte, Harfe, Triangel und Streichern beherrscht wird. Die akustische Szenerie ist von einer marionettenhaften Starre, die sich von der lockeren Frische des 1. Akts absichtsvoll krass unterscheidet. Diese Starre setzt sich noch bis in Manons Arie »In quelle trine morbide« mit ihrer anfänglichen synkopierten Holzbläserbegleitung fort. Erst im zweiten Teil der Arie, wenn Manon sich an ihr Zusammenleben mit Des Grieux erinnert, beginnt das melodische Leben des ersten Akts wieder zu blühen. Aber die Musik ist von nun an vom Verlust ihrer Naivität infiziert. Sie erscheint zunehmend eingetrübt, rau, quälerisch, manchmal gar schrill wie in den von Pausen durchsetzten Achteltriolen zu Lescauts Bericht von Des Grieux’ Verzweiflung (nach Ziffer 8) oder in der schrecklich klingenden Modulation durch weit voneinander entfernte Tonarten am Ende des Duetts Manon-Lescaut (vor Ziffer 10) – das wirkt so unbeholfen, dass es bei Puccinis technischen Fähigkeiten um diese Zeit Absicht sein muss. Puccini schiebt dann, um die Atmosphäre des Hauses und Manons Situation noch genauer zu charakterisieren, eine merkwürdige Szene ein, wo Sänger ein von Geronte geschriebenes Madrigal vortragen und Manon Tanzunterricht erhält. Das Madrigal ist die Musik des Agnus Dei aus Puccinis jugendlicher Messa, wodurch der dort bereits beschriebene doppelte Zitat-Charakter noch eine bissige Pointe erhält, weil das Stück als Werk Gerontes ausgegeben wird, des geilen alten Bösewichts. Das dann erklingende Menuett als Musik für die Tanzstunde enthält Fragmente aus den beiden anderen der drei Menuette, deren zweites Puccini ja schon im vorigen Akt verwendet hatte. Die Passage, Madrigal plus Menuett, hat im Ganzen etwas Rührendes, aber auch Tiefsinniges. Sie greift auf sehr frühe Kompositionen Puccinis DIET ER SCHICK LING

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zurück und stellt sie zugleich inhaltlich in einen ironischen Zusammenhang: Puccini konstatiert für sich (und für die Kenner unter seinen Freunden: Nur wenige können die Anspielung verstanden haben) den Abschied von seiner Vergangenheit und von seiner musikalischen Herkunft aus der Provinz. Die Veranstaltung in Gerontes Haus hat erkennbar provinziellen Charakter, und sie wird sehr rasch abgelöst von etwas, was für Puccini und nicht nur für ihn Weltmusik ist: Auf den musikalisch historisierenden Rückblick folgt der aktuellste Italo-Wagner. Mitten in der Szene nämlich noch vollführen die Violinen eine abwärts rasende Figur (bei Ziffer 22), die direkt aus dem 3. Meistersinger-Akt, von der Nürnberger Festwiese, zu stammen scheint, und mit dem Auftritt des Des Grieux beginnt die Musik sich in das Gewand von Wagners Tristan und Isolde zu kleiden. Natürlich ist dieses Gewand zu weit für die darin steckenden Figuren. Zwar ist der 2. Tristan-Akt erkennbar Pate gestanden für die Musik des nun folgenden Duetts zwischen Manon und Des Grieux. Aber das chromatische Pathos ist aus zweiter Hand, das große Vorbild zu übermächtig, um dem Nachahmer trotz all seinen hier schon bemerkenswerten Instrumentationskünsten Luft zum Atmen zu lassen, irgendwann weicht Puccini ganz schlicht in einen über sieben Takte völlig unbegleiteten Gesang aus (vor Ziffer 31) – und da, in der Kapitulation vor Wagners kompositorischer Meisterschaft, ist der italienische Nachfahre am überzeugendsten, weil nur in der äußersten Ökonomie der musikalischen Mittel ein Gegengewicht zu Wagners exorbitantem Reichtum zu schaffen ist. Erst im zweiten Teil vermag das Duett ganz aus dem Tristan-Schatten zu treten. Mit Des Grieux’ »Nel occhio tuo profondo« schreibt Puccini eines seiner überwältigendsten Themen, das natürlich alle Zutaten solcher Themen enthält: die fallende Linie, die Triolenbewegung, die Orchesterfarbe in der Oktavbegleitung. So etwas hätte Wagner nicht komponiert, und in der Verknüpfung dieses ekstatischen melodischen Einfalls mit der Technik des Tristan-Duetts zerbricht Puccini alle Konventionen und wird »er selbst«. Von diesem Augenblick an zeigt die Fortführung der Musik, dass es einen neuen großen Opernkomponisten gibt, nach Verdi und Wagner und vor Richard Strauss und Alban Berg. Der Gewinn zeigt sich alsbald. Von nun an besitzt Puccinis Orchester eine Selbständigkeit, mit der er Verdis Otello-Orchester zumindest einholt. Es hat vielleicht sogar einen größeren Reichtum der Farben, klebt weniger an den Singstimmen, charakterisiert Situationen, die ein Libretto nur andeuten kann. Der Rest des Akts ist dunkel eingefärbt. Gerontes Drohung, die unerlaubt Liebenden der Justiz auszuliefern, und der wegen Manons Charakter scheiternde Fluchtversuch (sie mag sich von ihrem Schmuck nicht trennen) sind in einem vergleichsweise strengen Fugato gestaltet – Fuga heißt wörtlich ja auch Flucht. Vertrackte Rhythmuswechsel und eine heftige Beschleunigung am Ende fegen die Banalität hinweg, die Manons Verhaftung und ihre und 61

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Des Grieux’ Verzweiflung musikalisch leicht auslösen könnten. Die mit den Mitteln des ausgehenden 19. Jahrhunderts auf die Spitze getriebene musikalische Ekstase entschuldigt die Anleihen, die Puccini in der zweiten Hälfte seines Akts beim 2. Tristan-Akt gemacht hat. Zwischen den 2. und den 3. Akt hat Puccini ein Orchesterintermezzo eingeschoben. Das Verfahren war beliebt, er selbst hatte es schon in den Villi angewandt, um einen auf der Bühne nicht dargestellten Handlungszeitraum zu vertreten; und das Intermezzo aus Mascagnis Cavalleria rusticana war längst ein auch außerhalb der Oper geschätzter Hit geworden. Puccinis Manon-Intermezzo sollte ursprünglich das Ende des ersten Teils des 2. Akts sein, dessen zweiter Teil dann also die Einschiffungsszene in Le Havre gewesen wäre, der heutige 3. Akt. Das heißt jedenfalls, dass dieses Intermezzo enger an den heutigen 2. Akt gekoppelt ist als an den 3., ein Nachspiel also und kein Vorspiel zu Le Havre. In Bühnenaufführungen der Manon Lescaut herrscht darüber allgemeine Unsicherheit; meist wird das Stück nach der Pause als Präludium zum 3. Akt gespielt. Im Übrigen ist es eine sehr gut geschriebene Orchesterkomposition, wohl Puccinis beste, die in der Oper den Transport der verurteilten Manon nach Le Havre überbrückt, von wo sie in die französischen Kolonien in Nordamerika deportiert werden soll. Der Anfang des Intermezzos mit den Soli eines Violoncellos und einer Viola verdankt seinen Duktus sehr offenkundig dem Vorspiel zum 3. Akt der Meistersinger, nach dem das ganze Stück modelliert zu sein scheint. Puccinis über die Prévostʼsche Vorlage hinausgehende eigentliche Erfindung ist der heutige 3. Akt der Manon Lescaut. Inhaltlich behandelt er den fehlschlagenden Versuch, Manon mit Gewalt zu befreien, und ihre und ähnlicher Leidensgenossinnen Einschiffung nach Amerika. Die düstere Geschichte findet ihr Pendant in ihrer musikalischen Gestaltung: Abgrunddunkle Orchesterfarben charakterisieren den traurigen Zustand der Handlung, eingeschlossen das erotisch irisierende Lied eines Lampenanzünders, das als Reflex der »hohen« Handlung das erste Modell für ähnliche Passagen vor allem in Puccinis Spätwerk ist. An das Scheitern von Manons Befreiung schließt sich fast nahtlos der düstere »Appello« an, der Aufruf der für die Deportation bestimmten Frauen. Das ist eine dramatisch äußerst eindrucksvolle Szene mit einem raffiniert komponierten Ineinander der vielen beteiligten Stimmen. Puccini hat diesen Akt als letztes Stück seiner Oper geschrieben, und es ist das beste geworden: eine düstere Szene voller Emotion, frei von aller Konventionalität, sparsam, mit Ausnahme des Schlusses, wo das Orchester das große Thema aus dem Duett des 2. Akts herausschmettert, was ohne Zweifel kein besonders guter Einfall Puccinis war. Er hat sich später übrigens angeblich darauf berufen, dass seine Inspiration für dieses Finale aus einem Bericht über das Jammern der Patienten in einem Irrenhaus stamme. Die Anekdote klingt nicht unwahrscheinlich: Wer emotional so empfänglich war wie Puccini, musste DIET ER SCHICK LING

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durch eine solche Erzählung tief beeindruckt werden, und man hört der Szene an, mit wieviel Engagement sie komponiert worden ist. Der 4. Akt ist ein ganz ungewöhnliches Stück. Er spielt in einer »endlosen Einöde an der Grenze des Territoriums von New Orleans«. Die amerikanische Szenerie stammt aus Prévosts Original. Dort wie in der Oper sind Manon und Des Grieux auf der Flucht aus der französischen Strafkolonie ins »Indianergebiet« und zu den englischen Besitzungen weiter nördlich. Aber Prévosts Motiv dafür – Des Grieux glaubt den Neffen des französischen Gouverneurs im Duell getötet zu haben – ist bei Puccini verschwunden. Die Flucht ist hier eine gleichsam abstrakte existenzielle Situation, die aus der Handlung überhaupt nicht mehr begründet wird. Das erinnert wiederum an den Schluss von Tristan und Isolde, wo der »Liebestod« des Titelpaars sich ebenfalls um keine logische Legitimation bemüht. Der Akt ist insgesamt ein einziges Duett mit einem eingeschobenen Monolog der Manon. Wie wir gesehen haben, hat Puccini an dem Stück viel herumgebastelt, vor allem immer wieder gekürzt, wobei schließlich zeitweise sogar der ganze Monolog entfiel, und zwar gerade mit der Absicht, eine allzu deutliche Tristan-Nähe zu vermeiden. Musikalisch lebt der Akt außer von den Erinnerungsmotiven der vorausgehenden Bilder vom thematischen Material des Streichquartetts Crisantemi, das auch im dritten Akt schon einmal kurz auftauchte. Bemerkenswert ist, dass es sich hierbei um ein ziemlich neues und auch ziemlich bekanntes Stück handelt. Puccini hat also, anders als sonst, in Kauf genommen, dass die im Jänner 1890 geschriebene und zwei Monate später veröffentlichte Elegie wiedererkannt wurde. Vielleicht kann man sie selbst sogar schon als Komposition für Manon Lescaut betrachten, denn um diese Zeit war Puccini ja bereits mitten im 1. Akt, und der Tod des beliebten Königsbruders hat ihn möglicherweise gerade zur Todesmusik der Manon inspiriert. Dann wäre das Streichquartett also eine Art vorweggenommene Nebennutzung der Oper. Der 4. Akt beginnt mit einer ekstatischen Orchestergebärde, einem zweimal vom Pianissimo zum Fortissimo anschwellenden und wieder zum Pianissimo zurückkehrenden Oktavaufschwung. Die etwas larmoyante Crisantemi-Musik erhält durch Rückerinnerungsmotive und durch die Vielfalt der instrumentalen Farben einen Reichtum, den man dem originalen Streichquartett nicht zutrauen würde (man höre zum Beispiel die fahlen SforzatoAkkorde der Holzbläser nach Ziffer 2 oder den synkopierten Streicherrhythmus vor Ziffer 18). Manons Arie »Sola, perduta, abbandonata« ist ein etwas uneinheitliches Stück, eher in der Art eines Wagnerʼschen Monologs. Vielleicht hat das Puccini eine Zeitlang bewogen, es zu kürzen und gar für eine komplette Streichung freizugeben. Dabei hat es durchaus seine Reize, so im Einsatz einer fern hinter der Szene spielenden Flöte. Danach wird die Musik gewissermaßen ausgezehrt und immer mehr abgedunkelt. Kaum hörbar zu spielende Geräuschinstrumente wie kleine und große Trommel und Tamtam 63

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(der großen Trommel ist einmal ein fünffaches Piano vorgeschrieben) färben das ohnehin düstere Klangbild ins Nachtschwarze, und mit dem Orchesteraufschwung des Anfangs endet die Oper, wie der Akt begonnen hatte. Prévosts halbwegs glückliches Ende (Des Grieux kehrt nach Manons Tod nach Frankreich zurück und gedenkt nun geläutert unter Freunden weiterzuleben) hat Puccini vermieden: In der unendlichen Wüste Amerikas wirft Des Grieux sich über Manons Leiche. Puccini kennt auf der Opernbühne keine Erlösung, sondern nur Verzweiflung, weil sie für ihn ein Spiegel des Lebens ist. Zum ersten Mal hat er mit Manon Lescaut den Operntypus geschaffen, der von nun an seinen Ruhm in der ganzen Welt etabliert. Sobald er von diesem Modell abweicht (Fanciulla del West, Rondine, Suor Angelica), ist Misserfolg die Strafe. Zunächst aber hat Puccini keinen Grund, das Manon-Modell abzuändern. Das nächste Opernprojekt folgt ihm beinahe wie ein Selbstplagiat: Puccini und seine Berater glauben jetzt wirklich das Rezept zu kennen, das die Gunst des Publikums garantiert.

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Heinrich Mann

» Der Physiker Helmholz, ein Gipfel des 19. Jahrhunderts, das an Gipfeln reich war, verspätete sich bei seiner Trauung. Befragt warum, sagte er: Ich habe im Goethe gelesen. Das war keine Entschuldigung, es war ein Bekenntnis seines festlichen Zustandes. Aus ihm sprach das Glück, weil der geliebte Dichter ihm Ideen eingegeben hatte, schon oft, aber die besten heute. Ich weiß darum Bescheid, ich habe ähnliches erfahren, dank meiner geistigen Liebe für Giacomo Puccini. «

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Christian Springer

EIN ITALIENISCHER TRISTAN

Wer ist Des Grieux bei Puccini?


Manon Lescaut und Turandot, Mimì und Madama Butterfly, Minnie und Tosca, Suor Angelica und Liù sind nicht nur Namen von Frauengestalten in Puccinis Opern (zum Teil auch deren Titel), sondern Schicksale, mit denen sich der Komponist identifiziert hat und mit denen man wiederum seinen Namen assoziiert. Bezeichnend ist, dass von Puccinis insgesamt zwölf Bühnenwerken nicht weniger als sieben nach der Protagonistin benannt sind: Manon Lescaut, Tosca, Madama Butterfly, La fanciulla del West, La rondine (eine Allegorie auf Magda, die weibliche Hauptrolle, die mit einer Schwalbe verglichen wird), Suor Angelica und Turandot. Nur zwei seiner Opern tragen als Titel den Namen des männlichen Protagonisten: Edgar und Gianni Schicchi. Von jeher war Puccinis Vorliebe für Frauen – in der Kunst wie im Leben – bekannt, wodurch der Eindruck entstehen mochte, dass der Komponist und seine Librettisten (die er mehr als die meisten seiner Kollegen mit Wünschen und Vorstellungen quälte und peinigte) wenig Interesse an den männlichen Figuren hätten. Und auf den ersten Blick scheint auch verständlich zu sein, weshalb man manche Männerrolle bei Puccini als blass, eindimensional, unbedeutend, austauschbar und platt empfand: Man braucht nur das Beispiel der Rolle des Pinkerton (Madama Butterfly) zu bemühen, um den Ausgangspunkt dieser Überlegungen zu erkennen. Wenn dies auch gewiss ein Extremfall ist, so kann doch kein Zweifel darüber bestehen, dass Puccini den Vertretern der tieferen Stimmlagen (Bariton und Bass, aber auch Mezzosopran und Alt) gegenüber wenig Zuneigung aufbrachte. Während es im Baritonfach noch interessante Partien wie die liebeshungrigen Bösewichte Scarpia (Tosca) und Jack Rance (La fanciulla del West), den düsteren Michele (Il tabarro), den an Dante inspirierten, schlauen Florentiner Gianni Schicchi oder den eher kleinbürgerlichen Marcello (La bohème) gibt, sieht es bei den Bassrollen dürftig aus: die Kleinpartien des Timur (Turandot) und des Colline (La bohème) sind die einzigen halbwegs würdigen Vertreter ihres Fachs, die über das Episodistenniveau hinausreichen. Ebenso mager ist die Ausbeute im Mezzosopran- bzw. Altfach: keine bedeutende Rolle hat Puccini für dieses Stimmfach komponiert, sieht man von der Tigrana (in dem kaum gespielten Edgar) ab und will man die Suzuki (Madama Butterfly), die Frugola (Il tabarro) und die Fürstin (Suor Angelica) nicht zu Hauptrollen aufwerten. Eine kurze Betrachtung der Hauptpartien von Manon Lescaut, mit dem Schwerpunkt bei den anscheinend so vernachlässigten Männerrollen, mag daher von gewissem Interesse sein. Eine Betrachtung, die sich auf Puccinis Helden, Prévosts Romanvorlage und Massenets Figuren beschränken kann, wobei aber nicht unberücksichtigt bleiben darf, dass Puccini bei der Komposition seines ersten großen Erfolges am Beginn seiner Karriere stand, während der um 16 Jahre ältere Massenet auf dem Höhepunkt seines Könnens angelangt war. (Massenet kam ein Jahr nach der Uraufführung von Puccinis Manon-Oper auf das Thema seines Erfolges zurück und komponierte den schönen Einakter Le Portrait de Manon.) 67

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Puccinis Oper bewegt sich nicht auf dem Terrain des Naturalismus und der dramaturgischen Schemata des Verismo; vielmehr bedient sich der Komponist einer expressiven Polyvalenz, ungewisser und nicht greifbarer Gefühle: er bemüht sich nicht, Charaktere zu formen und plausibel zu machen, sondern zeichnet Psychogramme in jenen Momenten, in denen es zu Konflikten kommt. Wohl sind Des Grieux und Manon ein Liebespaar. Doch wann stellt Puccini sie als solches dar? Zum Unterschied von Prévost und Massenet nie! Nicht einmal das kurze Idyll zwischen den beiden nach der Flucht von Amiens lässt Puccini das Publikum erleben. Immer, wenn Manon und Des Grieux zusammentreffen, ist Tragik im Spiel, beständig erlebt man die beiden auf der Flucht. Dieser Aspekt der Beziehung wird (über)betont, nie werden die Liebenden glücklich vereint gezeigt. Den ursprünglich als »idyllisch« geplanten 2. Akt »voller Liebe, Frühling und Jugend« (Brief an Illica, Frühling 1891) lässt Puccini bezeichnenderweise entfallen; denn »Massenet muss um jeden Preis vermieden werden«. Puccini muss zu dem (besonders für ein nicht Italienisch sprechendes Publikum) problematischen Hilfsmittel Zuflucht nehmen, Teile der Handlung von Bühnenfiguren erzählen zu lassen. Wenn es noch plausibel erscheint, Lescaut berichten zu lassen, dass er seine Schwester ins Kloster begleitet (die Inkonsequenz der Freundschaft mit dem Verführer der Schwester im 2. Akt wurde erst nachträglich durch einen eingeschobenen Dialog mit Geronte im 1. Akt abgeschwächt), so ist es doch verblüffend, dass die Flucht des Liebespaars erst durch einen Nebensatz in Manons Arie »Sola, perduta, abbandonata« im 4. Akt vage begründet wird: »Ah! di sangue s’è macchiato« (»Er hat sich mit Blut befleckt«). Doch erst bei Prévost findet sich die Erklärung für diese dumpfe Andeutung: Des Grieux hat sich mit einem gewissen Synnelet, dem Neffen des Gouverneurs von Louisiana, duelliert und diesen getötet (Anlass für das Duell war natürlich Manon), weshalb die Flucht notwendig wurde, auf der Manon umkommt. Massenet hat zur Straffung seines szenenreichen Fünfakters Manon bereits auf dem Weg zur Deportation sterben lassen, was Puccini wiederum die Möglichkeit bot, zu Prévosts Original zurückzukehren. Gelang Puccini mit dem (zuletzt komponierten) 3. Akt – im Roman eine Randepisode – ein Meisterstück, so erscheint der 4. Akt dramaturgisch schwach. Wohl kaum hätte sich der reife Puccini hinreißen lassen, einen ganzen Akt als überdimensionales Duett zu gestalten und dabei den Sopran in der Wüste (bei New Orleans!) an Durst und Entkräftung sterben zu lassen, während der Tenor abgeht, um nach Wasser zu suchen und dadurch der sterbenden Geliebten Gelegenheit zu einer Arie zu geben. Auch die Verwendung eines zweiteiligen Intermezzo sinfonico (»Die Gefangenschaft« und »Die Reise nach Le Havre«), das die Verwandtschaft mit dem Intermezzo aus Cavalleria rusticana kaum leugnen kann und dem ein Zitat aus Prévosts Roman programmatisch vorangestellt ist, muss als HilfsCHR IST I A N SPR INGER

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mittel angesehen werden, um Schwächen des Librettos auszugleichen. Ein Problem bei der Herstellung des Librettos lag gewiss in der Form der autobiographischen Erzählung Prévosts, einer Geschichte in einer Geschichte, die von einem ausschließlich männlichen Blickwinkel – durch die Augen des Liebhabers der Manon – dargestellt wird, einer psychologischen Studie der Entwicklung eines jungen Adeligen. Der Chevalier ist bei Prévost sehr komplex: »… ein zwiespältiger Charakter, eine Mischung von Tugenden und Laster, ein ewiger Gegensatz zwischen guten Gesinnungen und schlechten Handlungen«, wie er in der »Nachricht des Verfassers«, der Einleitung zum Roman, dargestellt wird. Die hier angedeutete psychologische Tiefe des jungen Mannes, der mit seinem Selbstmitleid oft an Goethes Werther gemahnt, fehlt sowohl bei Massenet als auch bei Puccini. In beiden Werken ist er ein sentimentaler (bisweilen mit weinerlicher Gefühlstiefe ausgestatteter) Liebhaber, bei Massenet ein jugendlich unerfahrener, feinsinniger Aristokrat, der durch seinen Ausflug in den Priesterstand an Farbigkeit gewinnt, bei Puccini ein leichtsinnig trällernder (»Tra voi, belle, brune e bionde«), wertherisch schwärmender (»Donna non vidi mai«), zu unkontrolliert hysterischen Ausbrüchen neigender und sich demütigender junger Südländer (»Guardate, pazzo son«). Doch wer der Des Grieux Puccinis eigentlich ist, erfährt das Publikum nicht: abgesehen von seiner gesellschaftlichen Position und seinem Beruf (Chevalier bzw. mittelloser Student) weiß man von ihm nichts. Wohl befragt Des Grieux Manon gleich zu Beginn der Oper über ihre Person, worauf sie erschöpfend Auskunft gibt, doch das einzige Mal, wo er auf eine Frage von ihr antworten will, kommt er über die Nennung seines Namens nicht hinaus. Er wird an weiteren Erklärungen durch Lescaut gehindert, der seine Schwester ins Gasthaus ruft. Von da an interessiert sich niemand, Manon nicht und schon gar nicht Puccini, für sein bisheriges Leben. Im Verlauf der Oper gewinnt man den Eindruck, als befände sich Des Grieux in kontinuierlicher ekstatischer Trance, als könne er nicht zu sich kommen. Seine eigenartige bedingungslose emotionale Abhängigkeit von der Geliebten, sein willenloses Ausgeliefertsein an übermächtige Gefühle stempeln ihn zu einem selbstzerstörerischen Versager, der trotz der mitreißend lyrischen bis dramatischen Musik, die Puccini für ihn aufwandte, bewusst auf eine Katastrophe zusteuert, die er sehenden Auges abzuwenden sich nicht aufraffen kann. In passiver, schicksalsergebener Weise nimmt er die Tragödie entgegen, seine Verzweiflung ist mehr eine Mattigkeit, hervorgerufen durch die Überforderung seines emotional-psychischen Potenzials. Massenet hat aus Erfordernissen der Operndramaturgie Manon auf das Niveau des bei Prévost dominierenden Des Grieux erhoben: bei Puccini können die Protagonisten nicht auf einem gemeinsamen Niveau agieren, da der Chevalier in seiner willenlosen Bindung an Manon seine Lebensimpulse nur von der Geliebten erhält. 69

EIN ITA LIEN ISCHER T R ISTA N


Man muss bei Prévost nachschlagen, um Näheres über Des Grieux zu erfahren: er stammt aus sehr guter Familie, gehört dem Malteserorden an (daher der Titel »Chevalier«), ist allseits beliebt, durchaus strebsam und entspricht vor allem den moralischen Ansprüchen seiner Umgebung. Ihn trifft die Liebe zu einer Unbekannten wie ein Keulenschlag auf seiner Reise in die Universitätsstadt. Vor diesem sozialen Gefüge und mit der Figur des moralpredigenden, vieles noch verschlimmernden Vaters (den Massenet, anders als Puccini, übernimmt) besitzt der Des Grieux Prévosts andere Dimensionen: hemmungslose Leidenschaft, Depressionen, alle Arten von Konflikten erzielen hier andere Wirkungen als bei Puccini; mag so manches auch moralisierend wirken, so ist alles – bedingt auch durch Des Grieux’ Rückkehr nach Frankreich aus Amerika – nicht so unentrinnbar desolat und endgültig wie bei Puccini. Was faszinierte Puccini an dem Stoff so sehr? Offenbar nicht die Liebesbeziehung zwischen Manon und Des Grieux, sondern das vorbestimmte Scheitern dieser Beziehung. Zu früh für eine vieraktige Oper (in der Mitte des 2. Aktes) setzt die Tragödie ein. Bis zum voraussehbaren letalen Ende ist alles Geschehen nur ein Hinauszögern des Unvermeidlichen. Bei Lescaut und Geronte de Ravoir kann man an sich nicht von Hauptrollen sprechen. Puccinis Lescaut setzt uns vor allem deshalb in Erstaunen, weil er sich – entgegen seinen Interessen – zum Instrument der Wiedervereinigung der beiden Liebenden macht. Die zahlreichen, zum Teil nachträglich ausgemerzten oder abgeschwächten Ungereimtheiten im Charakter Lescauts machen deutlich, wie sehr Puccini auf das Protagonistenpaar fixiert war. Bei Massenet ist Lescaut – hier, von Prévost abweichend, der Cousin Manons, der seine Cousine erst in der Oper kennenlernt – wesentlich konsequenter und geschlossener dargestellt. Die Herren de B. und de G. M. des Romans – bei Massenet Guillot de Morfontaine und de Brétigny – fasst Puccini geschickt in einer Figur zusammen: in Geronte de Ravoir, ein als Episodist zu bezeichnender »alter Wüstling«. Wer könnte dem brillanten Oskar Bie widersprechen, der 1913 in seinem Buch Die Oper schrieb: »Massenets Text ist mehr Roman, Puccinis mehr Szene, obwohl wiederum Puccini sich mehr an das Gegebene des alten Romans hält als Massenet«, und: »Massenet leidet ständig unter der Pose der beredten Empfindsamkeit und routinierten Affektiertheit, Puccini ist Causeur, eleganter Erzähler und liebenswürdiger Illustrator, und darum als Typus schon viel angenehmer«. Doch muss man andererseits auch Fedele D’Amico Recht geben, der 1959 schrieb: »Manon Lescaut ist unser Tristan. Ein instinktiver, unproblematischer Tristan, ohne kosmische Verflechtungen, im Kleinformat; genau jene Art Tristan, die die italienische Oper hervorbringen konnte.« Und darf man wohl hinzufügen, ein Blick in Puccinis Seele, eine Selbstdarstellung des Komponisten, wie sie verbal nicht deutlicher hätte ausfallen können. EIN ITA LIEN ISCHER T R ISTA N

→ KS José Cura als Des Grieux und Olga Guryakova als Manon Lescaut, 2010

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EIN ITA LIEN ISCHER T R ISTA N


» Corriere della Sera « anlässlich der Uraufführung

» Die menschliche und romantische Liebe des Chevalier Des Grieux für die süße und so natürlich verderbte Manon hat die Begabung Puccinis zu den Quellen der frischesten und kunstvollsten Inspiration emporgeführt… Von › Edgar ‹ bis zu dieser › Manon ‹ hat Puccini einen tiefen 72


Abgrund übersprungen. Man kann sagen, dass › Edgar ‹ eine notwendige Vorbereitung war, ganz überschäumend, ganz blitzendes Signal. Hingegen ist › Manon ‹ die Oper des selbstbewussten, kunstbeherrschenden, schöpferischen und vollendeten Geistes. « 73


Rotraud A. Perner

DER WEG DER UNHEILVOLLEN BEGABUNGEN » Soll es also Wahrheit sein, dass der himmlische Beistand zu aller Zeit mit gleicher Kraft wie die Leidenschaften in uns wirkt, so erkläre man mir einmal, durch welche furchtbaren Einflüsse wir uns plötzlich aus den Bahnen unserer Pflicht geschleudert sehen, ohne zu dem geringsten Widerstande fähig zu sein und ohne die geringsten Gewissensbisse zu empfinden. « Abbé Prévost, Manon Lescaut


Es gehört schon einige Begabung dazu, himmlischen Beistand anzurufen, wahrzunehmen und in Handlungen umzusetzen – wie es wohl auch Begabung ist, einer Leidenschaft furchtlos, aber verantwortungsvoll nachzugeben. Die Akteure der vorliegenden Opernhandlung haben diese Begabungen nicht; sie haben andere: sich voll – jenseits der Vernunft – Gefühlen hinzugeben. In dem der Oper zu Grunde liegenden Roman hingegen tauchen ganz andere Begabungen auf: Manon Lescaut »weiß« sie sich ebenso wie ihr Bruder ein angenehmes Leben auf Kosten ihrer Verehrer zu organisieren; aber ist sie deswegen »berechnend«? Ihr vom Pfade der Tugend abkommender Anbeter Des Grieux hingegen erwirbt mit zunehmender Abhängigkeit von diesem Mädchen – denn Manon ist zu Beginn des Romans keine siebzehn Jahre alt – immer mehr Begabungen als kleinkrimineller Überlebenskünstler. Man könnte allerdings auch die Diagnose erstellen, es läge doch ein Mangel an Begabung zur Realitätssicht vor, wenn sich die Wahrnehmung verzerrt – und Manon eher als Engelswesen gesehen wird denn als jugendliche Edelnutte, wenn Bewusstheit der Selbsttäuschung weicht – und Des Grieux den eigenen moralischen wie sozialen Abstieg nicht wahrnimmt. Nur: verlieren wir nicht alle mehr oder wenig an Realitätssicht, wenn wir verliebt sind? Und wo liegen die Grenzen zur Pathologie? Nach C. G. Jung gibt es vier Formen von Wahrnehmung und Bewusstheit: wie bei der graphischen Gestalt der Himmelsrichtungen steht das kognitive Denken als – gesellschaftlich hoch gelobte – Hauptfunktion an der Spitze; dem gegenüber steht das Fühlen als »minderwertig« ganz unten, seitlich umrahmt vom körperlichen Empfinden einerseits und der Intuition andererseits. Der psychisch gesunde Mensch wäre demnach einer, der diese vier Funktionen ausbalancieren kann – und so kommen die Hilfe Suchenden ja auch in Psychotherapie, wenn sie sich entweder aus ihren Gefühlen »nicht mehr heraus sehen« oder wenn sie auf Grund ihrer Gefühlskälte verlassen und isoliert sind. (Oder sie kommen wegen psychosomatischer Beschwerden bzw. überquellender Fantasietätigkeit.)

Klarerweise gehört auch Begabung dazu, ein so komplexes Werk wie den – angeblich teilweise autobiographischen – Roman Histoire du chevalier Des Grieux et de Manon Lescaut von Abbé (Antoine François) Prévost (1697 – 1763) zu einem gleichermaßen spannenden Bühnenstück zu verdichten – ebenso wie es der Begabung von Durchblick und Entschlüsselung bedarf, die Vielschichtigkeit von Leiden und Leidenschaft nicht nur als dramatische Liebesgeschichte zu deuten. Und es gehört auch Begabung dazu, störende Details auszublenden... all das etwa, was die Charaktere unverständlich erscheinen ließe und die Handlung auf der Opernbühne zu sehr verwirren würde. Im Untertext der Romanausgabe von Manon Lescaut, die mir vorliegt, heißt es: »Geschichte einer leidenschaftlichen Liebe«. Ich hätte eher getitelt: 75

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»Geschichte einer unschuldig – schuldigen Hörigkeit«. Denn in Prévosts Jahrhunderte überdauerndem Bestseller geht es nicht nur um eine sexuelle Obsession – es geht um ein Sittengemälde des 17. Jahrhunderts, in dem die sozialen Verhältnisse wenig Alternativen ermöglichen, ohne elterliche Unterstützung einen Hausstand zu gründen – und in Folge Tugend, Treue, Freundschaft auf der einen Seite und Kriminalität, Verrat und Rachsucht auf der anderen nahe beisammen wohnen. Während der Operngast eine verharmloste Fassung miterlebt, in der der schwärmerische Des Grieux, vom Anblick der bezaubernden Manon geblendet, versucht, die Geliebte dem reichen Freier zu entziehen, das Paar aber keine Chance findet, der Rachsucht des Geprellten zu entkommen, bietet sich der Leserschaft des Romans ein wesentlich umfassenderes Bild der unterschiedlichen Akteure. Wie auch bei Verdis Traviata – der »vom rechten Weg Abgekommenen« – wird der Aspekt der Ausbeutung von Männern diskret übersehen. Verismus wird erst im 20. Jahrhundert »opernfähig« – denken wir etwa an Alban Bergs Lulu. Bis zum Zusammenbruch der k. u. k. Monarchie oder des Zarenreichs ist edles Leiden gefragt – primär von Männern, wohlgemerkt! Frauen dürfen flatterhaft und untreu sein, eventuell auch dämonisch, und dass sie vom finanziellen Edelmut der Männer leben, entspricht durchaus der sozialen Realität: außerhäusliche Erwerbstätigkeit war ja – mit Ausnahme von Erzieherinnen oder Gesellschaftsdamen – auf die niederen Dienstleistungen beschränkt und soziale Sicherheit oder gar Aufstiegsmöglichkeit nur über Heirat (und Witwenschaft) bzw. raffiniertes Mätressentum möglich. Wen wundert es also, dass Manon Lescaut nur im Roman ein Flittchen ist? Auf der Opernbühne bleibt es der Kreativität der jeweiligen Inszenierung überlassen, auch die dunklen Seiten des jungen Liebespaares anzudeuten – oder die lichten zu verstärken. Im Roman hingegen entblößt die Lebensbeichte des Chevalier Des Grieux schonungslos die Verwirrung seiner Sinne und den Verlust jeglicher Realitätssicht. Des Grieux nimmt seinen moralischen Abstieg nicht wahr – er befindet sich immer wieder entschuldenswert, beklagt die ungünstigen Umstände und schiebt die Verantwortung für sein Tun anderen zu: der schönen Manon, dem Unverständnis rigider Vaterfiguren, der Provokation durch überhebliche Besserwisser, die ihn auf den Pfad des sozialen Wohlverhaltens zurückführen wollen. In der klinischen Praxis folgt auf solche Verhaltensweisen meist die Diagnose »unreife Persönlichkeit«. Zur Reife gehört eben auch die »Schattenintegration« – das Erkennen und kontrollierende Annehmen derjenigen eigenen Persönlichkeitsanteile, die einen mit der sozialen Umwelt in Konflikt bringen (könnten) und zu Etikettierungen wie »kriminell« oder »psychisch gestört« führen, aber auch die Erkenntnis, was im eigenen Gefühlsleben einen die eine Person so faszinierend erleben lässt, eine andere abstoßend, und wieso eine dritte wiederum zu Protest oder gar Rage motiviert. Wir reROT R AU D A. PER N ER

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agieren immer nur dann emotional, wenn das »Andere« sich in uns selbst noch nicht in Balance befindet: wenn es etwas ist, dass uns verboten wurde (und dennoch lockt), oder was unserem Idealbild von uns selbst zuwider läuft. Ein wenig erinnert Des Grieux an den begabten Mr. Ripley von Patricia Highsmith: so wie dieser verstrickt auch er sich in ein immer enger werdendes Netz von Unwahrheiten und Lügen, Betrügereien und Kapitalverbrechen, so wie dieser liegt das Motiv in der Suche, einen bestimmten luxuriösen Lebensstil zu erlangen und erhalten, und so wie bei diesem blitzt hinter allen positiven Gefühlsregungen immer wieder der Hass auf die alles Besitzenden, die anscheinend immer Sorglosen auf, und auf die Notwendigkeit, sich mit ihnen – oder überhaupt der Gesellschaft und ihren Repräsentanten – zu arrangieren.

Der begabte Chevalier Des Grieux Der Des Grieux im Roman ist sehr jung – siebzehn Jahre –, aus durchaus gut situierter Familie niederen Adels, wohlgebildet und auch recht von sich eingenommen. Und offensichtlich unerfahren, was die Welt jenseits der Schulmauern betrifft. Nicht so das Mädchen, dass das verderbliche Entzücken in ihm erweckt: »Obwohl sie noch jünger war als ich«, heißt es bei Abbé Prévost, »ließ sie sich meine Artigkeiten ohne Verlegenheit gefallen.« Und: »Aus dem, was ich weiter zu ihr sagte, erkannte sie meine Gefühle für sie, denn sie war viel erfahrener als ich, und es bestand kein Zweifel, dass man sie eben deshalb gegen ihren Willen ins Kloster schickte, weil man dort ihren schon bekundeten Hang zu Vergnügungen, der in der Folge unser beiderseitiges Unglück herbeiführte, einigermaßen abzukühlen hoffte.« Und schon macht sich die Begabung Des Grieux’ bemerkbar, die Wirklichkeit nach eigenem Beruhigungsdenken umzudeuten: als Manon ihn ihrem bewachenden Begleiter kurzerhand als »Vetter« vorstellt, bewundert er nur ihre Geistesgegenwart – erkennt aber nicht ihre »Begabung«, schnell Alternativ-Wirklichkeiten zu »erfinden«, oder – weniger wohlwollend formuliert – zu lügen. Und Des Grieux passt sich an. Die meisten Reichen und Großen sind Dummköpfe; Das ist für jeden, der die Welt ein wenig kennt, klar. Es liegt aber eben darin eine bewundernswürdige Gerechtigkeit... Man mag es ansehen, wie man will, so ist die Torheit der Reichen und Großen den Kleinen stets eine treffliche Quelle des Erwerbs. Abbé Prévost, Manon Lescaut

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Rege Fantasie ist eine Begabung – denken wir etwa an Peer Gynt! –, nur ufert sie leicht in Lüge aus, zur Selbstbelügung, und kann bei längerer Dauer zu komplettem Realitätsverlust führen. Dann sieht man beim Liebesobjekt nur mehr das Positive, alles Negative wird auf Andere projiziert. Bei ausreichender Intelligenz fantasiert man sich dann schon die passenden Rechtfertigungen für die eigene Selbstgerechtigkeit wie auch für die Verachtung der »Anderen« zusammen. In wirklichkeitsgerechten Liebesbeziehungen kippen diese Sichtweisen öfters – plötzlich ist die rosarote Brille ab und man sieht den Anderen auch mit seinen Fehlern und Mucken. Dann beweist sich »echte« – wirklichkeitstaugliche – Liebe: wenn man nämlich die andere Person auch in dieser ihrer vollständigen Realität annehmen und dennoch ohne »Besserungsversuche« einfach so lassen kann wie sie ist. Die sogenannte Liebe Des Grieux’ entfernt sich immer mehr der Wirklichkeit, steigert sich zur Euphorie und zur Selbstüberschätzung. Ein später Ausläufer pubertärer Schwärmerei? Oder Vorbote einer seelischen Labilität weit über die Erregbarkeit des unerfahrenen Jünglings hinaus, die ihn seine »erste Frau« zum Idol machen lässt? Idolisierung bedeute seelische Ausbeutung triebhafter Komponenten und primitiver psychischer Prozesse in der Beziehung zu einem äußeren wirklichen Objekt, weiß der Psychoanalytiker Masud Khan: meist seien es Menschen, die noch wenig sexuelle Fantasien erlebten, eher isoliert wären, gleichzeitig aber brodle in ihnen der latente Drang nach Leben, nach anderen Menschen und dem, was sie in ihrer bisherigen Lebenserfahrung nicht verwirklichen konnten. Im Gegensatz zur Idealisierung, die ein intrapsychischer Prozess ist und stark von der Fantasie beeinflusst ist, besteht bei der Isolisierung eine deutliche Über-Besetzung eines äußeren wirklichen Objekts und wird durch eine fixierte Geisteshaltung und Handlungsweise aufrecht erhalten. Die Basis dafür kann in einem frühen Trennungstrauma gesucht werden.

Oder ist es nur Dankbarkeit, dass ihn die Angebetete doch immer wieder älteren, reicheren Galanen vorzieht? Oder ihm zumindest das Gefühl gibt, diesen als Liebhaber überlegen zu sein? Ein Ödipuskomplex? Die Mutter allein besitzen, die störende Vaterfigur beseitigen? Des Grieux war in Internatserziehung. Daraus kann geschlossen werden, dass »der Vater in der Erfahrung dieser Kinder nicht als wichtige Gestalt oder Person registriert worden ist«, wie Masud Khan bei der Entschlüsselung von Idolisierungen schreibt. Idolisierung, so angenehm sie auch für das angebetete »Objekt« sein mag, ist keine wechselseitige Beziehung. Sie ist eine »Perversion« – die andere Person (oder ein Gegenstand oder was auch immer) wird für die eigene GloROT R AU D A. PER N ER

→ KS Wolfgang Bankl als Geronte und Boaz Daniel als Lescaut, 2005

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Nach C. G. Jung gibt es vier Formen von Wahrnehmung und Bewußtheit: wie bei der graphischen Gestalt der Himmelsrichtungen steht das kognitive Denken als – gesellschaftlich hoch gelobte – Hauptfunktion an der Spitze; dem gegenüber steht das Fühlen als »minderwertig« ganz unten, seitlich umrahmt vom körperlichen Empfinden einerseits und der Intuition andererseits. Der psychisch gesunde Mensch wäre demnach einer, der diese vier Funktionen ausbalancieren kann – und so kommen die Hilfe Suchenden ja auch in Psychotherapie, wenn sie sich entweder aus ihren Gefühlen »nicht mehr heraus sehen« oder wenn sie auf Grund ihrer Gefühlskälte verlassen und isoliert sind. (Oder sie kommen wegen psychosomatischer Beschwerden bzw. überquellender Phantasietätigkeit.)

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riole »benützt«: man(n) ist dann eben beispielsweise ein »großer Liebender« – wer das Liebesobjekt tatsächlich ist, ist dabei ebenso egal wie was einem selbst an Widrigkeiten dadurch widerfahren mag. Masud Khan formuliert, die Betroffenen »sind sozusagen auf einem ständigen Rückzug vor den Erfordernissen der üblichen Realitäts- und Wertsysteme«. In ihrer Scheinwelt können sie ja auch als Übermenschen ungestört ihrem Narzissmus frönen und auf die »Stinos« – die Stinknormalen – herab blicken. Die ganze Kraft dieser besonderen Zustände des Herzens ist nur wenigen bekannt. Gewöhnliche Menschen sind nur für fünf oder sechs Leidenschaften empfänglich, in deren Kreis sich ihre Gefühle hin- und herbewegen... Menschen von edlerer Wesensart sind auf tausendfache Art zu erschüttern... Das Bewusstsein der Größe, die sie über das gemeine Volk erhebt, ist der Gegenstand ihrer stärksten Eifersucht, und darum sind sie auch so äußerst empfindlich gegen Spott und Geringschätzung und leiden unter Schande mehr als andere. Abbé Prévost, Manon Lescaut Begehren kann sich verselbständigen. Zuerst bewiesen durch neurowissenschaftliche Experimente an Ratten, hat seither die neuere Gehirnforschung gezeigt: auch beim Menschen verändert das Gehirnhormon Dopamin – »das Molekül des Begehrens«, wie es der Biophysiker Stefan Klein bezeichnet – die Bereitschaft der Neuronen, Botschaften zu empfangen und damit die Weise, wie ein Organismus auf die Welt reagiert.

»Wir sehen ein Ziel: ein gebratenes Huhn! Das Gehirn schüttet Beta-Endorphin aus. Es gibt einen Vorgeschmack auf den erhofften Genuss und signalisiert, dass das, was wir vor Augen haben, gut für den Organismus sein sollte. Zugleich bewirkt es, dass das Hirn in Windeseile auch Dopamin freisetzt,« erklärt Stefan Klein. So hängen die Schaltungen für Mögen und Wollen eng zusammen. »Unter dem Einfluss des Dopamins werden wir optimistisch, wacher und strengen uns an zu bekommen, wonach uns der Sinn steht.«

Löst allerdings ein Reiz wiederholt Begehren aus, zeigt Stefan Klein, ändert sich die Funktionsweise weiter Teile des Gehirns: »Übermächtig geworden, verwandelt Begehren Menschen in Getriebene, die keine Grenzen mehr kennen und den Blick für die Wirklichkeit verlieren.« Und Entzugserscheinungen erfahren, wenn die Quelle ihrer Abhängigkeit nicht verfügbar ist. ROT R AU D A. PER N ER

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Wie oft wird von Liebe gesprochen um sich nicht eingestehen zu müssen, dass man süchtig ist... So unterscheidet die amerikanische Psychotherapeutin Anne Wilson Schaef je nach der Weise, wie sich jemand das Hochgefühl – den »Kick« – »organisiert« zwischen Beziehungssucht, Romanzensucht und Sexsucht. Stefan Klein schreibt: »Nicht jeder Mann ist ein Don Juan. Andererseits sind Gedanken von Liebe als Eroberung, von Sex als Triumph kaum einem Mann fremd.« Ich möchte ergänzend aufklären: das gilt für Frauen auch – insbesondere auch für Manon Lescaut!

Und die Begabungen der Titelheldin? Denn wenn auch Abbé Prévost seiner »Episode« den Namen der »verhängnisvollen« Frau vorangestellt hat, geht es in seinem Buch doch um den Abstieg eines hoffnungsvollen jungen Studenten bzw. auch Geistlichen zu einem Nervenbündel und Spielball des schlauen Geschwisterpaares Lescaut – sie eine professionelle Mätresse, er trotz seiner militärischen Charge ein Berufsspieler, beide Betrüger. Ob aus Erziehung, sozialer Not-Wendigkeit oder Lust am Abenteuer bleibt offen. Aus damaliger Sicht widerspricht die Titelheldin den offiziellen Erwartungen an züchtige, daher dienende Weiblichkeit. Dass sie als Prostituierte und quasi Diebin (ihres eigenen »Schandlohnes«) nach Amerika deportiert wird, entspricht nur der damaligen Doppelmoral: wer als Mätresse von einem »Herren« ausgehalten wird, wird gnädig »übersehen« – bis dieser die Frau weg haben will – möglichst weit weg. Aus heutiger Sicht könnte ihre finanziell motivierte Promiskuität als Beruf – »Erbringung von sexuellen Dienstleistungen« – definiert werden, als Posttraumatische Belastungsstörung nach erlittener sexueller Gewalt in der Kindheit (was nach damaligen Sozialverhältnissen durchaus anzunehmen ist) oder auch als ungewohnt frühe Form von Autonomiestreben und Libertinage. Und genau das macht wohl auch das Faszinierende an der Handlung aus: Frauen können sich, eingelullt von Puccini’scher Schmelzmusik, mit Manon identifizieren und damit mit nie enden wollender sexuellen Attraktivität, egal, was frau auch anstellt... Männer hingegen finden in Des Grieux eine Identifikationsfigur für kopf- sprich verantwortungsloses Handeln, »weil die Frau schuld ist«.

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Andreas Láng

KORNGOLDS FEHLURTEIL

…oder wie Puccinis Manon Lescaut auch in Wien überlebte


In puncto Puccini-Erstaufführungen scheint die Wiener Staats­oper mehr als einmal verschlafen zu haben. Im Theater an der Wien erklang bereits 1897 die Bohème, Jahre bevor sich das Haus am Ring den Bühnenwerken des »Erben Giuseppe Verdis« öffnete. Le villi, seine früheste Oper, konnte das Wiener Publikum vorerst »nur« im Akademietheater kennenlernen (die StaatsopernErstaufführung erfolgte erst 2005), und auch Manon Lescaut, das Stück, mit dem Puccini seinen Weltruhm begründete, wurde zunächst an der Volksoper gespielt. Es war also Rainer Simons, der Direktor des Kaiserjubiläums-Stadttheaters, wie das Haus am Gürtel damals auch hieß, der Manon Lescaut mit fünfzehnjähriger Verspätung 1908 in die Donaumetropole holte und zugleich die Inszenierung besorgte. Zu diesem Zeitpunkt galt Puccini allerdings bereits als einer der Zugpferde des Repertoires, ein Umstand, den Julius Korngold gleich zu Beginn seiner Premieren-Besprechung in der Neuen Freien Presse betonte: »Glücklicher Puccini! Der Schmeichler hat Wien erobert. Er sitzt im Hofoperntheater im Sattel und triumphiert am Währinger Gürtel. Zwei Opern dort, nun auch zwei Opern da.« Welches Augenmerk auf dieser Neuproduktion lag, kann man vielleicht daran ersehen, dass Korngold dem Werk am 25. Jänner 1908 einen eigenen langen Artikel auf der Titelseite seiner Zeitung widmete, in dem er im Grunde gar nicht auf die Aufführung einging, sondern ganz allgemein das Stück behandelte. Eine tatsächliche »Kritik«, in der Korngold die ausführenden Künstler lobend hervorhob, hatte er schon am 23. Jänner, also am Tag nach der Erstaufführung, erscheinen lassen. Helene Oberländer, die Sängerin der Titelgestalt und Lutzmann (Des Grieux) fanden ebenso sein Gefallen wie Regie und Orchesterleistung. Nicht unerwähnt ließ er darüber hinaus die positive Aufnahme der Zuseher, die das Intermezzo vor dem dritten Akt dermaßen bejubelten, dass es wiederholt werden musste. Korngold selbst dürfte die Oper allerdings nicht sonderlich zugesagt haben. Er hebt zwar manche gelungene Passage hervor, kritisiert jedoch die Schwächen des Textbuches und bescheinigt dem Werk keine dauerhafte Lebensfähigkeit. Positiv vermerkt er in erster Linie den Einfluss des Verismo und jenen von Wagners Tristan: »Man erlebt die Überraschung, Puccini eine junge Liebe verraten zu sehen – die zu Wagners Tristan. Wo die Schmerzen des Liebespaares sich vertiefen, dringen Tristan-Wendungen in die Kantilene, in die Harmonik der Komposition.« Manon Lescaut aber wollte überleben und fand unter der Leitung von Franz Schalk den Weg ins Haus am Ring. Korngold war jedoch von seinem einmal gefassten Urteil nicht mehr abzubringen. So sehr nicht, dass er sich bei der Erstaufführung an der Wiener Staatsoper im Jahre 1923(!), also anderthalb Jahrzehnte später, eine journalistische Außergewöhnlichkeit sondergleichen leistete: Mit der Begründung, er könne nicht mit anderen Worten dasselbe wiederholen, was schon einmal von ihm geschrieben wurde, ließ er seine kritische Besprechung von 1908 Wort für Wort noch einmal abdrucken. 83

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Der einzige Unterschied bestand in der ausführlichen Beurteilung der Ausführenden. Doch auch hier konnte er sich einen Seitenhieb auf das Werk nicht verkneifen. Die Lobeshymne auf Alfred Piccaver, den Sänger der männlichen Hauptrolle, verband Korngold mit seiner Meinung, dass vielmehr die Figur des Des Grieux im Vordergrund stünde als jene der Titelheldin und die Oper somit nach dem Tenor benannt sein sollte. Lotte Lehmanns Manon Lescaut-Interpretation wurde daher mit entsprechend weniger Zeilen gewürdigt. In den folgenden Jahren schien es, als ob Korngolds Prophezeiung zumindest in Wien in Erfüllung ginge. Bis 1945 war das Werk im Haus am Ring lediglich zwölfmal zu sehen, und nach dem Zweiten Weltkrieg dauerte es überhaupt elf Jahre, ehe Manon Lescaut ins Repertoire zurückkehrte. Doch im Februar 1956 war es dann so weit. Die erste Premiere nach dem Opernfest zur Wiedereröffnung der Wiener Staatsoper galt Puccinis Manon Lescaut. Und der Triumph hätte nicht viel größer sein können. Das Publikum zeigte sich ebenso begeistert wie die meisten Kulturberichterstatter. Die Komposition wurde gelobt und die Produktion als Maßstab herangezogen, anhand dessen der übrige Spielplan zu beurteilen wäre. So hieß es im Neuen Kurier: »Manon Lescaut ist das Werk eines Meisters, der mit ökonomischen Mitteln Stimmungen zu malen, Situationen zu zeichnen versteht, der Empfindungen, fröhliche und schmerzliche in blühenden Klang verwandeln kann.« Die Inszenierung Günther Rennerts und Rudolf Schocks Des Grieux gefielen, wenn auch mit Abstrichen – Rudolf Schock empfanden manche etwa als zu unitalienisch um wirklich glaubhaft zu wirken. Aber Rudolf Moralts Dirigat, Karla Martinis’ Manon und Walter Berrys Lescaut wurden mit unzähligen Lorbeeren bedacht. Diese Produktion war zugleich jene, die den fälligen Sprachwechsel vollzog. Bis 1964 waren die Vorstellungen in unterschiedlichen deutschen Übersetzungen gesungen worden. Die Neueinstudierung (29. 10. 1964) im »Rahmen der italienischen Kulturwochen« benutzte man, um auch bei dieser Oper endlich die Originalsprache durchzusetzen. Diesmal wurden die Hauptpartien von Antonietta Stella (Manon Lescaut), Gastone Limarilli (Des Grieux) und Kostas Paskalis (Lescaut) interpretiert. Einen noch größerer Jubelsturm als die Produktion von 1956 erntete jene von 1986, die in den nächsten zehn Jahren knapp 50mal auf dem Spielplan stand und damit abermals den Beweis der Lebensfähigkeit des Werkes erbrachte. Unter der Leitung von Giuseppe Sinopoli ersangen sich u. a. Mirella Freni, Peter Dvorský und Bernd Weikl bei der Premiere im Haus am Ring einen mehr als halbstündigen Schlussapplaus. Rund einen Monat später ging diese Inszenierung Otto Schenks mit zum Teil gleicher Besetzung auf eine Japan-Tournee und wurde in Tokio, Yokohama, Nagoya und Osaka mit großem Erfolg gezeigt. Damit nicht genug, wurde die fünfte Wiener Vorstellung zugunsten der Bewährungshilfe gegeben, bei der der Psychologe Erwin RinA N DR EAS LÁ NG

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gel in einer Einführungsrede die Beziehung zwischen der Oper Manon Lescaut und der Bewährungshilfe unterstrich, womit dem Stück eine unerwartete zusätzliche Facette zugesprochen wurde. Die 89. Aufführung (4. Juni 2005) der Oper an der Wiener Staatsoper war zugleich die Premiere der jüngsten und aktuellen Inszenierung von Robert Carsen. Steht das Werk, in dem laut Korngold Puccini immerhin seine »aufrichtigste Musik wiedergegeben hat«, aufführungsstatistisch somit noch im Schatten der Schwestern La bohème, Tosca, und Madama Butterfly, so ist sie dennoch nichts weniger als gestorben.

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Impressum Giacomo Puccini MANON LESCAUT Spielzeit 2021/22 (Premiere der Produktion: 4. Juni 2005) HERAUSGEBER Wiener Staatsoper GmbH, Opernring 2, 1010 Wien Direktor: Dr. Bogdan Roščić Musikdirektor: Philippe Jordan Kaufmännische Geschäftsführerin: Dr. Petra Bohuslav Redaktion: Sergio Morabito, Andreas Láng, Oliver Láng Basierend auf dem Programmheft der Premiere von 2005 Gestaltung & Konzept: Fons Hickmann M23, Berlin Layout & Satz: Anton Badinger Bildkonzept Cover: Martin Conrads, Berlin Druck: Print Alliance HAV Produktions GmbH, Bad Vöslau TEXTNACHWEISE Die Handlung (bearbeitete Übernahme aus dem Manon Lescaut-Programmheft der Wiener Staatsoper 2005), englische Übersetzung von Andrew Smith – Oliver Láng: Über dieses Programmbuch – Ian Burton: Der Mythos von Manon, in: Programmheft der Vlaamse Opera Antwerpen (1991) – Robert Carsen, Das Manon-Syndrom (Übernahme aus dem Manon Lescaut-Programmheft der Wiener Staatsoper 2005) – Thomas Stauder, Tränenreicher Libertinismus (Übernahme aus dem Manon Lescaut-Programmheft der Wiener Staatsoper 2005) – Nobert Abels: Die Metamorphose der Manon, in: Ohrentheater, Axel Dielmann-Verlag, Frankfurt am Main (dort: Wandlungen einer Historie) – Josef-Horst Lederer: Protagonista non è Manon, ma la passione di Des Grieux (Übernahme aus dem Manon Lescaut-Programmheft der Wiener Staatsoper 2005) – Roberto Scoccimarro: Ein Textbuch von allen und von keinem (Übernahme aus dem Manon Lescaut-Programmheft der Wiener Staatsoper 2005) – Dieter Schickling: Die Musik von Manon Lescaut, in: Puccini, Carus Verlag Stuttgart, 2007 – Christian Springer: Ein italienischer Tristan (gekürzte Übernahme aus dem Manon Lescaut-Programmheft der Wiener Staatsoper 1986) – Rotraud A. Perner: Der Weg der unheilvollen Begabungen (Übernahme aus dem Manon Lescaut-Programmheft der Wiener Staatsoper 2005) – Andreas Láng: Korngolds Fehlurteil (Übernahme aus dem Manon Lescaut-Programmheft der Wiener Staatsoper 2005)

Die Produktion von Manon Lescaut wird gefördert von

BILDNACHWEISE Coverbild: Sylvie Fleury Serie ELA 75/K (Plumpity...Plump) Szenenbilder Seite 2, 3, 6, 14, 15, 29, 37, 71: Michael Pöhn / Wiener Staatsoper GmbH Szenenbilder Seite 46, 47, 57, 79: Axel Zeininger / Wiener Staatsoper GmbH Nachdruck nur mit Genehmigung der Wiener Staatsoper GmbH / Dramaturgie Kürzungen werden nicht extra gekennzeichnet. Rechteinhaber, die nicht erreicht werden konnten, werden zwecks nachträglicher Rechteabgeltung um Nachricht gebeten.


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