Programmheft »Parsifal«

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PARSIFAL Richard Wagner


INHALT

Parsifal erzählt von Kirill Serebrennikov

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Parsifal told by Kirill Serebrennikov

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Über dieses Programmbuch

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Eine Ein­führung → Melanie Wald-Fuhrmann

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Wissend geschehen lassen → Philippe Jordan

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Die Idee der Freiheit → Kirill Serebrennikov

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Wahrheit der Spiegel­ge­setz­lich­keit → Paul Bekker

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Was geschieht im zweiten Akt? → James M. McGlathery

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Die Möglichkeit der Klage in der Wonne → Egon Voss

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Das Drama des leidenden Christus → Ulrike Kienzle

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Zum Sinn wird hier der Klang → Michael Kraus

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Parsifal im Haus am Ring → Oliver Láng

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Serebrennikov als ­Musik­theater­regisseur → Ilya Kucharenko und Sergio Morabito

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Du sieh’st, mein Sohn, zum Raum wird hier die Zeit.


PARSIFAL → Bühnenweihfestspiel in drei Aufzügen von Richard Wagner

Orchesterbesetzung 3 Flöten (3. auch Piccolo), 3 Oboen, Englischhorn, 3 Klarinetten, Bassklarinette, 3 Fagotte, Kontrafagott, 4 Hörner, 3 Trompeten, 3 Posaunen, Bassposaune, Pauken, Glocken, 2 Harfen, Streicher Bühnenmusik 6 Trompeten, 6 Posaunen, Trommel Spieldauer ca. 5 Stunden inkl. zwei Pausen Autograph Richard-Wagner-National-Archiv Bayreuth Uraufführung 26. Juli 1882, Festspielhaus Bayreuth Erstaufführung an der Wiener Hofoper 14. Jänner 1914


Nikolay Sidorenko als der damalige Parsifal, Jonas Kaufmann als Parsifal



PARSIFAL erzählt von Kirill Serebrennikov

Der gereifte Parsifal durchlebt in der Erinnerung seine Jugend. Im Erzählen seiner Geschichte wird für ihn die Zeit zum Raum, in dem er seinem früheren Ich begegnet: Als Namenloser war er Insasse der Haftanstalt Monsalvat.

Erster Aufzug Der Häftling Amfortas lebt in ständigem Aufbegehren gegen die menschenunwürdigen Haftbedingungen. Unter den Gefangenen genießt er aufgrund seiner kompromisslosen Haltung höchstes Ansehen. Getrieben von inneren Stimmen, die ihn im Namen seines Vaters Titurel drängen, »den Gral zu enthüllen«, bringt er seinem Körper Verletzungen bei. Kundry, eine Journalistin, die mit Sondergenehmigung in der Haftanstalt fotografieren darf, agiert für die Häftlinge als Zwischenträgerin von Gütern und Nachrichten aus der Außenwelt. Auch Amfortas wird von ihr mit Medikamenten versorgt. Gurnemanz ist die graue Eminenz der Häftlings-Bruderschaft. Er berichtet, Amfortas’ Traumatisierung sei durch eine Agentin Klingsors verursacht worden. Eine Prophezeiung habe dem Leidenden aber Erlösung durch einen »reinen Toren« versprochen. Gurnemanz hält die Erinnerung an diese ­Legende in der Bruderschaft wach. Der Namenlose ermordet den »weißen Schwan«, einen Mithäftling, und verstößt damit gegen das Gewaltmonopol des Gurnemanz. Kundry berichtet dem Namenlosen vom Tod seiner Mutter, worauf dieser mit gesteigerter ­Aggression reagiert. Gurnemanz findet Interesse an dem verwilderten Burschen und stellt ihm einen Aufstieg innerhalb der Häftlingshierarchie in Aussicht. Doch das Schauspiel der qualvollen Leiden des Amfortas und der Traum von einem kostbaren Abendmahlskelch, dem »Gral«, der den Häftlingen als Symbol der Freiheit erscheint, bleiben Parsifal unverständlich.

PA RSIFA L

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Zweiter Aufzug Kundry arbeitet für die Redaktion eines von Klingsor herausgegebenen Magazins. Er und Kundry hatten ein Verhältnis. Klingsor hat Kundrys Abhängigkeit dazu benutzt, Amfortas hinter Gitter zu bringen. Nun soll Kundry auch den namenlosen jungen Straftäter, dessen Fotos sie ediert, von seiner Macht und seinem Geld abhängig machen. Nach seiner Entlassung kommt der Namenlose für ein Fotoshooting in das Redaktionsbüro. Als er sich den Stilistinnen, Fotografinnen und Redakteurinnen entziehen will, ruft Kundry ihn mit dem Namen Parsifal – ein Name, bei dem ihn einst seine Mutter rief. Mehr und mehr gerät er in den Bann von Kundry, die die Erinnerung an die besitzergreifende Liebe seiner alleinerziehenden Mutter beschwört. Nachdem er sie verlassen hatte, sei sie an gebrochenem Herzen gestorben. Parsifal wird von Schuldgefühlen erfasst. Kundry bietet ihm zum Trost »als Muttersegens letzten Gruß der Liebe ersten Kuss«. In ihrer Umarmung bricht in Parsifal die Wunde des Begehrens auf. Zugleich begreift er, dass er ebenso wie Amfortas manipuliert und benutzt werden soll. Er stößt Kundry als »Verderberin« von sich. Vergeblich setzt Kundry all ihre Verführungskünste ein. Zuletzt droht sie ihm mit Gewalt: Doch Parsifal ist eher bereit zu sterben als sie zu lieben.

Dritter Aufzug Viele Jahre sind vergangen. Die Haftanstalt wurde aufgelöst, doch viele Insassen arbeiten und hausen weiterhin in dem Gemäuer. Einzig Gurnemanz träumt noch vom verheißenen »reinen Toren«. Nach dem Erwachen wird er unter einer Gruppe von Greisinnen der gealterten Kundry gewahr. Da tritt ein Unbekannter herein. Kundry erkennt ihn als erste: Es ist Parsifal. Als Parsifal innewird, den Ort seiner Jugend wieder betreten zu haben, empfindet er dies fast als Heimkehr. Denn das seither gelebte Leben hat er als Irrweg erlebt, voller »Nöte, Kämpfe und Streite«. Gurnemanz begreift, dass Parsifal der ersehnte Erlöser sein könnte, der einer zerfallenden Welt einen neuen Glauben an eine mögliche Zukunft schenkt. Er lässt die Frauen in einem improvisierten Ritual Parsifals Füße waschen und salbt ihn zum Gralskönig. Parsifal versöhnt sich mit Kundry. Amfortas bezichtigt sich angesichts der Urne seines Vaters Titurel des Vatermords und wütet gegen sich selbst und seine Schicksals­genossen. Amfortas wird von seinen Leiden erlöst. Parsifal weist den Weg in die Freiheit.

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ER ZÄ HLT VON K IR ILL SER EBR EN N IKOV


PARSIFAL told by Kirill Serebrennikov

The mature Parsifal relives his youth in his memories. By narrating his story, time becomes space for him, where he meets his earlier self: he was a nameless inmate in Monsalvat, a detention center for criminals.

Act 1 The prisoner Amfortas lives in constant rebellion against the inhuman conditions of the prison. Among the inmates he enjoys high respect because of his uncompromising stance. Driven by inner voices that compel him, in the name of his father Titurel, to »unveil the Holy Grail«, he inflicts wounds upon his own body. Kundry, a journalist with special permission to photograph within the detention center, acts as an intermediary for the inmates, exchanging goods and news from the outside world. Amfortas also receives medicines provided through her. Gurnemanz is the gray eminence in the brotherhood of prisoners. He explains that Amfortas’ traumatization was caused by one of Klingsor’s female agents. A prophecy promises the victim however that he will be redeemed by a »pure simpleton«. Gurnemanz keeps the memory of this legend alive in the brotherhood. The nameless kills the »white swan«, a fellow prisoner, and thereby infringes on Gurnemanz’s monopoly on violence. Kundry tells the nameless man about the death of his mother, which he reacts to with increasing aggression. Gurnemanz is intrigued by the wild boy and promises him his rise upwards within the prison hierarchy. But the drama of Amfortas’ painful suffering and the dream of a cherished Holy Communion chalice, the »Grail« that appears as the symbol of freedom for the prisoners, remains for him completely incomprehensible.

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Act 2 Kundry works in the editorial departments of a magazine published by Klingsor. He and Kundry were once in a relationship. Klingsor has used Kundry’s dependence to get Amfortas arrested. Now Kundry should make the nameless young criminal, whose photos she is currently editing, also dependent on his power and his money. After his release, the nameless arrives at the editorial office for a photo shooting. As he is trying to get away from the female stylists, photographers and editors, Kundry calls him by the name Parsifal – a name that his mother once used to call him. More and more he falls under Kundry’s spell, conjuring up the memory of the possessive love from his single mother. After he left her, she allegedly died of a broken heart. Parsifal is filled with feelings of guilt and regret. Kundry offers him as consolation »a mother’s last blessed farewell, the first kiss of love«. In her arms, the wound of desire breaks open in Parsifal. At the same time, he understands that he is being manipulated like Amfortas and could also be taken advantage of. He pushes the »corrupting« Kundry away from him. In vain, Kundry attempts to employ all of her powers of seduction. As a last resort, she threatens him with violence: but Parsifal is more willing to die rather than to love her.

Act 3 Many years have passed. The prison has been decommissioned, but many former inmates still work and live within its walls. Only Gurnemanz still dreams of the promised »pure simpleton«. After awakening, he notices the aged Kundry within a group of old women. Then an unknown man arrives. Kundry recognizes him first: it is Parsifal. As Parsifal becomes aware that he has again entered the place from his youth, he feels it almost like a homecoming. What he has experienced in his life up until then was the wrong path, full of »hardships, conflicts, and struggles«. Gurnemanz realizes that Parsifal could be the longed-for redeemer who could give back to the fallen world a faith in a possible future. In an improvised ritual, he has the women wash Parsifal’s feet and anoints him the King of the Holy Grail. Parsifal is reconciled with Kundry. In view of the urn with his father Titurel’s remains, Amfortas accuses himself of patricide, and rages against himself and his companions. He is then redeemed of his suffering. Parsifal shows the way to freedom.

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TOLD BY K IR ILL SER EBR EN N IKOV


Richard Wagner am Vorabend der Uraufführung des Parsifal

In vielen meiner Schriften habe ich es wiederholt ausgesprochen, woher unsere Kunst stamme: sie stammt vom Thespiskarren, von Shakespeares Theater.


ÜBER DIESES PROGRAMMBUCH Wagners »Weltabschiedswerk«, dessen Uraufführung 1882 der Komponist nur um ein halbes Jahr überlebte, stellt seine Interpreten vor größte Herausforderungen. Die Musikwissenschaftlerin Melanie Wald-Fuhrmann gibt ab S. 13 eine Einführung. Musikdirektor Philippe Jordan zeigt ab S. 22, welche Lösungen er für die Schönheiten und Offenbarungen anstrebt, die die Partitur bereithält. Analytisch untermauert werden seine Ausführungen in den Beiträgen von Egon Voss (ab S. 64) und Ulrike Kienzle (ab S. 76): Voss kommt zu dem überraschenden Befund, dass der Lockgesang der Blumenmädchen nicht nur chronologisch, sondern auch motivisch die Keimzelle der gesamten Partitur darstellt, Kienzle verfolgt ein wortloses und unsichtbares, nur in der Musik sich artikulierendes Christusdrama. Michael Kraus arbeitet (ab S. 92) die Ansprüche heraus, denen die Sänger_innen gerecht werden müssen; ­Oliver Láng skizziert ab S. 98 die bisherige Wiener Aufführungsgeschichte. Ebenso heikel wie die musikalischen sind die szenischen Aspekte des Werks. Die Verflechtungen dramaturgischer Entscheidungen Wagners mit jenem weltanschaulichen Fundamentalismus, der Bayreuth in den nationalsozialistischen Orkus reißen sollte, ist das eine. Das andere ist die übergreifende Frage, ob es sich bei der Auseinandersetzung eines Theaters mit einer historischen Opernpartitur um einen primär reproduktiven Vorgang handelt, oder ob dieser Partitur von heute aus szenisches Existenzrecht allererst zurückerobert werden muss: Ob wir sie als abgeschlossenes Kapitel der Kunstgeschichte oder als Kunst wahrnehmen wollen – zu deren Erfahrung das Rätsel, der Exzess, die lustvoll-verstörende Verunsicherung und Erweiterung der Wahrnehmung zählt. Für Kirill Serebrennikov, den Regisseur der Wiener Neuproduktion, ist Kunst das Synonym für Unruhe, Begehren und Schmerz, mit einem Wort: die Wunde. In dem Beitrag Die Idee der Freiheit gibt er Auskunft über seine Annäherung an das Werk. Seine bisherige MusiktheaterArbeit skizzieren Ilya Kucharenko und Sergio Morabito ab S. 109. Als inspirierend für Serebrennikovs Regie erwies sich das Close reading der Parsifal-Textdichtung durch den amerikanischen Germanisten James M. McGlathery (ab S. 44). 9

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Auch Paul Bekker, Autor von Das Leben im Werke, des bedeutendsten Wagner-Buches zwischen den Weltkriegen (1924), wählte keinen objektivierenden Zugang zum Phänomen Wagner, sondern jenen, den ihm die damals zeitgenössische Musik erschloss. Bekker musste aus Nazideutschland emi­ grieren und verstarb 1937 im New Yorker Exil, die Rezeption seines Buches leidet darunter bis heute. Die von Sergio Morabito kommentierten Auszüge (ab S. 32) schärfen den Blick auf das Kunstwerk Parsifal, auch indem die ­nötige Trennschärfe zu den Theoremen seines Autors hergestellt wird.

Ü BER DIE SE S PROGR A M MBUCH

→ Georg ­Zeppenfeld als ­Gurnemanz

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Richard Wagner

Der Gral ist die krystallene Trinkschale, aus welcher einst der Heiland, beim letzten Abendmahl, trank und seinen Jüngern zu trinken reichte: Joseph von Arimathia fing in ihr das Blut auf, welches aus der Speerwunde des Erlösers am Kreuze herabfloß. Sie ward als heiligstes Heiligthum lange Zeit der sündigen Welt geheimnißvoll entrückt. Als in rauhester, feindseligster Zeit endlich unter der Bedrängnis durch die Ungläubigen die heilige Noth des Christentums am Höchsten stieg, trieb die Sehnsucht, das wundervoll stärkende Heiligthum, von dem alte Kunde vorhanden war, gottbegeisterte, von heiligem Liebesverlangen ergriffene Helden, zum Aufsuchen des Gefäßes, in welchem das Blut des Heilands (sangue réale – woraus: San Greal – Sanct Gral – der heilige Gral entstand) lebendig und göttlich belebend sich der heilsbedürftigen Menschheit erhalten hatte. KOLUMN EN T IT EL

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Melanie Wald-Fuhrmann

PARSIFAL – EINE EIN­FÜHRUNG

Entstehung Die Stoffkreise rund um den Gral, die Figur des Parzival, aber auch das Interesse für die historische Gestalt Jesu haben Wagner fast sein ganzes künstlerisches Leben hindurch beschäftigt. Der Parsifal umgreift vom ersten Kontakt mit dem Stoff bis zur Fertigstellung der Partitur rund 40 Jahre: Nachdem sich Wagner 1842 im Zuge der Ideen für Tannhäuser und Lohengrin mit Leben und Werk Wolframs von Eschenbach bekannt gemacht und so auch dessen Parzival-Figur kennengelernt hatte, vertiefte er diese Kenntnisse während des Sommeraufenthaltes in Marienbad 1845. Im Zusammenhang mit einem anderen mittelalterlichen Epenstoff, Tristan und Isolde, verdichtete sich Wagners Beschäftigung mit der Figur des Parzival dann zu ersten konzeptionellen Ideen: 1854 skizzierte er für den Beginn des 3. Tristan-Aktes eine Begegnung des auf der Suche nach dem Gral umherirrenden Parzival mit dem siechen Tristan, die er aber wieder verwarf. Mit dem Umzug in das Zürcher »Asyl« ist das Erlebnis einer Naturstimmung verbunden, die als Karfreitagszauber dann zum Inspirationskern des Parsifal wurde und, so Wagner in Mein Leben, unmittelbar zur Niederschrift einer nicht erhaltenen ersten P ­ rosaskizze für ein dreiaktiges Drama führte. In die Vollendungszeit des Tristan fallen dann einige konkret auf Ideengehalt, Personenkonstellation und konzeptuelle Details eingehende Briefe an Mathilde Wesendonck (Oktober 1858 bis April 1860): Die »Welterlösung durch das Mitleiden«, die Doppelnatur der Kundry, die Problematik und Tristan-Ähnlichkeit von Amfortas’ Leiden, 13

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Wesen und Beziehung von Gral und Speer, die Anlage in Form von »drei Hauptsituationen von drastischem Gehalt« sind dabei jeweils schon in der Form der endgültigen Werkgestalt entfaltet und weichen maßgeblich von der Wolfram’schen Vorlage ab. Diese Phase ist somit als die eigentliche Konzeptionszeit des Parsifal anzusehen. Einen entscheidenden äußeren Antrieb erhielt das Parsifal-Projekt durch die Patronage Ludwigs II. Für ihn entstand Ende August 1865 der erhaltene erste ausführliche Prosaentwurf zum Parsifal, damals noch in der Wolfram’schen Schreibweise Parzival, von dem die ausgeführte Dichtung nur hinsichtlich verknappter Dialoge und Erläuterungen abweichen wird. Wagner betrieb eingehende Vorstudien, die Wesen und Ritual der Messe ebenso betrafen wie die Überlieferung der Gralssage. Die Jahre nach der Uraufführung des Ring des Nibelungen im Sommer 1876 waren dann entsprechend einem bereits 1864 dokumentierten Lebensplan ausschließlich der Arbeit am Parsifal gewidmet: Er entschied sich nun für die Namensform Parsifal. Die Dichtung entstand im Laufe von vier Wochen und wurde noch 1877 von Schott veröffentlicht. Im Kontrast zum Ring ist der Stabreim hier weitgehend ausgespart, dafür werden wichtige Textzeilen durch Endreim hervorgehoben. Die Zeilen sind unregelmäßig lang und befördern so wiederum die »musikalische Prosa«. Die kompositorische Arbeit ging langsam, doch stetig voran. Durch Einträge in Cosimas Tagebüchern ist der Schaffensprozess so detailliert wie für kein anderes Werk Wagners dokumentiert. Die Kompositionsskizze war am 26. April 1879 beendet. Die Instrumentierung nahm die Monate von August 1879 bis Januar 1882 in Anspruch. Noch im selben Jahr 1882 erschienen zur Popularisierung und Vor- und Nachbereitung der Uraufführung ein von Joseph Rubinstein eingerichteter Klavierauszug, die Leitmotiverläuterungen von Hans von Wolzogen sowie ein Werkkommentar von Otto Eichberg. Erweist sich die Karfreitags-Stimmung in der Reihe der Entstehungsschritte nur als einer unter vielen und nicht einmal der erste, so muss man die Emphase, mit der Wagner das entsprechende Erlebnis in Mein Leben schilderte – und weitgehend erfand – doch ernst nehmen. Denn offenkundig lag ihm daran, mit solch einer Entstehungsmythe sowohl auf das Christliche an dem »letzte[n] und heiligste[n] meiner Werke« (Brief an Ludwig II. vom 28.9.1880) als auch auf die Zentralität der Mitleids- und Erlösungsthematik zu verweisen und einmal mehr auf die Verschränkung von Leben und Werk zu rekurrieren. Nicht ungewöhnlich für Wagner ist auch die Flankierung eines kompositorischen Werks durch eine ästhetische Schrift, in diesem Falle den Aufsatz Religion und Kunst (1880) sowie die daran anknüpfenden sogenannten »Regenerationsschriften«.

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Dramaturgie Die enorm verdichtete Handlungsführung, die enge Verknüpfung von inneren Vorgängen und szenischer Konkretion sowie die formale Strenge machen Parsifal zu dem wohl stringentesten dramatischen Werk Wagners. Die drei Akte sind spiegelsymmetrisch entworfen: Der 3. wiederholt den Handlungsverlauf des 1. und löst dabei zugleich dessen Konflikte auf. Der 2. Akt fungiert in Szene, Personal und Musik als absoluter, geradezu archetypischer Gegensatz dazu. Wenngleich Rituale in fast allen dramatischen Schöpfungen Wagners eine Rolle für die Bühnenhandlung spielen, so ist dieser Aspekt im Parsifal zu einer vorher unbekannten Intensität gesteigert und steht für eine innige Verschmelzung von Form und Inhalt — insofern beide Außenakte auf die szenische Darstellung eines Rituals, des Abendmahls, zulaufen und das Werk insgesamt als ein religiöses Weihespiel bzw. Mysteriendrama gedacht war. Die Handlung spielt in einem Gebirge »im Charakter« der Pyrenäen, das als Grenzscheide zwischen christlich-reiner (»gotischer«) und heidnischsündiger (»arabischer«) Welt fungiert. Auf dem Nordabhang liegt die Gralsburg Monsalvat, auf dem Südabhang Klingsors Zauberschloss. Geweihter und verzauberter Boden stoßen direkt aneinander. Somit überträgt Wagner die ethische Dichotomie in eine geografische Situation von beziehungsreicher Dialektik. Kompliziert und beziehungsreich ist auch die Personenkonstellation. Amfortas und Parsifal spiegeln jeder in gewisser Weise Christus wider: Amfortas in seinem Leiden, Parsifal in seiner Reinheit und Erlösungstat. Durch das Verführungserlebnis mit Kundry sind sie ebenfalls eng miteinander verbunden, als Verlierer und Wiedergewinner des Speers, als gescheiterter und neuer Gralskönig diametral entgegengesetzt. Zugleich ist Amfortas wegen seiner Sündigkeit – er leidet aus eigener Schuld – das genaue Gegenteil Christi. Was hier auf zwei Personen aufgespalten ist, fällt in der facettenreichen Figur der Kundry zusammen. Je nachdem, ob sie sich in der Gralsoder Zauberwelt aufhält, gleicht sie Maria Magdalena nach oder vor ihrer Bekehrung und trägt überdies teuflische (als Versucherin) und ahasverische Züge. Auch Klingsor kennt zwei Seiten, die Sehnsucht nach der Reinheit des Grals und den unbeherrschbaren Trieb.

Musik Wagner behält die spätestens seit Rheingold und Tristan entwickelten musikalischen Techniken und Ausdrucksformen im Wesentlichen bei, verdichtet sie aber und passt sie der Darstellung in einer Weise an, dass sich Schlagworte wie Spätstil oder »new reflective tone« aufdrängen. Der Gesang ist eng 15

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am Sprachrhythmus orientiert, vorwiegend deklamatorisch und dialogisch. Flexible, wechselnde Tempi charakterisieren Erzählungs- und Handlungspassagen, während Kommentare und Innenschauen fester gefügt sind. Ohne Vergleich in Wagners Werk ist die Gestaltung der Kundry-Partie: Abgerissene, kurze Phrasen, sperrige Tonsprünge und abrupte Lagenwechsel geben ihr ein geradezu expressionistisches Gepräge. Ensembles gibt es keine, dafür eine Rehabilitation des Chores in den ausgedehnten Chorszenen. Formalharmonisch geschlossenere, periodisch angelegte Nummern beschränken sich auf das Ritual und die Verführungsversuche der Blumenmädchen und Kundrys. Wie für seine anderen Musikdramen setzt Wagner auch für den Parsifal auf eine spezifische, nun oft abgetönte Klangfarbe. Diese entsteht vornehmlich durch raffinierte Register- und Mischklänge. Der Kontrast zwischen den Aufzügen wird ebenfalls durch spezifische Klangfarben und symbolisch eingesetzte Instrumente unterstrichen: Nach den hohen schillernden Sphären der Gralswelt entwickelt sich der 2. Akt aus Klangimpulsen der tiefen Streicher, Kontrafagott, tiefem Horn und Bassklarinette. Genauso differenziert ist die Harmonik gestaltet: Zwar schlägt der Parsifal als eines der ganz wenigen Werke Wagners einen tonalen Bogen von As-Dur über h-Moll/D-Dur zurück zu As, doch innerhalb der Aufzüge sind harmonisch stabile Passagen rar. Im Mittelpunkt des beständigen harmonischen Flusses stehen Terzbeziehungen zwischen den Akkorden und dominantische – freilich zumeist unaufgelöste – Akkorde, die je nachdem zu Feldern einer erweiterten oder gar weitgehend suspendierten Tonalität verwoben werden. Die Erlösungsbedürftigkeit fast aller Hauptfiguren wird in den unaufgelösten Akkorden unmittelbar sinnlich erfahrbar. Der Beitrag der Musik zum Drama durch die Interaktion des Orchesters mit Text und Szene setzt sich fort in der Leitmotivik. Kommentierende Motive fungieren als allwissender Erzähler, ergänzen das partikulare Wissen der handelnden Figuren und setzen es zueinander in Beziehung. Das motivische Netz, das Wagner durch die Partitur spinnt, ist ausgesprochen dicht. Eine neue Vielfalt erreicht er bei der Einführung und Bedeutungsanreicherung der Motive: Zur Exposition durch Auftritt oder Nennung treten Bühnenmusik (Gralsmotiv als Morgenweckruf der Bläser auf der Bühne), Zitat (Torenspruch) oder lautmalerische Evokation einer auf der Bühne nicht sichtbaren Handlung (erster Auftritt der Kundry). Die Dingmotive sind auf Gral und Speer reduziert, dazu treten Motive, die mit Personen (oft mehrere pro Person), seelischen Zuständen und vor allem religiösen Ideen verknüpft sind. Zur Auslotung der Tiefendimension der Handlung dienen sinfonische Techniken wie Motivableitungen und Verwandtschaften: Auf diese Weise wird die fatale Beziehung zwischen Amfortas und Kundry schon lange vor der textlichen Enthüllung musikalisch sinnfällig gemacht. Geradezu als generatives Prinzip fungiert das eröffnende Abendmahlmotiv, aus dem sich MELA N IE WA LD -F U HR M A N N

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Grals- (Anfangswendung) und Speermotiv (Schlusswendung) ebenso ableiten lassen wie die das Drama durchziehende Schmerzensfigur. Eine besonders wichtige Funktion kommt den drei Vorspielen zu: Sie exponieren die Hauptthemen – nehmen damit die spätere Handlungsexposition auf der Bühne vorweg – und bieten sinfonisch-motivische Gefüge, die jeweils an einer entscheidenden Stelle des folgenden Aktes in die Bühnenhandlung integriert und mit Text versehen werden. Für die weitgehend intuitive Verständlichkeit seiner Motive sorgt Wagner einmal mehr durch reichhaltiges Zitieren aus dem Toposschatz der europäischen Musik: Das Abendmahlsthema gemahnt durch seine synkopische, also scheinbar freirhythmische Führung, durch Ambitus, Melodieführung und Einstimmigkeit an die Klangsphäre des Chorals; der Blechbläserklang von Grals- und Parsifal-Motiv steht für die Herrschaftsdisposition ein, wobei die Tonsprünge, Punktierungen und quirlige Rhythmik des zweiten unbekümmerte Naivität darstellen. Darüber hinaus vollziehen die äußerst flexibel behandelten Motive auch die inneren und äußeren Verwandlungen mit. Besonders das Parsifal-Thema wird in Einheit mit dem Reifungsprozess des Helden vielfach umgestaltet, bis es zuletzt königlich daherkommt.

Kunst, Religion und Erlösung Die entscheidenden Kontroversen um das angemessene Verständnis dieses Werks drehen sich bis heute um die tatsächliche Bedeutung des religiösen Aspekts, um die Authentizität des mehr als nur anzitierten Christlichen, die Verherrlichung der sexuellen Askese und die Funktion als Bühnenweihfestspiel. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts richtete sich die Kritik auch gegen Aspekte wie die impliziten Geschlechterrollen und die latente Judenfeindlichkeit – beide vor allem im Blick auf die Figur der Kundry und das Verhalten Wagners gegenüber seinem jüdischen Uraufführungsdirigenten Hermann Levi, dem er mehrmals die Konversion nahelegte –, die Verherrlichung eines charismatischen, erlösenden Führertums sowie die elitistische »Herrenkaste« (Hartmut Zelinsky) der Gralsgemeinschaft. Wagner kommt im Parsifal noch einmal auf die sein Lebenswerk durchziehende Frage nach der Erlösung zurück, gewinnt dieser durch ihre Vervielfältigung jedoch neue Perspektiven ab: Für einmal ist es nicht eine sich im Tode aufopfernde Frau, die einen einzelnen Mann erlöst, sondern ein nicht nur überlebender, sondern zum König erhöhter Mann, der eine Frau, einen Mann, eine ganze Gemeinschaft sowie den im -Gralsheiligtum anwesenden Heiland selbst erlöst. Die zugrundeliegende Schuldstruktur ist der Sexualtrieb. Er bestimmt sowohl Klingsor, als auch Amfortas und Kundry. Letztere hat sich außerdem durch dem Mitleid diametral entgegengesetzte Schadenfreude 17

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schuldig gemacht. Erst Parsifals Verzicht auf jeden Egoismus, seine Umwandlung der Lust in Mitleid und Erkenntnis kann aus dieser Verstrickung erlösen, wobei Erlösung einerseits als Purifikation und Heilung (Gralswelt, Amfortas), andererseits als Aufhebung des Lebenszwangs (Kundry) vorgeführt wird. Wie fast alle Konzepte kirchlicher und religiöser Reform vor ihm unterscheidet Wagner zwischen der authentischen Botschaft Jesu und Strukturen und Dogmen der Amtskirche. Als Künstler sieht er seine Aufgabe dann aber nicht in einer Kirchenreform, sondern in einer Übertragung des philosophischen Wesenskerns der christlichen Religion in die Kunst: »Man könnte sagen, dass da, wo die Religion künstlich wird, der Kunst es vorbehalten sei, den Kern der Religion zu retten, indem sie die mythischen Symbole, welche die erstere im eigentlichen Sinne als wahr geglaubt wissen will, ihrem sinnbildlichen Werte nach erfaßt, um durch ideale Darstellung derselben die in ihnen verborgene tiefe Wahrheit erkennen zu lassen.« Das Erbe der Religion tritt also die Kunst an, in Bezug auf das Christentum im Speziellen die Musik, ist Wagner doch nicht erst 1880 davon überzeugt, »dass die Musik das ­eigenste Wesen der christlichen Religion mit unvergleichlicher Bestimmtheit offenbart. [...] Als reine Form darf uns die Musik als eine welterlösende Geburt des göttlichen Dogmas von der Nichtigkeit der Erscheinungs-Welt selbst gelten.«

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Paul Bekker

[Wagner] eignet sich eine Philosophie an, die das Täuschende des realen Erscheinungslebens lehrt, um auf Grund dieser Lehre für sein Theater die Glaubwürdigkeit der Wahrheit fordern zu können.

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Daniel Jenz, Patricia Nolz, Angelo Pollack, Stephanie Maitland, Carlos Osuna und Statisterie als Häftlinge und Wärter von Monsalvat



Philippe Jordan

WISSEND GESCHEHEN LASSEN

Eine Partitur des Rückblicks und des Ausblicks


Betrachtet man Tristan und Isolde als Urknall, so stellt Parsifal eine Sublimation, eine Art Perfektion dieses revolutionär Neuen dar. Nicht zuletzt auch dadurch, dass Wagner mit seinem letzten Musiktheaterwerk die Essenz der Gesamtheit seiner Errungenschaften und Inspirationsquellen schuf. Es ist beeindruckend, wie viel von der Mythologie und vom Personal seiner davorliegenden Bühnenschöpfungen sich in den Charakteren des ­Parsifal wiederfindet, in welch verdichteter Form die von Wagner regelmäßig durchdeklinierten Themen und Aspekte hier nochmals zusammengeführt werden – Mutterkomplex, Erlösung durch die Frau, erotisch-sündige Welt versus reine-religiöse Welt, unerreichbarer heilig-göttlicher Bezirk usw. Aber auch in formaler Hinsicht wird manches bereits Jahre zuvor Antizipiertes aufgegriffen. Der dritte Akt von Tannhäuser wirkt beispielsweise in seiner dramaturgischen wie musikalischen Anlage geradezu wie eine vorweggenommene Miniatur-Ausgabe des dritten Parsifal-Aktes, ja, manche Sequenzierung in den Pilgerchören und den Gralsritterchören ist sogar so gut wie identisch. Die zentralen Werke, in denen Wagner zu seinem innersten Wesen gefunden hat, Tristan und Isolde beziehungsweise Meistersinger von Nürnberg, scheinen im Parsifal zur Synthese verschmolzen: Die Tristan-Chromatik als Ausdruck der Sinnlichkeit, der Düfte und verlockenden Gifte zeigt sich in der Klingsor- und Kundry-Atmosphäre ebenso wie in der Leidenswelt des Amfortas; die vom Barock insbesondere von Johann Sebastian Bach inspirierte Meistersinger-Diatonik tritt uns in den Chorälen der Gralsritter ganz deutlich entgegen. Dennoch ist der Parsifal mehr als die Summe dieser einzelnen Teile. Eher ein Fazit, eine für Spätwerke großer Meister so typische Lebensrückschau, in der jedoch alles in viel feinerer, destillierter Form erscheint und dadurch umso wirkungsmächtiger in die Zukunft zeigt, für Komponisten wie D ­ ebussy, Humperdinck, Strauss, Mahler, ja sogar Schönberg wegweisend. Apropos Bach: Ich bin fest überzeugt, dass Wagner schon sehr früh begonnen hat, sich intensiv mit dessen Kompositionen auseinanderzusetzen. Möglicherweise gehören die sehr theatralen Passionen überhaupt zu Wagners ersten dramatischen Eindrücken, die ihn dann ein Leben lang nicht losgelassen haben. Formulierungen wie »Gerastet hab ich und süß geruht« in der Walküre klingen wie der Titel einer von Picander gedichteten Kantate, und die Doppelchörigkeit im Parsifal respektive die an Turba­chöre gemahnende Passagen wie etwa »Enthüllet den Gral, walte des Amtes«, weiters die offensichtliche Verwandtschaft der rezititavischen Passagen des Gurnemanz zum Evangelisten zeugen von der tiefgehenden Faszination, die eine MatthäusPassion auf Wagner ausgeübt haben muss. Und Bachs unvermittelte Überleitung aus dem im 3/8-Takt stehenden Gloria in das viel ruhigere 4/4 des Et in terra pax in der h-Moll-Messe, die regelrecht an einen Raumwechsel erinnert, stand ohne Zweifel Pate für den Übergang Marsch/Eintritt in den Gralstempel. Aber auch Bachs Vorliebe, aus einer Melodie heraus eine neue 23

PHILIPPE JOR DA N


Idee abzuleiten und zu verselbständigen (etwas, was später in der Jazz-Improvisation üblich wird), findet immer wieder ihren Niederschlag bei Wagner. Nebenbei bemerkt: So wie Wagner die Werke Bachs schon in sehr jungen Jahren kennenlernen durfte, so auch das sogenannte Dresdner Amen, eine ursprünglich von Johann Gottlieb Naumann für die Messliturgie kreierte, bald sehr populäre Chorakklamation, die bekanntlich von zahlreichen Komponisten der Romantik aufgegriffen wurde. Wagner zitiert die Melodie bereits in seinem Liebesverbot, um sie schließlich im Parsifal zu einem essenziellen Motiv zu formen und in die Partitur so gekonnt einzuarbeiten, dass die meisten im Publikum mittlerweile paradoxer und anachronistischer Weise in der Urform Naumanns rückwirkend das Gralsmotiv Wagners zu erkennen glauben. Gegenwärtig würden manche in solchen Fällen vielleicht von Plagiat sprechen, aber das Genie Wagners – und vieler anderer namhafter Komponisten – bestand ja unter anderem darin, Fremdes zu etwas unverwechselbar Ureigenem zu m ­ achen. (Das gilt natürlich ebenso für Einflüsse aus der Grand opéra.) Aber worin besteht nun das Zukunftsweisende im Parsifal? Nun, in ­erster Linie in der Überwindung des Musikdramas. Wagner hat das unsichtbare innere Theater weiter vorangetrieben, ihn hat das klangliche Erfassen des Seelenlebens der Handelnden interessiert. Vieles wird bewusst nur mehr im Orchester beschrieben und vom Orchester ausgedrückt, die Textmenge ist insgesamt zurückgenommen, wenige, ausgesuchte Worte sollen größtmögliche Aussage erzielen, das monologische Prinzip überwiegt, Redundanzen werden vermieden, die Singstimmen sind instrumentaler geführt und – rhythmisch durch Pausen und Synkopen gegliedert – manchmal sogar in Richtung Sprechgesang erweitert. Überdies lotet Wagner sowohl in der Irrfahrt Parsifals im Vorspiel zum dritten Aufzug als auch davor schon beim zentralen Kuss Kundrys im zweiten Aufzug die Grenzen des tonalen Systems bis zum Äußersten aus. In meinen Augen existieren im Werk Wagners zwei entscheidende Akkorde: Bis zum Siegfried setzt er als Ausdruck größter Dissonanz den verminderten Septakkord regelmäßig ein, später erweitert er diesen zum Tristan-Akkord und erreicht damit eine neue Klangwelt, die er im Parsifal sogar noch intensiver aufsucht als in Tristan und Isolde. Harmonie wird zur psychologischen Ausdeutung pur. Letztendlich geht Wagner im Parsifal bereits in die Richtung der absoluten Musik, die Aufführung soll als Bühnenweihfestspiel, als Kunst-Religion auf einer höheren Ebene zu einer wirklichen Sammlung, Stärkung und Läuterung des Publikums führen. Freilich, die Idee des Bühnenweihfestspiels ist untrennbar verbunden mit den Besonderheiten des Bayreuther Festspielhauses. Saal und Stück passen hier auf ideale Weise zusammen, nirgendwo sonst wird beispielsweise das Vorspiel seine ganz spezifische Aura so entfalten wie hier, nirgendwo sonst wird man den Effekt des indirekten Klanges, der aus einer anderen Welt zu kommen scheint, so optimal verwirklichen können. Umso mehr muss daher PHILIPPE JOR DA N

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jeder Dirigent, der Parsifal an einem anderen Haus aufführen möchte, jenen Ort kennen, für den dieses Werk geschaffen wurde. Auch wenn sich nicht alles eins zu eins übertragen lässt, wird sich dem Interpreten der Sinn und Effekt der genau austarierten, feinen instrumentalen Abmischungen, die protoimpressionistische Orchestration insgesamt und mit ihr verbunden die immens nuancierte Farbenwelt der Partitur erst erschließen, wenn er mit der einzigartigen akustischen Situation des Festspielhauses vertraut ist. Ähnliches gilt für die Tempodramaturgie: Wie rasch zu Langsames zerfasert, zu Schnelles an Detailtiefe verliert, wird gerade in und durch Bayreuth doppelt erfahrbar. Mein erster Kontakt zu Parsifal fand schon als Kind über den gleichnamigen Film von Hans-Jürgen Syberberg statt, in dem mein Vater als Dirigent fungierte und zugleich den Amfortas darstellte. Eine intensive Auseinandersetzung mit der Partitur, in die ich mich regelrecht eingrub, folgte dann ab dem Teenageralter. Dass ich dieses überaus komplexe Werk später in meiner Zeit als Musikdirektor an der Grazer Oper zur Premiere brachte, ohne vorher etwas anderes von Wagner geleitet zu haben als den Fliegenden Holländer, möchte ich im Rückblick als mutig bezeichnen und jungen Kollegen als Annäherung nicht empfehlen. Auf jeden Fall hat er mich seither in vielen Aufführungen an den unterschiedlichsten Bühnen begleitet, und je öfter ich ihn machen durfte, desto klarer wurde mir, dass Parsifal, ähnlich wie Pelléas et Mélisande, zu jenen Werken gehört, die ein Dirigent bei einer Aufführung nicht bis ins Letzte kontrollierend beherrschen darf und kann. Er hat alles oben Gesagte zu wissen und zu beherzigen, hat mit den übrigen Mitwirkenden am Text, an der Dynamik zu arbeiten, sollte an Schlüsselstellen richtungsgebende Impulse setzen, den tieferen Sinn von bestimmten Harmonien und musikalischen Zusammenhängen dem Publikum erschließen (wenn Wagner beispielsweise im zweiten Aufzug bei Kundrys »der Liebe ersten Kuss« im Orchester mit dem Tristan-Akkord seinen erotischsten Akkord erklingen lässt, dann passiert dies natürlich nicht ungewollt und verlangt eine interpretatorische Entscheidung). Aber im Letzten kann der Dirigent im Parsifal nicht ausschließlich führen, sondern muss vieles geschehen lassen, um dem Werk in seiner gewaltigen Dimension gerecht zu werden.

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W IS SEN D GE SCHEHEN LAS SEN



Kirill Serebrennikov

DIE IDEE DER FREIHEIT

← Elīna Garanča als Kundry, Stephanie Maitland, Carlos Osuna und Erik van Heyningen als Gralsritter

Am Ende seiner Laufbahn unternimmt Wagner in einem »Bühnenweihfestspiel« einen Rückblick auf sein gesamtes künstlerisches Schaffen: Amfortas ist der »gesteigerte Tristan«, in Parsifal ist Wagners Siegfried-Gestalt im doppelten Wortsinne aufgehoben, Kundry ist eine Reinkarnation von Erda, Brünnhilde und Venus zugleich, in Klingsor sind Züge von Alberich und Wotan, Hagen und Beckmesser vereint. Wagner beschwört die musikalische Aura dieser Gestalten und führt sie einer letzten Verfeinerung und Sublimierung zu. Diese in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstandene, in vieler Hinsicht außergewöhnliche Oper lädt ein, über unser Leben nachzudenken. Ich bin Buddhist und glaube an etwas Absolutes. Das Absolute ist aber nicht immer, oder richtiger vielleicht: fast nie dort zu finden, wo man es gemeinhin annimmt und vermutet, und schon gar nicht in theologischen Argumenten und Disputen. Diese führen immer wieder nur zur Errichtung von Scheiterhaufen – und in gewisser Weise haben auch Wagners religionsphilosophische Theorien zumindest als Brandbeschleuniger für andere Scheiterhaufen gewirkt. Es ist Wagners kompositorische und dramaturgische Erinnerungsperspektive im Parsifal, aus der ich meine szenische Konzeption entwickelt habe: Ein erwachsener Mann meines Alters erinnert sich an den jungen Mann, fast noch den Burschen, der er einmal war. Wagners Musik geht bei uns aus der inneren Bewegung des Protagonisten hervor und steht im Kontext einer szenischen Versuchsanordnung. Die ersten beiden Akte der Oper zeige ich im erinnernden Rückspiegel dieser Person. Parsifal wird von seinen Erinnerungen eingeholt oder übermannt, manchmal verirrt er sich in ihnen. Er entdeckt Verdrängtes. Er versucht seine Erinnerung zu steuern, und – wie jeder von uns – mit Schmerz und Scham verbundene Erfahrungen zu beschönigen. Und wir alle kennen Momente unseres Lebens, in denen wir uns nachträglich gern ganz anders

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K IR ILL SER EBR EN N IKOV


verhalten hätten, als wir es getan haben. Nach der zeitlichen Kluft, die das Geschehen der ersten beiden Akte von dem des 3. Aktes trennt, sind wir in der Gegenwart oder jüngsten Vergangenheit unseres Erzählers angelangt. In allen drei Akten kommt es zu einer in meinem Verständnis sakralen oder auch mystischen Begegnung zwischen dem damaligen und dem heutigen Parsifal: Beide stehen Aug’ in Auge dem anderen, fremd gewordenen oder plötzlich wieder ganz nah rückenden Ich gegenüber, das sie einmal waren oder das sie einmal sein werden. Wichtig ist mir, zu betonen, dass ich einen poetischen Erinnerungsraum geschaffen habe, in dem es – genau wie in unserer Erinnerung auch – Widersprüche geben kann und in dem sich verschiedene Ebenen überlagern oder wie in einer Überblendung ablösen können. Und natürlich weist jede Erinnerung Lücken und Leerstellen auf. Die Grenze von Erlebtem und Phantasiertem bleibt fließend – bei aller kinematographischer Konkretheit, mit der meine Aufführung arbeitet. Parsifals Erinnerung setzt da ein, als er noch neu im Gefängnis war und einen Mithäftling mit großer Brutalität ermordete. Wagner selbst lässt Parsifals Tötung des Schwans von Gurnemanz als »Mord« bezeichnen. Der Schwan hat Parsifal nichts getan, vermutlich hat er ihn aus purer Lust abgeschossen: »Im Fluge treff’ ich, was fliegt!«, prahlt er. Jedenfalls steigt Parsifal mit dem Mord an einem unschuldigen Wesen, dessen Blut er mutwillig vergießt, in das Stück ein. Dem toten Schwan zu Beginn des Stückes entspricht die schwebende Taube, die an seinem Ende erscheint. Bei uns schlägt an dieser Stelle der tote Schwan seine Augen auf und scheint lächelnd ins Leben zurückzukehren – ein großes Zeichen der Hoffnung. Die Gralsritter, so wie Wagner sie bereits zu Beginn des Stückes darstellt, haben offenbar einen Teil ihres Glaubens verloren, vermutlich sogar dessen wichtigsten und entscheidendsten Teil. Der Gral, so wie ich ihn verstehe, ist die Idee der Freiheit ganz allgemein – und genau deswegen ist er in Widerspruch zur Bruderschaft der Gralsgemeinschaft geraten: Die Ritter sind gefangen in ihrer dogmatischen Kampfstellung gegen alles Weltliche. Sie sind mit Scheuklappen unterwegs in der Welt, von der sie eine zunehmend verzerrte und verengte Wahrnehmung haben. Der Gefängnis-Raum meiner Inszenierung ist eine Metapher für eine bornierte, zusammengeschrumpfte, dogmatische Welt, in die sie sich selbst eingesperrt haben und in der alles anders passiert, als es passieren sollte. Und natürlich: Ein Leben hinter Gefängnismauern ist eine der möglichen Lesarten, die meine Inszenierung für den Satz »Zum Raum wird hier die Zeit« anbietet. Das Geschehen dieser Oper ist dystopisch: Die Figuren haben jeden Glauben, alle Liebe, alle Hoffnung verloren. Wir erleben, wie Menschen sich aus den Trümmern, Versatzstücken, Fragmenten und Splittern einstiger Glaubensgewissheiten eine neue, eklektische Religion zu schaffen versuchen: sowohl in der Gefängniswelt der beiden Außenakte, in der Gurnemanz den K IR ILL SER EBR EN N IKOV

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Häftlingen Glaubenssymbole in die Haut tätowiert, als auch im Zauberschloss Klingsors, in dem sie als modische Accessoires und Fetische kommerzialisiert werden. Wir thematisieren dadurch indirekt auch Wagners eigene MythenBricolage. Wir dürfen das Kunstwerk Parsifal nicht auf seine vermeintliche »Message« reduzieren. Wir können das Theater nicht als Sprachrohr einer Mitleidsethik benutzen, die sich als historisch kompromittierbar erwiesen hat. Wir können aber zeigen, wie widersprüchlich und diskontinuierlich der Prozess einer spirituellen Läuterung verläuft. Das heißt, das oberste Gesetz für das Erzählen einer Geschichte gilt auch hier: Nicht vom vermeintlich harmonischen Ende her zu denken, sondern jeden szenischen Moment ergebnisoffen auszuloten. Die graue Eminenz der Häftlingsgemeinschaft ist Gurnemanz. Er ist, wie alle anderen Figuren dieses Stückes auch, ein sehr vielschichtiger Mensch. Nicht zuletzt ist er ein geschickter Moderator, der Autorität und Einfluss nicht direkt, sondern immer nur aus der zweiten Reihe heraus ausübt. Angesichts des Versagens des Amfortas, der sich die Wunde, an der er laboriert, in unserer Aufführung immer wieder selbst beibringt, ist Gurnemanz auf der Suche nach einem neuen König. Bereits am Ende des 1. Aktes versucht er den jungen Parsifal anzuwerben, aber erst im 3. Akt finden beide unter völlig veränderten Vorzeichen zusammen. Ich sehe Amfortas als Klingsors Bruder. Ich deute diese Blutsverwandtschaft durch ein sehr ähnliches Kostüm der beiden an. Die Details, die zu Amfortas Inhaftierung geführt haben, kennen wir nicht. Sein Bruder Klingsor, ein »gefallener Engel«, hat ihm wohl etwas angehängt. Er ist ein Medienmogul, der Menschen von sich abhängig macht – die Konsumenten seiner Vermarktungsstrategien ebenso wie die ihm ausgelieferten Mitarbeiterinnen. Auch Kundry gehört zu seinen Opfern. Sie hat Amfortas in seinem Auftrag und trotz einer leidenschaftlichen Liebe zu ihm hinter Gitter gebracht. Deswegen zieht es sie immer wieder ins Gefängnis: Sie liebt Amfortas und will ihm wirklich helfen. Klingsor führt ein rücksichtsloses Leben im Luxus, aber alles hat seinen Preis. Er überschätzt seine Macht, und am Ende entscheidet sich Kundry dafür, ihn und nicht Parsifal zu vernichten. So zerstört sie am Ende des 2. Aktes seine auf Manipulation und Machtmissbrauch gegründete Herrschaft der Illusion und des schönen Scheins. Beim Erzählen von Kundrys Geschichte begebe ich mich in einen Konflikt mit Wagner: Es ist eine patriarchale Pose des 19. Jahrhunderts, mit der im Stück »dienen« als Bestimmung der Frau definiert wird. Bei Wagner muss Kundry, als die einzige Frau, die – außer den Blumenmädchen – im Stück vorkommt, versuchen, Teil dieser männlichen Welt zu werden. Mit anderen Worten: Sie soll sich assimilieren – und wir wissen, dass Wagner den jüdischen Uraufführungsdirigenten unter Druck gesetzt hat, zum Christentum zu konvertieren. Dies ist die destruktive und beschämende Kehrseite von 29

DIE IDEE DER FR EIHEIT


Parsifals Satz »Die Taufe nimm und glaub an den Erlöser!« Ich wünsche mir, dass Kundry widerständig bleibt, sich am Ende nicht selbst aufgibt, sondern dass sie an einer Hoffnung festhält. Jede naive Bebilderung würde die subtilen Sinnzusammenhänge von Wagners Partitur vergröbern. Man kann sich die szenischen Lösungen konventioneller Aufführungen für das Wunder des in der Luft stehenbleibenden Speers anschauen: Solche Versuche, die musikalisch realisierten Wunder von Wagners Partitur zu illustrieren, zeitigen alles andere als die gewünschten magische Effekte. Ich will und kann daher Wagners Parsifal nicht einszueins illustrieren – obwohl alle Symbole Wagners in unserer Inszenierung vorkommen: der Kelch, der Speer, das Kreuz, »des Heilands selige Boten« und so weiter. Ich glaube aber, dass die eigentliche Metaphysik sich im tatsächlichen Leben ereignet. Bei den Dreharbeiten zu unserm Parsifal-Filmmaterial im letzten Dezember rund um Moskau haben wir eine Beton-Ruine entdeckt. Es herrschte unglaublicher Frost und zugleich fiel das Sonnenlicht durch die Löcher in den zerstörten Wänden herein. Ein in seiner Schönheit magischer und irrealer Moment. Ich entdecke als Künstler Gott in dieser Schönheit.

DIE IDEE DER FR EIHEIT

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Friedrich Nietzsche

Die Predigt der Keuschheit bleibt eine Aufreizung zur Widernatur: ich verachte jedermann, der den Parsifal nicht als Attentat auf die Sittlichkeit empfindet.

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KOLUMN EN T IT EL


Paul Bekker

WAHRHEIT DER SPIEGEL­ GE­SETZ­LICH­ KEIT


Paul Bekker hat in seiner 1924 erschienenen Wagner-Monographie den im Untertitel Das Leben im Werke pointierten Ansatz sprachlich und gedanklich großartig durchgeführt. Bekker kehrt die Perspektive um, die annimmt, ein Künstler würde »sich«, »seine Lebenserfahrung«, seine »Philosophie« im Werk ausdrücken. Und gerade Wagner verführt oder zwingt einen ja geradezu aufgrund des immensen Theorie- und Philo­ sophie-Überhangs seines Schaffens, seine Theoreme auf ihren mehr oder weniger segensreichen ideologischen, politischen, spirituellen Gehalt hin zu befragen, in der Hoffnung, hierdurch Aufschlüsse über den ästhetischen Sinn seiner Partituren zu gewinnen. Bekker sieht nun all das – von den Kunstschriften bis hin zu den Peripetien des von Wagner gelebten Lebens – als Funktion und Katalysator seines künstlerischen Werks. Dennoch musste Wagner selbst, so Bekker, an die Substanzialität seiner Theoreme »glauben«, da sein Werk nicht anders als unter der Suggestion dieser monumentalen Selbsttäuschung entstehen konnte. In der Folge hat aber nicht nur Wagner, sondern haben vor allem seine Adepten sein Schaffen als »offenbarte Wahrheit« und Religionsersatz missverstanden, »welt­ anschaulich« harmonisiert und »glaubensgewiss« missbraucht, statt mit der fortschreitenden ästhetischen Theorie und Praxis ihrer jeweiligen Gegenwart Schritt zu halten. Bekker hingegen verwies darauf, dass die Erfahrung der damals neuen und neuesten Musik für ihn die entscheidende Voraussetzung seiner Auseinandersetzung mit Wagner war. In den folgenden Passagen referiert Bekker zunächst den Inhalt der um den Parsifal gruppierten Kunst-, Religions- und Regenerationsschriften Wagners, ohne dabei ihre berüchtigten Anteile zu camouflieren. Bekker empfiehlt jedoch, Wagners Gedankenführung nicht inhaltlich ernst­ zunehmen und hierdurch misszuverstehen, sondern in ihr das Arrangement »künstlerisch bedingter Zweckbegriffe« zu erkennen, dessen der Autor zur Schaffung seines Werkes bedarf. Ähnlich macht Bekker im Folgenden die Botschaft der »Umkehr des Willens durch wissendes MitLeiden« als ethische Maske von Wagners kompositorischer Gestaltungsformel des Parsifal begreifbar. Bekker gelingt so das Kunststück, eine Antwort auf die Frage zu geben, wie rabiater Antisemitismus und Mitleidsethik im Denken Wagners koexistieren können: Weil es Wagner letztlich weder um Anti­semitismus noch um Mitleidsethik geht. Beides sind Umschreibungen der Werdebedingungen seines Kunstwerks, die ihn subjektiv in den Stand setzen, sein Theater und die es bedingende Partitur in die Wirklichkeit zu projizieren. Sergio Morabito

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PAU L BEK K ER


Ein Bühnenumbau In einem Brief an Mathilde [Wesendonck] vom November 1859 weist Wagner auf die irrige Auslegung einer seiner Äußerungen hin und setzt begütigend hinzu: »Das sage ich mir: Sie wird noch die Freude haben, auch hierüber sich noch ganz klar zu werden; z. B. dass, wenn ich über Politik disputiere, dabei etwas ganz anderes vor Augen habe, als das scheinbare Thema usw.« Dieses »Etwas ganz anderes vor Augen haben als das scheinbare Thema« gilt für alle schriftlichen und mündlichen Kundgebungen Wagners, soweit sie sich nicht unmittelbar auf die Kunst beziehen. Es gilt selbst für die Äußerungen über die Kunst, soweit sie nicht dem eigenen Schaffen zugewendet sind, und es gilt innerhalb des eigenen Schaffens, sobald von einem anderen als dem eben entstehenden Werke die Rede ist. Wagner sieht nicht nur die Welt von der Kunst aus, er sieht nicht nur die Kunst vom eigenen Schaffen aus, er sieht auch dieses Schaffen nur von dem jeweilig entstehenden Werke aus. Alles Sehen ist ein Teil des improvisierenden Produzierens, es dient keinem anderen Zwecke als der Steigerung dieser Produktionsspannung, ihrer Hinlenkung auf das erstrebte Ziel. Sie [die Bayreuther Schriften] sind nicht im Sinne ihrer unmittelbaren Inhaltsbedeutung zu interpretieren. Sie sind Versuche, unter dem Anschein begrifflicher Darlegung eine neue Art des Schauens zu verdeutlichen. Ein Bühnenumbau wird vorgenommen. Die Requisiten, Kostüme und Dekorationen der neuen Szene werden herbeigeschafft, geprüft und aufgestellt, das einzelne Wichtige wird mit betonter Hartnäckigkeit in der Besonderheit seiner Konstruktion erläutert, die Verhältnisse und Wirkungen werden abgestimmt – bis das Bild steht, jeder gedankliche und begriffliche Mechanismus genau funktioniert und das Spiel beginnen kann. Die Herkunft und Eigennatur dieser Requisiten an sich ist gleichgültig. Nicht sie gilt es zu erforschen, sondern ihre Zweckmäßigkeit für das Spiel festzustellen, sie mit allen Mitteln diesem einzigen Zwecke gefügig zu machen. Das Gerüst der Bühne ist aufgerichtet, der ihr eingeschlossene Zauber beruht auf Vortäuschung der Wirklichkeit des Unwirklichen, der Unwirklichkeit des Wirklichen. Das Auge soll hören, das Ohr soll sehen: Dies ist die Forderung einer Kunst, die Leben sein will, Leben in der höchsten Bedeutung realistischer Idealität. Es ist die Kunst des zur Wahrheit gewordenen Bühnenwunders. Nur eines vermag dieses Wunder wirksam zu machen: der Glaube. Glaube ist an eine zweifache Voraussetzung gebunden: die Gemeinde, den Wundertäter. Das Genie ist Wundertäter aus Kraft der Intuition. Um aber Wunder wirken zu können, muss die Notwendigkeit dazu vorliegen. Die Menschheit muss degeneriert sein, um Verlangen nach dem Wunder zu empfinden, um die Bereitschaft für das Wunder zu haben. »Die Annahme einer Entartung des menschlichen Geschlechts dürfte, so sehr sie derjenigen eines steten Fortschrittes zuwider erscheint, ernstlich erwogen, dennoch die einPAU L BEK K ER

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zige sein, welche uns einer begründeten Hoffnung zuführen könnte.« Das menschliche Geschlecht erscheint zunächst im Bilde des Theaterpublikums, wie es Popularität, zeitliche und räumliche Wirksamkeit des wundertätigen Genies bestimmt. Im gleichen Maße aber, wie das Bedürfnis der Wundersteigerung empfunden wird, steigert sich das Bedürfnis der Ausweitung des Konfliktes zwischen Wundertäter und Gemeinde. Der Glaube wird zur religiösen Forderung, das Theaterpublikum zum Sinnbild der verfallenen Menschheit, der Künstler zum göttlichen Heilbringer. Diese glaubenfordernde Kunst muss sich mit dem Heiligsten identifizieren, sie muss sich das Bewusstsein geben, dem Verworfensten gegenüberzustehen. Sie muss diese Gegenüberstellung als naturgesetzliche Tragik empfinden lassen, um ihre Glaubensforderung mit höchster Intensität erfassen und aussprechen zu können. Sie muss sich selbst als göttlich stark, alles andere als durch geschichtlichen Fluch verderbt erkennen, sie muss dieses Starke sich aus Mitleid zu dem Schwachen neigen lassen. Sie muss Religion werden, um als solche ihre Glaubensforderung begründen zu können: Die Forderung des Glaubens an die Wahrhaftigkeit der Täuschungskunst.

Der Jude als dramatische Antithese Die Gesamtfolge dieser Schriftenreihe von den Bayreuther Betrachtungen bis zu den abstrakten philosophischen Ausführungen von Religion und Kunst stellt sich dar als begriffliche Konzeption einer Vorstellungswelt, in der das künstlerische Genie aus intuitiver Erkenntnis des Leidens das Heilsamt der Erlösung durch Mitleid übt. Die Schicksalsbestimmung dieses Genies ist tragisch. An Zeit und Raum der Mitwelt gebunden, verfällt es selbst dem Irrtum, wo es sich mit dieser Welt berührt. Seine wahre Sendung kann es nur erfüllen, wenn sein Tatwille dem Strome dieser Welt entgegengerichtet ist. Tragisch ist aber auch die Schicksalsbestimmung der Welt selbst. Als Natur kann sie niemals Frieden finden. Nur durch Erkenntnis ihres Verfalls vermag sie im Glauben an das religiöse Kunstwerk zur Hoffnung eines gereinigten Lebens zu gelangen. Diese Tragik der Welt ist bedingt durch die blinde Begehrlichkeit ihres Willens. Solange er nicht zur Erkenntnis des Irrtums seiner dunklen Triebhaftigkeit erwacht, bleibt er zum ewigen Leiden des Begehrens verurteilt. Die christliche Botschaft symbolisiert im Abendmahl den Weg der Reinerhaltung durch Enthaltung vom Fleischgenuss in der Doppelbedeutung der Nahrung wie der sinnlichen Lust. Aus beiden wächst das Leiden. Dieser christlichen steht die unchristliche Lehre gegenüber mit dem Gott der Begehrlichkeit, der Macht, des Krieges, der Weltfreude: Jehovah, dem Herren der Judenwelt. Gott bedarf des Teufels, um seine Göttlichkeit zu enthüllen, das Heilige bedarf des Unheiligen, um sich als heilig kundtun zu können, das Genie bedarf des Dämons, um sich als Genie zu erweisen. Dieser Teufel, 35

WA HR HEIT DER SPIEGEL­G E­S ETZ­L ICH­K EIT


Unheilige und Dämon, dessen Wirkung das Leiden der Welt bestimmt, und der nun als Verkörperung des Verfalles der Wiederaufrichtung entgegentritt, ist der Jude. Er ist die dramatische Antithese, durch die diese Welt der Liebe, des Glaubens, der Hoffnung in Bewegung gesetzt wird.

Theatralische Veranschaulichung Wagners Kampf gegen das Judentum beginnt erst kurz nach der Flucht aus Dresden mit der 1850 anonym erschienenen Abhandlung Das Judentum in der Musik. Sie findet über manche verstreute Einzelausführung im Rahmen anderer Schriften ihre direkte Fortsetzung in der 1869 erscheinenden Neuausgabe mit den Aufklärungen über das Judentum in der Musik. Von hier geht die antisemitische Linie weiter zu dem kleinen Aufsatz Modern? und steigert sich dann über Einflechtungen in der letzten Schrift zu den beiden Nachträgen zu Religion und Kunst: Erkenne dich selbst und Heldentum und Christentum. Wie weit persönliche Erfahrungen, Missgunst gegenüber den Erfolgen Mendelssohns und Meyerbeers, fachlich begründete Opposition gegen eine Wagner innerlich entgegengesetzte, ihn äußerlich durch ihre Erfolge hemmende Kunst hier mitgesprochen haben, ist kaum festzustellen. Der tiefere Grund von Wagners antijüdischer Einstellungen aber dürfte durch solche Erklärungen nicht zu finden sein. Schumann hasste die Kunst Meyerbeers im gleichen Maße wie Wagner, aber er hasste nur die Kunst, nicht den Menschen, nicht die Rasse. Bei Wagner ist es eher umgekehrt, und sein Hass steigert sich mit den Jahren bis zum Ausdruck schonungsloser Beschimpfung. In der Bayreuther Zeit findet er neue Bestätigung in den Schriften und RassenTheorien Gobineaus. Durch sie wird ihm der Jude als kulturhistorische Erscheinung zum Sinnbild alles Niedrigen, Verächtlichen, Verderblichen, zum »plastischen Dämon des Verfalls der Menschheit in triumphierender Sicherheit«. Gegenüber diesem »zum handelskundigen Geschäftsführer unserer Gesellschaft erzogenen ehemaligen Menschenfresser« begrüßt Wagner das Wiedererwachen des politischen Antisemitismus in jenen Jahren als »Instinkt von edlerer Abkunft und höherem Ziele, etwa als Geist reiner Menschlichkeit«. Hier liegt etwas anderes vor als persönliche oder fachliche Gegnerschaft. Die Beständigkeit und Steigerung dieser Linie durch die ganze zweite Lebenshälfte Wagners, im Gegensatz zur ersten, zeigt, dass es sich nur um ein in der Besonderheit seiner Künstlerentwicklung begründetes Phänomen handelt. Wagners Judenbegriff, wie er in den Schriften erscheint, beruht auf dem nämlichen Bedürfnis kritisch spekulativer Vorstellungsbildung, wie die Entstehung seiner Schriften und gedanklichen Darlegungen überhaupt. Dieser Antisemitismus ist ebenso wenig realpolitisch aufzufassen wie der »Kommunismus« der Revolutionszeit. Er erwächst aus dem Bedürfnis, sich ein theatralisch PAU L BEK K ER

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Erschautes in der realen Welt glaubhaft vorzuführen, um daraus steigernde Kraft für die theatralische Veranschaulichung zu gewinnen. Der Jude ist die Dissonanz, die die Harmonie der Welt stört. Diese Dissonanz, szenisch in den Gestalten der List, der Machtgier, des Goldverlangens, der Tücke, der Fühllosigkeit ausgeprägt, drängt zu menschlicher Verkörperung. Die einfach romantische Gestalt des Dunkels, wie sie noch in der durch Webers Eglantine angeregten Ortrud gezeichnet war, reicht für das Verlangen nach geschärfter Charakteristik nicht aus. Es muss ein plastisches Modell gefunden werden, dass der Entfaltung zur Dämonie des Dunkels fähig ist. Als solches Modell bietet sich der Jude, wie er in der Volksphantasie lebt.

Nachtseite seines Selbst Aus diesem künstlerisch bedingten Zweckbegriff des Judentums treten die Gestalten Alberichs, Loges, Hundings, Mimes, Hagens hervor. Es ist die Nachtseite der Erscheinungswelt Wagners, im tiefsten Innern ihm selbst angehörend, von dem Eigenleben seiner Natur in Wahrheit ebenso unzertrennbar wie Mephistopheles von Faust. Diese Nachtseite seines Selbst nennt er Jude, wie er die Lichtseite Held nennt. Der Begriff dieses Juden, auf den er alles entladet, was ihm hassenswert erscheint, bis zu den Musikkritikern und Vivisektoren, gibt die eigentliche Grundlage auch der Regenerationsidee. Wie könnte diese gegenständlich fassbar werden, wenn nicht die Macht des Verfalls sich ebenso anschaulich böte, wie das erlösende Heldengenie? So muss es der Jude sein, der die Kirche ihre wahre Sendung hat vergessen lassen, wie durch ihn Hass, Gier und Raub die politische Welt zersetzt haben. Der Geist des Judentums hat die Kirche verunreinigt, »das Blut des Christentums ist in der semitisch lateinischen Kirche verderbt«. Mit dem Blute des Christentums zugleich vergiftet ist das der zum Herrschen berufenen Herrenrasse und das der Menschheit überhaupt in ihren von Geburt edelsten Vertretern. Diese Verderbnis des Blutes, ebenso durch Abfall von der natürlichen Nahrung wie durch generierende Vermischung herbeigeführt, kann behoben werden nur durch den Genuss des Blutes Jesu. Es ist das Blut nicht eines höher organisierten Individuums, sondern einer neuen Spezies »zur Rettung des in seinen edelsten Rassen erliegenden menschlichen Geschlechtes«. So bedeutet es das »göttliche Sublimat der Gattung selbst«. In dem Genuss dieses Blutes Jesu, wie er »in dem einzigen echten Sakramente der christlichen Religion symbolisch vor sich geht, können auch die niedrigsten Rassen zur göttlichen Reinigung gedeihen. Dieses Antidot wäre demnach dem Verfalle der Rassen durch ihre Vermischung entgegengestellt, und vielleicht brachte dieser ­Erdball atmendes Leben nur hervor, um jener Heilsordnung zu dienen«. Dadurch wäre zwar keine Gleichheit wohl aber eine »allgemeine moralische Übereinstimmung« im Sinne wahrhaftigen Christentums ermöglicht. An der 37

WA HR HEIT DER SPIEGEL­G E­S ETZ­L ICH­K EIT


Sehnsucht nach solcher moralischen Übereinstimmung gibt sich das Leiden der Welt kund. Erkenntnis dieses Leidens steigert den Intellekt der höheren Natur bis zum Wissen der Bedeutung der Welt. »Wir nennen die Naturen, in welchen dieser erhabene Prozess durch eine ihm entsprechende Tat als Kundgebung an uns sich vollzieht, Heldennaturen.« Die Heldennatur äußert sich aber nicht als Heldentum der Kraft, das nur Blutvergießen und Schlächterei ohne allen Heroismus bedeutet. Der Held ist da aufzusuchen, »wo er gegen die Verderbnis seines Stammes, seiner Sitte, seiner Ehre, mit Entsetzen sich aufrafft, um, durch eine wunderbare Umkehr seines missleiteten Willens, sich im heiligen als göttlichen Helden wieder zu finden«.

Gedanken-Kulissen Es ist eine kaum übersehbare Reihe von Gedanken- und Begriffsverfädelungen, die sich mit immer sicherer werdender Überzeugtheit unausgesetzt weiterspinnt. In ihrer Verquickung philosophischer, soziologischer, ästhetischer, politischer, religiöser Vorstellungsreihen ständig abstruser erscheinend, endet sie in einem geschlechtsphilosophischen Fragment: Über das Weibliche im Menschlichen. Der gedanklich logische Teil dieser Darlegung befremdet durch Willkürlichkeit der Konstruktion, fantastische Naivität der Behauptungen, Auslassung ungeeignet scheinender, Hervorhebung zweckmäßiger Angaben. Die Einmischung von Äußerungen Schopenhauers und Gobineaus erscheint namentlich im Hinblick auf Schopenhauer bald als gewaltsame Missdeutung, bald wirkt sie unselbständig. All dieses Verwirrende, Widerspruchsvolle, Gehässige, mystisch Dunkle löst sich bei der Erinnerung an jene Äußerung zu Mathilde, wonach Wagner stets »etwas ganz anderes vor Augen« hat als das scheinbare Thema. Dieses ganz Andere ist der Entwurf eines geistigen Beziehungslebens von üppiger Verschlungenheit der Linienführung, wie es geeignet ist, den Glauben an die Wahrheit der Bühne im Autor selbst zu bestätigen. Ein großartig getürmter Aufbau von GedankenKulissen, begriffliche Beleuchtungseffekte seltsamster Art, kulturhistorische Perspektiven von scheinbar unabsehbarer Tiefe müssen den Glauben in dieser Vorstellungswelt heimisch, ihn seiner selbst sicher machen. Noch nie hat Wagner eines ähnlich weit ausgeführten spekulativen Aufwandes bedurft. Selbst die Schriften der revolutionären Nibelungen-Zeit suchen und finden den Weg vom Allgemeinen zum Besonderen des künstlerischen Gestaltungsproblemes, die Meistersinger- und Götterdämmerung-Schriften halten sich durchweg im Gebiet der fachlichen Betrachtung, Beethoven bleibt eine im philosophischen Stile ausgeführte künstlerische Allegorie. Der Inhalt dieser Bayreuther Schriften aber quillt scheinbar immer weiter in die Gebiete des allgemeinen Denkens. Probleme der Gestaltung scheiden ganz aus, die Spekulation verliert sich ins Grenzenlose. PAU L BEK K ER

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Dieses alles ist in Wahrheit nur Unterbau eines neuen Werkes, der kritischen Betrachtung im Sinne unmittelbar stofflicher Erörterung unzugänglich. Solches fantastisch ausgeführten Unterbaues bedarf Wagner hier aus zweifachem Grunde. Er bedarf seiner, um ein geistiges Beziehungsleben von verwirrender Mannigfaltigkeit der Handlungsimpulse auszurollen, er bedarf seiner, um an diesem handlungsmäßigen Beziehungsleben das Klangleben einer zur höchsten Kunst verschlungenen Harmonik begründen zu können. Durch diese spekulative Steigerung gewinnt er die visuellen Bilder für die Veranschaulichung der jetzt auf ihren typenhaften Urcharakter zurückgeführten Elemente seines Spieles.

Harmonie und Chroma Die Genesis des Parsifal, wie sie sich in der Linie von Marienbad über Dresden, Zürich, Venedig, Luzern, Paris, München bis Bayreuth darstellt, zeigt zwei deutlich voneinander getrennte Vorstellungskomplexe: die Gralsidee, von den Feen, Rienzi, Lohengrin über Ananda und Buddha zum Karfreitagszauber und Abendmahl führend als Idee einer Welt schmerzbefreiten Friedens, ihr gegenüber die Leidensidee, vom Liebesverbot über Tannhäuser, den sterbenden Tristan zu Amfortas, von Elsa über Sawitri zu Kundry führend. Harmonie und Chroma, umrisshaft und individuell erschaute Welt stehen einander gegenüber, zwischen beiden Parsifal, jeder in einem Teile seines Wesens, keiner völlig angehörend. Dem Gralsreiche ursprünglich fremd, der Leidenswelt gegenüber unwissend, verbindet er beide durch mitleidende Erkenntnis und wird durch die Berufung zum Königtum über sie erhoben. In der schweren Erfassbarkeit dieser Gestalt, die Mittelpunkt und doch nicht lebensgebendes Zentrum, entwicklungdeutende Verbindung und doch nicht tragende Kraft ist, lag das Gestaltungsproblem des Werkes. Was Wagner hier begrifflich als Mitleid interpretiert, ist in Wahrheit, außerhalb jeder philosophischen Deutung, das Mittel, den Organismus des Werkes in Bewegung zu setzen. Es ist handlungsmäßig die einzige Möglichkeit der Verbindung von Reinheit und Leidenschaftwelt, es ist als musikalische Kraft die modulatorische Verknüpfung von harmonischer und chromatischer Ausdruckssphäre. Das Mit-Erleiden beider als passives Erleiden, als Hineingezogenwerden in sie ohne Fortgerissenwerden, die Aufnahme der entscheidenden Grundzüge beider: die Fähigkeit des doppelseitigen Eindrucksempfangens ist künstlerische Daseinsbedingung der Parsifal-Erscheinung. Sie ist die Natur des Rezeptiven. Als solche steht sie zwischen zwei entgegengesetzten, einander aufhebenden Ausdruckswelten. Nur durch diese nicht handelnde, einzig erleidende Mittelskraft können beide verbunden werden. Die ethische Formulierung ist lediglich Symbol der funktionellen Spielbedeutung, diese aber ergibt sich aus dem Drange beider Ausdruckssphären zueinander. Er 39

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beruht im tiefsten Grunde auf dem Bedürfnis der Künstlernatur, beide Hälften ihres Wesens, beide Arten der Ausdruckserfassung, in die sie sich zerspalten fühlt und die bisher wechselnd die Vorherrschaft geführt haben, in eine zusammenzufassen, sich selbst als Einheit zu empfinden und kundzutun. In diesem Vereinigungsdrang, in dieser Erfassung beider Ausdrucksphären als einander bedingende Kontraste ruht der Bewegungsimpuls des Werkes. Er veranschaulicht sich an der diese Bewegung mitleidenden Erscheinung Parsifals.

Die Parsifal-Gestalt So wird die Parsifal-Gestalt zum Spiegel, in dem sich die beiden Hemisphären der Handlung reflektieren. Indem er beider Bilder fasst und festhält, macht er das Bild des Ganzen erkennbar. In der Spiegelfähigkeit ruht seine Bedeutung, die sich handlungsmäßig im Begriffssymbol des Miterleidens darstellt. So erklären sich die Vorstellungsbildungen der hierzu gehörenden Schriften als philosophisch eingekleidete dramaturgische Allegorien. Sie müssen die Vorstellung des nicht handelnden, sondern erleidenden, durch dieses Erleiden allein ermöglichten Helden schaffen. Sie bedürfen seiner zur Verwirklichung der Handlungsidee: der das äußere Geschehensbild erleidend aufnehmenden Erscheinung. Als solche steht Parsifal zugleich inner- und außerhalb der Handlung, innerhalb als Drehpunkt der Bewegung, außerhalb als Reflektor des Geschehens. Aus dieser Eigenheit seiner dramaturgischen Bedeutung ergibt sich seine figürliche und musikalische Gestaltung. Parsifal kennt seinen Namen nicht. »Ich hatte viele, doch weiß ich ihrer keinen mehr.« Er ist als Bild die Wiederkehr einstiger Taterscheinungen, der höchsten unter ihnen, der stärksten Willensverkörperung, die Wagner je geschaffen: der Siegfried-Gestalt. Als Element der neuen Handlung aber ist er die Aufhebung dieses Urbildes, das sich »durch eine wunderbare Umkehr seines missleiteten Willens im Heiligen als göttlichen Helden wiederfindet«. Hetzt Siegfried in naiver Kraftfreude den Bären, so erkennt Parsifal die ­Tötung des Schwanes als Sünde. Schmiedet Siegfried das Schwert, so zerbricht Parsifal den selbstgeschaffenen Bogen. Weckt Siegfried das Weib, so entflieht Parsifal der Umarmung. Verlangt Siegfried nach neuen Taten, so ist Parsifals Zug durch die Welt nur qualvolles Irren. Steigert sich Siegfrieds furchtlose Willensfreiheit bis zur Verachtung der Todesprophezeiung, so kennt Parsifal nur das Gebot völliger Preisgabe eigenen Wünschens. Er ist die bedingungslose Umkehr der früheren Erscheinung, die Wandlung der Bejahung in die Verneinung, der Individualität in die Aufhebung alles Persönlichen. Durch diese Umkehrung des Einstigen wird die Gestalt gewonnen. Dem Gesetz ihres Seins liegt kein lebendig erfühlter, sondern ein künstlicher Impuls zugrunde. Dieses Künstliche schafft sich das Kunstmittel der UmPAU L BEK K ER

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kehrung, um durch sie Erscheinung werden zu können. Aus der Umkehrung des Gestalthaften ergibt sich der Begriff der Verneinung. Parsifal ist die künstlichste Gestalt, die Wagner geschaffen hat. Nichts an ihr ist eigen, sie besteht nur durch die Kraft der Antithese. In der Vollkommenheit dieser künstlichen Antithese, der, wie bei einer Fuge Bachs durchgeführten, Gestaltung aus der Umkehrung alles Vorbildhaften, ruht ihre künstle­rische Ermöglichung und Rechtfertigung. Es ist ein Kontrapunkt der musikalischen Szene. Das Thema läuft zurück und erzeugt aus dieser rückläufigen Bewegung ein neues, reziprokes Bild. Dem alten ähnlich, ihm auf geheimnisvolle Art verbunden, zeigt es sich als sein vollkommenes Widerspiel. Was sich philosophisch gedeutet als Mitleid und Willensverneinung darstellt, ist dieses auch im Sinne der szenisch musikalischen Gestaltung, des technisch organischen Aufbaues. Die ethische Deutung ergibt sich als allegorische Umschreibung der Werdebedingungen des Kunstwerkes. Nur ein zum Abschluss gelangter, mit allem stofflich Gegenständlichen völlig fertig gewordener Künstler konnte das Wagnis der Konzeption einer solchen Gestalt, als gleichsam automatischer Rückspiegelung des eigenen Schaffens, unternehmen und durchführen. Nur aus der zu höchster Reife gediehenen Erfahrung war es möglich, alle hier vorausgesetzten Beziehungen in der Mannigfaltigkeit ihrer Zusammenhänge zu erfassen, sie durch Zurückführung auf wenige entscheidende Grundzüge zu veranschaulichen. Ein Künstler, der das Leben in die Gesetze seines Spieles gezwungen und aus diesem Zwange eine vollkommen ausgeführte Welt der Gestalten erschaffen hat, nimmt nun diese Welt der eigenen Kunst als Stoff für ein neues, alles verschmelzendes Werk. Er gewinnt die Gestaltungsformen, indem er die bisherigen Haupterscheinung seines Phantasiewillens in ihr Gegenteil verkehrt und in dieser Verkehrung das Kontrastierende organisch bindet. Er nennt dies Umkehr des Willens durch wissendes Mit-Leiden. Er gibt daher die der Wahrheit entsprechende Formel, sobald man diese Wahrheit als Wahrheit der Spiegelgesetzlichkeit erfasst.

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Paul Bekker

Der Mensch, der Denker, der Kämpfer Wagner hat lange Zeit zu sehr im Vordergrund der Betrachtung gestanden, der Musiker ist erst allmählich zur Würdigung gelangt. Aber der Künstler des Theaters ist erst der eigentliche, letzte, alles andere rechtfertigende Wesenskern, der große schöpferische Mime, der mit der Weltkugel spielt, doch nicht um diese zu erklären, denn das ist nicht seines Amtes, sondern um an ihr die Kunst seines Spieles zu zeigen.

KOLUMN EN T IT EL

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Nikolay Sidorenko als damaliger Parsifal und Elīna Garanča als Kundry


James M. McGlathery

WAS GESCHIEHT IM ZWEITEN AKT PARSIFAL?


Dass Parsifal reif für die Paarung ist, zeigt sich mit seiner Ankunft auf Kling­ sors Burg. Die »Zauberkraft«, die ihn dorthin lockt, ist die Lust, auch wenn ihm das nicht bewusst ist. Allerdings behauptet Klingsor, dass er das bewerkstelligt hat: »Die Zeit ist da. – / Schon lockt mein Zauberschloss den Toren, / den, kindisch jauchzend, fern ich nahen seh’.« Natürlich möchte der Zauberer gerne glauben, dass er die Kontrolle über die Zauberkraft der Lust hat, dass er sie seinem Willen unterwerfen kann. Er muss das umso mehr glauben, weil die Lust ja die Kraft war, die er in sich selbst nicht bezwingen konnte und die so seinen Traum zerstörte, der Gemeinschaft des Grals beizutreten. Deshalb meint er auch, dass er den Fluch beherrscht, der Kundry in einem todesähnlichen Schlaf festhält: »Im Todesschlafe hält der Fluch sie fest, / der ich den Krampf zu lösen weiß.« Gleichzeitig sieht er jedoch in Kundry die ewige Verführerin, deren Drang zur Verführung implizit nicht mit seinem vermeintlichen Erlangen magischer Kräfte entstand. Selbst in seinen Augen stellt sie eine Urkraft dar, die er als Zauberer lenken und kontrollieren ­möchte: »Dein Meister ruft dich Namenlose, / Urteufelin, Höllenrose! / Herodias warst du, und was noch?« Er weiß, wovon er spricht, denn es war jemand wie Kundry – oder sie selbst –, mit der er sich der Lust hingab und dann die »Kontrolle« darüber nur erlangte, indem er sich selbst entmannte. Es war der Paarungstrieb und nicht Klingsor, der Parsifal von der Gralsburg zur Burg des Zauberers lockte; und es ist der unsterbliche Drang zur Verführung, nicht Klingsors Ruf, der Kundry bei Parsifals Ankunft aus dem Schlaf holt.

Verführerin wider Willen Tatsächlich ist Kundry ja eine Verführerin wider Willen. Das ist ihr Fluch. Doch gerade ihr Ankämpfen gegen das Begehren macht den Drang umso heftiger; oder, anders ausgedrückt: lässt sie der Kampf gegen den Drang indirekt ihre Macht auskosten. Sie möchte für die Verführung von Amfortas Sühne leisten, indem sie den Gralsrittern dient; doch erfüllt vom Gespür für ihre unwiderstehliche Anziehungskraft verbirgt sie ihre Schönheit und erscheint ihnen in entwürdigter, tierischer Gestalt. Diese Verkleidung ist offensichtlich ihre eigene Idee, nicht die Klingsors, denn allem Anschein nach möchte er, dass sie stattdessen in seiner Burg bleibt: Sag’, wo triebst du dich wieder umher? Pfui! Dort bei dem Rittergesipp’, wo wie ein Vieh du dich halten lässt! Gefällt dir’s bei mir nicht besser? Als ihren Meister du mir gefangen – Haha! – den reinen Hüter des Grales – was jagte dich da wieder fort? 45

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Die Antwort auf Klingsors Frage, was sie denn dazu getrieben hat, seine Burg zu verlassen, nachdem sie Amfortas verführt hatte, ist natürlich, dass sie durch ihren Dienst Sühne leisten wollte. Aber das spezielle Objekt ihrer Fürsorge war Amfortas, ein Hinweis auf den Drang der Verführerin, ihrem ­Opfer Trost zu spenden, um auf diese sublime Art und Weise ihren romantischen Triumph über ihn zu bestätigen. Gleichermaßen genießt Kundry ihr verführerisches Wesen auf indirekte Weise, indem sie sich in den Schlummer flüchtet. Wenn sie nicht dient, muss sie sich dem Schlaf ergeben. Sonst geriete sie in Versuchung, ihre Verführungskünste auszuüben. Selbst im todesähnlichen Schlaf ist Kundry jedoch stets die Verführerin. Offensichtlich war es nicht wirklich Klingsor, der sie nun geweckt hat, denn er spricht von einem »And’ren«, der das getan hat, einem weiteren potenziellen Opfer wie Amfortas, nämlich Parsifal. Oder vielleicht hat Klingsor sie gerufen; doch es ist die Chance, Parsifal zu verführen, die sie zur Burg des Zauberers geführt hat. Sie gibt zu, dass ihr »Fluch« sie geweckt hat: KUNDRY

KLINGSOR KUNDRY

Ja! Mein Fluch! – Oh! – Sehnen! – Sehnen! – Haha! – dort nach den keuschen Rittern? Da – da – dient’ ich.

In der Gralsburg hat sie gedient; hierher kam sie, um zu verführen. Klingsors Macht über Kundry ist eher die des Teufels als die eines Zauberers. Er kennt ihre Schwäche, ihren eitlen Stolz als Verführerin, und sucht sie durch die Kraft der Suggestion, durch die Versuchung, zu steuern. Als Kundry protestiert, dass sie Parsifal nicht verführen will, sagt ihr Klingsor, dass sie das gewiss will, weil sie es tun muss: KUNDRY KLINGSOR KUNDRY KLINGSOR

Ich – will nicht! Oh! – Oh! Wohl willst du, denn du musst. Du – kannst mich – nicht – halten. Aber dich fassen.

Obwohl Klingsor glauben möchte, dass er sie dazu bringt, Parsifal zu verführen, scheint er zuzugeben, dass seine Macht über sie daher rührt, dass er sie versteht (»dich fassen«); das heißt, er versteht die Unwiderstehlichkeit ihres Dranges zur Verführung und dessen besondere Natur. Er möchte gerne glauben, dass seine Macht über sie von seiner Selbstentmannung herrührt, weil er dadurch vor ihren Reizen sicher ist; und da er in diesem Sinne nicht länger ein Mann ist, ist in der Tat seine Wahrnehmung von ihr nicht durch das Verlangen getrübt, sie physisch zu besitzen. Auch stimmt es, dass ihr Drang zur Verführung die Sehnsucht beinhaltet, einen Mann zu finden, den sie nicht verführen kann; als ihren Meister wird sie nur jemanden akzeptieJA ME S M. McGLAT HERY

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ren, der keusch ist. Jedoch fragt sie Klingsor spöttisch: »Haha! Bist du keusch?« Keuschheit ist ohne Bedeutung bei jenen, die wie Klingsor kein Verlangen verspüren können. Sie wird sich nur einem Mann unterordnen, der sie begehrt und dennoch dieses Begehren überwindet.

Knabe ebenso wie Mann Dass es Kundrys Begehren ist, nicht Klingsors Macht, das sie zu dem Versuch bewegt, Parsifal zu verführen, scheinbar gegen ihren Willen, zeigt sich daran, dass sie erklärt – wenn auch unsicher –, dass sie nicht prüfen will, ob er ihren Reizen widersteht (»Ich – will nicht!«); indem sie fragt, »Muss ich? – Muss ich?«, nachdem Klingsor berichtet hat, dass Parsifal (»der Knabe«) bereits die Festung erklimmt; durch ihren Schrei »Oh, oh, wehe mir!«, als sie Klingsor sagen hört, »Ha! – Er ist schön, der Knabe!«; und schließlich durch ihr verzücktes Gelächter, gemischt mit erschütternden Schmerzensschreien, als der Zauberer berichtet, wie furchtlos und kraftvoll der junge Mann seine Angreifer besiegt: »Wie übel den Tölpeln der Eifer gedeiht! / Dem schlug er den Arm, jenem den Schenkel. (Kundry schreit auf und verschwindet.)« Sie kann einfach dem Versuch nicht widerstehen, einen Helden zu verführen, der so schön, tapfer und stark ist. Während im 3. Buch der Ilias Helenas Bericht von der Stärke und Tapferkeit der griechischen Helden, wie sie von den Mauern Trojas aus zu sehen sind, Priamus und die anderen älteren Männer Trojas mit Angst und Ehrfurcht erfüllt, kehrt sich die Situation hier um: Die ähnliche Beschreibung eines jungen Helden durch einen älteren Mann weckt das Verlangen in einer unwiderstehlichen jungen Schönheit. Als Klingsor, überrascht, dass Kundry bereits unterwegs ist, Parsifal zu verführen, ausruft: »Wie? Schon am Werk? / Haha! Den Zauber wusst’ ich wohl, / der immer dich wieder zum Dienst mir gesellt!«, ist der Zauber, von dem er spricht, nicht von ihm gewirkt, sondern vom Begehren. Kundry hat natürlich Parsifal bereits mit eigenen Augen gesehen, am See nahe der Gralsburg, und reagiert daher nicht auf die Vorstellung eines Bildes von Schönheit, sondern auf ihre eigene Erfahrung seines Anblicks in natura. Dass seine Anziehungskraft auf Frauen universell und unwiderstehlich ist, zeigt sich daran, wie Klingsors Blumenmädchen auf ihn reagieren. Der Zauberer muss sie nicht aussenden, um zu versuchen, den Jüngling zu verführen. Sobald sie Parsifal erblicken, werden sie vom Begehren überwältigt, sodass sie sofort ihre Liebhaber vergessen, um deren Sicherheit sie gerade erst so besorgt waren. Ihre Liebhaber waren vom Liebesspiel aus ihren Betten weggerufen worden, um mit dem jungen Eindringling zu kämpfen – so wie Paris aus Helenas Bett geholt wurde, um mit den griechischen Angreifern zu kämpfen –, und im Handumdrehen haben jetzt diese jungen, leidenschaftlichen Schönheiten nur noch Augen für Parsifal. 47

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Als Parsifal die Avancen der Blumenmädchen zurückweist, ist es das ­ ignal für Kundry, ihre Kräfte an ihm zu erproben. Als Erzverführerin und S ›weise Frau‹ weiß sie sogleich instinktiv, dass sie Parsifal nur verführen kann, wenn sie den Knaben in ihm ebenso anspricht wie den Mann. Die Blumenmädchen fühlten das auch, sobald sie ihn erblickt hatten. Kundry jedoch weiß, dass in seinem Fall die einzige Möglichkeit darin besteht, ihm zu begegnen wie eine Mutter ihrem Sohn. Vielleicht handelt sie auch einfach nach der Volksweisheit des Liedes »I want a girl just like the girl who married dear old Dad«: dass also jeder Sohn in einer Frau etwas – wenn nicht gar alles – von seiner Mutter sucht. Doch Kundry weiß auch, dass Parsifal, dessen Vater vor seiner Geburt getötet wurde, eine besondere Beziehung zu seiner Mutter hatte, die ihn vor einem Schicksal wie dem seines Vaters schützen wollte, um nicht auch ihn zu verlieren, und deshalb mit ihm im Wald lebte und ihn dort alleine aufzog. Und da es außerdem Kundry war, die ihm am See nahe der Gralsburg die Nachricht vom Tod seiner Mutter überbrachte, weiß sie, dass durch seine Trauer sein Gefühl für seine Mutter im Moment umso ­stärker ist. Parsifal ist, bildlich gesprochen, so sehr auf der Flucht vor dem Begehren, dass er gerade buchstäblich vor den liebeshungrigen Blumenmädchen flieht. Was ihn zurückhält, ist Kundrys Stimme, die ihn mit einem Namen ruft wie seine Mutter einst im Schlaf: »(Er will fliehen, als er aus einem Blumenhage Kundrys Stimme vernimmt und betroffen stillsteht:) Parsifal! – Weile!« Da er offenbar seinen Namen nur dieses eine Mal zuvor gehört hatte, muss er sofort denken, dass ihn entweder seine Mutter ruft, vielleicht aus dem Grab, oder jemand anderer, der seinen Namen von ihr erfahren hat. Kundry kann Parsifals Flucht auch deshalb verhindern, weil sie sich als Retterin vor der Verführung ausgibt, der er entfliehen möchte. »[(allmählich sichtbar werdend)]. Hier weile, Parsifal! – / Dich grüßet Wonne und Heil ­zumal. – / Ihr kindischen Buhlen, weichet von ihm;« Sie erklärt nicht, was genau sie mit Wonne und Heil meint; aber da sie den Blumenmädchen befiehlt, ihn in Ruhe zu lassen, folgt daraus, dass sie ihn vor diesen »kindischen Buhlen« rettet, um eine Wonne zu genießen, die nur sie bieten kann, wie etwa eine reife, reinere Art von Liebe, wie die einer Mutter für ihren Sohn. Kundry appelliert weiterhin an Parsifals Flucht vor dem Begehren, indem sie ihn mit einem Ideal von Reinheit und Keuschheit in Verbindung bringt, ähnlich dem, wie es von den Gralsrittern verehrt wird. Die Blumenmädchen verlassen Parsifal. Sie nennen ihn einen stolzen, wenn auch holden Toren, weil er ihre Reize verschmäht hat, und lachen über seine sexuelle Feigheit: »Leb wohl, du Holder, du Stolzer, du – Tor! (Mit dem letzten sind die Mädchen unter Gelächter im Schlosse verschwunden.)« Kundry kontert die spitze Bemerkung der Blumenmädchen, indem sie ihm sagt, dass sein Name »reiner Tor« bedeutet und ihm, noch im Schoß seiner Mutter, von seinem Vater Gamuret im Augenblick von dessen Tod verliehen wurde (als Kreuzritter t­ eilte der Vater offenbar dieses Ideal der Keuschheit mit den Gralsrittern, oder JA ME S M. McGLAT HERY

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träumte sogar davon, dass sein Sohn ein Heiliger, ein »Tor in Christus« wird). Es gibt keinen Grund, daran zu zweifeln, dass Kundry hier Parsifal die Wahrheit sagt. Wichtiger ist jedoch, warum sie es ihm sagt. Sie möchte sich nicht nur bei ihm einschmeicheln, sondern sich auch in seinen Gedanken mit ­diesem Ideal von Reinheit gleichsetzen, damit sie ihn verführen kann. Sie deutet fälschlicherweise an, dass sie hier nur auf ihn gewartet hat, um ihm von seinem Namen zu erzählen, seiner Bedeutung und wie er ihn erhalten hat: »Ihn [=diesen Namen] dir zu künden, harrt’ ich deiner hier: / was zog dich her, wenn nicht der Kunde Wunsch?« Aber die maßgebliche Frage, die sie anfügt, verrät ihr Ziel der Verführung. Indem sie fragt, ob ihn irgendetwas anderes als die Kunde von seinem Namen in Klingsors Garten geführt hat, möchte sie seine Gedanken zurückführen zu dem Ganter in ihm, der sich nach einer Gans sehnt, dem Verlangen, dessentwegen Gurnemanz ihn in jener Phase seiner Entwicklung nicht einen »reinen« Toren, sondern »doch nur ein[en] Tor[en]« genannt hat. Parsifal wird erkennen müssen, dass er nicht wegen seines Namens zu Klingsors Burg gekommen ist, sondern aus jungenhafter Leidenschaft für Abenteuer, wenn nicht gar – und das will er nicht glauben – für Liebesbeziehungen, oder um sich die Hörner abzu­stoßen. Mit ihrer Frage, warum er hierhergekommen ist, gelingt es Kundry, Parsifals Gedanken auf Sex zu lenken. Zumindest beginnt er ihren Körper zu bemerken: »Nie sah ich, nie träumte mir, was jetzt / ich schau’, und was mit Bangen mich erfüllt. – / Entblüh’test du auch diesem Blumenhaine?« Offensichtlich ist sie schöner als alles, was er jemals in seinen Träumen gesehen hat, so schön, dass es ihn mit Schrecken erfüllt. Jedenfalls verbindet er ihre Schönheit mit jener der liebeshungrigen Blumenmädchen, denen er gerade erst entkommen ist, was sich an seiner Frage zeigt, ob sie »auch diesem Blumenhaine« entblüht ist. So hat Kundry seine Aufmerksamkeit dort, wo sie es wollte – auf ihr –, aber sie muss sich noch in seinen Gedanken von den ­Blumenmädchen distanzieren und zwar, indem sie ihre Verbindung mit ­seiner toten Mutter wiederherstellt. Um sich von Klingsors Burg zu distanzieren, behauptet Kundry – fälschlicherweise –, dass sie nur deshalb hierhergekommen sei, damit Parsifal sie finden könnte; und um sich mit seiner Mutter in Verbindung zu setzen, behauptet sie, dabei gewesen zu sein, als er noch ein Säugling an der Brust seiner Mutter war; sie spricht darüber, als wäre sie seine ganze Kindheit und Jugend hindurch dort gewesen, bis er fortging, und darüber hinaus bis zum Tod seiner Mutter an gebrochenem Herzen. Mit Bedacht zeichnet Kundry ihm ein Bild von der Freude, die seine Mutter an ihm hatte, dass er ihr Augapfel war, und wie seine Geburt ihren Kummer über den Tod seines Vaters linderte. So erschafft Kundry in seinen Gedanken ein Bild von sich selbst als seine gute Fee und Patin, an die er sich nun um Trost in seiner Trauer über den Tod seiner Mutter wenden könnte. Gleichzeitig gelingt es ihr, seine Gedanken auf erotisches Verlangen zu richten, indem sie ihm die rhetorische 49

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Frage stellt, ob er denn irgendeine Unruhe verspürt habe, wenn seine Mutter ihn wild umarmte und küsste, aus lauter Erleichterung, dass ihm nichts passiert war, wenn er sich herumgetrieben hatte und zu lange fortgewesen war: »Hei! Was ihr das Lust und Lachen schuf, / wann sie suchend dann dich ereilt; / wann dann ihr Arm dich wütend umschlang, / ward dir es wohl gar beim Küssen bang?« Die Antwort auf diese rhetorische Frage ist nein, natürlich nicht, was in diesem Fall andeuten soll, dass Parsifal keine Bangigkeit fühlen sollte, wenn seine »Patin« Kundry nun ebenso handelt. Oder, wenn Parsifal als Reaktion darauf sagt oder auch nur denkt, dass er eine solche Unruhe verspürt hat, dann weil er spürte, dass seine Mutter sich ihm gegenüber wie eine Frau zu ihrem Liebhaber verhielt und nicht wie eine Mutter zu ihrem Kind, also aus inzestuöser Leidenschaft. Auch diese Reaktion würde Kundrys Zwecken gelegen kommen, weil im Gegensatz dazu eine erotische Leidenschaft zwischen Patin und Patensohn nicht als inzestuös anzusehen ist, zumindest bei oberflächlicher Betrachtung.

Prekäre Verführung Kundry beendet diese Phase ihrer Identifizierung mit Parsifals Mutter und geht nun zur tatsächlichen Verführung über, indem sie sein Schuldbewusstsein darüber anspricht, dass er seine Mutter verlassen und so ihren Tod an gebrochenem Herzen bewirkt hat. Kundry möchte in ihm das Bedürfnis wecken, seine Schuld zu sühnen, indem er seiner Mutter zeigt, wie sehr er sie geliebt hat. Da die Mutter tot ist, muss er ein Ersatzobjekt für seine Leidenschaft finden, nämlich die »Patin« Kundry. Parsifals Reaktion entspricht jedoch nicht Kundrys Wünschen. Statt sich ihr zuzuwenden, an ihrer Schulter zu weinen, ist er nur von Gedanken an seine Mutter erfüllt und daran, was für ein Tor er ist, dass er sie hat vergessen können. Seine Worte sind nur an seine tote Mutter gerichtet; er ignoriert Kundry. Sich an Kundry zu wenden würde bedeuten, seine Mutter zu vergessen, wenn auch nur für einen Augenblick. Seine Mutter zu vergessen ist jetzt in seinen Gedanken damit gleichgesetzt, ein »Tor« zu sein, gemäß der Beschreibung durch Gurnemanz, der ein Tor zu sein damit in Verbindung setzt, dass man Gänsen hinterherjagt wie ein Ganter, also hinter Frauen her ist, so wie K ­ undry ihn jetzt dazu bringen möchte. Das ist in Parsifals Gedanken damit verbunden, ein »taumelnder Tor« zu sein. Da Parsifal in seinem Kummer nicht von sich aus Trost bei Kundry gesucht hat, lädt sie ihn ausdrücklich dazu ein: »das Wehe, das dich reut, / die Not nun büße / im Trost, den Liebe dir beut.« – aber er versinkt immer tiefer in seiner persönlichen Reue über seine Torheit. Unfähig, ihn auf andere Art an sich zu ziehen, greift nun Kundry, die sich die ganze Zeit in liegender Stellung befunden hat, auf physische Verführung zurück, indem sie sich über seinen Kopf beugt und die Arme um seinen JA ME S M. McGLAT HERY

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­ acken legt. Da der einzige Weg zu seinem Herzen jedoch über seine Mutter N führt, versucht sie ihn zu erregen, indem sie ihn einlädt, von ihr die Wonnen zu erfahren, die sein Vater Gamuret fühlte, als er ihn zeugte: Bekenntnis wird Schuld in Reue enden, Erkenntnis in Sinn die Torheit wenden. Die Liebe lerne kennen, die Gamuret umschloss, als Herzeleids Entbrennen ihn sengend überfloss! Die Leib und Leben einst dir gegeben, der Tod und Torheit weichen muss, sie beut dir heut’ – als Muttersegens letzten Gruß der Liebe ersten Kuss. (Sie hat ihr Haupt völlig über das seinige geneigt, und heftet nun ihre Lippen zu einem langen Kusse auf seinen Mund.) Kundry, die über Verführungsinstinkte in reichlichem Maße verfügt, achtet darauf, ihr erotisches Gespräch mit Anspielungen auf scheinbar spirituelle Themen einzuleiten, indem sie Wörter wie Bekenntnis, Schuld, Reue, Erkenntnis, Sinn und Torheit fallen lässt. Sie spricht zwar darüber, wie ein Bekenntnis Schuld in Reue verwandeln wird und wie durch Erkenntnis ­Torheit zu Sinn wird. Aber mit »Bekenntnis« meint sie wohl, dass er seine Leidenschaft für sie, Kundry, zugibt, und mit »Erkenntnis«, dass er mit ihr seine sexuelle Unschuld verliert, so wie Adam und Eva die ihre verloren, als sie vom Baum der Erkenntnis gegessen hatten. Nach diesem Auftakt – man könnte es als spirituelles Vorspiel bezeichnen – kommt sie direkt zur Sache, indem sie für ihn ein Bild vom Geschlechtsverkehr und darüber hinaus vom weiblichen sexuellen Höhepunkt heraufbeschwört und von der Wonne, die sein Vater in dem Augenblick verspürte, als das »Entbrennen [seiner Mutter] ihn sengend überfloss«. Kundrys Situation als Verführerin ist offensichtlich prekär. Das Letzte, was eine liebeshungrige Frau möchte, ist ihren Liebhaber an seine Mutter zu erinnern, wenn sie ihn dazu bringen möchte, das Bett mit ihr zu teilen. Sicherlich wäre es das Allerletzte, einen Mann erregen zu wollen, indem man davon spricht, wie sein Vater den Geschlechtsverkehr mit seiner Mutter ­genossen hat. Für den Liebhaber ein Bild von ihm selbst als ›Motherfucker‹ 51

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← Aurora Marthens, Ileana Tonca, Isabel Signoret, Slávka Zámečníková, Joanna Kędzior, Anna Nekhames und der Damenchor als Blumenmädchen, Jonas Kaufmann als Parsifal.


heraufzubeschwören, wird wohl kaum den gewünschten Erfolg ­erzielen, egal, wie tiefsitzend der Drang zur Verletzung dieses Tabus im sexuellen Unterbewusstsein sein mag. Kundry weiß jedoch, dass ihre einzige ­Chance bei Parsifal darin besteht, eben diese unbewussten verdeckten Triebe anzusprechen, die in seinem Fall besonders genährt wurden, da er als Ersatzobjekt für die Hingabe seiner Mutter zu seinem toten Vater zum Mann herangewachsen war. Indem sie die Liebe zu einer Frau mit Parsifals Zuneigung zu seiner Mutter gleichsetzt, hat Kundry das Inzestverbot als Barriere für seine Hingabe an erotische Leidenschaft aufgerichtet. Sie erkennt das, und wenn sie von jener spricht, »die Leib und Leben einst dir gegeben, der Tod und Torheit weichen muss«, so spricht sie nicht mehr von seiner Mutter, sondern von der personifizierten erotischen Liebe, das heißt, von sich selbst. Dann beschreibt sie den Kuss, den sie ihm geben wird, als von der Liebe angeboten, bezeichnet ihn »als Muttersegens letzten Gruß« und »der Liebe ersten Kuss«. Anders ausgedrückt, zielt sie nun auf ein Bild des Übergangs vom Knaben zum Mann, insbesondere des Segens einer Mutter für ihren Sohn, der sich eine Braut gewählt hat, und insofern des Abschiednehmens einer Mutter von ihrem Sohn, da sie nicht mehr als Objekt seiner vollständigen oder primären Zuneigung dienen kann. Vor allem stellt Kundry sich selbst sowohl als die Mutter dar, die Abschied nimmt, als auch die Braut, der seine Mutter ihn übergibt. Der Kuss, den Kundry Parsifal gibt, verfehlt nicht gänzlich das Ziel, seine Leidenschaft zu entflammen. Er ist insofern erfolgreich, als Parsifal zwar nicht auf den Kuss reagiert, ihn aber auch nicht sofort abweist. Das b ­ rennende Gefühl, das er dann in seinem Herzen hervorruft, führt ihn jedenfalls zur Offenbarung von Amfortas’ Wunde: Amfortas! – Die Wunde! – Die Wunde! – Sie brennt in meinem Herzen. – Nein! Nein! Nicht die Wunde ist es. Fließe ihr Blut in Strömen dahin! Hier! Hier im Herzen der Brand! Das Sehnen, das furchtbare Sehnen, das alle Sinne mir fasst und zwingt! Oh! – Qual der Liebe! – Wie alles schauert, bebt und zuckt in sündigem Verlangen! Kundry scheint schließlich erreicht zu haben, dass er seine Mutter vergisst. Er hat seine sexuelle Unschuld verloren und ist vom Feuer erotischer Leidenschaft erfasst. Sofort ergreift ihn jedoch das heftige Gefühl der Sündhaftigkeit des Verlangens, das ihn bedroht, als Kundry ihn lange und leidenschaftlich küsst. Die Frage ist, warum er so reagiert. JA ME S M. McGLAT HERY

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Schuldgefühl Parsifals Reaktion auf den Kuss bezieht sich natürlich teilweise auf den Verlust der sexuellen Unschuld wie in der symbolischen Darstellung der biblischen Erzählung vom Sündenfall. Seine Reaktion erfolgt jedoch nicht aufgrund einer spezifischen, besonders frommen christlichen Erziehung durch seine Mutter. Zumindest haben wir in seinem Fall nichts von einer derartigen religiösen Unterweisung gehört. Dabei war seine Beziehung zu seiner Mutter besonders hingebungsvoll, vor allem von ihrer Seite, und dass Kundry sich bei ihren Verführungsversuchen mit seiner Mutter gleichgesetzt hat, lässt vermuten, dass seine Wahrnehmung der Sündhaftigkeit seiner Leidenschaft zur Folge hat, dass für ihn die Leidenschaft für jedwede Frau inzestuöser Natur ist. Das Verlangen, das er verspürt, ist von schmerzlicher Heftigkeit; doch weil er es unbewusst mit der Zuneigung zu seiner Mutter verknüpft, kann er sich ihm nicht hingeben. Während es Kundry gelungen ist, Parsifals Gedanken von seiner Mutter abzulenken – zumindest auf der bewussten Ebene –, konnte sie seine Gedanken nicht wieder auf sie selbst richten, zumindest nicht bewusst. Stattdessen hat sich seine Aufmerksamkeit von seiner toten Mutter auf Amfortas und sein Leiden verlegt. Zum »Entsetzen und Erstaunen« der Verführerin lässt sich Parsifal gänzlich von einer Vision von Amfortas mit dem Heiligen Gral hinreißen, oder vielmehr zu einer visionären Wiederholung der Szene, die er auf der Gralsburg erlebt hat. Er stellt sich vor, dass der Gral die Macht hatte, alle anderen anwesenden Seelen mit der Ekstase der Erlösung zu erfüllen, während allein sein Herz weiter die Qual des Begehrens litt. Die Vision geht weiter: Des Heilands Klage [Qualen] da vernehm’ ich, die Klage, ach! die Klage um das entweihte Heiligtum: »Erlöse, rette mich aus schuldbefleckten Händen!« So rief die Gottesklage furchtbar laut mir in die Seele. Und ich – der Tor, der Feige, zu wilden Knabentaten floh ich hin! (Er stürzt verzweiflungsvoll auf die Knie.) Erlöser! Heiland! Herr der Huld[en]! Wie büß’ ich Sünder meine Schuld? In seiner Vision erinnert er sich daran, etwas gehört zu haben – oder glaubt er nur, dass er es gehört hat? –, und zwar die Klage des Erlösers, der um die Rettung aus »schuldbefleckten Händen« bittet, wobei er natürlich jene von Amfortas als Gralskönig meint. Parsifal spürte – oder zumindest spürt er nun 55

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–, dass die Klage an ihn gerichtet war, und er wirft sich vor, ein Tor und Feigling gewesen zu sein, weil er dieser Herausforderung entfloh und stattdessen »wilde Knabentaten« verfolgte, womit er wohl die Aktivitäten meint, die ihn zu Klingsors Burg brachten und die Gurnemanz als die eines Ganters bezeichnete, der sich paaren will. Parsifal versteht nun, was er auf der Gralsburg gesehen hat, weil er jetzt die emotionale Bereitschaft dafür hat. Angesichts des Begehrens, das Kundry in ihm erweckt hat, findet er eine Interpretation für seine Erfahrung – oder erfindet rückwirkend in seinen Gedanken eine visionäre Erfahrung –, die es ihm ermöglicht, dieses Begehren zu überwinden oder zu sublimieren, indem er einen solchen Sieg als seine gottgewollte Mission ansieht. Kurz gesagt, reagiert er auf den Ruf des Begehrens wie ein auserkorener Gralsritter. Kundry reagiert auf Parsifals entrücktes Selbstgespräch mit »leidenschaftlicher Bewunderung«, aber das hindert sie nicht an weiteren Versuchen, ihn zu verführen. Zum Teil ist das darauf zurückzuführen, dass ihr Stolz als Verführerin, oder einfach als attraktive Frau, auf dem Spiel steht. Aber sie möchte auch, vielleicht unbewusst, seinen Widerstand gegen die Verführung noch weiter erproben, um seine Hingabe an die Reinheit umso mehr zu bewundern. Letztendlich ist es jedoch ihre eigene Abscheu vor dem unwiderstehlichen Drang zur Verführung in ihr – das »geringe Selbstwertgefühl« der Schlampe, in der Sprache der modernen Sozialwissenschaften –, weshalb sie testen möchte, ob er wirklich die leidenschaftliche Bewunderung verdient, die sie unwillkürlich für ihn verspürt, nämlich, ob sie seiner Standhaftigkeit gegenüber verführerischer List vertrauen kann? Kann sie sicher sein, dass sie endlich einen Mann gefunden hat, den sie nicht verführen kann? Parsifal seinerseits ist nicht ungerührt von ihren verführerischen Liebkosungen. Im Gegenteil, wenn er in ihnen diejenigen erkennen kann, die sie bei Amfortas angewendet haben muss, dann ist das nur möglich, weil sie in dem Augenblick leidenschaftliches Begehren in ihm selbst geweckt haben. Er ruft aus: Mit aller Schmerzen Qual im Bunde, das Heil der Seele entküsste ihm der Mund! – Ha! – Dieser Kuss! – Verderberin! Weiche von mir! Ewig – ewig von mir! (Er hat sich allmählich erhoben und stößt Kundry von sich.) Er sagt ihr, sie solle ihm auf ewig fernbleiben, weil er die verführerische Versuchung erkennt, die ihre Liebkosungen und ihr Kuss noch immer für ihn enthalten, dieselbe Empfänglichkeit, die Amfortas’ Verderben bewirkte.

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Wie Christus Kundrys leidenschaftliche Reaktion auf die Zurückweisung durch Parsifal ist nicht einfach der Zorn einer verschmähten Frau. Stets die Verführerin, versucht sie instinktiv einen anderen Weg und appelliert nun an sein Mitleid. Wenn er so stark fühlt, dass er berufen wurde, die Gralsritter zu erlösen, sollte er ihrem Leiden Beachtung schenken und sie retten, indem er mit ihr schläft. Indem sie ihm die Rolle Christi zuweist, versucht sie natürlich ihn zu verführen, da sie das Bild anspricht, das er in seiner visionären Entrückung für sich heraufbeschworen hat. Gleichzeitig weist Kundry Parsifal auch eine Rolle zu, die er ihr gegenüber spielen soll, nämlich die von Christus zu Maria Magdalena. Und so behauptet sie, zur Zeit Christi gelebt und ihn mit eigenen Augen gesehen und ihn ausgelacht zu haben. Sie scheint Parsifal zu bitten, dem Verlangen nach ihr nicht nachzugeben, so wie Christus Maria Magdalena nicht nachgab, und, so behauptet Kundry indirekt, es auch nicht tat, als sie selbst ihn sah. Sie erklärt weder noch deutet sie an, warum sie gelacht hat, als sie Christus sah, obwohl er höchstwahrscheinlich an andere, erhabenere Dinge dachte als die Liebe von Frauen, also wegen einer Jenseitigkeit in seinem Blick oder Verhalten, wie sie auch die Gralsritter anstreben, während sie als Verführerin glaubt, dass alle Männer für erotisches Begehren empfänglich sind. Ihr Lachen mag vielleicht unbewusst darauf abgezielt haben, Christus auf sich aufmerksam zu machen, um die Wahrheit dieser Überzeugung zu beweisen, dass kein Mann den Reizen einer Verführerin wie ihr widerstehen kann. Sie erzählt Parsifal, dass Christus sie ihres Lachens wegen ansah, in seinen Augen aber kein Begehren zu sehen war. Seither sehnt sie sich verzweifelt danach, einem Mann zu begegnen, der in dieser Weise auf sie reagiert. Kundry fordert Parsifal zweifellos auf, so zu handeln wie damals angeblich Christus, sie anzusehen und sich dennoch ihren Reizen nicht zu ergeben. Aber dies ist die Einladung einer Verführerin, die immer noch, zumindest bewusst, zur Verführung entschlossen ist. Und so zeichnet sie ein Bild davon, was jedes Mal passierte, wenn sie dachte, einem Mann begegnet zu sein, der auf sie reagieren würde wie Christus: wenn sie sich vorstellt, wie ein Mann sie auf diese Weise ansieht, kann sie nicht anders, so sehr sie es zu vermeiden versucht, als so zu lachen, wie sie es beim Anblick Christi tat, mit dem Ergebnis, dass als Reaktion auf den erotischen Reiz ihres Lachens – der sexuellen Hingabe, die das Lachen andeutet – der Mann in ihre Arme sinkt und sich der Lust ergibt. Tatsächlich fordert sie Parsifal heraus, sie wie Christus anzusehen, während sie voraussagt, dass er ihren Reizen erliegen wird, ihm gegenüber jedoch behauptet, dass sie in Wirklichkeit möchte, dass er so reagiert, wie Christus dies angeblich getan hat. Doch indem sie vorgibt, das zu wollen, deutet sie an, dass er in seinem tiefsten Inneren ihr gar nicht widerstehen will; wenn er sich ihr weiterhin in den Weg stellen möchte, wird er 57

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sich dem Verlangen nach ihr ergeben müssen, worauf sie es natürlich abgesehen hat. Die Begegnung, die laut Kundrys Schilderung immer wieder zwischen ihr und Christus-artigen Männern vorgefallen ist, unterscheidet sich von ihrer Darstellung ihrer angeblichen Begegnung mit Christus in einem wesentlichen Punkt: Bei Christus war es ihr Lachen, das ihn dazu brachte, sie anzusehen, während bei den anderen ihr Lachen eine Reaktion darauf war, dass sie ihre Blicke bereits auf sich fühlte. Sie sagt zu Parsifal, dass Männer wie er, deren Blicke sich auf sie richteten, ohne dass sie lachen musste, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen, ganz sicher in ihre Arme fallen, wenn sie diesen Blicken antwortet, indem sie auf ihre zwanghaft verführerische Art lacht. Abermals lässt Parsifal sich nicht ködern. Das heißt jedoch nicht, dass er nicht die Rolle des Retters akzeptiert, die Kundry soeben für ihn dargestellt hat, indem sie diese neue Verführungstaktik versucht. Im Gegenteil, er nimmt diese Rolle begeistert und aufrichtig an, nicht zuletzt, weil sie seinem Bedürfnis nach einer Sublimierung des Begehrens entspricht, das seiner Assoziation der Liebe zu Frauen mit der intensiven Zuneigung seiner Mutter entspringt. Kundrys Aufforderung, sie zu retten, indem er mit ihr schläft, ruft seine Reaktion hervor, dass dies im Gegenteil ewige Verdammnis für sie beide bedeuten würde. Kundry hat eindeutig allzu erfolgreich an seinen ­quasi-messianischen Komplex appelliert. Der Grund, warum er nicht mit ihr schlafen kann, ist nun nicht mehr der brennende Schmerz des sündigen Verlangens, sondern seine Mission, die für ihn nun auf ihren Vorschlag hin ihre Erlösung miteinbezieht: »Auch dir bin ich zum Heil gesandt, / bleibst du dem Sehnen abgewandt.« Er sagt jedoch, dass er diese Rolle ihr gegenüber nur annehmen kann, wenn sie dem »Sehnen« entsagt, womit er natürlich erotisches Begehren meint, oder zumindest den zwanghaften Drang, Männer zu verführen. In seiner Flucht vor dem Begehren identifiziert er sich nun stark mit den Gralsrittern, die sich laut seiner Beschreibung schmachtend nach einem anderen Quell des Heils sehnen als den Quellen der Lust: »Ein Andres ist’s – ein Andres, ach! / nach dem ich jammernd schmachtend sah, / die Brüder dort in grausen Nöten / den Leib sich quälen und ertöten.« Parsifal scheint jedoch Zweifel zu hegen, was dieser wahre Quell des Heils sein ­könnte: Doch wer erkennt ihn klar und hell, des einz’gen Heiles wahren Quell? O Elend, aller Rettung Flucht! O Weltenwahns Umnachten: in höchsten Heiles heißer Sucht nach der Verdammnis Quell zu schmachten!

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Oder er ist vielmehr von einem Gefühl des Jammers erfüllt, bei dem Gedanken, dass man bei der leidenschaftlichen Suche nach dem höchsten Heil gleichzeitig, wie Amfortas, nach dem Quell der Verdammnis schmachten könnte – womit er die gegenwärtige Gefahr meint, das erotische Begehren. Das heißt, er bekennt hier, durch die Identifizierung mit Amfortas, sein eigenes Verlangen nach der Hingabe an die Lust.

Welthellsichtig? Kundry reagiert mit »wilder Begeisterung« auf dieses indirekte Bekenntnis Parsifals, das ihr eine neue Angriffsmöglichkeit nahelegt. Da ihr Kuss offenbar doch die Wirkung nicht verfehlt hat, sein Begehren zu wecken, belegt sie die Wirkung des Kusses mit einer spirituellen Interpretation, indem sie ihm die Möglichkeit anbietet, dem Verlangen nachzugeben und gleichzeitig zu denken, dass er dabei ein hehres Ziel verfolgt: So war es mein Kuss der welthellsichtig dich machte? Mein volles Liebesumfangen lässt dich dann Gottheit erlangen! Die Welt erlöse, ist dies dein Amt: Schuf dich zum Gott die Stunde, für sie lass’ mich ewig dann verdammt, nie heile mir die Wunde! Sie appelliert an seine messianische Vision von sich selbst, indem sie ihm sagt, dass er berufen ist, die Welt zu erlösen. Dafür muss er Göttlichkeit erlangen, die ihm durch ihr »volles Liebesumfangen« zuteilwerden wird, wenn man bedenkt, dass ihr bloßer Kuss ihn mit prophetischer Vision beschenkt hat (»welthellsichtig dich machte«). Und um seinem soeben vorgebrachten Einwand zu entgegnen, dass er auch zu ihrer Rettung gesandt wurde, bietet sie ihm an, ihre Erlösung zu opfern, damit er seine Rolle als Erlöser der Welt erfüllen kann. Obwohl sie bei Jesus scheinbar die Rolle des Teufels innehat, ist sie nun beim Appell an seine Eitelkeit – den Hochmut, wie Gott werden zu wollen – ausdrücklich auf erotische Verführung aus, indem sie vielsagend andeutet, dass Parsifal sich wie ein Gott fühlen wird, wenn er mit ihr schläft, sodass er sich in diesem Sinn ›einfach göttlich‹ fühlen wird. Wenn sie von ihrer dann ewigen Verdammnis spricht, bringt Kundry sich in Zusammenhang mit Amfortas, indem sie die Verdammnis als ihre »Wunde« bezeichnet und sich so schlau mit dem leidenden Gralskönig als Objekt von Parsifals Mitleid gleichsetzt. Sie zeigt sich als die ewige Verführerin, wenn sie an sein Mitgefühl appelliert, als sie anbietet, sich für ihn zu 59

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»opfern«, indem sie erklärt »nie heile mir die Wunde«. Amfortas’ Wunde heilt nicht, weil er sich nicht vom erotischen Begehren befreien kann. Zur niemals heilenden »Wunde« ihres Begehrens verdammt zu sein – Heilung, die für eine Verführerin wie sie etwa so wäre, als würde ihr Hymen nachwachsen –, wäre für Kundry jedoch absolut keine Verdammnis, ganz im Gegenteil. Kundry erkennt nur zu gut, dass Amfortas und die Gemeinschaft der Gralsritter ihre Konkurrenz sind. Wenn ihr nun wieder nichts übrigbleibt als der Versuch, Parsifal zu überzeugen, dass er ihr die Erlösung bringen kann, indem er mit ihr schläft, reagiert er darauf, indem er ihr Liebe und Erlösung verspricht, wenn sie ihm den Weg zu Amfortas zeigt. Daraufhin wird sie wütend: »Nie sollst du ihn finden! / Den Verfall’nen, lass’ ihn verderben, / den Unseligen, / Schmachlüsternen, / den ich verlachte – lachte – lachte!« Dies ist die Reaktion der verschmähten Frau, als wäre Amfortas ihr Rivale um Parsifals Leidenschaft. Ihr Ziel ist es, das Bild des Rivalen in seinen Augen zu zerstören. Als Verführerin sollte sie jedoch wissen, dass, abgesehen von ihrer eifersüchtigen Wut, sie dem jungen Mann die falsche Botschaft vermittelt, dass es ihn nicht zum Gott machen wird, sich ihrem Willen zu ergeben, wenn auch nur in ihren Augen, sondern stattdessen nur zum Objekt ihrer Verachtung, so wie es bei Amfortas der Fall war. Als sie erkennt, dass Amfortas das Objekt von Parsifals Sehnen ist, bleibt Kundry nichts mehr übrig, als den Handel vorzuschlagen, dass sie ihm den Weg zeigen wird, wenn er davor eine Liebesstunde mit ihr verbringt; und sie versucht erneut, ihn zu umarmen. Sie weiß natürlich genauso gut wie Parsifal, dass er nicht als Retter zu Amfortas gehen kann, wenn er sich ihr hingegeben hat, da er derselben Versuchung nachgegeben hätte wie Amfortas. Als sie nun Parsifal mit einem Fluch belegt, nachdem er sie zurückgestoßen hat, um ihrer Umarmung zu entgehen, bleibt ihr Ziel das der eifersüchtigen, verschmähten Frau. Der Fluch soll ihn daran hindern, ihren (sozusagen) Liebesrivalen zu finden und aufzusuchen, der in diesem Fall ein Mann ist, nämlich Amfortas: den Weg, den du suchst, dess’ Pfade sollst du nicht finden: denn Pfad’ und Wege, die dich mir entführen, so verwünsch’ ich sie dir. Irre! Irre! Mir so vertraut – Dich weih’ ich ihm zum Geleit! Es ist wichtig hervorzuheben, dass sie nur die Pfade verflucht, die von ihr wegführen, nicht jene, die zu ihr hinführen. Wie wir noch sehen werden, JA ME S M. McGLAT HERY

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bringt ihn sein Pfad auf der Suche nach Erlösung letzten Endes zu ihr zurück; und in diesem Sinne erweist sich die Macht ihres Fluchs als nicht unwirksam. Die Bedeutung des eigentlichen Fluchs ist ungewiss, weil die von ihr beschworene Macht nicht genannt und nur als »dich« angesprochen wird. Aber da sie diese Macht als ihr so vertraut bezeichnet, können wir annehmen, dass sie die Macht des Begehrens beschwört. Der Fluch hat also keine Zauberkraft außer dem Zauber ihrer erotischen Anziehungskraft. Eigentlich ist es gar kein Fluch, sondern einfach der Wunsch, er möge das Verlangen nach ihr nicht loswerden können, das sie, wie sie glauben möchte, in ihm geweckt hat. So wie er bei Amfortas nicht erscheinen kann, wenn er demselben Verlangen nach Kundry nachgegeben hat wie der Gralskönig, kann er es auch nicht, wenn er das Verlangen, das er für sie fühlt, noch nicht überwunden hat. Magie ist jedoch sicherlich beteiligt, als Klingsor danach versucht, Parsifal mit Amfortas’ Speer zu verwunden oder zu töten; aber diese Magie funktioniert als äußerlicher Ausdruck eines innerlichen Gemütszustands. Der geschleuderte Speer schwebt harmlos über dem Haupt des jungen Helden, worauf er ihn ergreift und seinen Zauber beschwört, um Klingsors Palast zu zerstören. Mit diesem Akt hat Parsifal endgültig und vollständig dem Begehren entsagt, das ihn hierher gebracht hat, der Suche des Ganters nach einer Gans, dem Paarungstrieb. Der Speer, der Amfortas verwundet hat, kann Parsifal nicht verwunden, weil der Gralskönig sich dem Begehren hingegeben hat, der junge Mann jedoch nicht. Dem Verlangen zu entsagen bzw. der Hingabe zu widerstehen und es zu bezwingen, sind jedoch zwei unterschiedliche Dinge. Auch fühlt er sich in gewisser Weise immer noch irgendwie zu Kundry hingezogen. Deshalb dreht er sich beim Abschied um und hält inne, um ihr zu sagen, dass sie weiß, wo sie ihn wiederfinden kann (»Du weißt, wo du mich wieder finden kannst!«). Er lädt sie zu einem Wiedersehen ein, wenngleich nicht, um sich ihr hinzugeben, sondern um ihr Erlösung vom erotischen Begehren und dem Drang zur Verführung anzubieten.

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Elīna Garanča als Kundry, Nikolay Sidorenko als damaliger Parsifal und Ludovic Tézier als Amfortas



Egon Voss

DIE MÖGLICHKEIT DER KLAGE IN DER WONNE

Skizze zur Charakterisierung der Parsifal-Musik


So unwiderlegbar Parsifal Richard Wagners letztes Werk ist, geschrieben am Ende eines Lebens, das fast siebzig Jahre währte, so problematisch-klischeehaft ist es, diesem Werk die Charakteristika eines Altersstils zu unterstellen, etwa mit Zügen des Asketisch-Reduzierten oder neuer, geläuterter Einfachheit. Adornos Behauptung beispielsweise, die Zahl der musikalischen Motive sei »geringer als in den anderen Werken der reifen Zeit«1, ist eine Übertreibung, wenn nicht falsch. Zum einen lässt die Eigenart von Wagners Umgang mit Motiven gar keine eindeutige Definition dessen zu, was als Motiv gelten kann und was nicht; und zum anderen lehrt ein Blick auf die früher so beliebten Motiv-Tafeln in Klavierauszügen und Textbüchern, dass findige Motivjäger auch im Parsifal nicht weniger Motive fanden als in den Meistersingern oder im Tristan. Das Zurückgenommene der Parsifal-Musik, das wie abgeklärte Einfachheit aussieht, ihre über weite Strecken aller Wagner’schen Üppigkeit wie abhold anmutende Kargheit täuschen. Die ParsifalMusik ist von ausgesucht-raffinierter Sinnlichkeit, und sie ist nichts weniger als einfach, eine Aussage, die sich nicht allein auf die äußere Struktur bezieht, sondern gleichermaßen, wenn nicht noch stärker, auf ihren inneren Gehalt, auf Charakter und Ausdruck, Sinn und Bedeutung. Wenn man Wagners Kunst die der Ambivalenz und der Mehrdeutigkeit genannt hat, dann ist Parsifal deren höchste Erscheinungsform. Hier erscheint alles mit allem verknüpft, der »Beziehungszauber« (Thomas Mann) ins Extrem geführt und damit in eine Rätselhaftigkeit überführt, die von äußerster Komplexität ist, schier unauflösbar – und gerade darum zu zahllosen Lösungen fähig. Man nehme allein die enigmatischen Generalpausen, die zwar auch einen strukturellen Sinn haben, darin aber nicht aufgehen. Die motivischen Beziehungen zwischen der Musik Kundrys und jener Herzeleides haben Kurt Overhoff vermuten lassen, auch Herzeleide sei eine Inkarnation Kundrys2. Und was bedeutet es, dass beim Öffnen von Titurels Sarg im 3. Akt ausgerechnet die abstürzende Figur aus dem Kundry-Motiv erklingt? Die Reihe der Beispiele lässt sich beliebig fortsetzen. Stets erhält dem äußeren Schein nach Nichtzusammengehöriges eine Verbindung, oftmals paradox anmutend, entsprechend Wagners gerade an der Parsifal-Musik entwickeltem Wort von der »Möglichkeit der Klage in der Wonne«3. Das wohl bemerkenswerteste Kennzeichen der Parsifal-Musik ist ihre von der Tradition oder – vorsichtiger ausgedrückt – vom Üblichen abweichende musikalische Dramaturgie, deren wichtigstes Merkmal das veränderte Verhältnis zur Zeit ist. Dies zeigt sich vor allem am Bewegungsduktus der Musik, der langsam ist, Langsamkeit suggeriert. Adorno sprach sehr richtig davon, dass die Musik im Parsifal meist auf das für Wagner sonst so charakteristische »Moment des in Schwung Kommens« verzichte4. Sie vermeidet aber nicht nur die energisch-elanvoll vorantreibende Bewegung – den Zug voran – und den daran geknüpften großen dynamischen Bogen –, so als sei das unbe­ kümmerte Vorangehen, das doch im Wesen der Musik zu liegen scheint, ein 65

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Tabu –, sondern sie schaltet meist sogar auch den bloß kontinuierlichen Fluss aus, als komme die Musik immer wieder zum Stillstand oder verlasse den Zustand der Bewegungslosigkeit gar nicht. Die Verfahrensweisen, mit denen sie das erreicht, sind vielfältig. Besonders ins Auge fallen die zahlreichen Pausen, die die Bewegung hemmen oder unterbrechen. Besonders ganztaktige Generalpausen, gesetzt an Stellen, an denen man sie vor allem dramaturgisch nicht erwartet (wie etwa beim ersten Auftritt von Amfortas nach »Ohn’ Urlaub!«), wecken den Eindruck, als müsse die Musik sich immer wieder auf sich selbst besinnen. Jedenfalls handelt es sich bei den langen Pausen nicht um Momente des bloßen Schweigens, die Wagner – wie Titurels Anrede an Amfortas im 1. Akt deutlich zeigt – vielmehr auszukomponieren pflegt. Gleichfalls den Eindruck des Stillstands der Bewegung vermitteln Fermaten, die Töne und Klänge ungemessen verlängern, ein Eindruck, der freilich meist schon dadurch zustande kommt, dass viele Töne und Klänge ohnehin von langer Dauer sind. In ähnlicher Weise wirkt die immer wieder zu beobachtende Tendenz zur Aufhebung oder zumindest Verschleierung des Metrums durch synkopische Notationen. Das beste Beispiel dafür bietet der Anfang des Vorspiels mit dem einstimmig vorgetragenen Abendmahl-Motiv. Es wäre völlig verfehlt, die notierten Synkopen als solche zu spielen; denn damit entstünde ein Zeitverlauf, der in zählbaren metrischen Einheiten erfassbar wäre. Ein solcher ist nicht gemeint. Auch hier geht es darum, eine andere, rational weniger greifbare Form von Zeit und Bewegung zu vermitteln, die Zeit, wie wir sie gewöhnlich erleben, aufzuheben. Ein drittes wesentliches Mittel, das in diese Richtung zielt, sind Klangflächen, in sich bewegte oder gar kreisende Klänge wie in Amfortas’ Waldesmorgenpracht-Musik, und Ostinati wie das Glocken-Motiv und seine Handhabung. Die ständig gleiche Bewegung hebt am Ende die Bewegung auf; es entsteht das Paradox einer bewegten Unbewegtheit oder bewegungslosen Bewegung. Zu den rhythmischen Verfahrensweisen, die dem Zeitfluss und dem »In Schwung Kommen« entgegenwirken, gesellen sich die harmonischen. Der Eindruck des Voranschreitens oder gar Vorantreibens der Musik wird ja, insbesondere bei Wagner, durch eine Harmonik geweckt, die Spannungen erzeugt, auf deren Lösung der Hörer wartet. Im Parsifal wird dieser kausallogische oder dramatisch-dramaturgisch-konsequente Zusammenhang, der das Nacheinander der Ereignisse hervorhebt, häufig in ein gleichsam neutrales Nebeneinander verwandelt. Wagner erzielt diese Wirkung vor allem durch das Vermeiden dominantischer Verbindungen, die im Sinne traditionellen Kadenzierens und Modulierens logisch und dynamisch-vorangehend erscheinen. An Stelle dessen setzt er mit Vorliebe subdominantische Folgen. Sie prägen Motive wie das Gral-und das Glaubens-Motiv, Motivsequenzen – siehe den Schlusschor – und Schlusswendungen. Vielfach werden auch entfernte Tonarten unvermittelt-übergangslos nebeneinandergestellt, oder es wird anstelle von Modulation mit Rückungen gearbeitet wie in der VerEGON VOS S

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wandlungsmusik des 1. Aktes. Besonders im 3. Akt treten zudem noch Folgen reiner Dreiklänge in Grundstellung auf, deren archaisierender Effekt in die gleiche Richtung zielt. Das gleichsam unverbundene Nebeneinander der ­Akkorde weckt die Assoziation des Raums und lässt sich in Analogie setzen zu Gurnemanz’ berühmtem Wort »zum Raum wird hier die Zeit«. Es geht im Parsifal, wie die Musik es darstellt, nicht um das traditionell lineare Erzählen einer Geschichte, so sehr das Textbuch diesen Eindruck, zumindest äußerlich, auch vermitteln mag. Man bedenke jedoch: Die Personen der Handlung ­stehen sämtlich außerhalb der menschengewohnten Zeitlichkeit; Endlichkeit, wie sie sich im Tod manifestiert, tritt lediglich als Ausnahme, als Abweichung von der Norm in Erscheinung; und Kundry, die weibliche Hauptperson, vor allem aber der Stachel im Fleisch der Gralswelt, ist gar ein Wesen, das expressis verbis Jahrtausende durchlebt hat, in immer neuen Gestalten, identisch im Nichtidentischen und jenseits von Ort und Zeit. Kausalität und ­Diskursivität gelten da nicht oder nur sehr eingeschränkt; es sind die nichtrationalen oder gar irrationalen Züge der Geschichte, die den Komponisten interessieren und zu deren Anwalt er die Musik macht. Der langsame Bewegungsduktus der Parsifal-Musik hat die Musiker nun aber von jeher dazu verführt, ihren Aufführungen besonders langsame T ­ empi zugrundezulegen, als bedinge das eine das andere mit Notwendigkeit. Es ist allerdings einzugestehen, dass im Parsifal mehr langsame Tempoanweisungen stehen als in Wagners anderen Werken. Der Untertitel des Werks schließlich scheint die unwiderlegliche Rechtfertigung langsamer Zeitmaße zu liefern. Jedenfalls verstand man das Bühnenweihfestspiel vornehmlich als ein der Weihe verpflichtetes, von Weihe geprägtes Theaterstück, und die Weihe verstand man, ausgehend von der nicht zu leugnenden Ähnlichkeit von Handlungsteilen des 1. und 3. Aktes mit christlich-kirchlicher Liturgie, selbstverständlich als religiöses, mystisch-erhabenes Phänomen, dem in der Wiedergabe zeremonielles Wesen zu entsprechen habe. Dieser Auffassung, die zur Tradition geworden ist, steht Wagners eigenes Verständnis entgegen. Wagner selbst nämlich hatte einen eher nüchternen Begriff von Weihe, wie zumindest sein Aufsatz Das Bühnenweihfestspiel in Bayreuth 1882, ein Rückblick auf die Festspiele des Jahres 1882 mit den ersten Parsifal-Aufführungen, ausweist5. Weihe ist darin identisch mit der Begeisterung, welche die ausführenden Musiker, Sänger und Darsteller und das gesamte Ensemble der Mitwirkenden bei der künstlerischen Arbeit beseelte und einte; Weihe beschreibt darin den eigentümlichen Geist der Aufführungen, deren Besonderheit Wagner in der Ferne zum gewohnten Operntheater und -betrieb sah und zur Alltäglichkeit von Welt und Leben überhaupt. In diesem Sinne ist die »Weihe der Weltentrückung«6 zu begreifen, von der Wagner in dem Aufsatz spricht. Jedenfalls duldet es keinen Zweifel, dass Weihe im Verständnis von Wagners Aufsatz nichts Religiöses, Mystisch-Erhabenes, Kirchlich-Zeremonielles oder dergleichen meint. Langsame Tempi zur Erreichung einer dieser 67

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Art verstandenen Weihe sind also nicht gefordert. Wagners Aufsatz gibt jedoch darüber hinaus, wenn auch nur indirekt, Auskunft über die Tempi, wie er sie sich vorstellte. Die Maxime beim Singen nämlich war, »lange melodische Linien undurchbrochen einzuhalten«7, und zwar durch das Singen auf einen Atem: »Einigung der ganzen Phrase vermöge der gleichen Respiration«, wie Wagner es formulierte8. Besonders langsame Tempi sind angesichts solcher Vorstellungen gar nicht realisierbar. Im Übrigen war Wagner mit den Tempi, die bei den ersten Aufführungen 1882 gewählt wurden, mehrfach unzufrieden, wie die Tagebücher Cosima Wagners belegen. Sie erschienen ihm vor allem »verschleppt«9 . Das bestätigen zudem auch die Notate, die von einigen Assistenten und Mitwirkenden während der Proben 1882 gemacht worden sind. Immer wieder begegnet darin die Forderung, nicht zu schleppen. Wagners Probenbemerkungen, die zwar seit 1970 innerhalb der RichardWagner-Gesamtausgabe vorliegen10 und also jedermann zugänglich sind, aber bis heute kaum einmal für eine Aufführung herangezogen wurden, zeigen auch, dass so manche Vorschrift in Wagners Partitur, die wie eine Tempoangabe aussieht, doch eher als Angabe über den Charakter als über das Tempo aufzufassen und dementsprechend auszuführen ist. So wollte Wagner beispielsweise die Forderung »breit« »mehr im Ausdruck als im Tempo«11 verstanden wissen. Diverse Angaben, die als solche unpräzis anmuten und leicht in den Sog der Neigung zu den traditionell langsamen Parsifal-Tempi geraten, gewinnen eine deutlichere Kontur, wenn man sich die Mühe macht, sie im Zusammenhang der übrigen Angaben und Vorschriften zu sehen, in der Relation nämlich, aus der Tempi ohnehin in der Regel ihren Sinn beziehen. Die häufige Bezeichnung »mäßig« etwa erweist sich vor diesem Hintergrund durchaus nicht als Forderung nach einem langsamen Tempo, als die sie allzu oft verstanden wird, sondern als mittleres Zeitmaß im Sinne von Allegretto. Die Langsamkeit der Musik des Parsifal hat mit langsamen Tempi also wenig oder gar nichts zu tun, oder – um es paradox auszudrücken –: die Langsamkeit der Parsifal-Musik wird durch langsame Tempi eher verdeckt als verwirklicht; denn die langsamen Tempi vermitteln lediglich eine äußerliche Feierlichkeit, die nicht gemeint ist, und verhindern die Erfahrung der veränderten musikalischen Zeit im Parsifal, um die es in Wahrheit geht. Betrachtet man die Entstehungsgeschichte des Wagner’schen Parsifal, so könnte man die Hypothese wagen, Wagner habe die Musik des Werks von der Musik der Blumenmädchen her konzipiert und entwickelt. Am 9. Februar 1876, also fast ein Jahr vor Beginn der Arbeit am Parsifal, notierte Wagner – völlig unabhängig vom Parsifal und daher auch noch ohne allen Text – Melodie und Satz des späteren »Komm! Holder Knabe!«, das er – und das erscheint besonders bemerkenswert – schon eine Woche später (16. Februar 1876) dem Parsifal und zwar den Blumenmädchen zuordnete. Dass diese Musik in der Tat eine Keimzelle war, wird zum einen daran ersichtlich, dass ihre Tonart As-Dur ist, die Tonart nicht nur des gesamten Werkes, in der es EGON VOS S

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nämlich beginnt und schließt, sondern auch die Tonart der Gralswelt, die Tonart der drei zentralen Gralsmotive: Abendmahl-, Gral- und Glaubens-­ Motiv. Damit aber nicht genug: Das »Komm! Holder Knabe!« enthält auch den aufsteigenden Sekundgang von der Quinte zur Oktave in parallelen ­Sexten aus dem »Dresdner Amen«, das konstitutiv ist für das Gral-Motiv.

In diesen Zusammenhängen deutet sich an, was über das »Komm! Holder Knabe!« hinaus durchgeführt ist, dass nämlich Grals- und Klingsorwelt, vom Sujet und Textbuch her Gegenwelten, musikalisch sehr nahe beieinanderliegen, um nicht zu sagen, identisch sind12. Die Blumenmädchenszene beginnt im Orchester mit dem aufsteigenden Dreiklang mit anschließender Sexte, als hebe eine Variation des Abendmahl-Motivs an; vor allem erfolgt anschließend eine Sequenz von der Terz aus, ganz wie beim Abendmahl-Motiv, das ja gleichfalls zuerst von as, dann von c aus erklingt:

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Des Weiteren variiert die vom as2 zum es2 sich senkende Melodie der ­ersten Soloblume das Glaubens-Motiv:

Und das »Was zankest du ...« schließlich ist abgeleitet vom ersten ­Orchesterzwischenspiel des Chors »Zum letzten Liebesmahle« aus dem 1. Akt:

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In diesen Zusammenhang gehört auch, dass der für das Motiv Kundrys konstitutive Akkord – im Kern lesbar als Molldreiklang mit großer Sexte, die meist im Bass liegt – in zahlreichen Wendungen auftritt, die die Gralswelt betreffen, die vermeintlich intakte Welt des Heils. Der allein schon durch das Sujet gegebene Bezug zum Lohengrin, exemplarisch vorgeführt im unüberhörbaren Zitat des Schwan-Motivs, ruft den Gedanken an das A-Dur des Grals dort herauf. Es hat den Anschein, als sei auch im Parsifal A-Dur die allerdings nur heimliche, verborgene Gralstonart, das gesamte Stück hindurch beinahe ängstlich gemieden und nur ein einziges Mal ausgeprägt auftretend, nämlich unmittelbar, bevor Gurnemanz die vom Gral gegebene Prophezeiung über die Erlösung des Amfortas, den Torenspruch, preisgibt. Vor dem Hintergrund dieses Gedankens erscheint As-Dur, die Gralstonart im Parsifal, als getrübtes, eingedunkeltes, vom Eigentlichen abgelenktes A-Dur, Indiz dafür, dass die Gralswelt im Parsifal nicht mehr so heil und makellos ist wie im Lohengrin und es – das ist besonders bemerkenswert – allem Anschein nach auch nicht wieder wird. Die Abdunkelung der Klänge ist überhaupt eines der ganz wesentlichen Charakteristika der Parsifal-Musik. Reiner Violinklang in hoher Lage, wie man ihn gerade aus der anderen Gralsoper, dem Lohengrin, kennt und auch hier erwarten würde, ist auf wenige kurze Stellen beschränkt, die wie ferne Erinnerung an das ältere Werk wirken. Im Karfreitagszauber wird die hochgeführte Geigenkantilene, die im Übrigen im gesamten Werk ausgespart ist, bevor sie sich noch aussingen kann, abgebrochen (3. Akt, Takt 742). Die Instrumentation ist von Mischklängen geprägt, an denen meist Instrumente mittlerer und tiefer Lage beteiligt sind. Die Tendenz ist deutlich ablesbar an der Forderung nach einer Alt-Oboe anstelle des üblichen Englischhorns, einem Instrument, das neben mehr Sonorität vor allem einen dunkleren Klang hat (im Übrigen aber bis heute nicht verwendet wird). Auch die ­vergleichsweise häufige solistische Führung des Fagotts, das Wagner als ­Soloinstrument gar nicht sonderlich schätzte13, zeigt die Vorliebe für abschat 71

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tierte Klänge an. Das Musterbeispiel für den abgedunkelten Klang aber ist die Instrumentation des Parsifal-Motivs beim Auftreten der Titelfigur im 3. Akt, bei der Trompete und Posaunen im Pianissimo mit Hörnern gemischt spielen14. Die Abdunkelung betrifft auch die verwendeten Lagen und Tonarten. Die Neigung zu den B-Tonarten ist unverkennbar; Tonarten, denen zumindest im 19. Jahrhundert eine dunklere Färbung zugesprochen wurde, eher der Nacht- als der Lichtseite von Welt und Leben zugeordnet. Ob B-Tonarten objektiv dunkler sind, bleibe dahingestellt; fest steht aber, dass man im 19. Jahrhundert im festen Glauben an den Charakter der Tonarten Musik mit B-Vorzeichnung anders gespielt hat als jene mit Kreuztonarten. Die Vor­ zeichen sind als Spielanweisung, als Charakterbezeichnung zu werten. Die Abdunkelungstendenz setzt sich fort in der Harmonik, in der bereits genannten Vorliebe für subdominantische Verbindungen, in der Neigung zu harmonischen Nebenstufen, insbesondere jenen in Moll, in der Verwendung ­archaisch-altertümlicher Akkordfolgen. Deren Musterbeispiel ist die Folge reiner Dreiklänge bei »Wirkte dies der heilige Tag?« im 3. Akt (T. 151), die danach noch einige Male auftritt, im Übrigen ein nur geringfügig verändertes Zitat des Anfangs von Palestrinas Stabat mater15 (es war im Sommer 1878 in der Bearbeitung Richard Wagners im Druck erschienen16): Das Prinzip der Abdunkelung, des Im-Dunkel-Lassens oder In-Dunkel-Tauchens trifft sich mit der erwähnten Neigung zu Ambivalenz und Mehrdeutigkeit. So finden sich in den Orchestertakten nach Parsifals »der Rettung letzter Pfad mir schwindet!« im 3. Akt zwei allerdings versteckte Zitate aus anderen Opern Wagners: Zunächst erklingt in der Klarinette eine Anspielung auf die VenusMelodie »Geliebter komm! Sieh dort die Grotte« (T. 448 ff.) aus Tannhäuser, dann ertönen der Tristan-Akkord und seine Auflösung, und zwar gleich drei Mal hintereinander, einmal sogar in der gleichen Tonart und Lage wie in Tristan und Isolde (T. 456, 458, 460). Zu dem, was gleichzeitig auf der Bühne geschieht – Kundry holt Wasser für den ohnmächtigen Parsifal –, will das nicht passen, aber wer wollte andererseits genau bestimmen, was es besagt? Sicher ist nur, dass die Beziehung zwischen Parsifal und Kundry auch noch im 3. Akt von Erotik oder Sehnsucht danach geprägt ist. Dunkel erscheint auch, warum das Leidens-Motiv des Amfortas – jene absteigende Bassfigur, die erstmals bei »Zeit ist’s, des Königs dort zu harren« im 1. Akt auftritt – bis zum Ende der Oper unverändert bleibt: Der übermäßige Dreiklang, der dieses Motiv prägt und wohl sein markantestes Kennzeichen ist (g-h-dis1 auf der 2. und 3. Zählzeit), ist zumindest nach dem Verständnis des 19. Jahrhunderts eine scharfe Dissonanz, als solche sinnvoller Ausdruck für das Leiden des Amfortas. Dessen Leiden aber endet, so wie das Textbuch die Geschichte erzählt, mit Parsifals Einzug in den Gral und mit der Berührung der Wunde durch die Lanze, den Speer. Dennoch verharrt das Amfortas-Motiv in seiner Dissonanz, die selbst noch dort EGON VOS S

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erklingt, wo es im Text heißt: »Sei heil, entsündigt und gesühnt!« Hätte hier nicht, landläufigem Verständnis gemäß, die Dissonanz aufgelöst und das Motiv entsprechend dem Geschehen auf der Bühne geändert werden müssen? Es ist oftmals, als stelle die Musik im Parsifal den Text in Frage, der so bestimmt und zielstrebig scheint, so entschieden-eindeutig in seinen Lösungen und Antworten. Der Komponist Wagner fällt dem Textautor Wagner gleichsam in den Arm und belässt es – darin ganz ein Autor der Moderne – beim Formulieren von Fragen, vermutlich weil er sich der Antworten nicht mehr sicher ist.

1 Theodor W. Adorno, Zur Partitur des Parsifal, in: Moments musicaux. Neue gedruckte Aufsätze 1928–1962, Frankfurt a. M. 1964, S. 53 2 Kurt Overhoff, Richard Wagners Parsifal, Lindau 1951, S. 33 3 CT II, S. 841 (5. Dezember 1881). Das Zitat lautet vollständig: »Der Morgen ist hübsch, und bei Tisch erzählt R., dass er [an der Instrumentation des Parsifal] gearbeitet hat, ›o die Musik!‹ ruft er aus, ›man wird erst hier sehen, was für eine Möglichkeit der Klage in der Wonne sie enthält!‹« 4 Adorno (Anm. 1), S. 54 5 Zuerst publiziert im November-Dezember-Heft der Bayreuther Blätter 1882 (S. 321–329); danach in Band 10 sowohl der Gesammelten Schriften und Dichtungen als auch der Sämtlichen Schriften und Dichtungen wiedergegeben; siehe auch RWSW Bd. 30, S. 63–67. 6 Bayreuther Blätter 1882, S. 329; RWSW Bd. 30, S. 67 7 Bayreuther Blätter 1882, S. 324; RWSW Bd. 30, S. 64 8 Ebd. 9 CT II, S. 983, 985 (auch 991) 10 RWSW Bd. 30, S. 165–229 11 Ebd., S. 209 (bezieht sich auf 2. Akt, T. 1364: »Schuf dich zum Gott die Stunde«) 12 Vgl. dazu: Wolfgang Wagner, Parsifal-Aspekte, aufgezeichnet von Oswald Georg Bauer, 1975, in: Dietrich Mack, Der Bayreuther Inszenierungsstil (100 Jahre Bayreuther Festspiele, Bd. 7), München 1976, S. 124 f. 13 CT II, S. 842 (6. Dezember 1881) 14 Ebd., S. 853 (18. Dezember 1881) 15 Zuerst entdeckt von Wilhelm Tappert in seinem Beitrag: Flüchtige Blicke in Wagners Parsifal, in: Neue Zeitschrift für Musik 1882, Nr. 28 (7. Juli), S. 301 f. 16 Vgl. dazu: WWV, S. 336f. (WWV 79)

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Jonas Kaufmann als Parsifal, Nikolay Sidorenko als damaliger Parsifal und Elīna Garanča als Kundry



Ulrike Kienzle

DAS DRAMA DES LEIDENDEN CHRISTUS

Die sakrale Musik des Parsifal


Gott, schreibt Wagner in den Bayreuther Blättern des Jahres 1880, wohnt nicht im Himmel, sondern »im Innern der Menschenbrust«, dies hätten die deutschen Mystiker »leuchtend« empfunden. Da dieser Gott aber aus der modernen Welt vertrieben wurde, »ließ er uns zu seinem ewigen Andenken die Musik zurück«. Deshalb spricht sich das Drama des leidenden Christus in der Musik aus. »Christus kann man nicht malen«, sagt Wagner am 22. Oktober 1882 zu Cosima, und er bezieht sich dabei ausdrücklich auf ­Parsifal, »aber in Tönen kann man ihn wiedergeben«. Wir müssen das Christus-Drama also weniger im Text des Bühnenweihfestspiels suchen, sondern vielmehr in der Musik. Die sakrale Musik des Parsifal knüpft an uralte Traditionen der Kirchenmusik an und verbindet sie mit den Errungenschaften der musikalischen Moderne: mit einer ausdifferenzierten, psychologisch motivierten Leitmotivtechnik, mit der elaborierten Klangfülle des großen Orchesters, mit der harmonischen Expressivität des Tristan-Stils. Die Spuren der geistlichen Musik des Christentums sind überall zu finden: in Stilzitaten wie dem Dresdner Amen zum Beispiel, das in den Sextparallelen des Gralsmotivs anklingt. Die polyphone Durcharbeitung des Glaubensmotivs erinnert an kirchenmusikalische Traditionen des Barock. Die Chöre der Gralsritter im ersten Akt greifen auf Stilelemente der klassischen Vokalpolyphonie Palestrinas zurück. Diese Rückgriffe auf die geistliche Musik der Vergangenheit verweisen auf die ursprüngliche Bedeutung des Wortes ›religio‹ als Rückbindung an etwas Heiliges, das sich in der Vergangenheit ereignet hat. Mit ihnen wird die Religion als Kultus und als Ritus zelebriert. Die Stilmittel der Moderne dagegen dienen zur Veranschaulichung der psychischen Konflikte der dramatis personae. Nicht von ungefähr ist den zerrissenen, leidenden Menschen die avancierteste Musik zugedacht: Kundry, Amfortas und Klingsor.

Das Abendmahlthema Das Drama des leidenden Christus hat an beiden Stilebenen teil. Es sind im Wesentlichen drei musikalische Gedanken, die Christus im Bühnenweihfestspiel repräsentieren: das Abendmahlthema, die Heilandsklage und das Karfreitagsmotiv. Das Abendmahlthema, mit dem das Werk beginnt, wird später, während der Gralsliturgie, mit den Einsetzungsworten verbunden: »Nehmet hin meinen Leib, nehmet hin mein Blut, um unsrer Liebe willen.« Es hat den Charakter eines Zitats: Hier spricht Christus gleichsam selbst. In einer Erläuterung für Ludwig II. hat Wagner dieses erste Thema als »Liebe« umschrieben, und er meint damit diejenige der drei Theologaltugenden (Glaube, Liebe, Hoffnung), die ihm als Essenz der christlichen Religion erschien. Das Abendmahlthema beinhaltet somit den Kern der christlichen Religion, wie 77

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Wagner sie verstand, und steht für Christus als Stifter einer Religion des liebenden Mitleids. Das Thema ist in sich komplex strukturiert (Notenbeispiel 1). Es besteht aus vier Abschnitten, die organisch miteinander verbunden sind. Der aufsteigende Dreiklang zu Beginn (1) ist ein einfaches, gleichsam universales Urelement der dur-moll-tonalen Musik. Die Tonart As-Dur gilt schon im 18. Jahrhundert als Tonart des Mystischen, aber auch des Absonderlichen, des Verstiegenen. Das hängt mit der Besonderheit der historischen Stimmungen zusammen, in denen As-Dur besonders fremdartig klang. Diese Tradition wirkt aber noch im späten 19. Jahrhundert fort. As-Dur ist auch die Tonart der Liebesnacht in Tristan und Isolde und von daher als mystische Tonart in Wagners Erinnerung eingeschrieben. Die anschließende Wendung zur Sexte f verleiht dem Themenkopf einen sensitiven Ausdruck und verweist auf die Paralleltonart f-Moll. Der zweite Abschnitt (2) betont jedoch die Septime g und deutet sie um zur Dominante von c-Moll; dadurch entsteht ein expressiver, dunkler Klang. Dieser Teil des Abendmahlthemas spaltet sich später ab und wird zum Ausdruck der christlichen Passion. Hans von Wolzogen, der erste Exeget der Leitmotive, hat ihn deshalb in seinem Thematischer Leitfaden (1882) als Schmerzensfigur bezeichnet. Sodann kehrt die Harmonik wieder zu As-Dur zurück. Auch der nun folgende Skalenausschnitt, das Tetrachord der Heilandsklage as zu des, erhält – meist gemeinsam mit der folgenden Schlusswendung – im Verlauf des Dramas eine eigenständige, auf den Speer bezogene Bedeutung (3). Das Thema endet in einer synkopisch abwärts geführten Bewegung mit einem Akzent auf b, der zweiten Stufe von As-Dur, und schließt gleichsam verschwebend auf der Terz c (4). So enthalten schon die ersten sechs Takte des Parsifal die Botschaft der Religion des freiwilligen Leidens und des Mitleidens in komprimierter Form. U LR IK E K IENZLE

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← ­Noten­beispiel 1: Beginn des Vorspiels, 1. Akt (* mit B bezeichnet sind Kommentare von Wagner, aufgezeichnet von Felix Mottl)

Aus dieser Keimzelle heraus entfaltet sich später ein weit verzweigtes Netz musikalischer Beziehungen. Nicht nur semantisch, sondern auch musikalisch ist das Abendmahlthema das Zentrum der Parsifal-Partitur. Viele Leitmotive sind auf dieses Thema bezogen oder leiten sich daraus ab: durch Abspaltung, Variation, Kontrastierung. Die Semantik der Leitmotive im Parsifal ist vielschichtig und mehrdeutig. Durch Kombination und Verflechtung bilden sich immer neue Sinnzusammenhänge. In seinem letzten Musikdrama entwickelt Wagner ein geradezu kabbalistisch anmutendes Verfahren der Kombinatorik melodischer Elemente, sodass letztlich alles mit allem zusammenzuhängen scheint. So entsteht ein schier unendliches Gefüge semantischer Beziehungen. Dadurch erhält das Werk einen Gestus des Enigmatischen, Geheimnisvollen, Hermetischen. Die Parsifal-Musik ist schwer zu entschlüsseln. Sie teilt ein Geheimnis mit, aber sie enthüllt dieses Geheimnis nicht. Die Aura des Sakralen, die das Abendmahlthema ausstrahlt, entsteht aus dem Zusammenwirken verschiedener musikalischer Besonderheiten: aus seiner Einstimmigkeit, mit der es sich aus dem mystischen Dunkel des Schweigens erhebt; aus dem Beschwören der Erinnerung an die heiligen ­Gesänge der Gregorianik, die hier jedoch in die expressive Tonalität des ­späten 19. Jahrhunderts getaucht erscheinen; aus den Synkopen, die das ­Metrum verschleiern, und aus der Instrumentation, welche die Farben der Holzbläser durch den weichen Klang der Streicher abdämpfen. Das Thema mündet zudem in eine »Aura« aus auf- und abschwebenden As-Dur-Figurationen in vielfacher rhythmischer Aufspaltung, die den Klangraum nach oben und nach unten hin öffnen und der subjektiven Aussprache der Einsetzungsworte ein athematisches, sie gleichsam transzendierendes Moment entgegenstellen. Die Melodik des Abendmahlthemas wird in reinen Klang aufgelöst.

Die Heilandsklage Ganz anders erscheint das Thema im letzten Teil des Vorspiels, nach der Exposition von Grals- und Glaubensmotiv. Hier taucht Wagner das Abendmahlthema in ein ganz anderes Licht und versetzt es in eine musikalische Sprache, die mit ihrer sensitiven, chromatischen Harmonik und mit der vorwärtsdrängenden Sequenztechnik dem Tristan-Stil entspricht. Wagner vermittelt somit zwischen der metaphysischen Ebene des Sakralen und der gleichsam diesseitigen Ebene der dramatischen Konflikte. Er bindet Christus, der sich im Abendmahlthema ausspricht, unmittelbar in das dramatische Geschehen ein. Die erste Exposition des Abendmahlthemas zeigt uns Christus als Gott, der ein Mysterium einsetzt. Die zweite Exposition zeigt uns Christus als ­Menschen, der leidet. 79

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Gleich zu Beginn des letzten Teils des Vorspiels, durch einen Stillstand der musikalischen Ereignisse vom Vorhergehenden abgehoben, erklingt zum Orgelpunkt as, der den mittleren Teil mit dem nun folgenden verbindet, in tiefer Lage ein Streichertremolo auf f. Darüber erhebt sich der Themenkopf des Abendmahlthemas, diesmal nur von Holzbläsern intoniert (1. Akt, Takt 79). Durch die Hinzufügung der Sexte f zur Tonika as entsteht eine Trübung nach f-Moll. Allerdings wird das Thema jetzt nicht zu Ende geführt, vielmehr endet es abrupt nach der Schmerzensfigur, diese wird nach dem kurzen Innehalten einer Achtelpause mit einer Wendung des tiefsten Tones nach des wiederholt und verebbt auf fes, dem sich ein gehaltener Ges-Dur-Akkord fremd und reibend entgegenstemmt. Dieser Prozess vollzieht sich in mehreren Ansätzen und auf jeweils neuen harmonischen Stufen (im Abstand einer kleinen Terz). Streichertremoli und Paukenakzente im Pianissimo unterstreichen den expressiven, schmerzlichen Charakter. Endlich scheint sich das Abendmahlthema mit dem Speermotiv fortzusetzen (I, 95). Aber auch dieses separiert sich und erklingt in mehrfachen Sequenzen und in polyphoner Verschränkung. Das Abendmahlthema wird mit diesen Mitteln förmlich »dekonstruiert«, in seine Bestandteile aufgelöst. Diese Sequenztechnik in wechselnder harmonischer Beleuchtung ist ein typisches Merkmal des Tristan-Stils und überführt die auratische Unnahbarkeit der ursprünglichen Gestalt des Abendmahlthemas in die subjektive Sphäre des individuellen Ausdrucks von Leiden und Schmerz. Zielpunkt dieser Entwicklung ist eine motivische Gestalt, die Hans von Wolzogen – nach einer späteren Textstelle in Parsifals Erkenntnisszene – als Heilandsklage bezeichnet hat (Notenbeispiel 2): Das Speermotiv erhält ­zunächst eine neue Fortsetzung, die mit ihrer synkopisch verschobenen, ­abwärts weisenden Diastematik dem ursprünglichen Schluss des Abendmahlthemas ähnlich ist. Diese neue Variante ist eine Antizipation des Mitleid­ motivs, das später für Parsifal wichtig wird (zuerst als Umschreibung von Parsifals Reaktion auf Gurnemanz’ Darstellung seines Schwanenmordes, vgl. I, 878 ff.). Die Spannung, die aus dem mehrfachen Erklingen dieses Modells entsteht, erfährt seine Lösung in einer befreienden Doppelschlagfigur von starker gestischer Prägnanz (I, 98). Sie ist mit Violinen und sechs bzw. neun Holzbläserstimmen (die Flöten sind dreifach besetzt) markant instrumentiert. Dieser charakteristischen Doppelschlagfigur folgen nach einer synkopischen Abwärtsbewegung schwere Seufzervorhalte (I, 101) und ein Akzent der P ­ auke. Dieses kleine Paukenmotiv charakterisiert im Verlauf des Dramas noch mehrfach die christliche Passion, etwa in Kundrys Erinnerung an Christus (II, 1179 f.) und in Gurnemanz’ Karfreitagsansprache (III, 705). Die simultan erklingenden Nebenstimmen erzeugen eine dichte, polyphone Klangstruktur. Die Heilandsklage entsteht also durch Ableitung (vom Speermotiv) und Variation (das Mitleidmotiv variiert die Schlusswendung des Abendmahl­ themas). Durch die charakteristische Doppelschlag-Figur erhält sie an dieser U LR IK E K IENZLE

→ Notenbeispiel 2: Vorspiel 1. Akt, Takte 97–99

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Stelle ihren Ausdruck der beredten Klage, der individuellen Aussprache eines Subjekts im Sinne eines instrumentalen Rezitativs. Die Doppelschlagfigur ist in der äußerst sparsam ornamentierten Parsifal-Partitur keinesfalls ein Moment des spielerischen Verzierens, sondern vielmehr gesteigerter Expression. Hier knüpft Wagner an alte Traditionen an: Schon Carl Philipp Emanuel Bach empfiehlt den Doppelschlag zur Steigerung des Ausdrucks, insbesondere zur Nachahmung des Sprechens in den rezitativischen Passagen der freien Fantasie, die zumeist den Charakter der Klage und des unmittelbaren Gefühlsausdrucks aufweisen. So wird sie noch bei Schumann und Weber verwendet. Wagner selbst hat sich schon im Rienzi dieses Stilmittels bedient, und noch Gustav Mahler wird in seiner 9. Symphonie darauf zurückgreifen. In Wagners programmatischer Erklärung des Parsifal-Vorspiels heißt es über diesen letzten Teil des Vorspiels: »Da noch einmal aus Schauern der Einsamkeit erbebt die Klage des liebenden Mitleides: das Bangen, der heilige Angstschweiß des Ölberges, das göttliche Schmerzensleiden des Golgatha [...].« Beginn und Schluss des Vorspiels thematisieren somit zwei unterschiedliche Aspekte des christlichen Heilsgeschehens: zunächst die Einsetzung des Abendmahls und damit den Gründungsakt der christlichen Religion, der in das mystische Dunkel des Metaphysischen getaucht ist, und schließlich die Darstellung seines Selbstopfers, des freiwilligen Leidens aus liebendem Mitleid. Dieser Zusammenhang wird später noch deutlicher gemacht: Auf dem Höhepunkt der Gralsenthüllung erklingt die Heilandsklage mit dem weichen Doppelschlag unmittelbar im Anschluss an den Moment, als sich der »blendende Lichtstrahl [...] von oben auf die Kristallschale« herabsenkt und das Blut im Gralskelch zum Erglühen bringt (I, 1470–1478). Hier wächst die Heilandsklage unmittelbar aus dem Abendmahlthema mit seiner mystischen Klangaura hervor. Beide Aspekte Christi und beide kompositorische Techniken – die sakrale und die subjektiv-psychologische – sind an dieser Stelle ineinander verschränkt: Christus ist Stifter der Religion und leidender Mensch zugleich.

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Der Schrei des leidenden Gottes In der Verwandlungsmusik des ersten Aktes hören wir eine Ausgestaltung der Heilandsklage, die einen ganz anderen Charakter hat. In das polyphone Liniengeflecht und die labyrinthischen Verschlingungen der Stimmen, die den Weg zur Gralsburg als einen Initiationsweg charakterisieren, bricht plötzlich ein instrumentaler Aufschrei von eruptiver Expressivität (I, 1123). Wieder sind mehrere motivische Ebenen simultan übereinander geschichtet (Notenbeispiel 3). Die Verwandtschaft mit der ersten Motivgestalt aus dem Vorspiel ist unmittelbar evident, aber sein Charakter ist vollständig ver­ wandelt:

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Notenbeispiel 3: Verwandlungsmusik 1. Akt ↓

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1. Das Thema entwickelt sich hier nicht allmählich aus dem Speermotiv, sondern es wird von einem emphatischen, punktierten Oktavaufschwung vorbereitet. Ihm folgt sofort auf einem scharfen Fortissimo-Akzent die chromatische Abwärtsbewegung (in Cis-Dur bzw. Des-Dur beginnend). Sie ist teilweise in parallelen Terzen geführt und mit Holzbläsern und Hörnern wuchtig und grell instrumentiert. Die synkopische Rhythmik stemmt sich dem Metrum entgegen und bringt den vorwärtsdrängenden Impuls der vorgehenden Abschnitte gleichsam zu Fall, wirft sich ihm sozusagen in den Weg. Hans von Wolzogen bezeichnet diese Motivgestalt als Wehelaute; sie werden im weiteren Verlauf des Dramas eigenständige Bedeutung erhalten und können die Heilandsklage in solchen dramatischen Situationen vertreten, die keine vollständige Exposition zulassen. Die Wehelaute münden hier jedoch – dem Ausdruck des Schreis und der Anklage entsprechend – nicht in den weichen Doppelschlag des Vorspiels. Stattdessen erklingt nach einem Innehalten auf einer Viertelnote (eis) sogleich die Fortsetzung des Motivs, ein Terzaufstieg, der von einem Abstieg in Ganztönen, dann auch in Halbtönen gefolgt wird und synkopisch verebbt. 2. Gegen die hemmenden Synkopen des Themenkopfes ist in den Mittelstimmen ein mit Trompeten, Posaunen und Celli (teilweise auch in den Holzbläsern) markant instrumentiertes Motiv gestellt, das mit seinem energischen Quartsprung und der anschließenden triolischen Abwärtsbewegung als eine variierte Umkehrung des Amfortasmotivs zu erkennen ist. 3. Als drittes motivisches Element erklingt eine gezackte Figur in den Streichern, die mit einer Tirata anhebt und nach zwei Tritonussprüngen (b-fes und des-g in I, 1123) und einem Quintsprung durch ein abwärts gerichtetes Motiv beschlossen wird, das an die Schmerzensfigur erinnert und mit seiner Folge von kleiner Terz abwärts und Sekunde aufwärts dem Mitleidmotiv entspricht (im Klavierauszug ist dies nicht dargestellt). 4. Der bereits beschriebene Nachsatz des Motivs (ab I, 1125) bringt die melodische Linie aus dem Vorspiel in polyrhythmischen Konfrontationen mit den übrigen, selbständig geführten Stimmen. Diesem dramatischen Aufschrei folgt eine auf den weichen Streicherklang zurückgenommene Variante, die mit ihrem ausschwingenden Doppelschlag wieder der Motivgestalt des Vorspiels entspricht (I, 1131/1132, im ­Noten­beispiel mit 4 bezeichnet). Die Heilandsklage erklingt sodann noch zweimal (be­ ginnend in d-Moll und f-Moll; I, 1134 ff. und I, 1137 ff.) in ihrer dramatischexpressiven Gestalt, bis die musikalische Spannung zurückgenommen wird und das Erklingen der Grals-Glocken die Ankunft im Tempel be­ zeichnen. 83

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Harmonisch liegt der Heilandsklage, wie sie hier exponiert wird, das barocke Modell der Quintfallsequenz zugrunde. Sie erhält jedoch durch chromatische Schärfung und Nebentoneinstellungen einen spezifisch modernen, verfremdeten Klangcharakter. Dadurch entsteht eine paradoxale Verschränkung von Archaik und Avanciertheit. Etwas Ähnliches findet sich auch in den motivischen Strukturen: Archaik im Rückgriff auf barocke Topoi des Weinens und der Klage (im abwärts gerichteten Terzgang der Wehelaute)

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sowie in der Diastematik der gezackten Figur mit Tirata und Tritonussprüngen, die an Topoi der barocken Oper erinnern; Avanciertheit in der Polyrhythmik der motivischen Schichtungen und im expressiven Ausdruckscharakter des instrumentalen Schreis. Damit erfährt das Christus-Drama, das Wagner im Parsifal darstellen will, eine suggestive musikalische Darstellung. Wagners Charakterisierung, »im Parsifal sei alles jäh, der Heiland am Kreuz, da sei alles blutig«, bezieht sich offenkundig auf dieses Thema, das im weiteren Verlauf des Werkes eine zentrale Bedeutung erhält. Die Exposition der Heilandsklage erfolgt zweimal instrumentalmusikalisch. Eine semantische Zuordnung erfährt sie sodann in dem Chorsatz der Jünglinge, der aus der mittleren Höhe der Kuppel herabklingt: »Den sündigen Welten, mit tausend Schmerzen, wie einst sein Blut geflossen«; die Wiederholung des Themas erfolgt zu den Worten »dem Erlösungshelden sei nun mit freudigem Herzen mein Blut vergossen«. (I, 1205 ff., Notenbeispiel 4) Der Nachsatz bringt melodisch neues Material. Wagner verbindet die Heilandsklage also mit einem Text, der sich auf das Passionsgeschehen bezieht und die Nachfolge Christi durch die Gralsritter betont. Das motivische Material der Heilandsklage ist hier variiert und in einen luziden dreistimmigen Satz mit sparsamer Begleitung von Streichern und Bassklarinette eingekleidet, der auf sakrale Topoi des Palestrinastils zurückgreift. Das Thema, das Wagner im Vorspiel als beredte Klage und in der Verwandlungsmusik als dramatischen Einbruch gestaltet hat, erscheint nunmehr in der Atmosphäre von Heiligkeit und Verkündigung. Seltsam konträr zu dieser Sakralisierung im Sinne der klassischen Vokalpolyphonie steht die sensitive und expressive Harmonik dieses Chors (mit dem halbverminderten Septakkord, einer Umkehrung des Tristan-Akkords), der sich in seinen chromatischen Wendungen deutlich von der Diatonik des vorangegangenen Chors abhebt.

Die Klage des Amfortas

← Notenbeispiel 4: Gralsszene 1. Akt

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Als Priester, der das Grals-Amt zelebriert und das letzte Abendmahl in Gestalt einer kultischen Wiederholung vergegenwärtigt, ist Amfortas der Stellvertreter Christi und steht zu ihm im Verhältnis einer mystischen Identität. Dies ändert sich auch dann nicht, als Amfortas durch seinen »Sündenfall« diese Nachfolge gleichsam verrät: Christus und Amfortas bleiben in einer unlösbaren Verbindung, und Amfortas empfängt seine Wunde nicht zufällig von derselben Waffe und an derselben Stelle wie Christus. Deshalb leidet Amfortas nicht nur körperlich (an den Schmerzen dieser Wunde) und seelisch (am Bewusstsein seiner Schuld). Eine zusätzliche Dimension kommt hinzu: Amfortas erlebt zusätzlich das Leiden Christi über den Verrat an seiner Religion des Mitleidens. Was Amfortas als »Strafe« des »gekränkten Gnadenreichen« DIE SA K R A LE MUSIK DE S PA RSIFA L


empfindet, ist in Wirklichkeit die »Gottesklage« über das »entweihte Heiligtum«. Diese komplexen psychischen Prozesse, die Verschränkung des ­Christusdramas mit dem Drama des gefallenen Gralskönigs, werden erst im zweiten Akt, in Parsifals Erkenntnisszene, auch sprachlich manifest. In der großen Klage des Amfortas ist es dagegen die Musik, welche diese Zu­ sammenhänge herstellt. Deshalb kommt dem Motivkomplex der Heilandsklage in dieser Szene so große Bedeutung zu. In ihr spricht sich der leidende Gott aus. Die Heilandsklage bildet das semantische Zentrum und zugleich das formale Gerüst, das die heterogenen Abschnitte des Monologs zusammenhält. Schon Amfortas’ erste Reaktion auf die Forderung Titurels, den Gral zu enthüllen, wird von einem eruptiven Aufschrei der Heilandsklage eingeleitet, welcher der Exposition in der Verwandlungsmusik weitgehend entspricht. Die nachfolgenden Worte: »Wehe! Wehe mir der Qual!« (I, 1259) lassen den Bezug zu Christus noch unausgesprochen. Dies hat dazu geführt, dass in manchen Motivtafeln dieses Thema nicht als Heilandsklage, sondern vielmehr – auf Amfortas bezogen – als Sündenqualmotiv bezeichnet wird. Das ist sicherlich nicht falsch, wenn man bedenkt, dass das Leiden des Amfortas vor allem im Gefühl des Versagens gegenüber Christus besteht. Es verkürzt die metaphysische Dimension des Parsifal jedoch um einen entscheidenden Aspekt. Wenn man sich die große Szene des Amfortas genauer anschaut, kann man feststellen, dass die Heilandsklage ausschließlich an solchen Stellen steht, die auch im Text den Bezug zu Christus herausstellen: »O Strafe! Strafe ohnegleichen des, ach! gekränkten ­Gnadenreichen!« (I, 1316 ff.) Amfortas empfindet die »Qual«, von der zu Beginn seiner Klage die Rede war, den Zwang zum immer erneuten Durchleben des Leidens Christi im Augenblick der Gralsenthüllung als Folge einer »Strafe« des »gekränkten« Gottes. So ist es nur konsequent, dass diese Passage in ihrem dramatischen Impuls sowie mit den Wehelauten (1) und dem umgekehrten Amfortasmotiv (2) dem ersten Ausbruch in Takt 1259 entspricht und sie durch die hinzugefügten Worte gleichsam nachträglich »erklärt« – mit einer bedeutenden Ausnahme: Statt der gezackten Figur (3) erklingt hier zweimal das Kundrymotiv. Dadurch wird eine weitere semantische Ebene deutlich: die Verknüpfung zwischen der Verfehlung des Amfortas, der Kundrys Verführung nicht widerstehen konnte, und dem Hohnlachen Kundrys angesichts der christlichen Passion: Christus kann sich in doppelter Weise »gekränkt« fühlen: durch Kundry, die ihn verlacht hat, und durch Amfortas, der sich als Stellvertreter Christi ausgerechnet ihr, der Höhnenden, hingegeben hat. Aus der Perspektive des Amfortas erscheint Christus hier als der strafende, richtende Gott – ein Aspekt, der Wagner ansonsten fern lag. U LR IK E K IENZLE

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»aus tiefster Seele Heilesbuße zu ihm muß ich gelangen« (I, 1335 ff.) Amfortas verlangt es inmitten seiner Qualen nach der Nähe Christi, nach seinem »Weihegruße«, wie es unmittelbar zuvor heißt. Er weiß, dass nur in der Versöhnung mit Christus sein Leiden ein Ende finden kann. Hier erscheint das Motiv der Heilandsklage aus der Perspektive des Amfortas in einer fragmentarisch zerrissenen, von Pausen durchbrochenen, stockenden Variante. Es sind Figuren, die aus der barocken Tradition der Affektenlehre bekannt sind: Mit solchen Sospiri-Figuren bezeichnete man den Affekt des Zagens, des Zögerns, der Angst. Doch das Motiv mündet hier in die Gralssexten ein, die als ein Zeichen der Hoffnung auf eine Wiederbegegnung mit Christus zu verstehen sind. Nicht der strafende Gott wird hier angesprochen, sondern der verzeihende; der von Reue gequälte Gralskönig nähert sich ihm mit der Geste des Bittenden. »[...] der dort dem Erlöser die Wunde stach, aus der mit blut’gen Tränen der Göttliche weint’ ob der Menschheit Schmach« (Takt I, 1369) Die Parallelität von Amfortas’ Wunde mit derjenigen von Christus ist durch die Intonation des umgekehrten Amfortasmotivs betont (2); es fehlt die gestische Figur des Aufbegehrens (3); stattdessen wird im zweiten Teil dieser Periode (Takt 1372) der schmerzlich dissonierende Themenkopf (Wehelaute) mit den absteigenden Terzparallelen stark akzentuiert. Der Topos des Weinens und Klagens, der damit ausgedrückt ist, steht in Beziehung zu den »blut’gen Tränen«, die aus der Wunde Christi fließen. Der Text dieser Passage verweist mit seiner eigentümlichen Blut- und Wunden-Mystik deutlich auf die Tradition des Pietismus im 18. Jahrhundert: Noch die Oratorientexte Johann Sebastian Bachs (wie zum Beispiel die Tenorarie »Erwäge, wie sein blutgefleckter Rücken in allen Stücken dem Himmel gleiche geht« aus der Johannespassion) sind geradezu von einer Wollust der Versenkung in den Anblick der Wunden Christi geprägt. Anders als dort verbindet sich für Amfortas die Meditation über das körperliche Leiden Christi jedoch nicht unmittelbar mit der Gewissheit der Erlösung, sondern sie konfrontiert ihn vielmehr mit der eigenen Sünde. »Du Allerbarmer, ach Erbarmen! Nimm mir mein Erbe, schließe die Wunde« (I, 1393 ff.) Dies ist Höhepunkt und Conclusio der großen Szene des Amfortas: ein inständiges Flehen um Mitleid und Vergebung, gerichtet an Christus als den »Allerbarmer«. Wie im Vorspiel erwächst die Heilandsklage hier aus dem 87

DIE SA K R A LE MUSIK DE S PA RSIFA L


Speermotiv heraus; simultan dazu erklingt jedoch in den tiefen Streichern zuerst das Kundrymotiv, sodann das Amfortasmotiv in einer Variante, die es durch rhythmische Variation und eine abstürzende Zweiunddreißigstel-Figuration dem Kundrymotiv annähert. Die sogenannten Wehelaute bilden den Mittelteil, der vom zweimaligen Erklingen des Speermotivs eingerahmt wird. Auch die anschließenden Seufzerfiguren (I, 1399) entsprechen der Variante aus dem Vorspiel (I, 101), es fehlt jedoch das befreiende Ausschwingen des Doppelschlags. Vielmehr erklingt nach einem harmonisch offenen Schluss die Verheißung »Durch Mitleid wissend, der reine Tor, harre sein, den ich erkor« – dies ist gleichsam die Antwort Christi auf die verzweifelte Anrufung durch Amfortas. — Zwischen diesen Abschnitten stehen motivisch ungebundene, deklamatorische Passagen oder solche, in denen Gralsmotiv und Abendmahlthema, das Kundry- und sogar das Klingsormotiv (I, 1360 ff.) erklingen. Die fünfmalige, eindringliche Intonation der Heilandsklage in der Szene des Amfortas (die »Wehe«-Rufe zu Beginn sind mitgezählt) markiert somit die innere Dramaturgie des großen Monologs: das Leiden des Amfortas in Verschränkung mit dem Leiden des verratenen Christus. Aus der Perspektive des Amfortas sind dies: Schmerz (»Wehe!«) – »Strafe« – »Heilesbuße« – Zerknirschung über die eigene pervertierte Identität mit Christus – Schrei nach »Erbarmen«. Aus der Perspektive Christi: das Leiden des »gekränkten Gnadenreichen« über Amfortas’ Fall – die »blut’gen Tränen« und das »heilige Sehnen« des Mitleids angesichts der »Schmach« der Menschheit – die Verheißung der Erlösung durch den reinen Toren. Das Motiv der Heilandsklage akzentuiert somit ein metaphysisches Geschehen – die Gefährdung der Heilstat Christi durch das Versagen des Gralskönigs.

DIE SA K R A LE MUSIK DE S PA RSIFA L

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Julie Kniese, 1918

Es war im Jahre 1882 in Bayreuth nach der letzten Parsifal-Aufführung. Richard Wagner versammelte noch einmal seine Freunde und Getreuen um sich, um, ehe sie alle auseinandergingen und Bayreuth verließen, noch einige Abschiedsworte an sie zu richten. Wagner stand etwas erhöht auf einem Podium vor den Anwesenden, als plötzlich, während er sprach, eine seltsame Veränderung mit ihm vorging. Sein Körper erschien, obwohl die Gestalt als solche blieb, wie sie war, hell und völlig durchsichtig, so durchsichtig, dass die hinter ihm befindlichen Gegenstände ganz klar und deutlich hindurch zu sehen waren. Diese Erscheinung dauerte nicht nur Augen­ blicke, sondern blieb während geraumer Zeit, auch dann noch, als er abschiednehmend durch die Reihen der Anwesenden ging. Von den damals Anwesenden hat nachher niemand ­Wagner, der dann nach Venedig reiste, wo er bekanntlich am 13. Februar 1883 starb, mehr lebend gesehen. 89

KOLUMN EN T IT EL



← Nikolay ­Sidorenko als damaliger Parsifal, Jonas Kaufmann als Parsifal, Elīna Garanča als Kundry und Wolfgang Koch als Klingsor


Michael Kraus

ZUM SINN WIRD HIER DER KLANG

»Du siehst, mein Sohn, zum Raum wird hier die Zeit«, sagt der altersweise Gralsritter Gurnemanz zum jugendlich-ungestümen Toren Parsifal, als beide sich im 1. Akt zur Gralsburg aufmachen. Richard Wagner hat die Transition des Einen in das Andere immer gelebt. Der Künstler Wagner ist nicht vom »homo politicus« zu trennen, der Schriftsteller nicht vom Komponisten, der Mensch nicht von seinem Werk. Diese starke Komplexität macht Wagner für die Nachwelt so faszinierend wie kontrovers, dass Leonard Bernstein einst gestand: »I hate him! On my knees.« Wagner selbst sah sich vor allem als Schriftsteller. Dies mag erstaunen, ist er uns heute doch als Komponist wertvoll, wohingegen seine Bühnensprache sperrig und fremd erscheint, vom politischen Gehalt seiner Schriften ganz zu schweigen! Aber an Melodien um ihrer selbst willen war Wagner nicht gelegen. Sein rein musikalisches Œuvre ist überschaubar, während seine Musikdramen bereits zu seinen Lebzeiten weit über das hinausgingen, was Oper, damals noch vorwiegend von Melodie und Schönklang geprägt, in landläufigem Sinn bedeutete. Wagner wollte den singenden Menschen als Medium seiner Botschaften an die Welt. Er sollte dem Klang eine Bedeutung, einen Sinn geben. Seine letzte Oper Parsifal nimmt insofern von Anfang an eine besondere Stellung unter seinen Bühnenwerken ein, als geplant war, sie einzig und allein der Spielstätte Bayreuth vorzubehalten. Das Werk war explizit für die speziellen Gegebenheiten des von ihm neu erbauten Hauses geschaffen; bis heute stellt es besonders bei Parsifal seine einzigartigen Vorzüge unter Beweis: Nirgendwo auf der Welt ist die Balance zwischen Bühne und Orchestergraben so ausgewogen und sängerfreundlich wie in Bayreuth. Und gerade MICH A EL K R AUS

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für das »Bühnenweihfestspiel« mit seinen mystischen Klängen ist der Raum ideal. Richard Wagner konnte Parsifal nur einen einzigen Sommer, 1882, er­ leben. Wenige Monate später starb er und seine Witwe Cosima übernahm sein künstlerisches Erbe. Erst unter ihr entwickelte sich die Strahlkraft des Mythos Bayreuth, die bis heute anhält. Gleichzeitig aber begann unter ihr auch eine Entwicklung, die Bayreuth immer mehr in Richtung eines Tempels deutscher Nationalkunst mit Wagner als oberster Gottheit zu machen ­suchte. Als Gegensatz zur »heil’gen deutschen Kunst« (Meistersinger) hatte Wagner zwar die »welsche« (d. h. italienische und französische) Kunst als »Tand« abgetan, was vor allem Ausdruck seiner politischen Gesinnung war. Gleichzeitig liebte er Italien, wo er auch starb. Besonders in seinen letzten Jahren verbrachte er dort viel Zeit und holte sich gerade für Parsifal starke Inspirationen. Auch für die italienische Gesangskunst, zu dieser Zeit unangefochten das Maß aller Dinge, fand er lobende Worte; Vincenzo Bellinis Norma galt seine größte Bewunderung. Cosima Wagner hingegen suchte die Superiorität des deutschen Gesangswesens mit der Einführung einer eigens dafür geschaffenen Bayreuther Stilbildungsschule zu etablieren. Eine neue Sängergeneration sollte den Gesang in ihrem Sinne revolutionieren. Damit erlitt sie letzten Endes Schiffbruch. Zu sehr war diese neue »Technik« auf reine Muskelkraft ausgelegt; eine künstlerische Allegorie zum wilhelminischen Kaiserreich, wenn man so will. Cosima musste sich damit abfinden, dass große Wagnersänger nicht mit Gewalt zu züchten waren. Der große Bayreuther Parsifal der Jahrhundertwende war ironischerweise der jahrelang in Wien tätige Belgier Ernest Van Dyck, der Massenet-Werther der Uraufführung – alles andere also als ein germa­ nischer Wagnerrecke. Als am 31. Dezember 1913 die dreißigjährige Schutzfrist des Parsifal ­endete (was Cosima vergeblich zu verhindern suchte), gab es an den Theatern kein Halten mehr. Ein regelrechter Parsifal-Boom brach an den Bühnen los. Das Werk wurde schnell zu einem Pfeiler des internationalen Opernkanons. Dennoch ist Parsifal bis heute immer ein besonderes Theaterereignis, nicht nur wegen seiner kolossalen Länge und Schwierigkeit der künstlerischen Interpretation. Dem Werk haftet eine Größe und Erhabenheit an, die es für viele Wagner-Bewunderer zu einer Art Heiligtum hat werden lassen. Nicht umsonst wird Parsifal wegen seiner immanenten christlichen Symbolik oftmals rund um Ostern gespielt. Der Besuch der Aufführung ist dann für so manchen Besucher Äquivalent für Osterspaziergang und Auferstehungsgottesdienst in einem. Lange galt auch nach Ende des ersten Aktes eine Art Applausverbot, um die Weihe des Augenblicks nicht zu zerstören. Insgesamt hat Parsifal im Laufe der Zeit aber nicht zuletzt durch die Geschichte des vergangenen Jahrhunderts zweifellos als nationales und spirituelles Identifikationsobjekt an Bedeutung verloren. 93

Z UM SIN N W IR D HIER DER K LA NG


Für Sänger_innen ist eine Parsifal-Aufführung immer ein Fest. Denn Wagner hat trotz aller Anforderungen, die er ihnen oft zumutet, hervorragend für die Stimme geschrieben. Es ist bekannt, dass er, bevor er sich an die Komposition machte, oftmals vorab Lesungen des Texts vor handverlesenem Publikum abhielt. Man kann annehmen, dass er bei diesen Vorträgen die Verbindung von Wort und Ton konzipierte und überprüfte. Die musikalische Stimme folgt dadurch immer dem sprachlichen Duktus. Parsifal ist ein Permanenz-Rezitativ. Der Sinn bekam einen Klang! In den Spätwerken Wagners gibt es eine Reihe von Gemeinsamkeiten. Da ist zum einen die Trias: jugendlicher Held (Tenor) – alternder Held (Bass/ Bariton) – »Eunuch«, also der lieblos Impotente (Charakterstimme, meist Bariton oder Bassbariton); Archetypen seiner eigenen Wünsche und Ängste. In Parsifal sind dies Parsifal, Amfortas und Klingsor. Ein wiederkehrender dramaturgischer Kniff sind auch die großen Erzählstränge, ohne die der Inhalt der Werke für das Publikum nicht begreifbar wäre. Auf diese Weise wird in Parsifal nicht der Titelheld, sondern der Gralsritter Gurnemanz zum Ruhepol und Angelpunkt, ja fast zur Hauptfigur des Werks. Seine Erzählung im ersten Akt ist wohl die längste in allen Wagner-Opern. Sie verlangen einem Sänger eine sprachlich-interpretatorische Autorität von hohen Graden ab. Daher gehört Gurnemanz zu den großen Altersrollen von Wagnerbässen. Ihn können sie auch noch zu einem Zeitpunkt ihrer Karriere singen, wenn sie exponiertere Partien wie Wotan oder Hagen bereits ad acta gelegt haben. Dafür dürfen sie im dritten Akt beim Karfreitagszauber die Stimme balsamisch strömen lassen. So gut wie alle großen deutschsprachigen Bässe haben sich diese Partie, die oft den größten Erfolg des Abends einheimst, nicht entgehen lassen. Auch in Wien waren legendäre Bässe des Hauses wie Richard Mayr oder Hans Hotter, der bei der ersten Neuproduktion des Werks am Haus 1961 unter Herbert von Karajan den Gurnemanz sang, wichtige Rollenvertreter. In späteren Jahren konnte man Karl Ridderbusch oder Kurt Rydl häufig in dieser Rolle erleben. Sogar Cesare Siepi, der große Don Giovanni, ließ es sich nicht nehmen, den Gurnemanz einige Male in Wien zu singen. Der leidende Gralskönig Amfortas gehört zu den schönsten Rollenpor­ träts, die Wagner geschaffen hat. Seine zwei großen Szenen im ersten bzw. dritten Akt sind Höhepunkte jeder Parsifal-Aufführung. Die Partie bietet dem Interpreten eine unerhörte stimmliche Bandbreite, vom leisesten Piano bis zum gequälten Schmerzensschrei. Dadurch kann Amfortas sowohl von jungen Heldenbaritonen wie von eher lyrischen, aber bereits mit einer gewissen Reife ausgestatteten Baritonstimmen gesungen werden. So findet man unter den Wiener Amfortas-Interpreten der Nachkriegszeit balsamische Stimmen wie die von Eberhard Waechter oder Bernd Weikl als auch dramatische wie die von Theo Adam und Falk Struckmann. Viele werden sich auch noch an das beeindruckende Rollenporträt von Thomas Quasthoff erinnern. Eher vom MICH A EL K R AUS

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Bass her kommende Heldenbaritone können in späteren Jahren ihrer Karriere dann von Amfortas zu Gurnemanz wechseln, wie dies auch Adam und Struckmann taten. Parsifal hat es einigermaßen schwerer, das Publikum für sich zu gewinnen. Wenn er auch die Titelrolle singt, so hat Wagner ihm vergleichsweise weniger Möglichkeiten gegeben, zu reüssieren. Oft ist er in den Szenen der anderen nur Stichwortgeber; in der zentralen Abendmahlszene des 1. Aktes ist er gar ganz zum Schweigen verurteilt. Erst im 2. Akt hat er seinen großen Moment (»Amfortas! Die Wunde!«), wenn er das Ausmaß seiner Schuld erkennt, und am Ende der Oper, als er die Verantwortung für die Gralsgesellschaft übernimmt (»Nur eine Waffe taugt«). Von allen großen Wagner-Tenorpartien ist Parsifal die kürzeste. Eine ideale Einstiegspartie für das Wagnertenorfach, könnte man also meinen. Was sie für junge Tenöre dennoch oft wenig reizvoll erscheinen lässt, ist ihre relativ tiefe Lage, die es einem Plácido Domingo gestattete, die Rolle noch zu singen, als er eigentlich bereits ins Baritonfach gewechselt hatte. Jüngere Tenöre sind meist mehr in der Höhe zu Hause, wo Parsifal wenig zu bieten hat. Gut hingegen ist Parsifal für hohe Baritone, die den Sprung ins Tenorfach wagen wollen. Oft ist Parsifal aber bereits ein erfahrener Interpret. Auch wenn er nur im 2. Akt auftritt, so verlangt die Partie des Klingsor doch einen erstklassigen, wortprägnanten Charakterbariton und einen exzellenten Schauspieler dazu, wie etwa Walter Berry, der die Rolle des abtrünnigen Gralsritters oft in Wien sang. In den letzten Jahren hat sich vermehrt auf den Bühnen eingebürgert, dass man Amfortas und Klingsor sogar von einem Sänger singen lässt, was dramaturgisch durchaus reizvoll sein kann. Stimmlich sind die beiden Partien jedoch sehr unterschiedlich. Wer aber die gesamte Bandbreite seines Könnens an einem Abend zeigen möchte, hat mit dieser Doppelaufgabe eine lohnende Herausforderung. Bereits bei Tannhäuser und Lohengrin treffen wir auf die divergierenden Frauenbilder der Heiligen und der Verführerin, der »weißen« und der »roten« Frau (Elisabeth – Venus, Elsa – Ortrud). Im Parsifal verschmolz Wagner beide Archetypen zu einer faszinierenden Einheit und schuf damit eine der schillerndsten Figuren der gesamten Opernliteratur. Kundry, die »wilde Reiterin« zwischen den Welten, ist in jeder Hinsicht eine hochdramatische Partie. Grundvoraussetzung ist dabei nicht nur das richtige Stimmmaterial, perfekte Stimmbeherrschung, szenische Erfahrung und eine Lust, bis an die Grenzen der körperlichen Belastbarkeit zu gehen. Kundry muss anfangs eine dunkle, fast schon hässliche Stimmfarbe zeigen, um kurz darauf im 2. Akt Parsifal mit Weichheit der Tongebung zu umschmeicheln. Der Schluss dieser Szene verlangt einer Sängerin dann wirklich alles an kalkulierter Stimmkraft ab. Karajan war 1961 in Wien davon überzeugt, dass keine Sängerin fähig sei, beide Eigenschaften perfekt zu vereinen und besetzte Kundry doppelt: mit der ausdrucksstarken Elisabeth Höngen und der jungen Christa Ludwig, 95

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­ amals sicher die schönste Mezzosopranstimme weit und breit. Aber damit d nimmt man Kundry letztlich den Reiz der Herausforderung. Besonders ­prädestiniert für diese Mammutaufgabe waren seit jeher jene Stimmen, die »zwischen den Fächern« angesiedelt waren, also hohe Mezzosoprane wie Waltraud Meier. Sie bot über 25 Jahre auch in Wien das unerreichte Rollenporträt. Doch auch Soprane wie etwa Leonie Rysanek, Gwyneth Jones oder Angela Denoke feierten mit Kundry große Erfolge in Wien. Eine kleine, aber wesentliche Rolle in Parsifal spielt Titurel, der allseits verehrte Vater des Amfortas, der als Ex-König quasi im Grabe lebend nur noch durch den Anblick des Grals am Leben erhalten wird. Seine kurzen Interventionen während der Gralszeremonie im 1. Akt (die oftmals aus dem Off gesungen werden) verlangen einen echten »schwarzen« Bass von stimmlicher Autorität. Neben den Hauptpartien gibt es in Parsifal noch Gralsritter, Knappen und eine pastose Alt-»Stimme von oben«, die das Mantra des Werks »Durch Mitleid wissend, der reine Tor« zu Ende des 1. Aktes noch einmal eindringlich im Raum verströmen lässt. Von besonderer Wichtigkeit bei den Nebenrollen sind Klingsors sechs Solo-Blumenmädchen, die sich aufgrund der Schwierigkeit ihrer Aufgabe keine stimmlichen Schwächen erlauben dürfen und noch dazu in absoluter dynamischer Ausgewogenheit zueinander stehen sollten. Die Blumenmädchen werden immer von ersten Kräften des Hauses gesungen. So findet man unter ihren Wiener Interpretinnen größte Sängerinnen wie Lucia Popp, Hilde Güden oder Gundula Janowitz. Gut besetzte Blumenmädchen sind ein hörbarer Beweis für die Klasse einer gelungenen Parsifal-Aufführung. Das Geheimnis eines großen Parsifal-Abends: Alle Teile müssen zusammenpassen. Dann kann Parsifal zum Ereignis werden, etwas, das über den Alltag hinaus in etwas Transzendentales führt, wo die Dinge zur Einheit verschmelzen, wo der Sinn zum Klang wird und der Klang zum Sinn.

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→ Ludivic Tézier als Amfortas

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Oliver Láng

VON ANFANG AN AUSSER­ ORDENTLICH Parsifal im Haus am Ring

Der erste Wiener Parsifal ist ein Kaffeehaus. Dieses liegt in der Walfisch­gasse 13, also genau auf der Achsenmitte von Hofoper und Musikverein und ist das natürliche Biotop der Musikschaffenden – und Wagnerianer: Man trifft dort Gustav Mahler, Instrumentalisten der Hofoper, das Ensemble. Und mitunter auch Literaten wie Karl Kraus oder Robert Musil. Gegründet wurde das Lokal in den 1880er Jahren jedenfalls von Julius Oselmayer, einem Wagnerianer, der einen Wiener Parsifal nicht erwarten konnte und Eigeninitiative ergriff. – Wie viele andere übrigens, die in zahlreichen Briefen an die Hofopern-Direktion immer drängender fragten: Wann endlich ist es so weit? Wann? Erst am 14. Jänner 1914. Denn im Gegensatz zu anderen internationalen Opernhäusern wie etwa der New Yorker Metropolitan Opera hält sich Wien an das von Wagner verhängte Verbot, Parsifal jenseits von Bayreuth aufzuführen und wartet das Auslaufen der Schutzfrist am 31. Dezember 1913 ab. Hofopern-Direktor Hans Gregor weiß freilich, was auf dem Spiel steht: Die Wiener Neuproduktion wird sich dem Vergleich mit Bayreuth aussetzen ­müssen, die Erwartungen sind hoch gesteckt und die bekannt scharfzüngige Musikkritik, durchsetzt mit erklärten Wagnerianern, wartet nur auf eine Steilvorlage. Vor allem beschäftigen sich der erste Wiener Parsifal-Dirigent OLI V ER LÁ NG

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Franz Schalk und er intensiv mit der drängenden musikalischen Frage: Wie soll man ein Werk, das für einen speziellen Raum mit einem räumlich und damit akustisch speziellen Orchestergraben geschrieben wurde, in ein anderes Haus transferieren? Wie den gedeckten Orchestergraben Bayreuths simulieren? Oder doch besser ignorieren? Gregor ordnet Umbauten im Haus an und lässt, um der gewünschten Dämpfung des Klanges willen, den Wiener Orchestergraben absenken und zum Teil überkuppeln. Gleichzeitig wird die Bühne angepasst: Sechzig Nächte lang, jeweils nach Vorstellungsende, werkt die technische Abteilung, um eine zusätzliche Versenkung einzubauen und so die Möglichkeit zum Bühnenzauber zu erhöhen. Alfred Roller, Wiens genialster Bühnenraumgestalter, wird herangezogen, um Bühne und Kostüme zu erschaffen, eine herausragende, Bayreuth-erprobte Sängermannschaft tritt an. Gregor selbst ringt immer wieder mit klassischen Operndirektoren-­ Sorgen: Anna von Bahr-Mildenburg will zwischenzeitlich die Kundry nicht singen, das Produktionsbudget explodiert. 191.000 Kronen wird der Parsifal letztendlich kosten, das ist fast das Doppelte des gesamten NeuausstattungsBudgets des Vorjahres. Die Stimmung ist also angespannt und wird durch einen Parsifal-Kult noch weiter angeheizt. So bringt etwa der bedeutende Wiener Musikschriftsteller Richard Specht 1914 einen Parsifal-Jahreskalender heraus, der mit Nachdichtungen und Musikmotiven der Oper nur so um sich wirft, und großformatige Zeitungs-Annoncen bewerben geschäftstüchtig »Einzig existierende Grammophon-Aufnahmen« der Oper. Und auch wenn in einer Zeitung kolportiert wird, man hätte die Neuproduktion nicht ausreichend geprobt, so widerlegt der tatsächliche Arbeitseinsatz diese Behauptung: Noch bei der Generalprobe, am Tag vor der Premiere, wird bis drei Uhr morgens verbessert und optimiert. Diese ist übrigens gut besucht, selbst aus dem Ausland sind zahlreiche Kritiker angereist, auch Operndirektoren und Künstlerinnen wollen vor allen anderen die Aufführung erleben. 14. Jänner: Während im Haus noch die letzten Vorbereitungen getroffen werden, stellen sich bereits die ersten Besucherinnen und Besucher an: Über Nacht campieren Jugendliche vor der Hofoper, um Stehplatzkarten zu ergattern, Ohnmachts- und Ermattungsanfälle inklusive, bis endlich, um sieben Uhr morgens, die Kassa geöffnet wird. Das nächstgelegene Polizeikommissariat schickt Wachleute, die die Kartenvergabe überwachen und für Ordnung sorgen. Darüber hinaus vergibt die Direktion an Studierende der Universität ermäßigte Karten, die augenblicklich ausverkauft sind. Ausverkauft ist ohnehin das Wort der Stunde – und das, obgleich der allgemeine Kartenpreis vom doch sehr geschäftstüchtigen Direktor vervierfacht (!) wurde. Die erstaunliche – auch soziale – Dimension dieser Erstaufführung wird durch die reiche Berichterstattung unterstrichen: Seitenweise schreiben die Zeitungen über den Parsifal, wobei sich eine klare Zweiteilung ergibt: Das Kulturereignis an sich wird genau besprochen, parallel aber auch das Ge 99

VON A N FA NG A N AUS SER­O R DEN T LICH


sellschaftliche. So wird zum Beispiel die Frage ventiliert, wie man korrekt zu erscheinen habe, da die Vorstellung von 16 bis knapp 23 Uhr dauert. Nachmittagstoilette – also die Damen in den Logen sogar mit Hut – oder großes Abendkleid? Der Aufmarsch der Besucherinnen im Vestibül wird jedenfalls von einer staunenden Zuschauerschar verfolgt, detailliert beschreiben Redakteure nicht nur, wer alles anwesend ist, sondern auch, wie glitzernd und glänzend der Schmuck ist. Die Direktion beraumt lange Pausen an, nicht nur, um einen Toilettenwechsel – siehe oben – zu ermöglichen, sondern auch, um dem Publikum Gelegenheit zur Verköstigung in den umliegenden Restaurants zu geben. Zusätzlich rüstet die Hofoper für diese Gelegenheit kulinarisch auf: Es werden in den Buffets nun auch Sandwiches und Bier angeboten, als weitere Novität servieren Angestellte Tee in die Logen. Die Hofoper vergisst auch nicht, die umliegenden Lokale vor dem Besucheransturm zu warnen: Organisation ist alles. So aufwändig und überzogen das klingen mag – das eigentliche Opernerlebnis kommt daneben nicht zu kurz. Es singen allererste Kräfte wie Erik Schmedes (Parsifal), Josef Schwarz (Amfortas), Richard Mayr (Gurnemanz), Friedrich Weidemann (Klingsor) und Anna von Bahr-Mildenburg (Kundry), ja, mehr noch: Gleich am nächsten und übernächsten Tag wird mit teils alternativer Besetzung erneut Parsifal gespielt. Alfred Rollers Bühnenbild gibt sich, nach seinen stilisierten, revolutionären und symbolhaft reduzierten Entwürfen der Vergangenheit, mitunter erstaunlich realistisch: mächtig knorrige, nach oben mit Grüntönen lichter schattierte Baumriesen zu Beginn, dann die Gralsburg als gotischer Dom; die Bayreuther Wandeldekoration, also das Vorbeiziehen der bemalten Hintergrundprospekte, ersetzt Roller durch ein Spiel mit Einzelprospekten und beweglichen Wolkenschleiern. Ganz in seinem mehrfach erprobten Personalstil ist die Burg Klingsors, die durch dunkle, aufgetürmte Quader ausreichend bedrohlich wirkt; der Zaubergarten wird mit zarten Girlanden gezeichnet, die nicht allen gefallen: »Die buhlerische Lust, die nach dem Willen Wagners hier gezeichnet sein soll, war im Bild zu einer rosafarbenen Langeweile herabgesetzt.« (Wiener Tagblatt). Dann wieder eine Lärchen-lastige Naturlandschaft im 3. Aufzug inklusive einer pittoresk-rustikalen Holzmeisterhütte. Die Reaktion auf die Premiere ist geteilt. Wagnerianer entdecken in der Produktion zu viel Realismus und zu wenig Bayreuth, andere empfinden diese Darstellung jener im Festspielhaus sogar überlegen. Grundlegende Einigkeit herrscht über die generell hohe Qualität des Gebotenen, die in der musikalischen Gestaltung gipfelt. Zufriedenheit mit dem Erreichten reflektiert auch ein öffentlicher Brief des Direktors an seine Mitarbeiter, in dem er nicht nur dankt, sondern auch eine finanzielle Remuneration in Aussicht stellt. Dass er Mehreinnahmen von über 60.000 Kronen verzeichnet, gibt dem Unternehmen auch kaufmännisch recht. Bis Juni 1914 erklingen 26 weitere OLI V ER LÁ NG

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Parsifal-Aufführungen, und das, obgleich ein zweites Haus, die heutige Volksoper, wenige Tage nach der Hofoper auch einen Parsifal herausbringt. Ja, es geht sogar so weit, dass Gregor zeitweise sogar Fuhrwerke organisiert, die dem Publikum nach dem späten Vorstellungsende eine einfache Heimfahrt ermöglichen. Nach rund 100 Aufführungen und knapp 20 Jahre später, am 13. Februar 1933, kommt, zu Wagners 50. Todestag, ein neuer Parsifal heraus. Nun dirigiert Operndirektor Clemens Krauss, Lothar Wallerstein inszeniert. Die Bühnenbilder von Roller werden zum Teil beibehalten, zum Teil durch neue von Robert Kautsky ersetzt, die allerdings bei manchen Rezensenten auf wenig Gegenliebe stoßen. Beredt setzt sich Regisseur Wallerstein mit der szenischen Interpretation Wagners auseinander und schreibt gegen eine falsch verstandene Buchstabengenauigkeit an: Wer sich stur auf Tradition berufe und starr einem vermeintlichen Sinn folge, verstünde Wagners Intentionen, die durch die mangelhafte Technik des 19. Jahrhunderts in ihrer Darstellung gehemmt waren, nicht: »Niemals dürfen sich die Vorschriften, die Wagner seinen Werken als Segen mitgab, zum Fluche wandeln und eine starre, unlebendige Mauer bilden, die das Vordringen zum Geiste seiner Werke verwehrt. Die eigene Denkfaulheit und Umstellungsträgheit, seine Vorurteile ›Tradition‹ zu nennen, ist Sünde an Wagners Dichtung und Musik.« Doch Wallerstein bleibt zumindest von Teilen der Rezensenten unverstanden, zu wenig Fantasie wird ihm vorgeworfen, wohingegen der Komponist Joseph Marx gerade das Symbolische, aber auch Erklärende der Gestaltung positiv hervorhebt. Ungeteiltes Lob gibt es für das Dirigat Clemens Krauss’ sowie für Richard Mayr, der nach wie vor den Gurnemanz singt; einen südlicheren, italienischen Zugang erspürte so mancher bei Max Lorenz in der Titelpartie, mit »Verdi-Brio« singe er Wagner, meint ein Rezensent, der gleichzeitig in Emil Schippers einen »fast italienischen Piano-Amfortas« erspürt. Dass dieser Wagner-Gedenktag auch eine über die Oper hinausgehende Wirkung hat, zeigt die Tatsache, dass die Vorstellung nicht nur vom Bundespräsidenten Wilhelm Miklas, sondern auch von Mitgliedern der Regierung besucht wird. Mit Aufkommen der NS-Diktatur darf Wallersteins Name, obgleich seine Inszenierung weiterhin gespielt wird, nicht mehr am Abendzettel geführt werden, stattdessen liest man nun »Spielleitung Erich von Wymetal«. Und der allgemeinen Tendenz, Parsifal musikalisch immer getragener zu dirigieren, wird gerade auch in diesen Jahren der Diktatur mit einer entsprechenden Tempo-Verbreiterung gefolgt, als pathetisches Zelebrieren von Bedeutungsbetonungen. So folgt etwa der Dirigent Leopold Reichwein, einer der Zentralfiguren der Wiener NS-Kulturszene und nun auch in der Staatsoper häufig angesetzter Orchesterleiter, mit gedehnten Tempi genau dieser Sichtweise. Mit der Zerstörung des Hauses am Ende des Zweiten Weltkriegs endet vorerst die Wiener Aufführungsgeschichte. Das Ausweichquartier Theater 101

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← Georg Zeppenfeld als Gurnemanz und Elīna Garanča als Kundry


an der Wien scheint für einen Parsifal ungeeignet, man spielt dort zwar Tristan und Isolde, Walküre und Meistersinger, doch Parsifal, Tannhäuser und der größte Teil des Ring des Nibelungen kommen nicht zur Aufführung. Eine kleine Ausnahme bilden die beiden konzertanten (Rundfunk-)Aufführungen des 3. Aktes im Jahr 1948 unter Rudolf Moralt. Und auch nach der Wiedereröffnung des Hauses am Ring im November 1955 bleibt der Spielplan zunächst Parsifal-frei: Zwar kann die Wiener Zeitung 1959 »Nach 15 Jahren leuchtet wieder der Gral« titeln, doch handelte es sich um keine Neuproduktion, sondern um ein Gastspiel der Staatsoper Stuttgart. Mit Wolfgang Windgassen als Parsifal, Gustav Neidlinger als Amfortas und Grace Hoffman hochbesetzt, aber dennoch – nur ein Gastspiel, wie immer wieder festgestellt wird. Die vier Vorstellungen betrachtet man gleichzeitig als einen Blick in die Zukunft. So führte der Kurier aus, dass »mit dieser Inszenierung (Georg Reinhardt) in Wien die erste moderne, wirklich durchdachte Wagner-Regie zu sehen ist, die dennoch keine Neo-Bayreuth-Kopie darstellt.« Das Neue Österreich weint hingegen – immer noch – den Resten der Bühnenbilder Alfred Rollers nach, das aktuelle scheint dem Rezensenten zu karg und zurückgenommen, wenn auch die Drehbühnentechnik endlich befriedigende Verwandlungslösungen bietet. Erst Herbert von Karajan, seit 1956 Direktor des Hauses, bringt 1961 den von vielen langersehnten neuen Wiener Parsifal heraus. Wieder sind die Erwartungen hochgeschraubt, denn: Karajan. Und: 17 Jahre Pause. Sowie: Parsifal. In seiner Doppelfunktion als Dirigent und Regisseur führt er zu einer meisterhaften Balance zwischen Szene und Musik, wie an sich die musikalische Seite (man kann es heute noch auf einer Aufnahme nachhören) überzeugt: Eberhard Waechter als Amfortas, Hans Hotter als Gurnemanz, Walter Berry als Klingsor, (etwas umstrittener) Fritz Uhl als Parsifal. Dass gleich zwei Kundrys – Elisabeth Höngen und Christa Ludwig – am Abendzettel stehen, entspringt keinem Irrtum, sondern einer dramaturgischen Überlegung: Man erlebt einerseits Kundry als Büßerin (1. Akt, 2. Akt 1. Szene und 3. Akt) in der Gestalt von Höngen als auch Kundry als Verführerin (2. Akt 2. Szene) in jener von Ludwig. Eine Überlegung, die Karajan einiges an Kritik einbringt, denn: Hatte Wagner nicht versucht, aus unterschiedlichen Vorlagen eine Figur zu erschaffen? Warum sie dann wieder aufbrechen? Übrigens nicht der einzige Aspekt, der an diesem Abend kritisch gesehen wird. Karajans Regiesprache betrachtet man einmal mehr als künstlerischen Nebenschauplatz seines musikalischen Genies, die legendäre Dunkelheit seiner Gestaltung stößt wie so oft sauer auf. »Regieführen ist ja sein Hobby«, wirft man ihm an den Kopf, wie auch sein »szenisches Unvermögen«. Als einer der wenigen Karajan-Verteidiger rittert Karl Löbl mit dem ungewöhnlichen Argument, die einzige Möglichkeit, Wagner anno 1961 überhaupt noch darstellen zu können, sei die maximale Abstraktion und minimale Darstellung. Die Inszenierung bleibt bis in die 1970er Jahre am Spielplan, wenn auch die Dopplung der Kundry bereits 1966 aufgegeben wird. OLI V ER LÁ NG

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Was 1979 folgt, ist eine Produktion – Inszenierung August Everding –, die von vielen als übermäßig konservativ, vor allem auch kitschig (Ausstattung: Jürgen Rose) betrachtet wird. Stellvertretend für andere, ähnliche Meinungen eine Anmerkung in der Wiener Zeitung: »Diese Neuinszenierung schlägt den Bogen nicht nur zurück zu einem gewissen Realismus, sondern ein bisschen zurück auch zur Zeit der Meininger und Makarts, die ganz bestimmt ihre Freude am zweiten Akt hätten, wo der Blumengarten zu einem Seidensaal geworden ist, bei dessen Anblick man das Gefühl, in ein gigantomanisch entworfenes Freudenhaus versetzt zu werden, nicht ganz losbekommt.« Auch hier die Situation aus 1961: Musikalisch top (Horst Stein dirigiert), szenisch umstritten. Doch so oder so: Die Inszenierung wird zur Bühne für ein umfassendes Aufgebot der wichtigsten Wagner-Interpreten und -innen des nachfolgenden Vierteljahrhunderts. Der nächste Parsifal, von Christine Mielitz inszeniert, räumt mit konventionellen Wiener Parsifal-Bildern radikal auf. Nun ist ein dem Untergang geweihter, hermetisch verschlossener und alles erstickender Männerbund zu erleben, der in schäbiger Umgebung einer nur noch mühsam zusammengehaltenen Form huldigt: Mielitz zeigt ein genau gedachtes Psychogramm einer deformierten Gesellschaft, die nichts so sehr bedarf wie einer Öffnung. Das Religiöse, in welcher Form auch immer, ist abgeräumt. Mit Johan Botha, Wolfgang Bankl, Thomas Quasthoff (seine einzige Staatsopern-Rolle), Robert Holl und Angela Denoke kann Donald Runnicles als Dirigent auf ein so einmaliges wie interpretatorisch überzeugendes Solistenquintett setzen. Einen gänzlich anderen Zugang verfolgt der lettische Regisseur Alvis Hermanis im Jahr 2017, indem er die Handlung in die Wiener Otto-WagnerKirche – kurz vor dem Ersten Weltkrieg verlegt: Hier entdeckt er eine Brutstätte des genial Neuen (symbolisiert durch den Gral), die zwei Systemträger unterschiedlich zu erreichen suchen: Klingsor als zutiefst diesseitig orientierter, positivistischer Wissenschaftler und Gurnemanz als spirituell Glaubender. Die nur selten gespielte Inszenierung wird in der Premierenserie von Semyon Bychkov dirigiert, es singen u.a. Nina Stemme, Gerald Finley, René Pape, Jochen Schmeckenbecher und Christopher Ventris. Nur vier Jahre später, 2021, wird Wien ein neuer Parsifal geschenkt: ­Musikdirektor Philippe Jordan dirigiert die Premiere einer von Kirill Serebrennikov inszenierten Produktion, in der Jonas Kaufmann, Elīna Garanča, Ludovic Tézier, Wolfgang Koch und Georg Zeppenfeld in den führenden Partien zu erleben sind. Ein neues, schon im Vorfeld aufsehenerregendes Kapitel der Inszenierungsgeschichte!

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→ Jonas Kaufmann als Parsifal und Elīna Garanča als Kundry



Paul Bekker

Der Gralstempel rückt in die Ferne des in Weihrauchsnebel gehüllten Phantoms einer Theaterethik. Klingsors Zaubergarten aber, Schöpfung der Lust und der Phantasie, wo alle Kräfte hinstreben, stets neue Täuschung erfahrend, stets neue Wunder erlebend, ist aus der tiefsten, überbegrifflichen Weisheit des Künstlers erschaut.

KOLUMN EN T IT EL

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Ilya Kucharenko und Sergio Morabito

SEREBRENNIKOV ALS ­ MUSIK­THEATER­ REGISSEUR

Als Kirill Serebrennikov Anfang der Nullerjahre das russische Schauspieltheater stürmte, wurde er rasch zu einer der Schlüsselfiguren der »neuen Regie«. In all seinen Stücken, unabhängig davon, wo er inszenierte – in experimentellen Studios oder an staatlichen Bühnen – beeindruckte er vor allem mit einer Eigenschaft: seiner Furchtlosigkeit. Damit ist nicht besondere Kühnheit gemeint, sondern schlicht das Fehlen von Angst: Angst vor einem Material, vor einer Verfahrensweise, vor einer künstlerischen Entscheidung. Serebrennikovs Produktivität macht vor nichts Halt. Diese Furchtlosigkeit, die man bei Serebrennikovs Inszenierungen geradezu physisch spürt, fasziniert die einen ebenso wie sie andere verärgert. In diesem Zusammenhang ist die Vorsicht, mit der Kirill Serebrennikov sich der Oper näherte, bemerkenswert. Eigentlich hätten ihm alle Türen offen gestanden. Die »Regieoper« (»Режопера«, russischer Neologismus für das sogenannte Regietheater in der Oper) erlebte im Russland der Nullerjahre eine nachträgliche Anerkennung und Blüte. Viele Theater einschließlich des Bolschoi- und des Mariinski-Theaters waren auf der Suche nach neuen Regie-Namen. Und schon damals war kaum zu übersehen, dass Serebren­ nikov zumindest als fortgeschrittener Hörer hinsichtlich der Oper kein Uneingeweihter war. Trotz dieser »Vorbelastung« setzte er seine ersten Schrit 109

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te auf der Opernbühne mit Bedacht. Offenbar mied er sehr bewusst klassische Werke und staatliche Bühnen und zögerte, den dank der Inszenierungen von Tcherniakov, Barchatov, Nekrošius sowie erstmals in Russland arbeitenden Regisseuren wie Peter Konwitschny entstandenen Trend der »aktiven Opernregie« übereilt aufzugreifen. In der ersten Phase seiner Karriere als Musiktheaterregisseur stellte sich Serebrennikov außergewöhnlichen Aufgaben. Ihn interessierten entweder gänzlich neue Partituren – Uraufführungen von Zeitgenossen und Weggefährten – oder in Russland unbekannte Werke von Komponisten des 20. Jahrhunderts wie Honegger, Orff und Strawinski. Diese Auswahl folgte offenbar dem Bedürfnis, nicht in den Kontext vorangegangener Interpretationen einzutreten und sich zudem weniger auf Sänger zu stützen als vielmehr auf Schauspieler und Performer, die in praktisch allen Musiktheaterstücken Serebrennikovs jener Zeit – auch unabhängig von den Erfordernissen der Partitur – zum Einsatz kamen. Bei dieser Auswahl spielte wohl auch seine Freundschaft mit Teodor Currentzis eine Rolle, dessen Hang zu halbszenischen Aktionen bekannt ist. Zusammen mit Currentzis und Evgeny Mironov, dem Schauspieler und Intendanten des Theaters der Nationen, sowie Roman Dolshansky, dem Theaterkritiker und Chefdramaturgen dieses Theaters, wurde Serebrennikov künstlerischer Leiter der Internationalen Festival-Schule für Zeitgenössische Kunst »Territorija«, die nun schon seit sechzehn Jahren in Moskau und anderen russischen Städten moderne performative Kunst präsentiert, die an den Nahtstellen verschiedener Genres balanciert. »Territorija« wurde ein hervorragender Übungsplatz für jene Aufgaben, die Serebrennikov im Musiktheater zu realisieren strebte. Alle seine Inszenierungen jener Zeit zeigten keine Synthese, sondern die Kollision unabhängiger Medien. Er ließ akustische und kinetische Installationen aufeinandertreffen und bezog dabei auch stets Elemente des Contemporary Dance und klassischer schauspielerischer Rezitation ein. Serebrennikov wählte entweder Partituren, die größere Partien für Schauspieler vorsehen, wie etwa Jeanne d’Arc au bûcher von Arthur Honegger (Moskauer Internationales Haus der Musik 2007), oder er dachte sich diese Rollen selbst aus, wie in De temporum fine comoedia von Carl Orff (Moskauer Tschaikowski-Konservatorium 2007). Mehr noch, er lud dazu Starschauspieler aus Theater und Kino ein: In seinen Inszenierungen spielten Fanny Ardant, Evgeny Mironov, Hanna Schygulla, Alla Demidova, Daniel Olbrychski u.a. Deren Bühnenspiel wurde in vielem von ihrer eigenen schauspielerischen Intuition und ihren Fertigkeiten im Umgang mit den Texten bestimmt. Die Chöre und Orchester, die unter der Leitung von Maestri wie Teodor Currentzis, Ion Marin und Vladimir Spivakov standen, wurden nur formal in den szenischen Raum integriert, und das Agieren der Musiker und Sänger unterschied sich kaum von einer konzertanten Darbietung. Den Sängern vertraute Serebrennikov keinerlei Storytelling an, dieses Recht blieb den Schauspielern, Tänzern, Performern sowie den Bühnenbildnern und ILYA K UCH A R EN KO U N D SERGIO MOR A BITO

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Videokünstlern vorbehalten. Die überaus tiefgreifenden und originellen Deutungsansätze dieser Aufführungen ergaben sich aus dem unerwarteten Zusammenstoß disparater Medien und Kontexte. In Strawinskis Perséphone (Moskauer Internationales Haus der Musik 2007) drang Französisch durch die Folie eines Gewächshauses, in dem die Zuschauer den alten Charon in abgetragenen Boxershorts und Unterhemd mit einem Schubkarren agieren sahen. In Bahnhof von Alexey Syumak (Zentrum für zeitgenössische Kunst Vinsavod 2008) wurde eine überwucherte Schmalspurbahn mit der Weltmeisterschaft für Rhythmische Sportgymnastik collagiert und das Ganze mit Texten aus Sophokles’ Antigone unterlegt. In Requiem von Alexey Syumak, einem von Serebrennikov in Auftrag gegebenen Werk (Tschechow Künstlertheater Moskau 2010), wurden die Vokalsätze – Vertonungen lateinischer liturgischer Sequenzen – mit einem eigens erstellten Video aus Wochenschaufragmenten kombiniert sowie mit Interventionen bekannter Schauspieler, die den Zuschauern von eigenen Kriegserinnerungen berichteten.

Falstaff Auf der großen Opernbühne debütierte Serebrennikov auf Einladung von Valery Gergiev 2006 im Petersburger Mariinski-Theater mit Verdis Falstaff. Verdis letzte Oper mit ihrem traurigen Humor, ihrem Figuren- und Ereignisreichtum scheint das genaue Gegenteil aller Partituren, die Serebrennikov bis zu jener Zeit inszeniert hatte (vielleicht davon abgesehen, dass diese Oper in Russland praktisch keine Rezeptionsgeschichte besitzt). Das Sujet dieser auf Shakespeare beruhenden musikalischen Komödie über die Klatschbasen von Windsor und einen über die Stränge schlagenden Fettwanst fordert eine entscheidungsfreudige Regie und Personenführung. Ausgehend vom Namen des Ehepaars Ford hatten Serebrennikov und sein Bühnenbildner Nikolai Simonov die Handlung in die Zeit des amerikanischen Wirtschaftsbooms der 30er- und 40er Jahre des letzten Jahrhunderts verlegt und die Figur jenes anderen Ford sowie die Erfolgsgeschichte seines berühmten Konzerns weidlich ausgenutzt. Allerdings zeigte sich im Verlauf der Aufführung, dass es weniger der Regisseur war, der die Handlung in die Epoche von Guys and Dolls verlegen wollte, als vielmehr die Helden selbst: russische Nouveaux riches der 1990er Jahre und ihre zweiten Ehefrauen, die im 21. Jahrhundert davon träumen, sich in Ikonen des schwarz-weißen Hollywoodkinos umzustylen. Dieses neue Selbstverständnis der russischen Eliten machte Serebrennikov zum Motor der gesamten Geschichte. Nachdem sie von gesundem Lebenswandel, exklusiver Mode, Etikette und vornehmer Zurückhaltung gekostet haben, vergehen die Klatschbasen von Windsor in ihren Schönheitssalons vor Langeweile, und ihre gleichgül 111

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tigen, aber eifersüchtigen Ehemänner vervollkommnen ihren Haken der rechten Hand nicht an der Bar, sondern an der Boxerbirne im Fitness-Studio. Den alten, dicken Falstaff mit seinen draufgängerischen Streichen und seiner philosophierenden Schamlosigkeit empfinden sie weniger als spaßig denn bedrohlich. Für sie verkörpert er, der die Bedingungen des neuen Gesellschaftsvertrags nicht akzeptieren will, belastendes Beweismaterial aus ihrem früheren Leben. Ein stilisierter Harvey Weinstein, der von glamourösen Starlets übertölpelt und gequält wird: Gestern noch waren sie froh, von diesem jovialen Sir beachtet zu werden, heute scheuen sie keine Anstrengung, um ihn unter die Erde zu bringen. In diesem Falstaff mischt sich das traditionelle Mitgefühl für den Protagonisten mit Abscheu, und die Tugendhaftigkeit der ausgelassenen Windsor-Ladys und ihrer Gatten wird sarkastisch angezweifelt. Dennoch war in seinem Falstaff das für Serebrennikov typische Markenzeichen der schmerzhaften Genauigkeit noch eher zaghaft ausgeprägt. Der Regisseur sparte es sich fünf Jahre auf, bevor er abermals mit einem klassischen Titel ein ehemals kaiserliches Opernhaus betrat.

Der goldene Hahn Rimski-Korsakows Goldenen Hahn inszenierte Kirill Serebrennikov 2011 auf der Neuen Bühne (Новая сцена), der alternativen Spielstätte des BolschoiTheaters während der Sanierung. Noch reicher an Erfahrung und technisch gerüstet, konnte Serebrennikov im Verein mit der Bühnen- und Kostüm­ bildnerin Galja Solodovnikova eine seiner wohl beispielhaftesten und detailreichsten Operninszenierungen schaffen. Dieser Goldene Hahn hat mit der Nachmittagsvorstellung eines Märchenstücks oder mit einer archaisierenden Moderne à la russe im Stil der Illus­ trationen von Ivan Bilibin und Wiktor Wasnezow nichts mehr zu tun. Die letzte Oper von Rimski-Korsakow, die auf dem gleichnamigen, keineswegs kindgerechten Märchen Puschkins basiert, kam aufgrund ihres Verbots durch die Zensur zu Lebzeiten des Autors nicht zur Aufführung und wurde erstmals 1909 in der Privatoper von Sergei Simin gezeigt; viel zu schallend war die Ohrfeige, die der Komponist den Mächtigen im Russland unter Nikolai II. am Vorabend der tragischen Katastrophen zu Beginn des 20. Jahrhunderts verpasste. Und Serebrennikov holte in seiner Inszenierung für diese Ohrfeige noch weiter aus. Die Handlung der Oper ist folgende: Der faule Zar Dodon, umgeben von stumpfsinnigen Familienangehörigen und Beratern, erhält von einem Sterndeuter aus der Kastratensekte der Skopzen einen wundertätigen goldenen Hahn zum Geschenk, der die Armee des Zaren vor Gefahren rechtzeitig warnen und dabei exakt die Richtung anzeigen kann, aus der der Feind sich ILYA K UCH A R EN KO U N D SERGIO MOR A BITO

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↑ Szenenbild aus Der goldene Hahn

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nähert. Im Gegenzug verspricht der Zar, jeden Wunsch des Zauberers zu erfüllen. Nach Jahren eines sorglosen Lebens fängt der Hahn plötzlich an zu versagen. Nacheinander werden die beiden tölpelhaften Söhne des Zaren einer unbekannten Bedrohung entgegengesandt, doch als jede Nachricht von ihnen ausbleibt, muss Dodon sich selbst auf den Weg machen. Am Ende dieses Wegs erwarten Dodon die Leichen seiner Söhne und das Zelt der Zarin von Schemacha. Der Zar verliebt sich bis über beide Ohren in die exotische Zarin, vergisst seinen Vaterschmerz und will sie als Braut in seinen Palast führen. Da taucht der Sterndeuter auf und fordert die Zarin für sich. Im ­Finale tötet Dodon seinen Wohltäter im Zorn, der goldene Hahn tötet Dodon, indem er mit dem Schnabel auf seine Stirn hackt, und die Zarin von Schemacha löst sich in Luft auf. Serebrennikov inszenierte das Märchen von Puschkin und Rimski-­ Korsakow nicht als Allegorie einer entrückten Epoche der vaterländischen Geschichte, sondern als Antiutopie im Geist des Schriftstellers Wladimir Sorokin (Der Tag des Opritschniks, Der Zuckerkreml, Der himmelblaue Speck). Dazu ist zu sagen, dass 2011 wohl das letzte Jahr war, in dem russische Leser sich bei der Lektüre von Sorokins Prosa noch darüber erheitern konnten, wie SER EBR EN N IKOV A LS MUSIKT HEAT ER-R EGIS SEU R


leicht der Diskurs des tschekistischen Terrors sich mit den schwülstigen ­Predigten der Orthodoxie würzen lässt, oder wie geschickt dieser Autor die Leibgarde Iwans des Schrecklichen mit der glanzlosen Rhetorik der stagnierenden Breschnew-Zeit verbindet. Damals dachte man, so absurd könne es gar nicht werden. Heute lässt sich all das in der russischen Realität beobachten, ja, diese scheint zuweilen Sorokins Dystopie an Absurdität noch übertreffen zu wollen. Kirill Serebrennikov gelang mit seiner Inszenierung eine anschauliche Visualisierung der Sorokin’schen Modelle: Ein zweiköpfiger goldener Hahn funkelt in der Mitte eines riesigen Festsaals im Art déco der Stalinzeit mit roten Teppichen, einer Tribüne aus Edelhölzern, geschnitztem Marmor und einer bunten Menge von Höflingen – darunter Tschekisten in Lederjacken, Kosaken in Kaftanen, Generäle aus den Bruderrepubliken in hohen Pelzmützen oder Technokraten in Business-Anzügen und mit iPads. Mit ihren überaus dummen Rezepten zur Rettung des Landes parodieren Dodons Söhne die Rhetorik der sich derzeit bekämpfenden »religiös-militaristischen« und »innovativ-monetaristischen« Machtgruppierungen. Das Zeremoniell leitet die Schließerin Amelfa – eine wohlbeleibte, erfahrene Beamtin im charakteristischen Kostüm einer Parteifunktionärin mit Flechtzopf um den Kopf. Dodon selbst erinnert sowohl an Breschnew als an Gaddafi. Serebrennikov hat sich geradezu festgebissen am Zitat »Herrsche, Zar, in sanfter Ruh!«, das der Hahn schreit, wenn keine Bedrohung zu vermelden ist. Serebrennikovs Dodon will beim Regieren nicht nur im Bett bleiben, er will im Sarg liegend herrschen. Aus Dodons Schlaf wird die großangelegte Probe der Beerdigung eines Generalsekretärs – mit Ehrenwache, Kranzniederlegung und verhaltener Trauermusik. Diese tägliche Probe der Abschiedszeremonie vom geliebten Führer ist die größte Verlockung für Dodon, der sich offenbar jeden Tag nach dem Mittagessen zu einem Mittagsschläfchen wonnevoll in den Sarg legt. Unter Serebrennikov Händen wird Rimski-Korsakows Satire auf den niedergehenden Zarismus zur virtuosen Persiflage auf die pathetische Selbstinszenierung der Staatsgewalt im heutigen Russland. Das »goldene Hähnlein« deutet er als burleske Verfremdung des russischen Doppeladlers, dessen mechanisches Gegacker den Automatismus einer ebenso mechanisch im Stechschritt paradierenden Garde auslöst. Die Papageien des Zaren sind die ihm nach dem Mund redenden Minister, die nach der aus dem Staatsfernsehen bekannten Choreographie der Abendnachrichten antanzen. Seine Söhne schickt der Zar in den Kaukasus in den Tod, nachdem er sie im Ornat des Patriarchen gesegnet hat. Publikum und Fachpresse zeigten sich positiv überrascht und begeistert, alle Vorstellungen waren ausverkauft. Doch die Inszenierung rief auch Erzpriester Wsewolod Tschaplin auf den Plan, bis 2015 Chef der kirchlichen »Abteilung für die Zusammenarbeit mit der Gesellschaft«, der sich »not ILYA K UCH A R EN KO U N D SERGIO MOR A BITO

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­ mused« zeigte und eine sorgfältigere Prüfung staatlicher Subventionen ana mahnte. Kennern der Szene zufolge wäre eine solche Aufführung am Bolschoi heute undenkbar. Tatsächlich wurde eine geplante Wiederaufnahme des Erfolgsstückes bis heute auf Eis gelegt. Der goldene Hahn wurde zum Ausgangspunkt für die internationale Opernkarriere von Serebrennikov. Sein Operndebüt in Westeuropa gab ­Serebrennikov 2012 mit American Lulu an der Komischen Oper Berlin – einer freien Paraphrase von Alban Bergs Oper aus der Hand der Komponistin Olga Neuwirth, die als Gastspiel bei den Wiener Festwochen zu erleben war. In der Folge inszenierte er nochmals an der Komischen Oper Berlin (Il barbiere di Siviglia), wurde zweimal nach Stuttgart eingeladen und arbeitete je einmal an der Oper Zürich und an der Hamburgischen Staatsoper.

Salome Mit Salome von Richard Strauss inszenierte Serebrennikov 2015 in Stuttgart erstmals in seiner Karriere eine Oper, deren lange Rezeptionsgeschichte von den unterschiedlichsten Regiehandschriften geprägt wurde. Kirill Serebrennikov setzte auf Risiko und stellte sich die Aufgabe, die Handlung der StraussOper im Hier und Jetzt zu erzählen. Radikale islamistische Prediger stehen in ihrer Rhetorik dem biblischen Propheten, wie Oscar Wilde ihn zeichnet, deutlich näher als irgendwelche christlichen Leitfiguren der Gegenwart. Unsere Welt konnte sich wiederholt von ihrem Anwerbungspotenzial überzeugen. Ihre Anziehungskraft speist sich aus ihrer leidenschaftlichen ­Unbedingtheit sowie daraus, dass ihre Schmähreden gegen die westliche Zivilisation einfache Lösungen für ebenso offensichtliche wie komplexe Probleme anbieten. Der Verführer ist jetzt nicht mehr Salome, sondern Jochanaan. Und die Idee der Erlösung verliert in seinem Mund ihre Legitimität, selbst wenn er gegen die moralisch verkommene Sippe von Herodes zu Recht Anklage erhebt. Interessanterweise findet Serebrennikov für Jochanaan zu einer Regie­ entscheidung, die in früheren Inszenierungen auf Salome angewandt wurde: Wenn den Regisseuren keine »sechzehnjährige Sängerin mit IsoldenStimme« (R. Strauss) zur Verfügung stand, wurde die Sopranistin beim Tanz der sieben Schleier von einer Ballerina gedoubelt. Bei Serebrennikov ist es der Prophet, der in Stimme und Körper aufgespaltet ist. Die Stimme gehört dem Bassbariton Iain Paterson: Eine gediegene Erscheinung im BusinessAnzug, der alle Repliken von Jochanaan einsingt, als sei er Synchron-Dolmetscher aus dem Arabischen. Szenisch interagiert mit den anderen Figuren Jochanaans Körper, dargestellt von Yasin El Harrouk, einem Schauspieler arabischer Herkunft. 115

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Der Palast des Herodes (Bühne: Pierre Jorge Gonzalez) erinnert am ehesten an die diplomatische Vertretung eines äußerlich zivilisierten, aber nicht sonderlich demokratischen Staates auf einem dem IS wieder entrissenen Territorium. Das Haus, das jeglicher Privatheit entbehrt (selbst das Schlafzimmer ist mit Glaswänden versehen), ist voll von Sicherheitsleuten und Überwachungskameras. Die Kamerabilder werden auf eine großformatige Leinwand projiziert, im Wechsel mit Nachrichten über Terroranschläge, den arabischen Frühling und Kampfhandlungen im Nahen Osten. Die Familie von Herodes sowie ihre zahlreichen befreundeten Gäste sind darin nicht weniger gefangen als der ins Souterrain gesperrte Prophet. Die Sicherheitsleute können einzelne Vergehen durchaus mit Erschießung ahnden: So stirbt auch der in Salome verliebte Narraboth, der ihr den Propheten – entgegen seiner Dienstanweisung – vorgeführt hat. Salome ist ein finsteres Gothic-Mädchen, das alle Werte und doppelten Standards ihrer Mutter und ihres Stiefvaters verachtet. Man kann sie nicht loswerden, aber sie zu ertragen ist ebenfalls schwer, besonders, wenn sie ihre blutrünstigen Zeichentrickfilme oder Videos über die Hinrichtungen von Geiseln auf YouTube schaut (Video: Ilya Shagalov). Sie sucht Wahrheit ILYA K UCH A R EN KO U N D SERGIO MOR A BITO

↑ Szenenbild aus Salome: Das Festbankett von Herodes gerät außer Kontrolle

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und Rettung mit derselben Inbrunst, wie Jochanaan sie anbietet. Gleich ihre erste Begegnung ist eine der allerstärksten Szenen der Inszenierung. Sie­ sitzen einander wie zwei Terroristen aus verschiedenen Gruppierungen gegenüber, die versuchen, hinsichtlich eines gemeinsamen Feinds überein zu kommen. Mit ihren drei schmeichlerischen Gesängen über seine Haare, seinen Körper und seine Lippen scheint Salome Jochanaan weniger zu verführen, als ihn der Heuchelei vorgetäuschter sexueller Enthaltsamkeit zu beschuldigen. Er erkennt in ihr unfehlbar die »Tochter der Herodias« und beendet die Zusammenkunft mit gebrüllten Verwünschungen in arabischer Sprache: Schaum vor dem Mund macht jeden Dolmetscher überflüssig. Der Tanz der sieben Schleier verwandelt die gesamte Textur des Stücks. In ihm scheint Herodes’ Traum vom Allgemeinwohl Gestalt anzunehmen. Dieser Traum ist zugleich eine Zeitreise, der uns in Salomes unglücklich-verzogene Kindheit zurückführt, in der sie die Aufmerksamkeit eines geliebten Stiefvaters erbetteln muss, der sie mit Geschenken ruhig zu stellen sucht: Auf der Bühne erscheint anstelle der Protagonistin ein Teenager-Mädchen im Tutu mit Schmetterlingsflügeln. Endlich kommt der Stiefvater nach Hause und übereicht ihr in einem Geschenkpaket die Horrormaske einer Mickey Mouse (mit diamantenfunkelndem Schädel anstelle des Gesichts). Am Kulminationspunkt erstickt Herodes vor den Augen und mit vollstem Einverständnis der Stieftochter deren leibliche Mutter Herodias mit einem Kissen. In Fortsetzung dieser Wunscherfüllung erträumt sich Herodes Orgien, an denen sich die Leibwächter und das weibliche Personal willig beteiligen. Auf dem Höhepunkt bitten die halbentblößten Damen ihre Kavaliere zum Walzer, und über den kreisenden Paaren beginnen Leuchtzeilen in arabischer Schrift versöhnlich zu flackern. Der erschossene Narraboth kommt zurück und schließt sich dem fröhlichen Treiben an; die erstickte Herodias steht auf, als sei nichts geschehen und geht hinaus, um sich im Schlafzimmer mit zwei Athleten zu vergnügen. Der riesige Bildschirm ist ebenfalls Teil des Traums: Im Augenblick, da der Vater die Stieftochter küssen will, zeigt er das in Qual oder Ekstase verzerrte Gesicht von Jochanaan mit der Kopfbinde eines Selbstmordattentäters (auf der in arabischen Schriftzeichen »Frieden« steht). Am Beginn ihres finalen Monologs verfolgt Salome unverwandt die Bilder, die eine Live-Kamera aus dem Kellergeschoß überträgt. Als es auf dem Bildschirm lange an Bewegung mangelt, gerät sie in Wut und beruhigt sich erst, als ihr das gezeigt wird, was sie begehrt – die Hinrichtung einer hilflosen Geisel. Und als Salome den Plasmascreen mit dem Bild des abgeschlagenen Kopfes in die Arme schließt, dann wirkt das fast noch schrecklicher als der Moment, in dem ihr der Kopf selbst überreicht wird. Am Ende kommt der blutüberströmten Heldin ihre kindliche Doppelgängerin mit Ballettröckchen und Flügeln entgegen, legt den Kopf Jochanaans in die Mickey-MouseSchachtel und eilt davon. Entsetzt befiehlt Herodes, Salome zu töten. Und 117

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wir sehen einen Bodyguard mit gezückter Waffe die Stufen zu ihrem gläsernen Zimmer hinaufschreiten. In dieser vielleicht bisher stärksten Opernarbeit von Serebrennikov konnte sich seine Regiehandschrift umfassend realisieren. So misstrauisch dieser Regisseur gegenüber jeglichen festgesetzten Axiomen ist, so virtuos zitiert er Banalitäten und lässt sie zusammenstoßen, wobei der Funkenschlag des Zusammenstoßes Erkenntnisse zeitigt, die alles andere als banal sind. Sein Handwerkszeug als Regisseur erlaubt ihm, sich gleichzeitig in ganz unterschiedlichen Theaterwelten zu bewegen und mit Techniken eines visionären Theaters, eines Theaters des psychologischen Realismus, mit Video-Installationen und Aktionskunst zu jonglieren.

Tschaatski In Russland hatte Serebrennikov lange keine Oper mehr inszeniert, dafür aber den Beruf eines Regisseurs für Tanzstücke erfunden: Zusammen mit dem Choreographen Juri Posokhov und dem Komponisten Ilya Demuzki verfasste und inszenierte er auf der Bühne des Bolschoi-Theaters zwei Handlungsballette: Ein Held unserer Zeit (nach dem gleichnamigen Roman von Michail Lermontow, 2015) und Nurejew (2017). Im Frühling 2017, wenige Monate vor seiner Gefangensetzung, inszenierte Serebrennikov an der Moskauer Helikon-Oper die Uraufführung der Oper Tschaatski von Aleksandr Manozkov. Die Premiere, die vorerst letzte, die der Regisseur noch persönlich miterleben konnte, fand am 1. Juli, kurz nach den ersten Durchsuchungen des Gogolzentrums statt. Es handelt sich um eine Partitur von entzückender Boshaftigkeit. Bei aller kompositorischen Komplexität enthält sie mindestens zwei »Opernhits«: die Eröffnung, in der Manozkov virtuos und feurig zugleich die Melodiebögen des berühmten Gribojedov-Walzers zerschlägt – jenes unverzichtbaren Begleiters romantisch gestimmter Teenager, sowie der Chor, den die in folkloristische Kokoschnik-Hauben gewandeten Ballschönheiten intonieren: »Sähen sie doch nur mein Atlascape!« Ihr Titel ist eine Hybridbildung aus Tschatski, dem Helden aus Alexander Gribojedovs ­Komödie Verstand schafft Leiden (1825), und aus Tschaadajev, nach Pjotr Tschaadajev (1794–1856), einem einflussreichen Denker der sogenannten Westler. Das Thema des liberalen Protests in Russland und dessen historische Zwiespältigkeit, die sich bereits an den Texten von Gribojedov und Tschaada­ jev ablesen lässt, und die Aufarbeitung dieses Themas durch Manozkov ­waren eine Steilvorlage für Serebrennikov, die er nicht ungenutzt ließ. Ein Dutzend halbnackter Leibeigener schleppt ein Podest hinter sich her, an dem die Herrschaften in Sportbekleidung mit bekannter Olympiaornamentik, aber in aufwändigem Make-up und brillantengeschmückt, träge in ILYA K UCH A R EN KO U N D SERGIO MOR A BITO

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↑ Szenenbild aus Tschaatski

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die Pedale ihrer Heimtrainer treten. Es versteht sich von selbst, dass ­Tschaatski nicht daran denkt, sich zum Volk herabzulassen. Sein Verhalten unterscheidet sich zunächst kaum von der Arroganz seines Gegenspielers. Pjotr Tschaadajev wurde aufgrund der Veröffentlichung seines Ersten philosophischen Briefes (1829–36), in dem er der russischen Kirche die Schuld an der »russischen Rückständigkeit« gegeben hatte, von Zar Nikolaus I. für verrückt erklärt, die Dramenfigur Tschatzki treiben Gerüchte über ihre angebliche Geistesstörung in den Wahnsinn. Bei Serebrennikov verliert er ­seinen Verstand, indem er den Halt auf dem Piedestal verliert und über die Schultern der Leibeigenen hinweg den Abstand zwischen seiner privilegierten Höhenlage bis zur Erde unter ihren Füßen durchmisst.

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Hänsel und Gretel – Così fan tutte – Nabucco Am 22. August 2017 lässt das Ermittlungskomitee der Russischen Föderation Kirill Serebrennikov wegen des »Verdachts auf die Organisation von Unterschlagung« in Petersburg am Set seines neuesten Films festnehmen und nach Moskau transportieren. Die fragliche Summe wird zunächst auf »nicht weniger als 68 Millionen Rubel« (nach heutigem Wechselkurs etwa eine Million Euro) beziffert, sie sei für das Projekt Platforma zur Popularisierung zeitgenössischer Kunst bestimmt gewesen. Merkwürdig nur, dass Serebrennikov die auf drei Jahre angelegte Platforma-Veranstaltungsreihe vollumfänglich realisiert hat, bei stärkster Resonanz und Breitenwirkung. Merkwürdig auch, dass die rückwirkend errechneten Gesamtausgaben ein sparsames Wirtschaften der Veranstalter zwingend nahelegen. Und obwohl selbst bei strengster Prüfung der von den Ermittlern vorgelegten D ­ okumente kein gewichtigeres Vergehen als eine bürokratische Ordnungswidrigkeit angenommen werden kann, durch die niemand – weder der Staat noch Mitarbeiter des Platforma-Projekts – zu Schaden kam, wird im Oktober 2016 offiziell ­Anklage gegen ihn und fünf seiner Mitarbeiter erhoben. Trotz schwerer Auflagen (keine Tele- und Internetkommunikation) gelingt es dem Regisseur, seinen Film Лето (Sommer) an einem Computer ohne Internetverbindung fertigzustellen. Und der Regisseur bemüht sich, alle bestehenden Absprachen einzuhalten: Der Oper Stuttgart genehmigt er die Verwendung eines von ihm in Afrika als Teil einer geplanten Inszenierung der Oper gedrehten Spielfilms zu Hänsel und Gretel, der 2017 im Rahmen eines halbszenischen Arrangements, das das Schicksal des Regisseurs thematisiert, gezeigt wird. Die Inszenierungen von Così fan tutte für die Oper Zürich und von Nabucco für die Hamburgische Staatsoper bereitet Serebrennikov so detailliert vor, dass sie auch ohne seine physische Anwesenheit realisiert werden können. Zu den Endproben für seine Così in Zürich reist man mit gemischten Gefühlen an: Was kann unter solch unzumutbaren Bedingungen entstehen? Intendant Andreas Homoki versucht, das Zürcher Himmelfahrtskommando so gut es geht zu legitimieren, indem er kommuniziert, »dass man ein existierendes Regiekonzept zur Not auch mit guten Assistenten umsetzen kann. Das erleben wir ja auch bei Wiederaufnahmen, die in der Regel ohne Anwesenheit des Regisseurs einstudiert werden.« Aber als integrer Theatermann muss er diese Aussage gleich wieder relativieren: »Wobei in solchen Fällen die szenischen Vorgänge schon einmal in einem ausführlichen Probenprozess erarbeitet worden sind.« Es ist absolut beispiellos, was sich zwischen Zürich und Moskau im September und Oktober 2018 zugetragen hat: Serebrennikov entwirft anhand von Fotos aller Mitwirkenden die Solisten- und Chorkostüme sowie das Bühnenbild, richtet in Moskau einen Klavierauszug als detailliertes Regiebuch ein und filmt sich selbst dabei, wie er viele Sequenzen in seiner Moskauer ILYA K UCH A R EN KO U N D SERGIO MOR A BITO

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↑ Così fan tutte: Fiordiligi und Dorabella nehmen Abschied von ihren Partnern, deren sterbliche Überreste verbrannt werden.

32m2-Wohnung durchspielt. In ausführlichen Videobotschaften richtet er sich regelmäßig an das Ensemble. Sobald sein Mitarbeiter, der Schauspieler, ­Regisseur und Choreograph Evgeny Kulagin eine Szene im Umriss angelegt hat, wird diese aufgezeichnet. Digitaler Datentransfer macht es möglich, dass die Mitwirkenden innerhalb kürzester Zeit ein Feedback erhalten – selbst, wenn er den Umweg über Serebrennikovs Anwalt nehmen muss. Die Bühne besteht aus zwei übereinander gelagerten Apartments in coolminimalistischem Betondesign, mit raffiniert integrierter Beleuchtung. ­Serebrennikovs Idee, dass die beiden Männer den Frauen ihre Avatare auf den Hals schicken, funktioniert verblüffend. Durch die Doppelbesetzung von Ferrando und Guglielmo durch je einen Sänger und einen Schauspieler sieht man gleichsam zwei Filme gleichzeitig, einmal den Thriller oder momentweise auch: den Horrorfilm, in den die Frauen durch die überfallartigen ­Attacken der »Albaner« geschickt werden, und parallel dazu den Genuss, den die beiden Sängermachos aus ihrer Beobachtung ziehen. Die gesungenen schadenfrohen »a parts« und Kommentare müssen nicht mehr in das simulierte Spiel integriert werden, und je asynchroner die Aktionsebene und die Beobachterebene werden, desto spannender wird es.

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Die Premiere wird zu einer Sternstunde in der Rezeptionsgeschichte dieser unendlich schwer zu inszenierenden Oper, deren Regie meist wahlweise in wohlfeile Veralberung oder prätentiösen Tiefsinn ausweicht. Serebrenni­kovs filmisch präzise und zugleich surreal entrückte Inszenierung beglaubigt die Grenzerfahrungen, durch die Mozarts Musik die Figuren führt (Ferrando und Guglielmo fallen zum Schein an der Front und werden sogar kremiert!), gleichwohl ist sie geprägt von »Witz«, wie das 18. Jahrhundert dieses Wort verstand: nicht als »Wille zur Komik«, sondern als geistreiche Skepsis und Beweglichkeit. Die Aufführung triumphiert über alle Widrigkeiten und belegt, dass in der Kunst ein geglückter Wurf alle Vorannahmen auszuhebeln vermag. Serebrennikovs Auseinandersetzung mit Verdis Nabucco könnte man unter das Motto stellen: »O mia patria, sì bella e perduta!« (»Oh mein Vaterland, so schön und verloren!«) Der Gefangenenchor der aus ihrer Heimat nach Babylon vertriebenen Juden hat es Menschen in unterschiedlichsten Notlagen immer wieder ermöglicht, ihrer Trauer über das Verlorene, aber auch ihrer Hoffnung auf eine bessere Zukunft Form und Ausdruck zu geben. Serebrennikov, der auch bei diesem Projekt wieder sein eigener Bühnen- und Kostümbildner ist, überblendet in seinem Nabucco-Raum die internationalen Institutionen, in denen die Mächtigen dieser Welt weniger um Lösungen ringen, als Karriere-, Sex- und Powergames austragen, mit Fotografien von Sergey Ponomarev, jenes russischen Fotojournalisten, der mit seinen Arbeiten aus Kriegs- und Krisengebieten, vor allem aber auch zu der Massenflucht aus Syrien Aufsehen erregt hat. — Am 8. April 2019 schloss sich die Richterin von Serebrennikovs Strafverfahren völlig überraschend der Position der Verteidigung an, das von den Ermittlungsbehörden zusammengetragene, angeblich belastende Material biete keinerlei Grundlage zu einem Strafverfahren, und hob – wohlgemerkt: nach anderthalb vom Regisseur im Hausarrest verbrachten Jahren! – alle vorbeugenden Maßnahmen auf. Das abgekartete Spiel eines russischen Strafverfahrens schien aus dem Tritt zu geraten. Doch bevor es wirklich dazu kam, tauschte man einfach die Richterin aus und »bestellte« ein neues Gutachten, das die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft vollumfänglich zu bestätigen vorgab, getreu der Definition von »Rechtsstaat« im heutigen Russland, nämlich: Der Staat hat immer Recht. Kirill Serebrennikov wurde zu drei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt, wobei ihm die bereits im Hausarrest verbrachte Zeit nicht angerechnet wird, zu einer Geldstrafe von 90.00 Euro sowie zu einer gemeinsam mit zweien seiner Mitangeklagten zu leistenden Zahlung an das Kultusministerium (!) in Höhe von anderthalb Millionen Euro (der angeblich veruntreuten Summe). Staunenswerterweise unterliegt Serebrennikovs künstlerische Freiheit keiner Korrosion durch Selbstzensur, und weder ideologische Scheuklappen ILYA K UCH A R EN KO U N D SERGIO MOR A BITO

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noch äußere Zwänge haben sie auszubremsen vermocht. Jetzt hat Kirill ­Serebrennikov nur noch ein dringendes Problem: Zur künstlerischen Freiheit muss er seine persönliche Freiheit so bald wie möglich zurückerhalten. Da der Regisseur der horrenden Strafzahlung nicht Folge leisten kann, wird ihm sein Pass und damit die Ausreise zur Wahrnehmung seiner internationalen Verpflichtungen als Theater-, Opern-, Ballett- und Filmregisseur weiterhin vorenthalten. Immerhin konnte er die Wiener Parsifal-Proben per VideoSchaltung live und in Echtzeit leiten – eine direkte Verbindung, die ihm während des laufenden Verfahrens nicht gestattet war. Dass Serebrennikov die Künstlerische Leitung seines Gogolzentrums mit Ende dieses Jahres abgeben wird, ist hingegen keinem äußeren Druck geschuldet. Der Entschluss, seine Intendanz auf acht Jahre zu begrenzen, stand bereits 2013, also lange vor seiner Anklage fest. Er begründete ihn damit, dass, wer eine demokratische Ablösung der politischen Macht befürwortet, auch selbst bereit sein muss, ihm verliehene Macht an die Gesellschaft zurückzugeben.

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Impressum Richard Wagner PARSIFAL Saison 2020/2021 HERAUSGEBER Wiener Staatsoper GmbH, Opernring 2, 1010 Wien Direktor: Dr. Bogdan Roščić Musikdirektor: Philippe Jordan Kaufmännische Geschäftsführerin: Dr. Petra Bohuslav Redaktion: Sergio Morabito Gestaltung & Konzept: Fons Hickmann M23, Berlin Layout & Satz: Gabi Adébisi-Schuster, Annette Sonnewend (WerkstattWienBerlin) TEXTNACHWEISE ORIGINALBEITRÄGE Sergio Morabito: Parsifal – erzählt von Kirill Serebrenni­ kov (englische Übersetzung von Steven Scheschareg), Über dieses Programmbuch, Serebrennikov als Musik­ theaterregisseur (gemeinsam mit Ilya Kucharenko; der Beitrag stellt die überarbeitete und ergänzte Fassung eines Essays dar aus: Sergio Morabito [Hrsg.]: Verwandlungen 2011–2018. Sieben Spielzeiten unter der Intendanz von Jossi Wieler, Stuttgart 2018) – Philippe Jordan: Wissend geschehen lassen – Kirill Serebrennikov: Die Idee der Freiheit – Ulrike Kienzle: Das Drama des leidenden Christus – Michael Kraus: Zum Sinn wird hier der Klang – Oliver Láng: Von Anfang an außerordentlich. ÜBERNAHMEN UND ÜBERSETZUNGEN Melanie Wald-Fuhrmann: Parsifal, in: Laurenz Lütteken, Inga Mai Groote, Michael Mayer (Hrsg.): Wagner-Handbuch, Kassel 2012, S. 392–398 – Paul Bekker: Richard Wagner. Das Leben im Werke, Stuttgart, Berlin und Leipzig 1924 – James M. McGlathery: Parsifal, in: Ders.: Wagner’s Operas and Desire, New York 1998, S. 245–258 (ins Deutsche übersetzt von TransTexT Smith) – Egon Voss: Die Möglichkeit der Klage in der Wonne. Skizze zur Charakterisierung der Parsifal-Musik, in: Ders.: Wagner und kein Ende. Betrachtungen und Studien, Zürich und Mainz 1996, S. 222–233. BILDNACHWEISE Cover: Michael Pöhn / Wiener Staatsoper GmbH Alle Szenenbilder: Michael Pöhn / Wiener Staatsoper GmbH Weitere Abbildungen: Szenenbild Der goldene Hahn: Damir Yusupov – Szenenbild Salome: A. T. Schaefer – Szenenbild Tschaatski: Ira Polyarnaya – Szenenbild Così fan tutte: Monika Rittershaus. Nachdruck nur mit Genehmigung der Wiener Staatsoper GmbH / Dramaturgie Kürzungen sind nicht gekennzeichnet. Rechteinhaber, die nicht erreicht werden konnten, werden zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten.

Kirill Serebrennikov PARSIFAL-FILM DARSTELLER Nikolay Sidorenko, Rustam Akramov, Vsevolod Toloknov, Etok Lev, Alekseiy Palkin, Vladislav Turmyshev, Ilya Lomanov, Nikita Elikarov, Mark Leshinsky KAMERA Maria Zherdina, Evgeny Kozlov FOTOGRAFIE Alexey Fokin CUTTER Yuri Karikh PRODUZENTIN/REGIEASSISTENZ Nadzeya Iliukevich PRODUKTIONSLEITUNG Maria Boldyreva AUFNAHMELEITUNG Artem Veprentsev CASTING Egor Sheviakov REQUISITE Evgenii Gigiadze — Anton Kapitonov, Evgeny Bruev, Alexey Zelenin MASKE Maria Tutukina — Elena Krotova, Yana Burdonova, Tatiana Chepik KOSTÜME Tatiana Dolmatovskaya — Aleksandra Aronova, Christina Zashikhina PYROTECHNIK/SPEZIALEFFEKTE Petr Gorbachev KAMERAASSISTENT Philipp Konstantinov KAMERATECHNIKER Alexander Spivak DROHNENPILOTEN Pavel Fedyushin, Yulia Timerbaeva DREHORTMANAGER Dmitry Danilov BELEUCHTUNG Kirill Velikanov — Stanislav Gallini, Leonid Tochilin MITARBEITER Viacheslav Shaimov, Kirill Malkochan CATERING Svetlana Smagina FAHRER Gocha Tariladze, Andrew Shershnevw


Generalsponsoren der Wiener Staatsoper


→ wiener-staatsoper.at


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