PIQUE DAME Piotr I. Tschaikowski
INHALT
Die Handlung
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Synopsis in English
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Über dieses Programmbuch
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Im Schraubstock der Gesellschaft → Interview mit Vera Nemirova
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Die Toilette der Venus → Sergio Morabito
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Die Toten sind ein unseriöses Volk → Daniil Charms
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Tschaikowskis Chef dʼŒuvre → Oliver Láng
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Tschaikowskis Furcht vor Geistern → Konstantin Warlamow
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Vorbote der Avantgarde → Boris Gasparov
36
Musik des Grauens → Leoš Janáček
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Der Tod der Gräfin → Aleksandr Puškin
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Aleksandr Puškin und die russische Oper → Maria Tsurkan
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Stadt des Prunkes, Stadt der Nöte → Anita Mayer-Hirzberger
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Das andere Petersburg zur Zeit Tschaikowskis → Philip Ross Bullock
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Pique Dame an der Wiener Staatsoper → Andreas Láng
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Drei Karten! Die drei Karten wissen und ich bin reich! Hermann, 2. Akt
PIQUE DAME → Oper in drei Akten Musik Piotr I. Tschaikowski Text Modest Tschaikowski
nach Aleksandr Puškins gleichnamiger Erzählung Orchesterbesetzung 3 Flöten (3. auch Piccolo), 2 Oboen (1. auch Englischhorn), 2 Klarinetten, Bassklarinette, 2 Fagotte, 4 Hörner, 2 Trompeten, 3 Posaunen, Tuba, Pauken, Schlagwerk, Harfe, Violine I, Violine II, Viola, Violoncello, Kontrabass Bühnenmusik 1 Trompete, Glocken, kleine Trommel, Klavier Spieldauer ca. 3 Stunden 15 Minuten (inkl. einer Pause) Uraufführung 19. Dezember 1890, Marinskij-Theater, St. Petersburg Erstaufführung an der Wiener Hofoper 9. Dezember 1902
DIE HANDLUNG
1. Akt Ein Frühlingstag in St. Petersburg. Kinderfrauen und Erzieherinnen beaufsichtigen die ihnen anvertrauten Kinder. Der Außenseiter Hermann gesteht Tomski seine verzweifelte Liebe zu einer Unbekannten, die er nur aus der Ferne umschwärmt. Tomski versucht, Hermann Mut zu machen, von Tschekalinski und Surin wird er verspottet. Als Fürst Jeletzki erscheint und seine Verlobte Lisa vorstellt, erkennt Hermann in ihr die geliebte Unbekannte. An Lisas Seite erscheint ihre Großmutter, die alte Gräfin und sogenannte »Pique Dame«. Sie ist von Hermanns Erscheinung fasziniert und abgestoßen zugleich – wie er von der ihren. Tomski kolportiert die Geschichte, die hinter dem Beinamen der alten Gräfin steckt: Als junge Frau habe sie in Paris als »moskowitische Venus« Furore gemacht. Nachdem sie ihr gesamtes Vermögen verspielt hatte, verkaufte ihr der Graf von Saint Germain zum Preis einer Liebesnacht das Geheimnis dreier unfehlbarer Karten. Die Gräfin gewann ihr Vermögen zurück. Das Geheimnis vertraute sie nur ihrem Ehemann und einem Liebhaber an. Ein Geist hat prophezeit, dass ein dritter Liebhaber, dem sie die drei Karten nennen wird, ihren Tod verursachen wird. Der mittellose Hermann, der das Glücksspiel zwar ganze Nächte hindurch fasziniert verfolgt, selbst aber nicht teilnimmt, wird von Tschekalinski und Surin gehänselt: Als Liebhaber der alten Gräfin könnte er es sich leisten, sich am Spiel zu beteiligen. Lisa nimmt vor der Hochzeit Abschied von ihren Freundinnen. Polina singt eine melancholische Romanze, dann wird getanzt, bis Lisas Gouvernante diese Vergnügungen untersagt. Als Lisa allein ist, wird sie von ihren verdrängten Gefühlen für Hermann eingeholt. Plötzlich steht dieser selbst vor ihr und droht mit Selbstmord aus unerfüllter Liebe. Die alte Gräfin erscheint, Hermann muss sich verstecken. Als Lisa und Hermann wieder allein sind, bekennt sie ihm ihre Gegenliebe.
DIE H A N DLU NG
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2. Akt Als Teil von Lisas Verlobungsfeierlichkeiten mit Fürst Jeletzki wird das Theaterstück Die Aufrichtigkeit der Schäferin gespielt. Anders als die gezeigte Schäferin hat sich Lisa nicht für ihre Liebe zu einem Habenichts, sondern für ein Leben in Reichtum entschieden. Hermanns Kameraden erschrecken, verunsichern und verspotten ihn mit fortgesetzten Anspielungen auf die alte Gräfin. Lisa gelingt es, sich Fürst Jeletzki zu entziehen und Hermann einen Schlüssel zuzustecken, der ihn durch das Schlafzimmer der Gräfin in ihr Zimmer führt. Er kündigt seinen Besuch noch für dieselbe Nacht an. Hermanns Fantasie gerät mehr und mehr in den Bann der »moskowitischen Venus«. Er überrascht und bedrängt die alte Gräfin, in deren Wahrnehmung sich Erinnerungen an ihre Glanzzeit am französischen Hof mit der Gegenwart des leidenschaftlich um ihr Geheimnis werbenden Hermann vermischen. Sie stirbt in Hermanns Armen, ohne das Geheimnis preisgegeben zu haben. Die hinzueilende Lisa erkennt, dass Hermann weniger an ihr als am Geheimnis der drei Karten interessiert war.
3. Akt Hermann, dessen Hoffnungen sich mit dem Tod der Gräfin zerschlagen haben, wird von Fieberfantasien heimgesucht. Auf ihrem Höhepunkt erscheint der Geist der alten Gräfin, trägt ihm auf, Lisa zu heiraten, und lehrt ihn die drei unfehlbaren Karten Drei, Sieben und Ass. Lisa hat Hermann ein Ultimatum gestellt: Wenn er nicht bis Mitternacht zu ihr kommt, wird sie ihn als Mörder ihrer Großmutter betrachten. Hermann erscheint kurz nach Mitternacht, um sie mit in den Spielsalon zu nehmen. Sie erkennt seine Besessenheit und nimmt sich das Leben. Hermann überrascht die Spieler mit dem Wunsch, teilnehmen zu wollen. Er setzt eine exorbitante Summe und gewinnt mit der Drei, um in der nächsten Runde seinen Gewinn mit der Sieben noch einmal zu verdoppeln. Niemand will mehr gegen ihn antreten. Da meldet sich Fürst Jeletzki, der gekommen ist, um sich für den Verlust Lisas an Hermann zu rächen. Hermann verliert, da er statt auf das Ass auf die Pique-Dame setzt.
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DIE H A N DLU NG
SYNOPSIS
Act 1 A spring day in St. Petersburg. Nurses and governesses are shepherding the children entrusted to their care. The misfit Hermann admits to Tomsky that he is desperately in love with a girl whose name he doesn’t know but merely idolizes from afar. Tomsky tries to encourage Hermann and is mocked by Chekalinsky and Surin. When Prince Yeletsky appears and introduces his fiancée Lisa, Hermann realizes she is the object of his affections. By her side is her grandmother, the old Countess, the so-called »Queen of Spades«. She is fascinated by Hermann’s appearance, yet at the same time repelled – just as he is by hers. Tomsky tells the tale of how the Countess acquired her nickname. As a young woman, she created a stir in Paris as the »Venus of Moscow«. After she lost her entire fortune, for the price of a night of love the Count of Saint Germain promised to reveal the secret of three infallible cards. The Countess won back her fortune. She entrusted the secret only to her husband and a lover. She was told that she would die at the hands of a third lover to whom she would name the three cards. The penniless Hermann, who watches gambling all night long but never plays himself, is teased by Chekalinsky and Surin. If he were the old Countess’s lover, he could afford to take part in the gambling. Lisa bids farewell to her friends before the wedding. Pauline sings a melancholy romance, after which the girls dance until Lisa’s governess forbids such pleasures. Left alone, Lisa is overcome by her repressed feelings for Hermann. Suddenly, he appears before her, threatening to kill himself if his love is not requited. The old Countess appears, and Hermann has to hide. When Lisa and Hermann are left alone again, she admits that she reciprocates his feelings.
SY NOPSIS
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Act 2 The celebrations for Lisa’s engagement to Prince Yeletsky include a performance of the play The Faithful Shepherdess. Unlike the shepherdess in the play, Lisa has opted not for the love of her have-not but for a life of riches. Hermann’s comrades frighten, disconcert, and mock him with repeated references to the old Countess. Lisa manages to escape Prince Yeletsky and slips a key to Hermann that will lead him through the Countess’s bedroom to her room. He declares that he will visit her that very night. Hermann’s imagination is increasingly captured by the »Venus of Moscow«. He surprises and badgers the old Countess, whose memories of her glory days at the French court become confused due to the presence of Hermann, who energetically demands to know her secret. She dies in Hermann’s arms without having revealed the secret. Lisa rushes in and realizes that Hermann was less interested in her than in the secret of the three cards.
Act 3 Hermann, whose hopes have been dashed by the death of the Countess, is haunted by feverish fantasies. At their peak, the ghost of the old Countess appears to him, telling him he must marry Lisa and revealing the three infallible cards: three, seven and ace. Lisa gives Hermann an ultimatum: he must come to her before midnight, or she will consider him the murderer of her grandmother. Hermann appears shortly after midnight to take her with him to the gaming room. She realizes that he is obsessed and takes her own life. Hermann surprises the gamblers with his desire to participate. He bets an ex-orbitant amount and wins with the three; in the next game he doubles his win with the seven. No one wants to compete with him until Prince Yeletsky speaks up. He has come to avenge the loss of Lisa to Hermann. Hermann loses, as he bets on the Queen of Spades instead of the ace.
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SY NOPSIS
ÜBER DIESES PROGRAMMBUCH
Wenn auch Piotr I. Tschaikowski oftmals von Selbstzweifeln gequält wurde, betrachtete er seine Pique Dame als ein Meisterwerk, sein persönliches Chef d’Œuvre, wie er es in einem Brief an seinen Bruder Modest, den Librettisten, formuliert. Zusätzlich kam es zu einer starken Identifikation mit Hermann, dem Protagonisten des Werks, dessen Bühnentod Tschaikowski beim Komponieren nach eigener Angabe sogar beweinte. Die Entstehungsgeschichte von Pique Dame sowie die Situation der russischen Oper rund um Tschaikowski beschreibt Oliver Láng ab Seite 28. Wie viele andere Opernwerke basiert auch Pique Dame, uraufgeführt 1890 in St. Petersburg, auf einer Dichtung Aleksandr Puškins. Über den enormen Einfluss und die künstlerischen Impulse dieses Schriftstellers auf das russische und internationale Musiktheater befindet Maria Tsurkan ab Seite 52, eine Schlüsselstelle aus Puškins Pique Dame ist auf S. 48 zu lesen. Boris Gasparov weist ab Seite 36 auf die unterschiedlichen Zeitebenen in Puškins Erzählung und Tschaikowskis Oper sowie auf die dadurch entstehende Verschiebung der historischen Verortung der Handlung hin, Leoš Janáček blickt ab S. 46 seinem Komponistenkollegen über die Schulter und analysiert anlässlich der Brünner Erstaufführung Aspekte der Pique DamePartitur. Anita Mayer-Hirzberger beschäftigt sich ab S. 58 mit dem St. Petersburg des 18. und 19. Jahrhunderts. Über die Wiener Aufführungsgeschichte der Oper, die 1902 von Gustav Mahler eingeleitet wurde, schreibt Andreas Láng (ab Seite 82). In seinem Essay Das andere Petersburg zur Zeit Tschaikowskis (ab Seite 66) setzt sich Philip Ross Bullock mit der Homosexualität des Komponisten respektive mit dem gesellschaftlichen Umgang mit ihr auseinander. In einem Gespräch verweist die Regisseurin Vera Nemirova ab Seite 10 auf die Mechanismen sozialer Ungleichheit und auf deren Wirkung auf die Handelnden der Oper, Sergio Morabito verknüpft ab Seite 16 kulturgeschichtliches Wissen mit einer Analyse der Inszenierung zu einem erhellenden Kommentar zur aktuellen Produktion. Ü BER DIE SE S PROGR A M MBUCH
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Aleksandr Puškin, 1836
»Alles Edle, Selbstlose, alles, was die Seele des Menschen erhöht, wird unterdrückt durch unerbittlichen Egoismus und Sucht nach Wohlstand.«
IM SCHRAUBSTOCK DER GESELLSCHAFT
Regisseurin Vera Nemirova im Gespräch mit Oliver Láng
Zunächst ein Blick in Ihre Regie-Werkstätte: Wie wichtig war Tschaikowskis Musik in der Vorbereitungsarbeit? Die Musik war das Entscheidende. Es ist nicht meine erste Tschaikowski-Oper, ich habe bereits vor zwei Jahren Eugen Onegin inszeniert. Wenn ich mich auf das sinnliche Erleben seiner Tonsprache, auf seine musikalischen Mittel, auf die Überzeichnung der Affekte, den elegischen Ton der Ausgangspunkte ebenso wie auf die heftigen Ausbrüche, die auf ein permanentes Außer-sich-Sein hindeuten, einlasse, nähere ich mich am direkten Weg dem Werk. VN
Wie viel Gestaltungsraum bleibt nun für die Sängerinnen und Sänger? Bietet Ihr Inszenierungskonzept Freiräume für die einzelnen Persönlichkeiten? Für mich ist die Begegnung mit den Sängerinnen und Sängern das zentrale Element in meiner Arbeit. Ich liefere Ideen, Anstöße und Impulse und gebe eine Richtung vor. Doch wie die Figuren werden, hängt letztendlich von den Sängern ab. Erst in der Probenarbeit beginnen wir im Detail zu arbeiten und die einzelnen Facetten der Persönlichkeiten zu formen. Selbstverständlich habe ich bestimmte Vorstellungen, aber wenn sich diese nicht mit der Persönlichkeit der Interpretierenden decken, dann muss man die Figur im Gestaltungsprozess verändern und auf den jeweiligen Sänger oder die Sängerin eingehen. VN
Sie haben sich gemeinsam mit dem Dirigenten der Premiere, Seiji Ozawa, entschlossen, das Intermezzo im zweiten Akt zu spielen. Viele vor Ihnen haben es gestrichen, weil sie es als Fremdkörper empfanden. Es ist ein Fremdkörper, klingt nach Mozart. Aber gerade dieses Fremde symbolisiert die Sehnsucht der Begüterten nach einer vermeintlich »guten alten Zeit«. Sie fühlen sich in der Gegenwart nicht zuhause und ziehen daher eine gestellte Vergangenheit heran, investieren viel Geld, um ihre verdrängten Träume und Wünsche zu verwirklichen. Sie betreiben Restauration! Diese Oberflächlichkeit dieser reaktionären Gesellschaft ist umso wichtiger, als sie den Schraubstock spürbar macht, in den die Hauptpersonen eingezwängt sind. Die Diskrepanz zwischen den scheinbar seichten Chorszenen und dem individuellen, stark psychologischen Drama ist enorm wichtig. Daher darf man diese Szenen nicht streichen, sie sind Bestandteil des Ganzen. VN
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V ER A N EMIROVA IM GE SPR ÄCH
Im Gegensatz zu Puškin, der Hermann als gefühlskalte und berechnende Figur beschreibt, empfand Tschaikowski durchaus Sympathie für ihn. Inwieweit gibt es Berührungspunkte zwischen dem Komponisten und seiner Figur, wieweit ist Hermann ein Außenseiter der Gesellschaft? Eigentlich sind alle drei – Hermann, Lisa und die Gräfin – Iden tifikationsfiguren für Tschaikowski. Er fand sich in ihrem Leiden wieder, in ihrer Einsamkeit und ihrem Ausgegrenztsein in der Gesellschaft. Hermann ist ja bis zu dem Moment, in dem die Mittel über den Zweck siegen und er der Spielsucht verfällt, ein absoluter Sympathieträger. Und auch am Schluss, als er sterbend zur Besinnung kommt und seine Liebe zu Lisa offenbart, ist er ein leidenschaftlich Liebender. Er ist eindeutig ein Opfer, das von der Gesellschaft in die Sucht getrieben wird; einer Gesellschaft nämlich, in der man ein Nichts ist, wenn man kein Geld hat, in der es für einen Mittellosen keinen Platz gibt. Hermann will allein, ohne die Masse sein Glück machen. Doch für die Einsamkeit ist er nicht stark genug. Die Jagd nach den drei Karten wird zum Amoklauf, der Hermann in den Wahnsinn, Lisa in den Selbstmord treibt. VN
Ist er für Sie die zentrale Hauptperson der Oper? Nein, ich denke, es gibt in Pique Dame in diesem Sinne keine einzelne Hauptfigur, sondern eine Dreierkonstellation, die alles beherrscht: Hermann, Lisa und die Gräfin. Diese drei Personen agieren in einer Wechselwirkung und sind schicksalhaft verbunden. Doch wir verfolgen die Geschichte anhand des steten Verfalls Hermanns in den Wahnsinn.
VN
Während bei Puškin die Geistererscheinung durchaus auch nur ein Wahn Hermanns sein könnte, scheint sie bei Tschaikowski konkreter zu sein. Solange Hermann an sie glaubt und zu hören glaubt, was er hören will, ist der Geist real, findet die Begegnung tatsächlich statt. Aber es ist kein Spuk wie in einem Horrorfilm. Vielmehr ist es das Subversive des Unterbewussten, das zum Tragen kommt. Er ist ja eine gespaltene Persönlichkeit mit einer dunklen, verdrängten Seite, die er zu verstecken versucht – und die in der Szene ihre Visualisierung findet. VN
In Pique Dame gibt es zwei Welten: die eine der Reichen, die ihr Geld verspielen, und dann die des deutlich ärmeren, aber ehrlich liebenden Hermann. Meint Tschaikowski diese Spannung sozialkritisch? V ER A N EMIROVA IM GE SPR ÄCH
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Ja, auf jeden Fall. Denn Standesdünkel und Geldgier bestimmten die Gesellschaft damals genauso wie heute, sie sind nicht zeitgebunden. Tschaikowski war die höfische Gesellschaft verhasst, er stand aber in finanzieller Abhängigkeit von seinen Gönnern. In seinen Tagebüchern wird diese Spannung deutlich, zwischen Lähmung und Hyperaktivität, zwischen Verzweiflung und Euphorie. Er kannte weder in seiner Lebenshaltung noch in der Musik ein Mittelmaß, sondern nur Extreme. Wenn es für Tschaikowski je eine Mitte gab, dann ist sie am ehesten mit dem Begriff Melancholie zu beschreiben. VN
St. Petersburg birgt in der russischen Geschichte und Gesellschaft mehrfach einen ausgeprägten Symbolwert. Hat der Handlungsort St. Petersburg auch für die Oper eine Bedeutung? Diese Stadt ist – damals wie heute – ein Ort der sozialen Gegen sätze, es gibt kaum einen Ort, der beides so in sich vereint. Vergangenheit und Gegenwart prallen aufeinander. Es gibt auf der einen Seite einen immensen Reichtum hinter barocken Fassaden, auf der anderen das Elend der armen Bevölkerungsschichten. Kasinos neben Armenküchen, Obdachlose, Straßenkinder und Neureiche. Hochmut und Gleichgültigkeit – ein Labyrinth. Mir ist es besonders wichtig, in meiner Inszenierung auch diesen sozialen Hintergrund zu zeigen, in dem die Figuren eingebettet sind, denn es sind immer die politischen und sozialen Umstände, die jedermann zum Verbrecher machen können. VN
Also ist Pique Dame ein pessimistisches Werk? Ich würde lieber sagen: ein warnendes Werk. Es beschreibt die Gefährdung des Menschen, wenn er die Fähigkeit zu lieben verliert. Es ist vielleicht die unromantischste aller Opern Tschaikowskis. VN
Das Gespräch fand anlässlich der Premiere 2007 statt.
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IM SCHR AU BSTOCK DER GE SELLSCH A F T
Sergio Morabito
DIE TOILETTE DER VENUS Ein magischer Moment in Vera Nemirovas Pique Dame
»Die alte Gräfin *** saß in ihrem Ankleidezimmer vor dem Spiegel. Drei Mädchen umgaben sie. Das eine hielt die Dose mit dem Wangenrot, das andere die Schachtel mit den Haarnadeln, das dritte die hohe Haube mit den feuerfarbenen Bändern. Die Gräfin erhob nicht den geringsten Anspruch auf Schönheit, die längst verwelkt war, doch hatte sie sich alle Angewohnheiten ihrer Jugend bewahrt, folgte streng den Moden der siebziger Jahre und kleidete sich ebenso lange, ebenso sorgsam wie sechzig Jahre zuvor.« Der Beginn des 2. Kapitels von Aleksandr Puškins Erzählung Pique Dame – in der mustergültigen Übersetzung Peter Urbans (Aleksandr Puškin, Die Erzählungen, Berlin 1999) – führt uns in die Gegenwart der Titelheldin. Diese hat in ihrer Jugend, so haben wir im 1. Kapitel erfahren, in Paris als »Vénus moscovite«, also als »moskowitische Venus« Furore gemacht. Puškin rekurriert für diesen ersten Auftritt der Gräfin auf das ikonographische Motiv der Liebesgöttin im Kreis ihrer drei Grazien, hier freilich parodiert durch den körperlichen Verfall der einstigen Schönheit. Zugleich ist in einem einzigen Satz das Geschehen historisch präzise verortet, nämlich in der Gegenwart des Dichters: Entstanden ist die Erzählung 1833, die glanzvolle Jugend der Gräfin fiel also in die siebziger Jahre des 18. Jahrhunderts. Puškins kristalline Prosa stellt einen planvoll realistischen SERGIO MOR A BITO
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Kontrapost zu den geschilderten fantastischen Ereignissen dar: Nur ganz allmählich, nahezu unmerklich verschieben sich die Koordinaten ins Traumhafte und Surreale. Dostojewski pries die Erzählung darum als Gipfel der fantastischen Literatur, weil am Ende ihrer Lektüre für den Leser unentscheidbar wäre, ob die Erscheinung der toten Gräfin Hermanns Fantasie entsprungen oder er tatsächlich mit dem Jenseits und seinen den Menschen feindlichen Geistern in Berührung gekommen sei: »Das Fantastische muss sich mit dem Realen so eng berühren, dass Sie gezwungen sind, es beinahe zu glauben.« (Brief vom 15. Juni 1880 an J. F. Abasa) In der Oper hingegen häufen sich die Anachronismen. Denn die Tschaikowski-Brüder Piotr (der Komponist) und Modest (der Librettist) versuchen, das Geschehen aus der Puškinzeit ins späte 18. Jahrhundert, in die letzten Jahre der Regierungszeit Katharina der Großen zurückzuschieben, die bis 1796 regierte. Ein Motiv hierfür ist gewiss der Wunsch, opulente »couleur locale« aufbieten zu können: Sie arbeiten daher mit literarischen Entlehnungen aus der vaterländischen höfischen Kultur jener Epoche ebenso wie mit musikalischen Zitaten: Erinnert sei an die Mozart-Reminiszenzen im eingeschobenen Schäferspiel von der Lauterkeit der Schäferin. Dabei verfahren sie freilich höchst inkonsequent, denn sie integrieren in die Partitur ebenso Anklänge an die russische Romanzenliteratur der Romantik wie an Intonationen der orthodoxen Liturgie. Die berühmteste Entlehnung der Oper stellt eine Gesangsdarbietung dar, mit der die Gräfin einst am französischen Hof reüssierte und an die sich die Greisin vor dem Einschlafen erinnert. Der verschobenen Puškinʼschen Timeline entsprechend müsste sie eigentlich die Arie einer Oper der 1730er Jahre – von Leonardo Vinci, Händel, Hasse oder Rameau – intonieren. Stattdessen legen ihr die Autoren eine Ariette aus André Grétrys Opéra comique Richard Löwenherz aus dem Jahr 1784 in den Mund. Das dieser Ariette vorausgehende Namedropping der Gräfin evoziert darüber hinaus Liebhaberaufführungen der späten 1740er Jahre, in denen die Pompadour als Sängerin und Tänzerin mitwirkte, auf der Bühne des 1747 in Versailles eingeweihten und bis 1751 unter der Direktion des Duc de la Vallière betriebenen »Theaters der kleinen Appartements«, das Ludwig XV. seiner Mätresse zum Geschenk gemacht hatte (unter anderem ist ein Auftritt der Pompadour in Die Toilette der Venus bezeugt). Neben den von der Gräfin beschworenen, historisch verbürgten Celebrities – dem Herzog von Ayen, der Herzogin von Brancas – habe auch sie vor dem König geglänzt, freilich nicht in Versailles, sondern in Chantilly, dem Stammschloss der Prinzen von Condé. Dass sich bei dem Grétry-Zitat der gewünschte Effekt einer »musique du temps jadis« dennoch einstellt, verdankt sich dem Kontext von Tschaikowskis spätromantischer Tonsprache, aus der die Partitur seiner 1890 uraufgeführten Oper generiert ist, und die den gleichsam subjektiv-authentischen Ausdruck der Leidenschaften vorstellt. 17
DIE TOILET T E DER V EN US
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Einen weiteren folgenschweren Eingriff der Tschaikowski-Brüder stellt die Rückführung der Konflikte ihrer Vorlage auf die Kapitalisierung aller Lebensbereiche dar, nicht zuletzt auf die im Petersburg ihrer Zeit allgegenwärtige Prostitution. Bei ihnen wurde bereits die »Vénus moscovite« gezwungen, ihren Körper zu verkaufen, um das Geheimnis der drei unfehlbaren Karten zu erlangen (»sie gewann alles zurück, doch um welchen Preis!«). Und der Hermann der Oper ist nicht mehr der Nutznießer eines »kleinen Kapitals«, das ihm sein Vater, ein russifizierter Deutscher, hinterlassen hat und das er ausschließlich aus Gründen anerzogener Sparsamkeit nicht antastet. Stattdessen wird er schon im ersten Dialog der Oper als völlig mittellos bezeichnet. Es ist nicht der Ständegesellschaft geschuldet, wenn Lisa für Hermann unerreichbar ist (selbst wenn Hermann das an einer Stelle als Begründung anzuführen scheint, wobei er zugleich angibt, die Identität der schwärmerisch Verehrten gar nicht zu kennen*); nein, er kann sehr wohl hoffen, sich durch ein im Glücksspiel erworbenes Vermögen als HeiratskanSERGIO MOR A BITO
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didat zu qualifizieren. Das eingefügte Schäferspiel spiegelt das Problem der Käuflichkeit als Theater auf dem Theater: die »lautere Schäferin« (= Lisa) muss sich zwischen einem mittellosen Schäfer (= dem heimlich geliebten Hermann) und dem reichen Gutsbesitzer (= Jeletzki, ihrem offiziellen Verlobten) entscheiden. Vera Nemirova, die Regisseurin der Wiener Staatsopern-Produktion, tat Recht daran, das Geschehen aus der historisierenden Verklammerung einer vorrevolutionären Ständegesellschaft zu lösen. In Zusammenarbeit mit dem Bühnenbildner Johannes Leiacker schuf sie ein kahl-monumentales, unwirtliches Vestibül, das mal als Außen- mal als Innenraum deutbar ist. Wechselnde Zeitläufe haben hier ihre architektonischen Spuren hinterlassen: Neben einem barocken Wappen, das das Portal eines breiten Treppenaufgangs zur Rechten krönt, ragt ein mächtiger verglaster Erker in den Raum, dessen Gestaltung an konstruktivistische Bautechniken der frühen Moderne gemahnt. Links wird eine schräg in die Bühnentiefe führende Mauer durch hohe Fenster gegliedert: So oder so ähnlich könnte eine Palast-, eine Kirchen- oder auch eine Fabrikmauer sie aufweisen. Durch unterschiedliche Objekte und Leuchtelemente – vom Kronleuchter bis zur Lichtorgel – bewegen wir uns mit den Akteuren mal durch ein Kinderheim, mal durch ein Sanierungsobjekt, eine Event-Location, eine Kathedrale oder eine Spielhölle. Die Kostüme sind im weitesten Sinne der heutigen Gegenwart verpflichtet. Historische oder pseudohistorische Kostüme und Accessoires des 18. Jahrhunderts deutet die Regisseurin als Mummenschanz einer restaurativen Gesellschaft in exakter Entsprechung zum musikalischen Stilkostüm, das Tschaikowski einigen Gesellschaftsszenen übergeworfen hat: Sie werden so von Anfang an zu einem Teil jenes Maskenballs, der in der Oper im zweiten Akt gefeiert wird, auf dessen Höhepunkt die alte Gräfin selbst in der Maskierung Katharinas der Großen ein umjubeltes Comeback feiert. Der ins Schlafzimmer der Gräfin heimlich eingedrungene Hermann betrachtet ein – im Original der Künstlerin Vigée Le Brun, einer seit den 1770er Jahren für die französische Aristokratie tätigen Gesellschaftsmalerin, zugeschriebenes – Jugendbildnis der Hausherrin. In der Oper richtet er sogar das Wort an die Dargestellte (»Ich an dir oder du an mir, das fühle ich: Einer von uns beiden wird an dem anderen zugrunde gehen!«). In der Inszenierung Vera Nemirovas gibt es kein Porträt, stattdessen werden wir mit Hermann Zeuge des Couchers, des Zubettgehens der Gräfin, wie es von Puškin dem eingangs zitierten Lever entsprechend geschildert wird: »Die Gräfin begann sich vor dem Spiegel zu entkleiden. Man steckte die Haube los, die mit Rosen verzierte; nahm die gepuderte Perücke von ihrem grauen, kurzgeschorenen Kopf. Ein Regen von Nadeln ergoss sich um sie. Das gelbe, silberdurchwirkte Kleid fiel über ihre geschwollenen Füße. Hermann wurde Zeuge der widerwärtigen Geheimnisse ihrer Toilette; 19
DIE TOILET T E DER V EN US
schließlich war sie mit Nachtjacke und Häubchen bekleidet. In diesem Aufzug, ihrem Alter eher gemäß, wirkte sie weniger schrecklich und hässlich.«
→ Librettoseite aus Richard Cœur de Lion mit der Ariette, die die alte Gräfin in Pique Dame singt
Nemirova lässt diesen Vorgang im verglasten Erker sichtbar werden: Hinter den trübe beschlagenen Scheiben schimmert ein kostbares Interieur des 18. Jahrhunderts auf und zugleich erscheint einen magischen Moment lang die von ihren Zofen umringte Gestalt der Gräfin wie im Weichzeichner: Vor dem Blick des Voyeurs verwandelt sie sich in die »Vénus moscovite«, die kurz vor ihrem Tod ihrer erotischen Verheißung noch einmal mächtig wird.
*«Увы, она знатна / И мне принадлежать не может!» (I, 3); Peter Urban übersetzt das Wort «знатна» an einer Stelle sogar mit »reich«: »wer kennt die Bitternis der Abhängigkeit besser, wenn nicht die arme Ziehtochter einer reichen alten Gräfin?«, wobei die primäre Bedeutungsassoziation der »Vornehmheit« in der Nennung ihres Ranges aufgehoben ist (bei Puškin ist an dieser Stelle nur von der »Greisin« die Rede).
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Daniil Charms
DIE TOTEN SIND EIN UNSERIÖSES VOLK – Da bin ich, – sagte die Alte und betritt mein Zimmer. Ich stehe an der Tür und weiß nicht, was ich tun soll – die Alte hinauswerfen oder sie, im Gegenteil, auffordern, sich zu setzen? Aber die Alte geht ganz von allein zu meinem Sessel am Fenster und setzt sich hinein. – Mach die Tür zu und schließ ab, – sagt die Alte zu mir. Ich mache die Tür zu und schließe ab. – Knie dich hin, – sagt die Alte. Ich knie mich hin. Hier aber beginne ich die ganze Unsinnigkeit meiner Lage zu begreifen. Wieso knie ich hier vor einer wildfremden alten Frau? Ja, und wieso befindet sich diese Alte überhaupt in meinem Zimmer und sitzt in meinem Lieblingssessel? Wieso habe ich die Alte nicht einfach hinausgeworfen? – Hören Sie, – sage ich, – welches Recht haben Sie, einfach über mein Zimmer zu verfügen und dann noch, mich herumzukommandieren? Ich habe ganz und gar keine Lust, hier vor Ihnen zu knien. – Das brauchst du auch nicht, – sagt die Alte. – Jetzt musst du dich auf den Bauch legen und das Gesicht fest auf den Boden pressen. Ich führte den Befehl umgehend aus... DA N IIL CH A R MS
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Ich sehe regelmäßig gezogene Quadrate vor mir. Ein Schmerz in der rechten Schulter und in der rechten Seite zwingt mich, meine Lage zu verändern. Ich hatte mit dem Gesicht nach unten gelegen, jetzt erhebe ich mich mit großer Mühe auf die Knie. Alle meine Glieder sind wie abgestorben und nur schwer zu bewegen. Ich schaue mich um und sehe mich in meinem Zimmer knien, mitten auf dem Fußboden. Langsam kehren Bewusstsein und Erinnerung wieder. Ich schaue mich noch einmal in meinem Zimmer um und sehe in meinem Sessel am Fenster jemanden sitzen. Im Zimmer ist es nicht sehr hell, wohl, weil gerade eine weiße Nacht ist. Ich schaue genau hin. Mein Gott! Das ist doch nicht etwa die Alte, die immer noch in meinem Sessel sitzt? Ich recke den Hals und schaue hin. Ja, natürlich, da sitzt die Alte und hat den Kopf auf die Brust sinken lassen. Sie muss eingeschlafen sein. Ich stehe auf und gehe, leicht hinkend, auf sie zu. Der Kopf ist der Alten auf die Brust gesunken, die Arme hängen zu beiden Seiten des Sessels herab. Ich habe Lust, die Alte zu packen und zur Tür hinauszustoßen. – Hören Sie, – sage ich, – Sie befinden sich in meinem Zimmer. Ich muss arbeiten. Bitte gehen Sie. Die Alte rührt sich nicht. Ich bücke mich und sehe der Alten ins Gesicht. Ihr Mund steht halb offen, und aus dem Munde ragt, herausgerutscht, ein stählernes Gebiss. Und plötzlich wird mir alles klar: die Alte ist tot. Mich packt eine schreckliche Wut. Warum ist sie ausgerechnet in meinem Zimmer gestorben? Ich kann Tote nicht ausstehen. Jetzt kann ich mich mit diesem Kadaver herumplagen, hingehn und reden mit dem Hausmeister und Hausverwalter, ihnen erklären, warum die Alte bei mir war. Hasserfüllt schaue ich die Alte an. Aber vielleicht war sie noch nicht tot? Ich befühle ihre Stirn. Die Stirn ist kalt. Die Hand desgleichen. Also, was tun? Ich rauche meine Pfeife an und setze mich aufs Bett. Ein wahnwitziger Zorn steigt in mir hoch. – Alte Hexe! – sage ich laut. Die tote Alte sitzt wie ein Sack in meinem Sessel. Die Zähne ragen ihr aus dem Mund. Sie sieht aus wie ein toter Gaul. – Ein widerlicher Anblick, – sage ich, aber die Alte mit einer Zeitung zudecken kann ich nicht, denn was kann unter einer Zeitung nicht alles geschehen. […] Ich schloss die Tür auf und öffnete sie ganz langsam. Vielleicht kam es mir nur so vor, aber mir schlug der süßliche Geruch einsetzender Verwesung entgegen. Ich warf einen Blick durch die halbgeöffnete Tür und erstarrte auf der Schwelle. Die Alte kroch auf allen vieren langsam auf mich zu. Mit einem Schrei schlug ich die Tür zu, drehte den Schlüssel um und prallte mit dem Rücken an die meiner Tür gegenüberliegende Wand. Im Korridor erschien Marja Vasiljevna. 23
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– Schie haben misch gerufen? – fragte sie. Ich zitterte so, dass ich nicht imstande war zu antworten und nur verneinend den Kopf schüttelte. Marja Vasiljevna kam näher. – Schie haben doch mit jemandem geschprochen, – sagte sie. Ich schüttelte wieder verneinend den Kopf. – Schie schind wahnschinnig, – sagte Marja Vasiljevna und ging wieder in die Küche, wobei sie sich unterwegs mehrmals nach mir umdrehte. – Hier stehenbleiben kann ich nicht. Hier stehenbleiben kann ich nicht, – wiederholte ich in Gedanken. Dieser Satz kam von irgendwo aus meinem Inneren. Ich bejahte ihn, noch bevor er in mein Bewusstsein gedrungen war. – Ja, hier stehenbleiben kann ich nicht, – sagte ich zu mir, blieb aber stehen wie im Starrkrampf. Etwas Entsetzliches war geschehen, aber vielleicht musste noch etwas viel Entsetzlicheres getan werden als das, was vorgefallen war. Ein Wirbel scheuchte meine Gedanken durcheinander, und ich sah nur noch die bösen Augen der toten Alten, die langsam auf allen vieren auf mich zukroch. Ins Zimmer stürzen und der Alten den Schädel zertrümmern. Das war zu tun! Ich suchte sogar schon mit den Augen und freute mich, als ich den Krocketschläger erblickte, der – niemand wusste wozu – schon seit Jahren in einer Ecke des Korridors lehnte. Den Schläger packen, ins Zimmer stürzen und und und, trrrach! Der Schüttelfrost war noch nicht vergangen. Ich stand da, die Schultern hochgezogen vor innerer Eiseskälte. Meine Gedanken sprangen, immer neue Bereiche erfassend, und ich stand, horchte auf meine Gedanken und stand gleichsam neben ihnen, so, als wäre nicht ich es, der sie befehligt. – Die Toten, – erklärten mir meine eigenen Gedanken, – sind ein unseriöses Volk. Sie werden zu Unrecht Tote genannt, viel eher müssten sie Scheintote heißen. Man muss sie beobachten und beobachten, darf sie nicht aus den Augen lassen. Fragen Sie doch den Wächter von der Leichenhalle. Wozu glauben Sie, dass er dort steht? Nur um aufzupassen, dass die Toten nicht wegkriechen. Da sind schon die komischsten Fälle vorgekommen. Einmal ist ein Toter, als sich der Wächter auf Anordnung der Vorgesetzten im Bad mit Seife sauberschrubbte, aus der Leichenhalle weggekrochen, ist in die Desinfektionskammer gekrochen und hat dort ein Bündel Wäsche verschlungen. Das Desinfektionspersonal hat dem Toten zwar eine Mordstracht Prügel verabreicht, aber die verdorbene Wäsche aus der eigenen Tasche bezahlen müssen. Ein anderer Toter ist in die Entbindungsstation gekrochen und hat die schwangeren Frauen dort so erschreckt, dass eine von ihnen augenblicklich eine Frühgeburt hatte, und der Tote hat sich auf den Fötus gestürzt und ihn unter Schmatzen zu verzehren begonnen. Und als eine tapfere Krankenschwester dem Toten einen Hocker auf dem Rücken zertrümmerte, hat er diese Krankenschwester ins Bein gebissen, und sie ist kurz darauf an Blutvergiftung gestorben. Leichengift. Ja, die Toten sind ein unseriöses Volk, vor DA N IIL CH A R MS
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ihnen muss man auf der Hut sein. – Stopp! – sagte ich zu meinen eigenen Gedanken. – Ihr redet Blödsinn. Tote können sich nicht bewegen. – Na schön, – sagten meine eigenen Gedanken zu mir, – dann geh doch in dein Zimmer, dort befindet sich eine Tote, die sich, wie du sagst, nicht bewegen kann. Da auf einmal begann der Trotz in mir die Stimme zu erheben. – Und ich gehe hinein! – sagte ich entschlossen zu meinen eigenen Gedanken. – Versuchs doch! – sagten meine eigenen Gedanken spöttisch zu mir. Dieser Spott brachte mich vollends zur Raserei. Ich packte den Krocketschläger und stürzte zur Tür. – Warte! – riefen mir meine eigenen Gedanken nach. Aber schon hatte ich den Schlüssel umgedreht und die Tür aufgestoßen. Die Alte lag auf der Schwelle, das Gesicht an den Boden gepresst. Ich stand mit erhobenem Schläger, zum Schlage bereit. Die Alte bewegte sich nicht. Der Schüttelfrost war vorüber, meine Gedanken strömten wieder klar und scharf. Ich war es, der sie befehligte. – Vor allem die Tür zu! – befahl ich mir selber. Ich zog den Schlüssel aus dem Schloss und steckte ihn von innen wieder hinein. Das tat ich mit der linken Hand, in der rechten hielt ich weiter den erhobenen Krocketschläger und ließ die ganze Zeit kein Auge von der Alten. Ich schloss die Tür ab, stieg mit einem vorsichtigen Schritt über die Alte hinweg und ging in die Zimmermitte. – Jetzt rechnen wir miteinander ab, – sagte ich. Mir war ein Plan gekommen, zu dem gewöhnlich nur die Mörder aus Groschenromanen und dem Polizeibericht der Zeitungen Zuflucht nehmen. Ich wollte die Alte einfach in einen Koffer packen, vor die Stadt fahren und sie dort in einem Sumpf versenken. Ich kannte da eine Stelle. Mein Koffer stand unter dem Bett. Ich zog ihn hervor und machte auf. Es waren verschiedene Sachen darin: ein paar Bücher, ein Filzhut und zerlöcherte Wäsche. Ich legte alles aufs Bett. In diesem Augenblick klappte laut die Wohnungstür, und mir war, als hätte die Alte gezittert.
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»Werde nun 44. Wieviel erlebt und, ehrlich gesagt, ohne falsche Bescheidenheit, wie wenig geschafft! Sogar in meinem eigentlichen Werk: Hand aufs Herz, da ist doch nichts Vollkommenes, Mustergültiges. Suche immer noch, schwanke und bummle herum. Und in anderer Hinsicht? Lese nichts, weiß nichts. Nur für Whist vergeude ich eine Unmasse wertvoller Zeit. Und ich denke, die DA N IIL CH A R MS
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Gesundheit wird davon auch nicht besser. Heute war ich so wütend und gereizt, dass nur noch wenig gefehlt hätte, und ich wäre drauf und dran gewesen, eine scheußliche Szene voll Hass und Wut zu veranstalten. Überhaupt war ich heute oft wütend, und die Zeit des ruhigen, ungetrübten, stillen Lebens ist vorbei.« Piotr I. Tschaikowski → Tagebucheintrag, 24. April 1884
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Oliver Láng
TSCHAIKOWSKIS CHEF D’ŒUVRE
Anmerkungen zu Pique Dame
1813 – eine für Opernkennerinnen und Opernkenner geläufige Jahreszahl: Die beiden großen Antipoden des Musiktheaters im 19. Jahrhundert, Giuseppe Verdi und Richard Wagner, wurden geboren. Bezeichnend für die Situation der damaligen russischen Oper, dass kaum jemandem ein weiterer wichtiger Komponist einfällt, der in diesem Jahr zur Welt gekommen ist: Alexander Dargomyschski. Dabei war er es, der die Brücke zwischen Michail Glinka, dem eigentlichen Begründer der russischen Oper, und der fortschrittlichen Schule rund um die »Gruppe der Fünf« schlug. Doch zunächst zurück zu den Anfängen der russischen Operngeschichte. Es war bekanntlich Zar Peter der Große (1672-1725), der sein Land zum Westen hin öffnete, mit teils radikalen Reformen die heimische Tradition zu brechen und an den Stil Mitteleuropas anzuschließen versuchte. War er auch kein dem Theater besonders zugewandter Monarch, so wollte er doch in der Kunst Einflüsse aus Ländern wie Frankreich, Italien oder Deutschland nach Russland kanalisieren. Und so sorgte Peter der Große, wie auch seine Nachfolger, für eine respektable Schar an westeuropäischen Musiker-Gästen; prominente Hofkapellmeister waren nach Francesco Araja (der 1736 mit Die Macht der Liebe und des Hasses die erste in Russland aufgeführte Oper schrieb) etwa Baldassare Galuppi, Giovanni Paisiello, Martín y Soler oder Domenico Cimarosa. Doch auch Gegenkräfte formierten sich. Als Antwort auf die im großen Stil importierte italienische und später auch französische Opernkultur entwickelten russische Komponisten im Laufe des 18. Jahrhunderts erste Musiktheaterwerke in ihrer Muttersprache. Erst Michail Glinka gelang es aber, mit Ein Leben für den Zaren die erste echte Nationaloper mit entsprechender Strahlkraft zu komponieren. Diese wurde 1836 in St. Petersburg zwar mit großem Erfolg uraufgeführt, doch konnte auch dieser Triumph letztlich wenig an der grundlegenden Stellung der russischen Oper in ihrer Heimat ändern. Sein kompositorischer Nachfolger, Alexander Dargomyschski, übernahm nun die bereits erwähnte Brückenfunktion hin zu einer eigenständigen Opernkultur, ging allerdings den Weg über die französische Opernschule (wie bei seiner Esmeralda, einer Glöckner-von-Notre-Dame-Oper nach Victor Hugo), bevor er sich eines persönlichen – und russischen – Stils besann und mit seiner auf Puškin basierenden Rusalka einen späten Erfolg feierte. 1867 wurde er Direktor der Kaiserlich-Russischen Musikgesellschaft, eine einflussreiche Position, die ihm ermöglichte, konsequent den Weg einer reformierten, der Wahrheit verpflichteten und entschlackten Oper weiterzugehen. Und er unterstützte ähnlich denkende Komponistenkollegen, die sich zu einer Gruppierung namens »Mächtiges Häuflein« zusammengefunden hatten. Dieses Kollektiv, auch »Gruppe der Fünf« oder per Eigendefinition »Novatoren« genannt, bestand aus den Komponisten Modest Mussorgski, Alexander Borodin, Nikolai Rimski-Korsakow, Mili Balakirew und César Cui. So unterschiedlich ihre Persönlichkeiten und Stile auch waren, so eng verband sie das Ziel einer eigenständigen russischen Musik. Ton und Wort 29
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sollten ineinandergreifen, die musikalischen Gedanken seien aus dem Text abzuleiten, eine neue Wahrhaftigkeit in der Musik allfälligen kompositionstechnischen Spielereien ein Ende bereiten. Vor allem aber wurde eine Orientierung an den Kompositionsschulen der mitteleuropäischen Kulturzentren abgelehnt, die verstärkte Verwendung von Volksliedern und -themen befürwortet. Diesen radikalen Versuch einer durchgreifenden Wendung sah das »Mächtige Häuflein« bei anderen russischen Komponisten, wie etwa Piotr Iljitsch Tschaikowski, bei Weitem nicht verwirklicht. Denn als international denkender Tonsetzer stand Tschaikowski zwischen den Fronten einer heimatlichen und einer europäischen Kompositionsschule, fühlte sich bei aller Verbundenheit zu seinem Land künstlerisch auch zu den damaligen außerrussischen Musikzentren hingezogen. Gerade diese Spannung zwischen Verwurzelung und Öffnung, zwischen großer Heimatliebe und Grenzenlosigkeit ließ der Komponist auch in seine Werke einfließen. Man denke nur an die Figuren Eugen und Tatjana in der Oper Eugen Onegin, die gleichsam diese beiden Gegenpole einfangen und symbolisieren. Doch nicht nur in diesem Aspekt war der Komponist Tschaikowski ein Zerrissener. Seine erhöhte Sensibilität, die starken Stimmungsschwankungen und Abhängigkeiten von äußeren und inneren Gegebenheiten prägten seit frühester Kindheit sein Leben. Geboren am 7. Mai 1840 in Wotkinsk in der russischen Provinz, stand er zwischen einem herzlichen und offenen Vater und einer – von französischen Vorfahren abstammenden – introvertierten Mutter. An sie band er sich verstärkt, ihr früher Tod löste beim damals Vierzehnjährigen eine erste Lebenskrise aus. Doch sogar schon früher fiel Tschaikowskis seelische Zerbrechlichkeit auf, wie seine Gouvernante Fanny Dürbach berichtete: »Seine Empfindsamkeit war außerordentlich groß, man musste äußerst behutsam mit ihm umgehen. Er war ein Kind wie aus Porzellan.« Und er blieb wie aus Porzellan. Blättert man in seinen Tagebüchern, so zeichnet sich eine widersprüchliche, in sich unausgeglichene Persönlichkeit ab, die von äußerster Schwermut, Verzweiflung, aber auch von euphorischer Freude hin und her gerissen wird. Immer wieder finden sich in den – oftmals nur in Stichworten notierten – Eintragungen Passagen, die hypochondrische Getriebenheit, Zukunftspanik, Existenzängste und Menschenflucht zum Ausdruck bringen. Bei Reisen ins Ausland – wie etwa in die USA – überfiel ihn maßloses Heimweh, hinter menschlichen Freundlichkeiten und Aufmerksamkeiten suchte er verborgene Winkelzüge, Weinkrämpfe wechselten mit melancholischer Wehmut. Laufend befiel Tschaikowski die Angst vor einer Lähmung seiner Schaffenskraft, kritisch betrachtete er sein Werk und sah sich ständig mit dem drohenden Tod konfrontiert. Umso erstaunlicher demnach seine Euphorie und sein Stolz die Oper Pique Dame betreffend: »Entweder ich befinde mich in einem schrecklichen Irrtum, oder Pique Dame ist wirklich mein Chef dʼŒvre«, schrieb er etwa während der Arbeit an der Oper an seinen Bruder Modest. Und er ging sogar OLI V ER LÁ NG
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noch weiter: »Es scheint mir jetzt, dass die Weltgeschichte in zwei Zeitabschnitte eingeteilt ist: in den ersten gehöre alles, was sich seit der Erschaffung der Welt bis zur Komposition von Pique Dame abgespielt hat. Der zweite hat vor einem Monat begonnen...«, stellte er pünktlich einen Monat nach Abschluss der Komposition fest. Und an anderer Stelle: »Ich schrieb die Oper mit ungewöhnlichem Feuer und Enthusiasmus, habe alles Geschehen in ihr lebhaft durchlitten und mitempfunden (das ging so weit, dass ich mich eine Zeitlang vor der Erscheinung des Gespenstes aus Pique Dame fürchtete) und hoffe nun, dass all meine Begeisterung, Erregung und Hingabe in den Herzen der empfänglichen Hörer ihren Widerhall finden werden.« Diese besondere Beziehung des Komponisten zu seinem Werk lag einerseits sicherlich im Musikalischen begründet: Pique Dame gehört neben Eugen Onegin zu den unbestrittenen Höhepunkten des Opernschaffens Tschaikowskis, in ihr findet sich eine Durchdringung zahlreicher dramatischer und musikalischer Elemente und Ebenen. Doch andererseits lag ihm auch die Figur des Protagonisten Hermann besonders am Herzen. Obgleich diese in ihrer inneren Einsamkeit, der Intensität und Besessenheit von düsterer Schattierung ist, empfand der Komponist doch Mitleid mit ihr, ja, identifizierte sich bis zu einem gewissen Punkt sogar mit ihr; so beschreibt er seine Erschütterung bei der Komposition der tragischen Todesszene: »Niemals zuvor hat mich je einer meiner Charaktere so leidenschaftlich zum Weinen gebracht!« Ausgangspunkt für die Oper war eine Erzählung von Aleksandr Puškin. Dieser, 1799 in Moskau als Sohn eines Adeligen geboren, wurde bereits in seinem kurzen Leben, besonders aber auch nach seinem Tod, als einer der Wegbereiter der neueren russischen Literatur angesehen und begründete einen Wendepunkt in der Dichtung seiner Heimat. So fanden auch viele seiner Texte Eingang in die Oper: Eugen Onegin, Mazeppa und Pique Dame wurden von Tschaikowski vertont, Boris Godunow von Modest Mussorgski, Ruslan und Ludmila von Michail Glinka, Mozart und Salieri, Der goldene Hahn sowie Zar Saltan von Rimski-Korsakow, Rusalka und Der steinerne Gast von Alexander Dargomyschski, Aleko und Der geizige Ritter von Sergej Rachmaninow, Das Gastmahl während der Pest und Der Gefangene im Kaukasus von César Cui... Die Erzählung Pique Dame jedenfalls – Puškin stand auf der Höhe seiner Meisterschaft – erfreute sich bald nach ihrem Erscheinen im Jahr 1833 großer Beliebtheit. Die drei Karten Drei – Sieben – Ass, die eine zentrale Rolle in der Geschichte einnehmen, wurden auf den St. Petersburger und Moskauer Spieltischen der besseren Gesellschaft fortan besonders gerne gesetzt. Es folgte alsbald auch die Entdeckung des Stoffes für die (Musik-)Theaterbühne. Verschiedenste Fassungen und Adaptierungen – von Prosper Mérimée (der die literarische Vorlage zu Georges Bizets Carmen schrieb), vom Komponisten Jacques Fromental Halévy oder vom Operettenkomponisten Franz von Suppé – wurden verfasst. Einer jedoch fand zunächst keinen Ge 31
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fallen am Stoff: Piotr Iljitsch Tschaikowski. Doch sein Interesse konnte geweckt werden. Wohl auch, da sein Bruder Modest (wenn auch für einen anderen Komponisten) ein Szenarium zu Pique Dame entworfen hatte. Schließlich, zu Beginn des Jahres 1890, machte sich der Komponist mit seinem Bruder als Librettisten an die Arbeit. In wenigen Wochen war das Werk in seinen Grundzügen entworfen, knapp fünf Monate nach Arbeitsbeginn glücklich vollendet. Die Uraufführung am 19. Dezember 1890 im Marinskij-Theater in St. Petersburg wurde zum durchschlagenden Erfolg, die szenische Gestaltung war für das damalige Theater von größter Pracht, das Intermezzo der Oper choreographierte niemand Geringerer als Marius Petipa, mit dem Tschaikowski zuletzt Dornröschen erfolgreich umgesetzt hatte. Bereits bei der Generalprobe war der Zar anwesend (die Premiere besuchte er aus Angst vor möglichen Attentätern nicht), der Komponist erhielt in der Pause der Erstaufführung einen silbernen Kranz überreicht, am Schluss eine Lyra aus Lorbeer. Und die Oper ging alsbald – wenn auch etwas langsamer als zuvor Eugen Onegin – um die Welt. Dies bedeutete für Tschaikowski nicht nur Renommee, sondern auch einen wirtschaftlichen Gewinn, der gerade zur rechten Zeit kam. Denn seine langjährige Lebensfreundin und Gönnerin, Nadezhda von Meck, hatte die ihm gewidmete Jahresrente gestrichen. Ob aus finanziellen oder persönlichen Motiven, ist bis heute umstritten. Fand die Uraufführung des Werkes auch in üppiger Ausstattung statt, so interessierte sich der Komponist weniger für das Gepränge der großen Oper als für das psychologisch austarierte, feine Netzwerk der menschlichen Beziehungen und das Innenleben seiner Figuren. Der einfache Mensch sollte im Mittelpunkt stehen, die Liebes- und Leidensfähigkeit des Nächsten auf die Bühne gebracht werden. So schrieb er schon 1871 an seinen Schüler Sergei Tanejew: »Die Gefühle einer ägyptischen Prinzessin, eines Pharao, irgendeines verrückten Mörders kenne ich nicht, verstehe ich nicht. Ich suche ein intimes, aber starkes Drama, das auf Konflikten beruht, die ich selber erlebt oder gesehen habe, die mich im Innersten berühren können.« Nach der erfolgreichen Uraufführung in St. Petersburg war bereits zwei Wochen später eine Neuinszenierung an der Kiewer Oper zu erleben, bis heute gehört Pique Dame in ihrer Heimat zu den wichtigsten und beliebtesten Musiktheaterwerken. Was sich auch in zahlreichen Bearbeitungen niederschlägt. Angefangen bei Wsewolod Meyerhold, der den Versuch einer »RePuškinisierung« des Werkes unternahm und sowohl Schauplätze als auch den Text änderte, bis hin zu einer kompletten Neufassung durch den Komponisten Alfred Schnittke, die sowohl textliche als auch kompositorische Einschübe bot. → KS Angela Denoke als Lisa, 2010
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Konstantin Warlamow
TSCHAIKOWSKIS FURCHT VOR GEISTERN Mit Piotr Iljitsch war ich eng befreundet und bewahre überaus angenehme Erinnerungen an diesen bewundernswert bescheidenen, von mir hochverehrten und äußerst liebenswürdigen Mann, die in mir noch lange lebendig bleiben werden. Seine Bescheidenheit ging so weit, dass er immer dann, wenn jemand das Gespräch auf Musik zu bringen versuchte, irgendwie davon abzulenken bestrebt war und über etwas anderes zu reden begann. War jemand allerdings sehr hartnäckig, pflegte er zu sagen: »Ich liebe eigentlich jede Musik, beispielsweise die der Drehorgelspieler, und ich lausche gern den Klängen, die beim Blasen auf einem Metallkamm entstehen. Darüber hinaus mag ich die Musik der Zirkusclowns, wenn sie auf ihren Glöckchen, ihren unterschiedlich gefüllten Flaschen oder auf anderen selbsterfundenen Instrumenten spielen, denn ich bin in der Lage, jede Tonverknüpfung als Musik zu empfinden.« Als Mensch war er die Zuvorkommenheit selbst. Ich habe ihn nie stolz gesehen, und ich war niemals Zeuge, dass er dort, wo es möglicherweise angebracht gewesen wäre, Kraft und Überlegenheit demonstriert hätte. Daran, dass er diese Kraft besaß, gibt es jedoch nicht den geringsten Zweifel. Es waren vor allem die überragenden seelischen Qualitäten und seine unbeschreibliche Bescheidenheit, mit denen er seine Umgebung bezauberte. Wir beide hatten ziemlich oft persönlichen Kontakt miteinander: Er war häufig bei mir, und ich habe ihn niemals anders als still und ausgeglichen gesehen, kurz: als einen Mann, der ganz seinem genialen Schaffen lebte. Das einzig Merkwürdige an ihm war, dass er sich vor Geistern Verstorbener fürchtete. »Wissen Sie, Konstantin Alexandrowitsch«, so sagte er zu mir, »wenn jemand einen Diebstahl vorhat, dann stiehlt er eben; plant er einen Mord, kann man sich möglicherweise mit einem Revolver verteidigen oder, wenn der Mörder in die Tür tritt, zum Fenster hinausspringen. Vor einem Geist jedoch kann man sich überhaupt nicht retten. Der Türschlitz oder das KONSTA N T IN WA R LA MOW
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Schlüsselloch können noch so klein sein, er gelangt trotzdem hindurch!« Irgendwann einmal wurde er von einer Gutsbesitzerfamilie zu einem Aufenthalt auf dem Lande eingeladen. Er nahm an, und man tat alles Erdenkliche, um seinen Besuch gut vorzubereiten. Es sei noch angemerkt, dass er erst gegen Abend auf dem Landgut ankam. Der Gastgeber empfing ihn natürlich mit offenen Armen, man trank gemeinsam Tee, und schließlich eröffnete ihm der Hausherr: »Lieber Piotr Iljitsch, wir haben extra für Sie, wenn Sie gestatten, einen besonderen Pavillon vorbereitet, der sich in einiger Entfernung vom Herrenhaus befindet. Dort steht auch ein Flügel, dort ist es still und ruhig, und dort sind Sie völlig ungestört. Kommen Sie nur, ich begleite Sie und zeige es Ihnen!« Die beiden machen sich auf den Weg. Angekommen, überzeugt sich Piotr Iljitsch, dass der Pavillon wirklich schön und komfortabel eingerichtet ist. Er bedankt sich. »Und hier ist gleich der Park«, nimmt der Gastgeber wieder das Wort, während er die Fensterstores beiseite schiebt. »Ist das nicht ein herrlicher Ausblick?« »Aber was ist das? Was ist denn das für ein Kreuz?«, fragt Piotr Iljitsch. »Ach, das hat nichts zu bedeuten! Das ist nur das Grab von Herrn X.« »Er verließ dann den Pavillon«, so erzählte jedenfalls Piotr Iljitsch diese Geschichte, »ich zog die Stores wieder zu und legte mich schlafen. Ich weiß nicht genau, wann es war, aber ich nehme an, es muss gegen Mitternacht gewesen sein, dass ich aus dem Schlaf schreckte und spürte, wie mir der kalte Schweiß im Gesicht stand und über den ganzen Körper rann. Ich sehe irgendetwas Weißes vor mir. Mit einem Aufschrei falle ich zu Boden. Wie lange ich dort gelegen bin, kann ich nicht sagen, als ich dann vorsichtig die Augen aufschlug, sah ich, dass es schon hell wurde. Es war kurz vor fünf Uhr früh. Ich beschloss, sofort abzureisen. So leid es mir tat, damit möglicherweise die Leute zu kränken, die sich so sehr über meine Anwesenheit gefreut hatten und sich viel Mühe gemacht hatten. Ich konnte einfach nicht anders. Als Erklärung gab ich an, ich hätte ganz zufällig irgendeine wichtige Angelegenheit vergessen, deren Erledigung unaufschiebbar sei.« Einige Zeit später klärte sich die ganze Geschichte auf. Pior Iljitsch selbst erzählte nun, dass das Weiße ein zum Trocknen aufgehängtes Handtuch gewesen sei, während die Gastgeber, als sie den wahren Grund seiner Abreise erfuhren, erklärten: »Hätte er uns nur den leisesten Wink gegeben, dass er sich vor Geistern fürchtet! Wir hätten ihm das ganze Herrenhaus zur Verfügung gestellt!«
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Boris Gasparov
VORBOTE DER AVANTGARDE Symbolische Anachronismen in Tschaikowskis Pique Dame
Es ist überflüssig, die Unterschiede zwischen Puškins Erzählung und Modest Tschaikowskis Libretto im Einzelnen zu untersuchen. Wieder einmal ist Puškins trockener, elliptischer, andeutender Stil in der Opernfassung verschwunden und atemlosem Ungestüm gewichen. Puškins Lisa, eine arme Waise, die Hermanns Avancen als Chance begreift, sich aus der erniedrigenden Abhängigkeit von der Gräfin zu befreien, wurde in der Oper zur Enkelin der Gräfin, die eine glänzende Verbindung mit Fürst Jeletzki zugunsten der überwältigenden Leidenschaft für einen rätselhaften Fremden ausschlägt; Puškins Hermann, der von der Idee, reich zu werden besessen ist und seine Verbindung mit Lisa nur als Mittel zum Zweck begreift, ist in einen exaltierten Liebhaber verwandelt, der Geld als Mittel sieht, um gemeinsam mit seiner Angebeteten »der Welt zu entfliehen«. In den wenigen knappen, seine Erzählung abschließenden Sätzen berichtet Puškin vom weiteren Schicksal seiner Helden: Lisa (oder Lisaweta Iwanowna, wie sie in der Novelle heißt) heiratet einen anständigen und wohlhabenden jungen Mann und hat nun ihrerseits eine Waise in ihren Haushalt aufgenommen; Hermann verbringt den Rest seiner Tage im Irrenhaus und wiederholt ununterbrochen die Namen der drei Schicksalskarten. In der Oper ergibt sich Lisa dem unausweichlichen Schicksal einer Opernheldin, indem sie sich in den Winterkanal stürzt, und Hermann tut es ihr nach, indem er sich mit einem Degen durchbohrt. Obwohl Puškins Dialoge in den Rezitativen benutzt und verschiedene andere literarische Quellen (meist auf Vorschlag des Komponisten) raffiniert in das NarBOR IS GASPA ROV
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rativ der Oper eingebaut wurden, bestand das Rückgrat des Librettos aus von Modest und in einigen Fällen von Piotr Tschaikowski selbst geschriebenen Versen, deren gelegentliche Banalität (in Zeilen wie »Verzeih, du himmlisches Geschöpf, dass ich deinen Frieden störte«) einen zusammenzucken lässt. Man ist versucht, entweder über den Kitsch zu schmunzeln oder über eine weitere Entweihung eines verehrungswürdigen Werkes von Puškin zu seufzen. Aber es wäre albern, ein Libretto als rein literarischen Text zu beurteilen ohne die Bedeutung, welche die Musik in ihm zum Ausdruck bringt. Hätte Modest Tschaikowski Puškins Erzählung als Schauspiel bearbeitet, hätte sein Text peinlich banal, rührselig und durch seine erzählerische und stilistische Inkohärenz gekünstelt gewirkt. Aber in Verbindung mit der Musik wird die schwülstige Sentimentalität zu einer expressionistischen Überhöhung; die vollständige Losgelöstheit der Charaktere von alltäglicher Logik schildert Leidenschaften, die an den Wahnsinn heranreichen, und die scheinbare Unfähigkeit, die narrativen Stränge zusammenzuführen, führt zu einem gebrochenen, haltlosen, tief verstörten Bild der Welt. Insofern ist dem Libretto zuzugestehen, dass es seine Funktion äußerst wirkungsvoll erfüllt, und dass das wiederholt ausgesprochene Lob des Komponisten für seinen Bruder berechtigt war. Diese gemeinsame Wirkung von Text und Musik bestimmte die Art und Weise, wie Puškins Erzählung in die düstere Bilderwelt des »Sankt Petersburger Mythos« eingemeindet wurde. Etliche literarische Werke des frühen zwanzigsten Jahrhunderts – in besonderem Maß Andrej Belys Petersburg – scheinen eher von Bildern und Situationen aus der Pique Dame von Tschaikowski durchsetzt als aus jener Puškins. Die Verschiebung ihrer historischen Verortung war für den Bedeutungswandel der Oper entscheidend: Puškins Geschichte entstand in den Jahren 1833 und 1834 und spielt auch in dieser Zeit. In der Oper wird Katharina die Große zu Beginn des 1. Bildes von den mit Spielzeuggewehren marschierenden Jungen als »allweise Zarin« bejubelt, und am Ende des 3. Bildes wird ihr Erscheinen auf dem Ball angekündigt. Tatsächlich lässt sich das hypothetische Datum dieses Balls bis auf den Tag genau bestimmen. Die aufgeregten Gäste begrüßen die Kaiserin mit der berühmten Polonaise »Heil dir, Katharina, unsere zärtliche Mutter«, mit Text von Dershawin und Musik von Koslowski, die anlässlich eines von Potjomkin zu Ehren Katharinas gegebenen Festes entstand. Dershawins berühmte Beschreibung jenes Fests hat sowohl Puškins als auch Glinkas Ruslan und Ludmila beeinflusst. Wie in der Oper gab es bei dem ursprünglichen Fest ein Feuerwerk (uveselitel’nye ogni) und natürlich eine Theateraufführung. Das Fest fand am 28. April 1799 statt. Tschaikowski scheint davon ausgegangen zu sein, dass die Handlung der Oper im April spielt; in einem Brief an Modest vom 20. Februar 1890 äußert er Bedenken bezüglich Lisas Satz, in dem sie das dunkle Geheimnis ihrer Leidenschaft mit der Dunkelheit der Nacht vergleicht: »Was meinst du, ist es richtig, dass Lisa im April, wenn sie 37
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die Nacht anredet, sagt ›sie [die Leidenschaft] ist so dunkel wie du‹ [ona mrachna kak ty]? Gibt es in Petersburg dunkle Nächte?« Sogar ohne diesen Bezug kann man sicher sagen, dass die Oper in den frühen 1790er Jahren spielt (Katharina starb 1796). Zudem wird die Jugend der Gräfin aus den 1770er Jahren, der Zeit von Ludwig XVI. und Marie Antoinette, in die Zeit von Ludwig XV. und Madame Pompadour verlegt, also in die 1740er und 1750er Jahre. Die Kompositionsarbeit an der Oper ging so schnell vonstatten, dass sich der kreative Prozess nur schwer nachvollziehen lässt. Ein offensichtlicher, wenn auch oberflächlicher Grund für die Zeitverschiebung war der Wunsch des Theaters nach einem Intermezzo mit Gesang und Theaterspiel, wofür ein Ball des achtzehnten Jahrhunderts den geeigneten stilistischen Rahmen bot. Die Einfügung der Pastorale Die Aufrichtigkeit einer Schäferin (die der Komponist aus zwei vom Librettisten angebotenen Möglichkeiten auswählte) von Pjotr Karabanow, eines wenig bekannten Dichters des achtzehnten Jahrhunderts, mit ihren reizvoll unbeholfenen, archaisch klingenden Versen gab Tschaikowski Gelegenheit zu einem Pastiche im Stile Mozarts, ähnlich seiner vierten Orchestersuite, der Mozartiana (1887). Dafür mussten die Autoren der Oper die Zeit, in der die Novelle spielt, um circa vierzig Jahre zurückdatieren. Das Libretto weist hinsichtlich der historischen Verortung des Geschehens einige Widersprüche auf, die vielleicht darauf hinweisen, dass die zeitliche Verlegung nicht von Anfang an feststand. Im zweiten Bild singen Lisa und Polina zwei Nummern im Stil der sentimentalen Romanze mit Texten von Schukowski und Batjuschkow – ein Bruch, der die Handlung ins 19. Jahrhundert versetzt. Obwohl die Gedichte im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts geschrieben wurden, könnte man sich leicht ein häusliches Beisammensein in den 1830er Jahren oder später vorstellen, bei dem diese Lieder vorgetragen wurden. In den Erinnerungen der Gräfin an ihre Jugend im 4. Bild findet sich eine unübersehbare Unstimmigkeit: Das Lied, das sie angeblich für Madame Pompadour (die 1764 starb) sang, entstammt einer französischen Oper des folgenden Jahrzehnts: Richard Cœur de Lion (1773) von André Grétry, ein zeitlicher Bezug, der zu Puškins Chronologie gepasst hätte, nicht aber zu derjenigen der Oper. Später nahm Tschaikowski selbst Änderungen im Libretto vor, um die Bezüge zu den 1790er Jahren zu verstärken und deutlicher zu machen. Ursprünglich endete die Ballszene mit Hermanns verhängnisvollem Ausruf: »Nicht ich allein, das Schicksal will es so, und ich werde die drei Karten erfahren!« Der Komponist fand es notwendig, als Abschluss die Ankündigung von Katharinas Ankunft und die Polonaise anzufügen; er selbst entwarf die aufgeregten Ausrufe der Gäste (später wurden sie vom Librettisten überarbeitet) und bezog Dershawins berühmte Verse ein. Als er später am 7. Bild arbeitete, ergriff Tschaikowski abermals die Initiative und ließ Tomski Dershawins Lied »Wenn die lieben Mädchen fliegen könnten« singen. Wie er in einem BOR IS GASPA ROV
→ KS Neil Shicoff als Hermann und KS Anja Silja als Gräfin, 2007
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Brief vom 3. August 1890 an den Großfürsten Konstantin Konstantinowitsch bekannte, mochte er Dershawin ganz allgemein nicht und fand die frivole Scherzhaftigkeit der Strophen scheußlich vulgär, aber er wollte sie aufnehmen, weil sie genau den Geist der Zeit widerspiegelten. Trotz der deutlichen Zeichen, mit denen die Oper in den 1790er Jahren verortet werden sollte, ließ sich die Erzählung als Ganze nicht willkürlich um fast ein halbes Jahrhundert zurückversetzen. Viele ihrer Situationen, Charaktere und Diskurse widersetzten sich dieser Verschiebung. Als Ergebnis erscheint die in der Oper dargebotene Geschichte voller zeitlicher Ungereimtheiten und Anachronismen. Trotz des Bezugs auf »die allweise Zarin« in der Eröffnungsszene im Sommergarten weist ihre Gestaltung insgesamt auf die tatsächlichen Gegebenheiten des neunzehnten Jahrhunderts und ihre literarischen Spiegelungen hin. Wie die verschiedenen Wellen promenierender Menschen im 1. Bild vorbeiziehen – zuerst die Kinder mit ihren Kinderfrauen und Gouvernanten, dann eine Männergesellschaft, der sich schließlich die Damen anschließen – entspricht den ersten Seiten von Gogols Newski Prospekt (1834, im selben Jahr wie Puškins Novelle entstanden) und wurde vermutlich davon inspiriert. Wie schon erwähnt, bezieht sich das 2. Bild durch die bei Lisa gesungenen Romanzen auf das neunzehnte Jahrhundert. Und noch deplatzierter ist das 6. Bild, in dem Lisa um Mitternacht Hermann am Winterkanal erwartet (neben der Pastorale aus dem achtzehnten Jahrhundert eine weitere Idee des Theaterdirektors Wsjewoloschski). Im Petersburg von Belys Roman, also zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, verweilt Sofja Petrowna Lichutina spät in der Nacht an diesem Ort und malt sich aus, sie wäre die Lisa aus der Oper und Nikolaj Apollonowitsch Hermann; aber man kann sich im Petersburg der Puškin-Zeit oder gar im achtzehnten Jahrhundert nur schwer ein Mädchen aus dem Hochadel vorstellen, das zu dieser Stunde alleine zum Winterkanal spaziert, selbst wenn das in der ausdrücklichen Absicht geschieht, sich hineinzustürzen. Die Umstände von Lisas Tod wären kaum anachronistischer, wenn sie sich vor einen Zug werfen würde. Wenn wir die Charaktere der Oper, ihre Handlungen und ihre Art zu sprechen betrachten, treten noch gewichtigere historische Verschiebungen zutage. Stärker als die Prägung der Puškin-Zeit weisen sie die des späten neunzehnten Jahrhunderts auf. Ein Beispiel möge genügen. Fürst Jeletzki, Lisas Verlobter, nähert sich ihr auf dem Ball, um ihr die edle Selbstlosigkeit seiner Liebe zu bekennen. Er liebt sie über alle Maßen, aber will die Freiheit ihres Herzens nicht einschränken; wenn nötig, ist er bereit, aus ihrem Leben zu verschwinden, seine Eifersucht zu unterdrücken; sein Traum ist, nicht nur ein liebender Gatte, »dann und wann ein nützlicher Diener«, sondern ihr Freund und ihr Halt zu sein. Tschaikowski schrieb den Text von Jeletzkis Arie selbst und sandte ihn erst, als er die Musik schon komponiert hatte, an Modest zur Begutachtung. Wir hören darin die Stimme eines fortschrittlichen BOR IS GASPA ROV
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Intellektuellen der 1860er und 1870er Jahre, eines Verwandten von Tschernischewskis »neuen Menschen«, von Stolz aus Gontscharows Oblomow oder von Bersenew aus Turgenews Am Vorabend. Gleichwohl soll die Szene auf einem Fest im Jahre 1791 spielen; in wenigen Minuten werden sich Jeletzki, Lisa und andere Gäste an der Aufrichtigkeit der Schäferin erfreuen. Am meisten fällt indessen die Hauptfigur der Oper aus der Zeit. Als Lisa an Hermann denkt, bevor sie ihm tatsächlich begegnet – eine dämonische Nachtgestalt, gleichzeitig bedrohlich und unwiderstehlich anziehend –, hat er die typische Ausstrahlung des romantischen Helden. Später jedoch, wenn wir mit dem wirklichen Hermann bekannt werden, vermischen sich seine Tristan-ähnlichen Züge mit denen Raskolnikows in einer selbstzerstörerischen Symbiose, welche die dekadente Welt der zusammenhanglosen Obsessionen und der fortwährenden Unruhe verrät – die Welt der Helden von Iwanow, Der schwarze Mönch oder Das Duell (Tschaikowski wurde in den späten 1880er Jahren zum Bewunderer Tschechows). Nicht nur sind seine Leidenschaften völlig unverhältnismäßig und außerhalb seiner Kontrolle. Er folgt kopfüber allen möglichen Impulsen, sodass seine Anstrengungen sich letztendlich gegenseitig zunichtemachen. Ein Blick aus der Ferne auf das »himmlische Geschöpf« versetzt ihn in eine Trance liebender Verehrung, die so erhaben ist, dass er nicht einmal ihren Namen kennen will – denn es kann keinen irdischen Namen für sie geben. Als er hört, dass das Geschöpf mit Fürst Jeletzki verlobt ist, gelobt er, sie diesem »zu entreißen« – wie auch immer. Die Möglichkeit, durch das Ausspielen der drei dämonischen Karten reich zu werden, veranlasst ihn, deren Geheimnis zu verfolgen, zunächst in der Absicht, dem Objekt seiner Bewunderung näher zu kommen, aber schließlich allein um des Geheimnisses willen. Sobald er sich sicher ist, dass er das Geheimnis kennt, kann er nur noch an »Haufen von Gold« denken, die jetzt alle ihm gehören. Als er am grünen Tisch ankommt und die ersten Gewinne kostet, ist die riesige Summe fast vergessen: in seiner letzten Arie verklärt er das Spiel selbst, das Spiel mit dem Schicksal, mit dem Leben. Auf seiner verrückten Jagd nach miteinander in Konflikt stehenden Phantomen zunehmend von der Realität losgelöst, bricht Hermann schließlich zusammen und zerstört dabei alle, die ihm nahestehen. Es ist verblüffend, wie lebendig der Hermann der Oper die bekannte Malaise des Fin de siècle verkörpert. Im Rahmen des 7. und letzten Bildes bezieht er in seiner »Trink-Arie« einen Standort »jenseits von Gut und Böse«: beides erklärt er zur Illusion und Arbeit und Ehrenhaftigkeit zum Altweibermärchen. Damit setzt er sich im Nebel seines Wahnsinns über alles hinweg, was Tschaikowskis Generation heilig war. Gleichzeitig und mit denselben Worten bietet er einen frappierenden Vorgeschmack auf die nietzscheanischen Charaktere, die in Russland und an anderen Orten wie Pilze aus dem Boden schossen. Tschaikowski hatte allen Grund, über den »armen Hermann« und sein Unglück zu weinen. 41
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Ein kleines Detail verrät die Hinfälligkeit von Hermanns Anspruch, ein Mann des achtzehnten oder frühen neunzehnten Jahrhunderts zu sein. In Puškins Novelle wird der Held »Germann« genannt, mit zwei »n«; in der Oper ist er zu »German« geworden (der Unterschied geht in der Übersetzung verloren). »Germann« ist eine direkte Transliteration des authentischen deutschen Namens Hermann. Tatsächlich wird von dem literarischen Hermann gesagt, er sei der Sohn eines russifizierten deutschen Einwanderers; als er einen Liebesbrief an Lisaweta Iwanowna schreiben soll, übernimmt er ihn »Wort für Wort« aus einem »deutschen Roman« (– vielleicht aus dem Werther?). Puškin fügt verschmitzt hinzu, dass Lisaweta Iwanowna, da sie kein Deutsch konnte, mit der Epistel recht zufrieden war. Ein solcher russifizierter Deutscher war zu Puškins Zeit nichts Ungewöhnliches. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts jedoch war der Prozess der Anpassung fortgeschritten und betraf unter anderem auch die Namen. Das ursprüngliche Hermann oder Germann hat das zweite »n« verloren (so wie alle auf »-mann« endenden deutschen Namen im Russischen zu Schuman, Gofman und so weiter wurden) und wurde ein gebräuchlicher russischer Vorname. Einer von Tschaikowskis engsten Freunden, der im Westen als Hermann Laroche bekannte Komponist und Kritiker, hieß tatsächlich German Aleksandrowitsch Larosch. Schon aufgrund seines Namens also musste der Hermann der Oper Tschaikowskis Zeitgenosse sein. Tschaikowskis Musik zeichnet diese zeitlichen Schwünge nach. Schon 1878 hatte er sein Vergnügen an den »shakespeareʼschen Anachronismen« in Alfred de Mussets Dramen ausgedrückt. Die Musik in Pique Dame verkörpert dasselbe Prinzip. Wenn das 2. Bild im Liebesduett gipfelt, erreicht die Musik expressionistische Höhen, die jenen des Liebesduetts im zweiten Akt von Tristan und Isolde vergleichbar sind. Das nächste Bild beginnt mit den mozartischen Klängen des Eingangschores zum Ball. Trotz der Zäsur zwischen den beiden Bildern ist die Wirkung des Wechsels des musikalischen Zeit-Raums schwindelerregend. Dasselbe gilt in der Ballszene für das Nebeneinander der Klänge der Pastorale, von Jeletzkis Arie, seinem Charakter entsprechend im Opernstil der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts geschrieben (für die Germonts Arie aus dem 2. Akt von La traviata als Analogie dienen mag), und von Hermanns irrem Gerede. Dessen abgehackte Phrasierung, wechselnde Tonarten und düstere Orchestrierung halten mit dem musikalischen Diskurs der Götterdämmerung Schritt. In diesem Zusammenhang weist Tschaikowskis Rückwendung ins achtzehnte Jahrhundert paradoxerweise in die Zukunft; sie ist ein Vorbote der Faszination der Avantgarde für mit stilistischen Verschiebungen und Drehungen gewürzte Imitationen der Klassik – der Welt von Richard Strauss und Prokofjew, Ravel und Strawinski. Im Libretto könnten die Verschiebungen der zeitlichen Ebenen zunächst unbeabsichtigt erscheinen. Die Musik verleiht den Anachronismen symbolische Bedeutung. Ihre stilistische Verschiedenartigkeit geht über eine reine BOR IS GASPA ROV
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Abbildung der verschiedenen erzählerischen Zeit-Räume der Oper weit hinaus. Indem Tschaikowski durch alle zeitlichen Ebenen hindurch wiederkehrende Motive beibehält, lässt er diese ineinander nachklingen und einander zum Echo werden. Der musikalische Diskurs springt nie in eine neue zeitliche Umgebung, ohne Spuren der anderen, früher erschienenen, beizubehalten oder auf später auftretende vorauszudeuten. In diesen heterogenen und doch fortlaufenden musikalischen Diskurs übertragen, gewinnt die Geschichte eine stereoskopische Zeitlichkeit, als ob sie sich in verschiedenen historischen Epochen und stilistischen Zusammenhängen gleichzeitig ereignete. Ihre verschiedenen Verkörperungen spiegeln einander, und der Zuhörer ist – ebenso wie die Charaktere – fassungslos angesichts all der schwer zu fassenden Korrespondenzen. Als Hermann, als »Mann der Neunziger« wie Woyzeck oder ein Held Tschechows in seine Obsessionen gehüllt und von höhnischen Stimmen verfolgt, sich auf einem Ball des achtzehnten Jahrhunderts aufhält, oder als er einige Minuten, nachdem Tomski seine für das 18. Jahrhundert charakteristischen Zweideutigkeiten von lieben Mädchen, die wie Vögel fliegen, gesungen hat, seine nietzscheanische Trink-Arie darbietet, fühlt man sich an den Prinzen aus Dornröschen erinnert, der die Säle des verzauberten, in einen Jahrhundert-Schlaf versenkten Schlosses durchquert und die prächtigen Bewohner in die neueste Mode von vor hundert Jahren gekleidet sieht.
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Leoš Janáček
MUSIK DES GRAUENS
Zerrissen, stückhaft – ohne weitgespannte melodische Bögen. Die Instrumente des Orchesters werfen nur unruhige, stechende Töne auf. Und dennoch verwebt das souveräne musikalische Denken des Komponisten alle Bruchstücke zu einer so großartigen Gesamtwirkung, wie sie nur wenige Werke der Musikliteratur erreichen. Erdachte Motive und erfühlte Motive – tief empfunden sind beide; die zweitgenannten entstehen in der Regel, ohne dass dem Komponisten ihre theoretische Bedeutung augenblicklich klar wäre. Sie beherrschen aber mit wundersamer Macht das Gemüt und lassen die Wangen erglühen. Ich könnte eine Reihe von Belegen nennen – doch zur Sache! Fürst Jeletzki und Lisa, Hermann und Lisa, die drei Karten, die Gräfin – Pique Dame usw., das alles, voll von Widersprüchen und innerem Zwiespalt, drängt den Komponisten zu den erdachten Motiven. Sie wirken notwendig und natürlich – sind auch entsprechend, allerdings oft frostig kühl. Zum Beispiel: Vier Töne vibrieren gleichzeitig und rufen eine gedrückte, fahle Stimmung hervor; in diesen Hintergrund stechen drei Töne eine melodische Welle, um eine kleine Sekunde tiefer und eine verminderte Quarte höher, die den harmonischen Plan unverhofft in eine Verbindung dreier Vierklänge verwandelt: nehmen wir an, dass einer von ihnen aus dem kleinen Dreiklang und der kleinen Septime besteht – namenlos, der zweite ebenfalls klein und der dritte vermindert ist. Dieses mit hohem Scharfsinn LEOŠ JA NÁČEK
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erdachte Motiv wiederholt sich in der Regel dreimal, als charakteristisches Zeichen der drei geheimnisvollen Karten und der Pique Dame!¹ Die melodische Welle wird in allen Dimensionen eng oder weit geführt, je nach der Situation; der harmonische Hintergrund behält aber seinen Charakter. – Dieses Verfahren ist für P. Tschaikowski typisch: Er verwendet es auch, wenn er die Musik nicht an das Wort bindet – in seinen Symphonien und Ouvertüren. Wie das Element der russischen Volksmusik die düstere Stimmung erhellt! Hören wir nur den Mädchenchor: »Tanz doch, liebste Maschenka, lass uns heute fröhlich sein...«, oder den Chor: »Unsre gnädige Frau will nun wohl zur Ruhe gehen!«, und den Chor im Spielsaal: »Kartenspiel ist Mannestugend!« Der erste ist scherzhaft, der zweite voll herzlicher Melodik und der dritte auf eine Rhythmik aufgebaut, die auch die Volkstänze Mährens kennen: drei 2/4-Takte und zwei 3/4-Takte. Ist P. Tschaikowski der Komponist, also der Schöpfer – und nicht nur der Mitschöpfer dieser Nummern? Wer imstande ist, eine Ballhandlung (Akt 2, Bild 3) im Stil des 18. Jahrhunderts zu schreiben, vermochte gewiss auch in den Geist der Volksmusik seiner Nation einzudringen und, von ihm geleitet, diese drei Perlen der absoluten Musik zu komponieren. Die Brünner musikalische Atmosphäre wurde für einige Zeit gereinigt; schon lange war sie dumpf zum Ersticken! Wieder einmal hörten wir echte künstlerische Arbeit und erkannten den Genius der Ursprünglichkeit, Eigenart und Wahrheit in der Musik. Halten wir uns nur an diesen Genius, streben wir nur ihm nach! Deshalb ist der 16. Jänner 1896, der Tag der Erstaufführung von Pique Dame am Brünner tschechischen Theater, so bedeutungsvoll.
Musik des Grauens nennt Janáček besonders die auf dem Orgelpunkt Cis aufgebaute Einleitung zum 2. Akt der Oper. Diese Einleitung mag Janáček bei dem Vorspiel zum 2. Akt der Oper Jenůfa vorgeschwebt sein, das ebenfalls auf dem Orgelpunkt Cis beruht. ¹ Janáček analysiert hier das Motiv der drei Karten und der Pique Dame, das in einer zu a-Moll tendierenden, schwebenden Tonart exponiert wird – ein klares Beispiel der gelockerten Tonalität. Es handelt sich um drei Vierklänge; der erste a-c-e-g entspricht dem tonischen Dreiklang mit der mixolydischen Septim g, den Janáček als »namenlos«, das ist leiterfremd, bezeichnet; der zweite ist als Septakkord fis-a-c-e zu verstehen und der dritte als Sekundakkord des Septakkords cis-e-g-hes.
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MUSIK DE S GR AU ENS
Aleksandr Puškin
DER TOD DER GRÄFIN
Die Zeit verging langsam. Alles war still. Im Salon schlug es zwölf; in allen Räumen läuteten die Uhren eine nach der anderen zwölf – und wieder verstummte alles. Hermann stand, an den kalten Ofen gelehnt. Er war ruhig; sein Herz schlug gleichmäßig wie das eines Menschen, der entschlossen ist zu etwas Gefährlichem, aber Unentbehrlichen. Die Uhren schlugen die erste, die zweite Morgenstunde, – und er hörte das entfernte Rattern des Wagens. Unwillkürlich packte ihn Erregung. Der Wagen fuhr vor und hielt. Er hörte den Wagentritt fallen. Im Haus wurde es lebendig. Die Leute liefen auf und ab, Stimmen erschollen, das Haus wurde erleuchtet. Ins Schlafzimmer stürzten die drei alten Zofen, und die Gräfin, mehr tot als lebendig, trat ein und sank in einen Voltaire-Sessel. Hermann blickte durch den Türspalt: Lisaweta Iwanowna ging an ihm vorüber. Hermann hörte ihre eiligen Schritte auf den Stufen ihrer Treppe. In seinem Herzen hallte etwas wie Gewissensbisse nach, und verstummte wieder. Er versteinerte. Die Gräfin begann sich vor dem Spiegel zu entkleiden. Man steckte die Haube los, die mit Rosen verzierte; nahm die gepuderte Perücke von ihrem grauen, kurz geschorenen Kopf. Ein Regen von Nadeln ergoss sich um sie. Das gelbe, silberdurchwirkte Kleid fiel über ihre geschwollenen Füße. HerA LEKSA N DR PUŠK IN
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mann wurde Zeuge der widerwärtigen Geheimnisse ihrer Toilette; schließlich war sie mit Nachtjacke und Häubchen bekleidet: in diesem Aufzug, ihrem Alter eher gemäß, wirkte sie weniger schrecklich und hässlich. Wie alle alten Menschen litt auch die Gräfin an Schlaflosigkeit. Entkleidet, setzte sie sich in den Voltaire-Sessel am Fenster und schickte die Zofen fort. Sie trugen die Kerzen hinaus, wieder wurde das Zimmer nur von dem Heiligen Lämpchen erleuchtet. Die Gräfin, ganz gelb, saß, die hängenden Lippen bewegend, und schwankte nach links und nach rechts. In ihren trüben Augen stand die absolute Geistesabwesenheit; wenn man sie so sah, hätte man meinen können, das Schwanken der schrecklichen Alten rühre nicht aus ihrem Willen, sondern aus einem verborgenen Galvanismus. Plötzlich veränderte sich dieses Totengesicht auf unerklärliche Weise. Die Lippen hörten auf sich zu bewegen, die Augen lebten auf: vor der Gräfin stand ein unbekannter Mann. – Erschrecken Sie nicht, um Gottes willen, erschrecken Sie nicht! – sagte er mit vernehmlicher und leiser Stimme. – Ich habe nicht die Absicht, Ihnen etwas zuleide zu tun; ich bin hier, um Sie um eine Gnade anzuflehen. Die Greisin schaute ihn schweigend an und schien nicht zu hören. Hermann meinte, sie sei wohl taub, und wiederholte, dicht über ihr Ohr gebeugt, das gleiche noch einmal. Die Greisin schwieg, wie zuvor. – Sie können, – fuhr Hermann fort, – das Glück meines Lebens machen, und es würde Sie nichts kosten: ich weiß, Sie können drei Karten nacheinander erraten… Hermann hielt inne. Es schien, als habe die Gräfin begriffen, was man von ihr verlangte; es schien, als suche sie für ihre Antwort nach Worten. – Das war ein Scherz, – sagte sie schließlich: – ich schwöre es Ihnen! das war ein Scherz! – Mit so etwas treibt man keinen Scherz, – erwiderte Hermann zornig. – Denken Sie an Čaplickij, dem Sie geholfen haben, alles zurückzugewinnen. Die Gräfin war sichtlich verlegen. Ihre Züge äußerten heftige seelische Erregung, doch bald verfiel sie wieder in ihre frühere Fühllosigkeit. – Können Sie, – fuhr Hermann fort, – mir diese drei sicheren Karten nennen? Die Gräfin schwieg; Hermann fuhr fort: – Für wen wollen Sie Ihr Geheimnis aufbewahren? Für Ihre Enkel? Die sind ohnedies reich: sie kennen nicht einmal den Wert des Geldes. Verschwendern helfen Ihre drei Karten nicht. Wer nicht versteht, das väterliche Erbe zu bewahren, der wird in Armut sterben, auch ohne dämonische Anstrengungen. Ich bin kein Verschwender; ich kenne den Wert des Geldes. Bei mir wären Ihre drei Karten bestens aufgehoben! Nun! Er hielt inne, und zitternd erwartete er ihre Antwort. Die Gräfin schwieg; Hermann fiel auf die Knie. – Wenn Ihr Herz, – sagte er, – jemals das Gefühl der Liebe gekannt hat, 49
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wenn Sie sich des Glückes erinnern, das sie schenkt, wenn Sie auch nur ein Mal gelächelt haben beim Weinen eines neugeborenen Sohnes, wenn je so etwas Menschliches in Ihrer Brust geschlagen hat, dann flehe ich Sie an bei den Gefühlen der Gemahlin, der Geliebten, der Mutter, – bei allem, was im Leben heilig ist, – schlagen Sie mir meine Bitte nicht ab! entdecken Sie mir Ihr Geheimnis! – was haben Sie schon noch von ihm?... Vielleicht ist es an eine Todsünde gebunden, an den Verlust der ewigen Seligkeit, an einen Teufelspakt... Bedenken Sie: Sie sind alt; Sie haben nicht mehr lange zu leben, – ich bin bereit, Ihre Sünde auf mich zu nehmen. Nur entdecken Sie mir Ihr Geheimnis. Bedenken Sie, das Glück eines Menschen liegt in Ihren Händen; nicht nur ich, meine Kinder und Kindeskinder werden Ihr Andenken segnen und es verehren wie ein Heiligtum... Die Greisin antwortete mit keinem Wort. Hermann stand auf. – Alte Hexe! – sagte er, die Zähne zusammengebissen, – dann werde ich dich zwingen zu antworten... Mit diesen Worten zog er eine Pistole aus der Tasche. Beim Anblick der Pistole zeigte die Gräfin zum zweiten Mal ein heftiges Gefühl. Sie wackelte mit dem Kopf und hob eine Hand, wie um sich vor dem Schuss zu schützen... Dann fiel sie zurück... und bewegte sich nicht mehr. – Werden Sie nicht kindisch, – sagte Hermann, ihre Hand ergreifend. – Ich frage Sie zum letzten Mal: wollen Sie mir Ihre drei Karten nennen? – ja oder nein? Die Gräfin antwortete nicht. Hermann sah: sie war tot.
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Piotr I. Tschaikowski → Tagebucheintrag, 7. Mai 1891
»Meine Leiden entwickeln sich in einem fortwährenden Crescendo. Noch nie, glaube ich, habe ich solche Angst gehabt. Vielleicht deshalb, weil man hier auch auf mein Äußeres achtet und meine Schüchternheit bemerkt?«
Maria Tsurkan
ALEKSANDR PUŠKIN UND DIE RUSSISCHE OPER Die Geschichte der klassischen russischen Oper ist untrennbar mit dem Werk Aleksandr Puškins verbunden. Er bestimmte nicht nur die Themen der Schöpfungen von Michail Glinka, Alexander Dargomyschski, Modest Mussorgski, Piotr I. Tschaikowski, Nikolai Rimski-Korsakow und Igor Strawinski, sondern auch den Weg des gesamten (musikalischen) Nationaltheaters. Erst unmittelbar nach Puškin strebte das russische Musiktheater danach, eine Glaubwürdigkeit der Gefühle, soziale und ethische Konflikte, das geistige Leben eines Menschen darzustellen. Die Opern, die auf Basis der Texte Puškins geschrieben wurden, bildeten einerseits die – dort behandelten – Kunstgestalten des Dichters ab und spiegelten gleichzeitig brennende Gegenwartsprobleme des jeweiligen Komponisten wider. Die Musik war dabei niemals Dienerin des ursprünglichen Textes, sondern interpretierte ihn frei. Und selbst in jenen Fällen, in denen Komponisten Puškins Text behielten, unterlegten sie ihm oftmals einen anderen emotionalen Charakter. So interpretierten sie die Figuren des Dichters, schufen eigenständige Kunstwerke und folgten dabei verstärkt den Regeln der musikalisch-dramatischen Logik. Ein Beispiel: Die verliebten Verse von Lenski in Puškins Eugen Onegin etwa kommentiert der Dichter ironisch, in Tschaikowskis gleichnamiger Oper hingegen gibt es diesbezüglich keine Ironie: Die Musik drückt bewegt und aufrichtig den leidenschaftlichen Liebeskummer Lenskis aus. Eine Analogie zwischen Musiksprache und ursprünglichem Text existiert nicht. Auch in Pique Dame von Tschaikowski ist der Hauptkonflikt umgearbeitet worden, die Gestalten und Situationen haben sich verändert. Bei Puškin war Lisaweta Iwanowna ein Zögling der alten Gräfin, in der Oper hingegen ist sie die Braut des reichen Jeletzki. In der ursprünglichen Erzählung ist Hermann ein kalter und berechnender Egoist, der Lisaweta nicht liebt und M A R I A TSU R K A N
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nur versucht, mit ihrer Hilfe in das Zimmer der Gräfin einzudringen, um sich des Geheimnisses der drei Karten (die den Schlüssel zum Reichtum darstellen) zu bemächtigen. Bei Tschaikowski aber muss dieses Geheimnis dem leidenschaftlich verliebten Protagonisten helfen, sich soziale Gleichberechtigung zu verschaffen. Erst im Laufe des Kampfes um das Geheimnis wandelt sich das Mittel zum Zweck, der Verliebte wird zum Spieler. Bei Puškin sterben Lisaweta und Hermann nicht, sondern sie heiratet und er verfällt dem Irrsinn. Alle diese Änderungen führen die Opernhandlung weit weg von der ursprünglichen Erzählung, von Puškins Text sind im Libretto nur ein paar Stichworte geblieben. Doch Aleksandr Puškin hatte begriffen, dass ein Dichter beim Opernschaffen eine nur untergeordnete Rolle spielt. Wohl der Grund, warum für ihn das Verfassen eines Librettos nicht infrage kam. Dies wird auch durch einen (scherzhaften) Ausspruch, den er gegenüber seinem Freund Wjasemski – der ein Libretto für eine komische Oper verfasste – tat, verdeutlicht: »Wie ist dir nur eingefallen, eine Oper zu schreiben und damit den Poeten dem Musiker unterzuordnen? ... Ich würde mich sogar für Rossini nicht überreden lassen!« Zugleich jedoch interessierte er sich für die Entwicklung jener russischen Oper, die auf der Folklore fußte und reale wie fantastische Motive vereinte. In der Dichtung Ruslan und Ludmila verstieß Puškin gegen die klassischen Regeln, indem er die verschiedenen Gattungen frei mischte. Diese Neuerung schien kühn zu sein, zumal das Fabelschema traditionell war: die Entführung der Prinzessin durch den bösen Hexenmeister, dessen Kraft mit dem abgeschnittenen Bart schwindet, der Kampf zwischen den bösen und guten Zauberern, die Überwindung der Gefahren durch den Haupthelden und zuletzt die Befreiung der gefangenen Geliebten. Dieser sonnige Optimismus, die heitere Lebensauffassung findet in der gleichnamigen Oper Michail Glinkas eine kongeniale Widerspiegelung. Ruslan und Ludmila ist eine epische, fantastische Märchenoper, in der heldenhafte Abenteuer wie auch die treue Liebe besungen werden. Die prächtige und erhabene Oper vereint Züge des Oratoriums, große Vokalensembles und Arien, üppige, exotische, mit Tanz verbundene Szenen. Die russische, nationale Melodik grenzt dabei nahezu an eine orientalische. Von Glinkas Oper ging ein wesentlicher Impuls zu gleich zwei Strömungen der russischen Musikkunst: Die epische und märchenhafte Strömung findet sich in Fürst Igor von Alexander Borodin sowie in den Opern von Rimski-Korsakow: Sadko, Die Legende von der unsichtbaren Stadt Kitesch, Das Märchen vom Zaren Saltan, Der goldene Hahn. Das lyrische Element wiederum, das mit den Gestalten von Ludmila und Gorislawa verbunden ist, erwies sich als besonders fruchtbar. Es bestimmte einige wichtige Züge der auf Puškin basierenden Frauengestalten in der russischen Oper – bis zu Tatjana in Eugen Onegin von Tschaikowski. Doch nicht nur das Märchenepos rief Puškin im russischen Musiktheater ins Leben, sondern auch das soziale Milieustück 53
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← KS Marjana Lipovšek als Gräfin, 2015
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(etwa Die Nixe von Dargomyschski) und die musikalische Volkstragödie. Der stilistische Lakonismus und der Mangel an Alltagsdetails in Puškins Boris Godunow wichen der umfassenden, bilderreichen Darstellung in der gleichnamigen Oper von Mussorgski. Aus 23 Bildern des Theaterstücks wurden zehn Opernbilder, auch die Handlungsfolge ist eine andere: Vieles wurde ausgelassen, anderes hinzugesetzt, die Figuren von Grigori und Marina verändert, das Element der Gewissensbisse von Boris verstärkt. Eine Zeile aus dessen Monolog »Und vor den Augen Knaben blutbeströmt...« verwandet sich eine ganze Szene von Alpträumen und Trugbildern. Und die wichtige Person des Gottesnarren wurde zum Wortführer des Volksleides. Die formellen und stilistischen Neuerungen in der Tragödie Puškins veranlassten auch Neuerungen der Oper. Mussorgski verzichtete auf die traditionelle Gliederung in einzelne Nummern und verwendete kaum Ensembles. Der Kantilene zog er die Vokaldeklamation vor und fand in Boris Godunow die Synthese aus Rezitativ und Kantilene. Diese ist nach Mussorgski »die Melodie, die durch die Rede eines Menschen geschaffen ist«. In Tschaikowskis Werk erreichte die Verbindung zwischen der Poesie Puškins und der russischen Oper schließlich einen Höhepunkt. Die Auslegung der Texte durch den Komponisten erwies sich als die einflussreichste und bestimmende, gerade, weil sich in der Musik große Herzlichkeit und Wärme offenbart. Eugen Onegin, vom Komponisten als »lyrische Szenen« bezeichnet, ist eine Kette von Monologen und Dialogen, die miteinander so eng verflochten und psychologisch motiviert sind, dass für traditionelle Opernklischees kein Platz bleibt. In der Oper fehlt eine spannende äußerliche Intrige, die Handlung konzentriert sich auf Gemütsbewegungen der Personen, ihren inneren Zustand und ihr geistiges Leben. »Die Bühne verstehe ich nicht als Anhäufung von Effekten. Alles, was auf der Bühne geschieht, muss Zuschauer anrühren, ihr Mitgefühl hervorrufen«, so der Komponist. Im Grunde hätte Tschaikowski seiner Oper auch einen anderen Titel geben können: Tatjana Larina. Denn in Wahrheit steht Tatjana im Mittelpunkt dieser lyrischen Szenen, ihr Charakter fesselt die Zuhörer, die beseeltesten Momente sind ihr gewidmet. In Pique Dame wich Tschaikowski von Puškin noch mehr ab als zuvor in Eugen Onegin: Die Ironie des Dichters fand in der musikalischen Ausgestaltung keine Widerspiegelung, alle Ereignisse der Handlung werden ernst genommen: Der Konflikt erreicht eine rein tragische Dimension. Die Transformation der Gestalt Hermanns, die der Librettist Modest Tschaikowski vorgenommen hatte, ist eine tiefgreifende Änderung: Bei Puškin zeichnet ihn nur negatives Verhalten aus, bei Tschaikowski ruft er hingegen Mitleid hervor, besonders, da er als liebende und leidende Person und nicht als Verbrecher handelt. Als Tschaikowski Pique Dame vollendet hatte, beweinte er bekanntlich das Schicksal Hermanns. In einem Brief an seinen Bruder Modest Tschaikowski gestand der Komponist: »Es stellt sich heraus, dass Hermann für mich nicht nur der Anlass war, diese oder jene Musik zu komponieren, A LEKSA N DR PUŠK IN U N D DIE RUS SISCHE OPER
sondern jederzeit ein wirklicher, lebendiger Mensch, der mir sehr sympathisch ist. Ich denke, dass sich dieses warme und rege Verhältnis zum Opernhelden auf die Musik günstig auswirkte.« Während Eugen Onegin und Pique Dame lyrisch-psychologische Romane sind, ist Mazeppa hingegen eine Liebestragödie. Die gegenseitige Durchdringung der Lyrik und des Tragischen bestimmt die Musikentwicklung dieses Werkes und gipfelt im Finale, im Schlummerlied der Maria über dem Leichnam Andrejs. Dieses Schlummerlied als das ungewöhnliche Finale einer Oper war übrigens einer der großen musikalischen Würfe Tschaikowskis. Die eben aufgezeigte lyrische Interpretation des Werks von Puškin, die von Tschaikowski herausgebildet wurde, fand ihre Weiterentwicklung in Sergej Rachmaninows jugendlicher Oper Aleko. In seiner Oper Der geizige Ritter wiederum hört man die Prinzipien des bereits erwähnten rezitativischen Gesangs, die bei Der steinerne Gast von Dargomyschski zum ersten Mal in der russischen Operngeschichte zu hören waren. Mozart und Salieri von Rimski-Korsakow gehört zum psychologischen Drama. Das Werk verkörpert den Konflikt zwischen einem genialen Schöpfer, der neue Wege in der Kunst entdeckt, und einem düsteren Rationalisten, der in Mozart nicht nur den eigenen Feind, sondern den Feind der ganzen Kunst sieht. Die beiden Figuren, die von der tatsächlichen Geschichtsrealität abweichen, lösten sowohl für Puškin als auch für Rimski-Korsakow philosophische Fragestellungen aus. Allerdings erreicht die Oper die dramatische Kraft des literarischen Originals nicht: Der Komponist illustriert die Tragödie mehr als er deren geistigen Inhalt auszudrücken vermag. Zu den bekanntesten Opern von Rimski-Korsakow, die er auf Puškin basierend schrieb, zählen Das Märchen vom Zaren Saltan und Der goldene Hahn. Letzteres Werk streift jenes Charakteristikum des Dichters, das bei den Vorgängerwerken noch keinen Eingang in die Musik gefunden hatte: das Element des Satirischen und Grotesken. Denn im Goldenen Hahn gibt es keinen Glauben an den Triumph des Guten – er bleibt zuletzt einfach aus. Keine positive Person ist vorhanden und sogar der weise Astrologe vermag das Böse nicht zu bekämpfen. Diesen Ansatz von Rimski-Korsakow setzte Strawinski in seiner Oper Mawra fort. Er verzichtete auf die lyrische Auslegung des Sujets von Puškin und schuf eine komische Oper, voller Leichtigkeit und Übermut. »Alltägliches« gesangliches Material sowie Motive der Stadt enthalten dabei Formen der zugespitzten Groteske, die mit dem realen Leben nichts mehr zu tun haben. Die Vielfalt der Formen und Themen, Gattungen und Kunstgriffe in Puškins Werk inspiriert(e) Komponisten auch weiterhin. So wandten sich nicht nur russische, sondern auch europäische Komponisten wie Leoncavallo, Napoli, Malipiero, Reuter in ihrem Werk wiederholt Puškin zu.
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→ Tómas Tómasson als Tomski und Ensemble, 2015
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A LEKSA N DR PUŠK IN U N D DIE RUS SISCHE OPER
Anita Mayer-Hirzberger
STADT DES PRUNKES, STADT DER NÖTE Vom Mythos Sankt Petersburg
Am 1. Mai 1703 eroberte und zerstörte die russische Armee die schwedische Festung Nyenschanz. Noch im selben Monat soll Zar Peter auf der gegenüberliegenden Insel den Grundstein für die Peter-und-Paul-Festung gelegt haben. Nach einer Legende stach er mit dem Bajonett zwei Streifen Torf aus und legte sie in Form eines Kreuzes auf den sumpfigen Boden, ein Akt, der die Grundlegung von Sankt Petersburg symbolisieren sollte. Wie ein Wunder wurde das Entstehen der neuen Stadt in dieser unwirtlichen Gegend betrachtet. Peter hätte sie im Himmel erschaffen, um dann erst das Modell auf die Erde zu setzen, erzählten sich die Russen. Tatsächlich musste eine Viertelmillion Soldaten und Leibeigene mit einfachsten Mitteln rund um die Uhr arbeiten. Bis ins 19. Jahrhundert war es verboten, über die etwa hunderttausend Menschen zu sprechen, die dabei ihr Leben verloren hatten. Der Glanz dieser Gründungsphase und der Mythos vom »Paradies« des Zaren durften nicht beschädigt werden. Petersburg ist nicht mit anderen großen Städten zu vergleichen. Sie ist nicht gewachsen, sondern als Gesamtkunstwerk geplant, als Hauptstadt A N ITA M AY ER-HIR ZBERGER
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eines neuen Russland. Als Vorbild diente Peter das westliche Europa, das er in den neunziger Jahren bereist hatte. Architekten und Handwerker aus Holland, Frankreich, Italien und Deutschland prägten einen Stil, der von Graf Algarotti, dem Schriftsteller und Freund Voltaires und Friedrich des Großen, als »Bastardarchitektur« bezeichnet wurde. Dekrete verordneten einheitliche Fassaden der Paläste, selbst das Schlachthaus wurde im Rokokostil umgebaut, um den geschlossenen Eindruck nicht zu stören. In diese Kulissen befahl der Zar die Akteure des modernen Russlands. Die Adeligen mussten in Sankt Petersburg Quartier beziehen. Im Unterschied zur europäischen Aristokratie hatten sie sich bis zur Zeit Peters in ihrer Lebensweise wenig von der des gemeinen Volkes unterschieden. Nun begannen sie, sich in Kleidung und Manieren dem westlichen Ideal anzupassen. Die Männer durften keine Kaftane mehr tragen, und angeblich schnitt der Zar persönlich besonders renitenten Hofleuten den Bart ab. Aus den früher von Ausländern oft als »Barbaren« bezeichneten Russen sollten Edelleute werden, die besser Französisch als Russisch sprachen, höfliche Konversation betrieben und in westlicher Kunst und Literatur bewandert waren. Die Frauen, die sich im Moskowiterreich der Öffentlichkeit entzogen, in ihren Privatgemächern aufgehalten hatten, bestimmten nun nach europäischem Vorbild die Salonkultur und standen im Mittelpunkt von verschwenderisch ausgerichteten Bällen und Banketten. Dieses luxuriöse Leben der Aristokratie war durch einen unglaublichen Vorrat an billigen Arbeitskräften möglich. Millionen von Leibeigenen bildeten die Basis jener Kultur. Sie verrichteten die Feld- und Hausarbeit und bedienten ihre Herrschaft rund um die Uhr. Darüber hinaus gestalteten sie als Handwerker, Künstler und Musiker das entsprechende Ambiente für das Amüsement ihrer Herren. Den Scheremetjews, einer der reichsten russischen Familien, standen 200.000 Leibeigene zur Verfügung, von denen jährlich einige hundert besonders Begabte für eine weitere Ausbildung ausgewählt wurden. Zwischen dem ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert sollen 173 Anwesen großer Familien Leibeigenentheater und 300 Leibeigenenorchester unterhalten haben. Die berühmtesten Sängerinnen und Sänger jener Zeit gehörten diesem Stand an. Die russischen Feldzüge Napoleons brachten ein Umdenken. Hohe Offiziere, allen voran Fürst Sergej Wolkonski, wandten sich von ihrem früheren Lebensstil ab, den sie als dekadent und unrussisch empfanden. Russische Sprache, Kultur und bäuerliches Leben galten nun als vorbildlich. Nicht die frankophilen Adeligen der Sankt Petersburger Gesellschaft, sondern die einfachen Soldaten, die in den napoleonischen Kriegen für Russland kämpften, wurden zu wahren Patrioten stilisiert. Um Wolkonski bildete sich ein Kreis liberaler Adeliger, der sich gegen das autokratische System und für die Rechte der Leibeigenen einsetzte. Die radikalsten unter ihnen versuchten ihre Vorstellungen im Dezember 1825 im Dekabristenaufstand (nach dem russi 59
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schen Wort für Dezember) durchzusetzen, der allerdings auf Befehl des Zaren Alexander I. blutig niedergeschlagen wurde. Zu dieser neuen Generation zählten auch viele Philosophen, Künstler und Dichter, die selbst größtenteils der Aristokratie angehörten. Einer von ihnen war Aleksandr Puškin, der aus einer alten russischen Adelsfamilie stammte. Dementsprechend genoss er eine standesgemäße Ausbildung, besuchte das Lycée in Sankt Petersburg, das nach dem Vorbild des napoleonischen eingerichtet worden war, und bekleidete die für Adelige üblichen Ämter im Staatsdienst. Die Entscheidung, seinen Dienst zu verlassen, um Schriftsteller zu werden, musste als Auflehnung gegen seine Familie und den Staat aufgefasst werden. In seiner Literatur zeigte er häufig seine Sichtweise der damaligen Gesellschaft. In Eugen Onegin etwa symbolisiert der Titelheld die Welt der Petersburger Adeligen mit ihren als dekadent aufgefassten westlichen Manieren (»Drei Stunden mindestens brachte er vor dem Spiegel zu«). Die Heldin Tatjana hingegen zeigt sich von der als russisch verstandenen Welt fasziniert. Sie lauscht den Geschichten ihrer Amme und spricht davon, das glanzvolle Leben in Sankt Petersburg gegen die »armselige« Behausung ihrer Kinderzeit auf dem Lande tauschen zu wollen. Im Gegensatz zu Lisaweta Iwanowna aus der Erzählung Pique Dame bleibt Tatjana Teil der adeligen Gesellschaft. Lisaweta hingegen wird als eine jener ausgebeuteten und der Willkür ihrer Herrschaft ausgesetzten Bediensteten dargestellt, für die sich die liberal Denkenden jener Zeit zu interessieren begannen. Puškin bezeichnete sie als »in der Tat ein unglückliches Geschöpf... die Märtyrerin des Hauses«. Auf Grund ihres niederen Standes wird sie von der höfischen Gesellschaft ignoriert. Wie Eugen Onegin zunächst Tatjanas Wert nicht wahrnimmt, so sind auch die »viel zu berechnenden und hochmütigen« jungen adeligen Männer in Pique Dame nicht in der Lage, Lisawetas wahre Schönheit zu erkennen, »... obwohl sie hundertmal mehr Reiz besaß als die frechen und kalten jungen Mädchen...« Die achtzigjährige despotische Herrin Lisawetas, Gräfin Anna Fjodorowna, ist ein Relikt der alten Gesellschaft, eine Vertreterin der »lieben Schoßkinder des achtzehnten Jahrhunderts«, wie Puškin sie 1821 nannte. Sie lebt in der Erinnerung an frühere Zeiten, schminkt und kleidet sich wie in ihrer Jugend, nimmt an allen gesellschaftlichen Ereignissen teil und achtet streng auf Sitte und vorgeschriebene Etikette. Aufgewachsen mit französischer Literatur, zeigt sie sich erstaunt, als der Neffe ihr einen russischen Roman als Lektüre anbietet: »Gibt es überhaupt russische Romane?« Als ihr »natürlicher Sohn« wird der kalte und berechnende Hermann (im russischen Original German) bezeichnet, ein deutscher junger Gardeoffizier, der »das Profil von Napoleon und die Seele eines Mephisto« hat. Er beteiligt sich nicht am Gelage und Kartenspiel seiner Kameraden, die ein Abbild jener jungen Männer der Dekabristenkreise sein könnten, denen Trinken als A N ITA M AY ER-HIR ZBERGER
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Zeichen der Freiheit und Ausdruck des russischen Wesens galt. Puškin, der Wert darauf legte, um acht oder neun Uhr abends Mittag zu essen, setzte das Souper dieser Gesellschaft um fünf Uhr morgens an. Hermann ist nach außen hin für derartige Exzesse zu überlegt und überspielt damit seine innere Besessenheit. Er ist »... ein Deutscher: er ist sparsam und vernünftig – das ist seine Sache«. In dieser Charakterisierung entspricht er der als unnatürlich und fremd beschriebenen Stadt Sankt Petersburg, wie sie Nikolai Gogol in den Petersburger Skizzen aus dem Jahr 1836 charakterisierte: »Petersburg – ist ein Mensch von peinlicher Akkuratesse – ein echter Deutscher, er erwägt alles und rechnet alles nach, und ehe es eine Abendgesellschaft gibt, tut es einen Blick in die Tasche.« Das ganze 19. Jahrhundert bleibt mit Sankt Petersburg die Vorstellung einer Stadt der Kälte und Unterdrückung verbunden. Apollon Grigorjew schreibt ihr 1848 einen bitteren Abschied: »Adieu, du kalte Stadt, Stadt ohne Leidenschaft, grandiose Stadt der Sklaven, leb wohl…« Moskau hingegen wurde zum positiven, gemütlichen und russischen Gegenpol stilisiert, zum »alten Hausmütterchen«. Die Rückkehr zu alten russischen Formen in Kunst und Literatur bekam gerade in diesem Ambiente einen neuen Aufschwung. Die Maler Ilia Repin, Wassili Polenow und Viktor Wasnezow zogen von Sankt Petersburg nach Moskau. Im Gegensatz zur aristokratischen Sankt Petersburger Akademie meinten sie hier eine freie Atmosphäre zu verspüren, sowohl künstlerisch als auch gesellschaftlich. Die Moskauer Schule hatte sich den Einflüssen aus der traditionellen Kunst geöffnet und nahm Studenten aus allen sozialen Schichten auf. Der Sankt Petersburger Komponist Modest Mussorgski beschrieb seinen Aufenthalt in Moskau im Jahr 1859 als eine Wiedergeburt, die aus dem Kosmopoliten einen Russen gemacht habe. Mussorgski gehörte zu jenen, die durch Nikolai Tschernyschewskis Roman Was tun? aus dem Jahr 1862 angeregt wurden, in »Bauerngemeinschaften« zu wohnen. Tschernyschewski setzte sich darin für die Rechte der Bauern und Arbeiterschaft ein und propagierte den Aufbau einer neuen Gesellschaft. Diese junge Generation, meist Nachkommen wohlhabender Eltern, waren von der Idee beseelt, sich für die Befreiung der Bauernschaft aus Armut, Unwissenheit und Unterdrückung durch den Adel einzusetzen. Obwohl 1861 die Leibeigenschaft offiziell abgeschafft worden war, hatte sich wenig an der Situation der armen ländlichen und städtischen Bevölkerung geändert. Mussorgski wohnte damals mit Mili Balakirew, César Cui, Alexander Borodin und Nikolai Rimski-Korsakow zusammen, ein Grund, warum sie ironisch auch als »das mächtige Häuflein«, der kutschka, bezeichnet wurden. Die meisten jener »Kommunen« bestanden allerdings nicht besonders lange, da die harte Wirklichkeit nicht viel mit der romantischen Vorstellung der jungen, größtenteils wohlhabenden Sankt Petersburger zu tun hatte. Der sozialpolitische Elan ließ recht bald nach. Dies war auch bei 61
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Antoine-Elisée Cherbuliez
»In diesem Sinne ist Tschaikowski einer der größten Gefühlsmusiker der neuen Zeit; sein Genie beruht auf seiner in Klang und Melodie sich wandelnden Emotionalität.«
Mussorgski der Fall. Am Ende seines Lebens zog er sich schließlich aus dem Kreis seines Mentors zurück, des Kritikers Wladimir Stassow, von dem er sich zu einer politisch engagierten Kunst angetrieben sah. Er verbrachte seine Zeit vor allem bei Trinkgelagen mit anderen Aristokraten. Obwohl sich die Kutschkisten bemühten, eine vom Westen emanzipierte nationale Musiksprache zu entwickeln, war es Piotr Iljitsch Tschaikowski, der »Konservatoriumskomponist«, der als russischer Komponist hochgehalten wurde. Wie die Komponisten um Stassow zeigte auch er Interesse für russische Volksmusik, bekannte sich aber deutlich zur europäischen Tradition. In seiner Bibliothek standen die Gesamtausgabe von Mozart und die Werke Michail Glinkas. Für den Komponisten stellte es offensichtlich kein Problem dar, die Handlung um einige Jahrzehnte zurückzuverlegen, wie es die Petersburger Theaterleitung vorgeschlagen hatte. Die Ära der Zarin Katharina war mittlerweile zum Goldenen Zeitalter der Kunst und Kultur verklärt worden, in die man vor der prekären Situation der damaligen Gegenwart fliehen konnte. »Es gibt Liebe, Liebe und (noch einmal) Liebe«, schrieb Piotr Tschaikowski 1878 seinem Bruder Modest. Aus Lisaweta, der »Märtyrerin des Hauses«, wird Lisa, die Enkelin der Gräfin und Braut des reichen Fürsten Jeletzki. Durch diese soziale Beförderung kommt für die Brüder Modest, der für das Libretto verantwortlich ist, und Piotr Iljitsch Tschaikowski das Liebesdrama erst in Gang. Der bürgerliche Hermann ist nicht der kühle Deutsche. Er liebt Lisa und spielt um sein Glück. Musikalisch geht Tschaikowski systematisch vor, so wie Zar Peter bei der Planung der Stadt Sankt Petersburg. Um Situationen und Charaktere zu schildern, greift er auf die Musiksprache von Mozart zurück, auf die italienische Tradition bis hinauf zu Bizet. Das kosmopolitische Petersburg war am Ende des 19. Jahrhunderts wieder interessant geworden, insbesondere für die junge Künstlergruppe Mir Iskusstwa (Welt der Kunst), zu der Alexander Benois und Sergei Diaghilew als wichtige Vertreter gezählt werden. Sie identifizierten sich mit der Stadt und deren Architektur. Die Formen seien zwar entlehnt, entstanden sei aber etwas Einzigartiges, gab sich Benois überzeugt. Ein wichtiger Anstoß zur Formierung der Gruppe sei die Begegnung mit Tschaikowskis Pique Dame gewesen. Von da an, meinte Benois, seien sie in der Liebe zu Tschaikowski und seinem klassischen Stil von Sankt Petersburg vereint.
→ Historische Stadtansicht von St. Petersburg, 1880
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Philip Ross Bullock
DAS ANDERE PETERSBURG ZUR ZEIT TSCHAIKOWSKIS Obwohl meine Untersuchung mit »Das andere Petersburg« überschrieben ist, möchte ich mit einem Brief beginnen, den Tschaikowski Anfang 1879 aus Paris schrieb. Obwohl er fleißig an einer neuen Oper arbeitete, die auf Schillers Die Jungfrau von Orleans basierte, fand er auch Zeit, um sich zu amüsieren: Ich entschied, dass ich unbedingt Zeit im Genuss verbringen muss. Deswegen ging ich nach einem schnellen Mittagessen Luisa suchen. Eine Zeit lang blieb meine Suche ohne Resultat, doch dann: da ist sie! Ich war unvorstellbar froh, da ich sie im Grunde unglaublich attraktiv finde. … Sie schlug vor, zu ihr zu gehen. Sie wohnt unglaublich weit weg. Wir gingen lange zu Fuß, dann setzten wir uns in den Omnibus, dann weiter zu Fuß, dabei berauschte ich mich die ganze Zeit… und fühlte mich ganz unglaublich verliebt. Endlich kamen wir in der rue de Maine an. … In dieser Straße und nebenan, in der rue de la Gaité, war eine Masse von Leuten unterwegs, eine Spelunke nach der anderen, Ballsäle mit weit offenen Fenstern, aus denen Musik schallte. Um ihre Mansarde zu erreichen, musste man in irgendein Assomoir gehen und une mente avec de l’eau frappé trinken, danach durch eine kleine Tür schlüpfen, ewig lange eine enge, dunkle Treppe hochsteigen, um am Ende in einem winzigen Zimmer mit schiefer Decke anzukommen, mit dem Fenster in der Decke anstatt in der Wand!!! Ein Bett, eine ärmliche kleine Truhe, ein dreckiger Tisch mit Kerzenstummel darauf, einige Paar löchriger Hosen und Überröcke, ein riesiges Kristallglas, dass sie in der Lotterie gewonnen hat – das ist die Ausstattung des Zimmers. Und trotzdem kam es mir in dieser Minute vor, als sei diese armselige Kammer der Ort, an dem alles menschliche Glück zusammenkommt. PHILIP ROS S BU LLOCK
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Diese Zeilen beschreiben eindeutig ein sexuelles Abenteuer. Tschaikowski kannte offensichtlich die Orte in Paris, wo erotisches Vergnügen zu finden war, in der Regel für Geld. Und »Luisa«, mit der er sich entschlossen hatte die Nacht zu verbringen, entpuppt sich als ein junger Mann: Ich bin nicht fähig, ein weibliches Pronomen zu benutzen, wenn ich über diese liebe Person spreche... es gab verschiedene calinerie [Liebkosungen], wie er es ausdrückte, und danach wurde ich ganz wild vor Liebesglück und erlebte unglaubliche Genüsse. Ich kann sagen, ohne zu übertreiben, dass ich nicht nur lange nicht mehr, sondern überhaupt noch nie so glücklich in diesem Sinne war wie gestern. Hinterher gingen wir zu so einer Belustigung, einer Mischung aus café chantant und Theater, danach waren wir in irgendeinem Café und tranken eine Menge Bier, und danach gingen wir schrecklich lange zu Fuß, tranken wieder Bier und gingen schließlich um ein Uhr nachts getrennte Wege. Am nächsten Tag wurde Tschaikowski von einem Anfall von Reue heimgesucht: Ich wurde allerdings schon um sieben Uhr wach, mit einer furchtbaren Schwere im Kopf, melancholisch und voller Gewissensbisse, im vollen Bewusstsein der Falschheit und Übertriebenheit jenes Glückes, das ich gestern erfuhr und welches in Wirklichkeit nichts weiter ist als eine starke sinnliche Neigung, die auf einer Entsprechung zwischen den launischen Forderungen meines Geschmacks und Luisas Liebreiz im Allgemeinen beruht. Wie dem auch sei, dieser junge Mann hat viel Gutes auf dem Grunde seiner Seele. Aber mein Gott, wie armselig er ist, und wie zutiefst verdorben! Und anstatt ihm dabei zu helfen, sich wieder zu erheben, helfe ich ihm nur dabei, noch tiefer zu sinken. Ich werde Dir bei unserem nächsten Treffen viele entzückende Einzelheiten erzählen, die seine Naivität und gleichzeitige Verdorbenheit demonstrieren. Ich beginne meinen Vortrag mit diesen ausgiebigen Zitaten, weil sie ein Licht sowohl auf Tschaikowskis Sexualität als auch auf dessen eigene Einstellung dazu werfen. Es ist ein humorvoller Brief, der zeigt, dass sich Tschaikowski sehr wohl seiner eigenen emotionalen Veranlagung bewusst war und illustriert seine welterfahrene Einstellung zu sexueller Befriedigung. Er wusste, wie leicht er, als wohlhabender, gut vernetzter Mann von Welt, ein bisschen Glück kaufen konnte, wenngleich es nicht von Dauer war. Der Brief zeigt außerdem, wie gut Tschaikowski sich in den verrufenen Gefilden von Paris auskannte. Im neunzehnten Jahrhundert waren die Rue de Maine und Rue de la Gaité das Zentrum eines Vergnügungsviertels, wo Sex zum Kauf angeboten wurde. Und für Tschaikowski fungierte Französisch als eine Art 67
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Sprache der Liebe, wie es häufig bei gut ausgebildeten Europäern der Fall war. Der Brief illustriert außerdem eine hochentwickelte moralische Sensibilität. Tschaikowski verstand sehr wohl, dass er in einer Position der Macht und Autorität war, und dass seine Handlungen lediglich die Erniedrigung des jungen Mannes, mit dem er die Nacht verbracht hatte, vertieften. Was der Brief nicht zeigt, sind Schuldgefühle oder moralische Selbstquälerei. Tschaikowski wirkt hier nicht wie ein von Selbsthass geplagter Homosexueller, ein neurotisches Opfer pathologischer Gefühle oder potenzieller Selbstmörder. Der Brief ist zudem überraschend offenherzig, besonders wenn wir bedenken, dass er in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts geschrieben wurde. Obwohl Tschaikowski zunächst versucht, die Identität seines Liebhabers mit femininen Pronomen zu verschleiern, enthüllt er bald die wahre Natur seiner erotischen Gefühle. Es existieren eine Reihe ähnlicher Briefe, die aber dem Leser erst seit Kurzem zugänglich sind. Dieser Brief wurde in ganzer Länge und unzensiert erst 1995 veröffentlicht. Vorher wurden die entsprechenden Passagen stets herausgeschnitten und die Leser hatten keine Ahnung, dass der Brief gekürzt war. Diese Kultur des Stillschweigens bedeutet, dass Leser über einen langen Zeitraum hinweg keinerlei Kenntnis von einigen der interessantesten und intimsten Momente aus dem Privatleben des Komponisten besaßen, ebenso wenig wie von der reichen Geschichte der Homosexualität im Russland des neunzehnten Jahrhunderts. Um noch ein Beispiel zu geben folgt hier ein Brief an seinen Bruder Anatoly aus dem Februar 1878, in dem Tschaikowski berichtet, wie er die Zeit in Florenz verbrachte: Ein ganzer Tag voller Qualen und Schwankungen. Am Abend hatte ich ein rendez-vous. Es ist wirklich so: schmerzlich schön! Endlich habe ich mich entschieden, hinzugehen. Ich habe zwei wunderschöne Stunden verbracht, in sehr romantischen Umständen; ich hatte Angst, bin dahingeschmolzen, habe mich vor jedem Geräusch erschrocken, Umarmungen, Küsse, eine einsame Wohnung, weit weg und hoch gelegen, liebes Geschwätz, Genuss! Ich kam müde und völlig erschöpft nach Hause, aber voll wunderbarer Erinnerungen. Ein paar Tage später suchte er erneut das Abenteuer: Auf der LungʼArno traf ich auf einige Straßensänger und fragte sie ganz direkt, ob sie nicht zufällig unseren Jungen kennen würden. Es stellte sich heraus, dass sie ihn kennen, und dass er heute Abend um neun Uhr auf der LungʼArno sein wird. Heute habe ich wieder ein rendez-vous. Die Person, um die es hier geht, ist Vittoro, ein Straßensänger aus Florenz, der regelmäßig in Tschaikowskis Briefen aus dieser Zeit auftaucht. TschaiPHILIP ROS S BU LLOCK
→ Grace Bumbry als Gräfin, 2013
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kowski verewigte eines seiner Lieder als Pimpenella, die letzte der Sechs Romanzen, op. 38. Aber was wissen wir von Tschaikowski und seinem Privatleben in Russland, und besonders in der russischen Hauptstadt, Sankt Petersburg? Hier stehen uns leider nur wenige Quellen zur Verfügung. Im September 1878, als der Komponist aus Europa nach Moskau zurückkehrte, ließ er sich von Nikolay Bochechkarov, einer Figur der schwulen Halbwelt, mit einem Diener bekannt machen. Obwohl es zu keiner sexuellen Begegnung kam, war Tschaikowski von Gesicht und Körper des jungen Mannes begeistert – er beschrieb sie seinem ebenfalls homosexuellen Bruder Modest als »un rève – die Fleischwerdung eines süßen Traumes«. Zwei Jahre vorher – als er zum ersten Mal die Idee hatte zu heiraten – hatte er den Landsitz von Mikhail Bulatov, auch ein Mitglied der schwulen Halbwelt von Moskau, besucht: »Sein Haus«, schreibt er an Modest, »ist nicht anders als ein schwules Bordell, wo ich mich in seinen Kutscher verliebt habe wie eine Katze!!« Über Tschaikowskis Privatleben in Sankt Petersburg wissen wir wesentlich weniger, aus sehr praktischen Gründen. In der russischen Hauptstadt verlebte Tschaikowski ungefähr fünfzehn Jahre, zuerst als Student an der Hochschule für Jurisprudenz und danach am neugegründeten Konservatorium für Musik. Obwohl er in Sankt Petersburg starb, verbrachte er sein ganzes professionelles Leben in Moskau. Im Unterschied zu den ausführlichen Briefen, die er aus dem Ausland schrieb, hat er seine sexuellen Abenteuer in Russland wahrscheinlich eher mündlich beschrieben. Tschaikowski war durchaus in der Lage, seine sexuelle Orientierung selbstkritisch und mit Witz und Ironie zu betrachten. Wir sollten allerdings die Schwierigkeiten, die sie ihm im Alltag bereitete, nicht unterschätzen. Wie in vielen anderen Ländern waren homosexuelle Kontakte unter Männern im russischen Reich illegal. Kam es zum Gerichtsverfahren, konnten Männer mit Exil bestraft werden; Adelige konnten zudem ihr Erbrecht verlieren. Tschaikowski ließ also, wie so viele homosexuelle Männer im neunzehnten Jahrhundert, in seinem Privatleben Takt und Diskretion walten, besonders, als sein Bekanntheitsgrad in der Öffentlichkeit zunahm. Tschaikowskis Diskretion diente nicht nur dazu, ihn selbst vor Strafverfolgung zu schützen, sondern auch seine Familie vor Geschwätz und Gerüchten zu bewahren. Und obwohl er versuchte, die Einzelheiten seines Privatlebens privat zu halten, ist es klar, dass seine sexuelle Orientierung der Öffentlichkeit bekannt war und diskutiert wurde. In einem Zeitungsartikel aus dem Sommer 1878 gab es Andeutungen, dass die Professoren des Moskauer Konservatoriums Affären mit ihren Studenten hätten. Die meisten dieser Affären waren heterosexueller Natur, aber, wie Tschaikowski seinem Bruder Modest schrieb: »an einer Stelle in dem Artikel, wo die Rede von den Amouren zwischen Professoren und jungen Frauen ist, steht am Ende ›im Konservatorium gibt es außerdem Amouren einer anderen Art, aber selbstverständlich werde ich über diese nicht PHILIP ROS S BU LLOCK
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sprechen‹. Es ist vollkommen klar, worauf der Autor anspielt.« Gerüchte wie dieses waren der Grund, warum Tschaikowski im September 1876 die fatale Entscheidung traf, zu heiraten. Seine Motive waren vielschichtig. Zum einen wollte er seinem Vater einen Gefallen tun und seine »Pflicht« als Sohn erfüllen. Zum anderen hatte er offensichtlich den Eindruck, dass eine kameradschaftliche Beziehung zu einer Frau Ordnung in sein Junggesellenleben bringen könnte. Er kannte offensichtlich mehrere schwule Männer aus seinem Umfeld, die geheiratet hatten, aber weiterhin homosexuelle Beziehungen unterhielten. Außerdem war er sehr darauf bedacht, jegliche öffentliche Diskussion über seine sexuelle Orientierung zu unterbinden. Aber sein primäres Motiv scheint der Wunsch gewesen zu sein, seine Homosexualität zu unterdrücken. An seinen Bruder Modest schrieb er: Ich habe über vieles nachgedacht... über mich selbst, über dich, über unsere Zukunft. Das Resultat meines Nachdenkens ist, dass ich vom heutigen Tag an ernsthafte Anstrengungen unternehmen werde, eine reguläre Ehe einzugehen, mit wem auch immer. Ich finde, dass unsere Neigungen für uns einen überaus wichtigen Kernpunkt und eine unüberwindbare Schranke zwischen uns und dem Glück darstellen, und dass wir aus allen Kräften gegen unsere Natur ankämpfen müssen. Wie wir wissen, war Tschaikowskis Ehe mit Antonina Milyukova, geschlossen im Sommer 1877, für beide Seiten ein Desaster. Im März dieses Jahres hatte Antonina dem Komponisten schriftlich ihre Liebe gestanden. Die beiden trafen sich persönlich erst am 20. Mai. Drei Tage später machte Tschaikowski Antonina einen Heiratsantrag. Nur eine knappe Woche später verließ er Moskau und fuhr auf den Landsitz eines Freundes; er kehrte erst wenige Tage vor der Hochzeit in die Stadt zurück. Die Zeremonie fand am 6. Juli in Moskau statt und es waren nur vier andere Personen zugegen: Tschaikowskis Bruder Anatoly, sein guter Freund Joseph Kotek, mit dem er wahrscheinlich in der Vergangenheit eine Liebesbeziehung gehabt hatte, und zwei Freunde von Antonina. War Tschaikowskis Ehe denn wirklich nötig? Ein Mann seines sozialen Ranges und mit den entsprechenden Verbindungen hatte eigentlich keine Strafverfolgung zu befürchten. Zwischen 1850 und 1859, während seiner Jahre als Student an der Hochschule für Jurisprudenz in St. Petersburg, gehörte Tschaikowski zu einer privilegierten männlichen Elite, in der leidenschaftliche Beziehungen zwischen Männern an der Tagesordnung waren. So war Tschaikowski während dieser Zeit zum Beispiel mit seinem Schulfreund Sergey Kireev liiert, den Modest als »eine der stärksten, langanhaltendsten und reinsten Verliebtheiten« seines Lebens bezeichnete, und der auch die Inspiration für Werke wie Romeo und Julia, Der Sturm und Francesca da Rimini war. Die Einzelheiten von Tschaikowskis Beziehung zu Kireev während 71
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ihrer Jugendzeit sind unbekannt und waren vielleicht auf eine intensive Anziehung begrenzt, wie es in Bildungseinrichtungen wie die Hochschule für Jurisprudenz so oft der Fall war. Die Hochschule war aber auch das Ziel obszöner Gerüchte über sexuelle Eskapaden, die angeblich zwischen den Studenten stattfanden. Nachdem Tschaikowski die Hochschule im Jahr 1859 beendet und einen Posten im Justizministerium angenommen hatte, lebte er in Sankt Petersburg das Leben eines sorglosen jungen Junggesellen. Modest erinnert sich an seines Bruders »Fimmel für Laientheater« und seine Angewohnheit, die Bewegung und Gesten verschiedener bekannter Schauspielerinnen und Diven zu imitieren. Modest behauptete auch, dass Tschaikowski am Anfang der sechziger Jahre in einen homosexuellen Skandal verwickelt war, und dass er daraufhin sein Benehmen änderte und sich einem Regime der Disziplin und Diskretion unterwarf, welches den Rest seines Lebens bestimmen würde. In Tschaikowskis Umgangskreis gab es aber viele schwule Männer, die ihre Sexualität offen und ohne Reue auslebten. Der Dichter Aleksey Apuchtin, ein gleichaltriger Schulfreund Tschaikowskis, war wohlbekannt in den homosexuellen Kreisen Petersburgs und lebte offen mit einer Reihe seiner männlichen Geliebten zusammen. Wladimir Meshchersky, der Herausgeber der konservativen Zeitung Der Bürger (Grazhdanin), war ein weiterer Schulfreund Tschaikowskis. Die Presse machte häufig Anspielungen auf Meshcherskys skandalumwittertes Liebesleben, inklusive einer Affäre mit dem jungen Offizier eines Zarenregiments Ende der achtziger Jahre. Meshchersky war ein enger Freund des Zaren und konnte seinen Ruf mithilfe seiner Verbindungen schützen. In der Tat waren einige Mitglieder der Zarenfamilie selbst als homosexuell bekannt oder wurden der Homosexualität verdächtigt; der amerikanische Slawist Simon Karlinsky hat nicht weniger als sieben schwule Großherzöge (»seven gay grand dukes«) gezählt. Zu ihnen gehörte Großherzog Sergei Alexandrowitsch, der Bruder Alexanders III. Als der Großherzog 1891 zum Generalgouverneur von Moskau ernannt wurde, hielt ein Zeitzeuge ein Bonmot fest, das in der Stadt anscheinend die Runde machte: »Bis heute stand Moskau auf sieben Hügeln, und jetzt steht es auf einem einzigen Holm.« (Der Witz basiert auf einem Wortspiel: das russische Wort für Holm – bugor – klingt fast genauso wie der französische Jargon für »schwuler Mann«, bougre). Andere Mitglieder der Zarenfamilie waren diskreter. Großherzog Konstantin Romanov war ein kultivierter, intelligenter Mann, der nicht nur in der Armee diente, sondern auch Direktor der Akademie der Wissenschaften war. Außerdem war er ein versierter Dichter, der seine Texte unter dem nicht besonders einfallsreichen Kryptonym KR veröffentlichte. Seine Korrespondenz mit Tschaikowski war warm und herzlich, und im Jahr 1886 vertonte Tschaikowski sechs von Romanovs Gedichten. Tschaikowski und Romanov waren gute Freunde, deren Verbindung auf ihrer geteilten Liebe zur Musik und zur Dichtung beruhte. Obwohl Romanov verheiratet war und eine große Familie PHILIP ROS S BU LLOCK
→ Piotr Tschaikowski und seine Frau Antonina
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hatte, hatte er auch sexuelle Kontakte mit anderen Männern, zumeist in der Armee, aber auch in den öffentlichen Bädern von St. Petersburg. Er quälte sich mit Schuldgefühlen über sein Verhalten und bereute seine sexuelle Orientierung. Wir wissen allerdings nicht, ob Tschaikowski über Romanovs Privatleben Bescheid wusste, da dessen Tagebücher erst in den 1990er Jahren veröffentlicht wurden. Ob Tschaikowski nun von Romanovs Orientierung wusste oder nicht, es ist klar ersichtlich, dass für einen Adeligen mit guten Verbindungen im späten neunzehnten Jahrhundert Homosexualität kein Stolperstein auf dem Weg zu gesellschaftlichem Erfolg war, und dass solche Männer kaum Angst haben mussten, enttarnt oder bestraft zu werden. Obwohl homosexuelle Kontakte theoretisch illegal waren, ist kein Fall bekannt, in dem das Gesetz auf einen Mann vom Stand und Ruf Tschaikowskis angewendet worden wäre. Russlands gehobene Gesellschaft hatte eine nachsichtige Einstellung zur Homosexualität, zumindest, wenn diese diskret gelebt wurde, was bei Tschaikowski immer der Fall war. Die russische Gesellschaft war schockiert über die Prozesse gegen Oscar Wilde im Jahre 1895 und sah sie als Beispiel für die Heuchelei und Scheinheiligkeit der Briten. Auch die Eulenburg-Affäre, die Deutschland zwischen 1907 und 1909 in Atem hielt, hatte keine Parallele in Russland. Tschaikowskis Einstellung zu seiner eigenen Homosexualität war diskret und moderat. Er lebte seine Affären fernab der Öffentlichkeit, und selbst wenn sein Privatleben publik geworden wäre, stand er unter dem Schutz der Zarenfamilie und wusste, dass es unwahrscheinlich war, dass er bestraft oder in Ungnade fallen würde. Aus diesem Grund sind die Gerüchte, dass Tschaikowskis Tod im Jahre 1893 in der russischen Hauptstadt Selbstmord sei, so unglaubwürdig. Sie widersprechen allem, was wir wissen – sowohl über seine Persönlichkeit als auch über die historische Situation für schwule Männer in der russischen Gesellschaft im späten neunzehnten Jahrhundert. Was war also nach Tschaikowskis Tod über seine Sexualität bekannt? Wie hat diese Frage seinen Ruf im zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhundert im Ausland und in Russland beeinflusst? In der russischen Gesellschaft war Tschaikowskis sexuelle Orientierung während seines Lebens ein offenes Geheimnis. Viele seiner Freunde, Verwandten und Kollegen wussten davon, vermieden es aber, das Thema öffentlich anzusprechen. Die Clique junger Künstler, Kritiker und Maler, die der Zeitschrift Welt der Kunst (Mir Iskusstwa) nahestanden und später die Ballets russes gründeten, unter denen es viele Schwule gab, wussten zweifellos von Tschaikowskis Orientierung. Sergej Diaghilew zum Beispiel verehrte Tschaikowskis Musik und war einer der vielen Augenzeugen seiner letzten Tage und seines imponierenden offiziellen Begräbnisses in der russischen Hauptstadt. Diaghilew fand in dem Komponisten nicht nur einen glühenden Bewunderer des achtzehnten Jahrhunderts, der empfänglich für die Schönheit Petersburgs war, sondern auch PHILIP ROS S BU LLOCK
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einen älteren schwulen Mann, der seine Sexualität in kreatives Schaffen umgeleitet hatte. Aber zumindest offiziell war Tschaikowskis sexuelle Orientierung ein Thema, das zwar einer Gruppe Initiierter bekannt war, aber auf keinen Fall in der Presse diskutiert wurde. Auch die Biografie, geschrieben von seinem Bruder Modest, die 1901/02 auf Russisch und Deutsch erschien, erwähnt die Homosexualität mit keinem Wort. Aber in der Presse waren bald nach Tschaikowskis Tod im Jahr 1893 Anspielungen zu lesen. So lernte die Schriftstellerin, Kritikerin und Übersetzerin Rosa Newmarch während mehrerer Russland-Besuche zwischen 1897 und 1915 viele von Tschaikowskis Bekannten und Musikerkollegen kennen. Während ihrer Zeit in Sankt Petersburg hat sie zweifelsohne Gerüchte über Tschaikowskis Privatleben zu hören bekommen. Auch wenn sie dies niemals explizit thematisierte, scheinen einige ihrer Texte Anspielungen auf seine Sexualität zu enthalten. So beschrieb sie ihn zum Beispiel als einen »sanften und sensiblen Künstler mit einem fast schon femininen Hunger nach Anerkennung und Ermutigung« und verwies sogar auf seine »Sanftmütigkeit und die beinahe feminine Sensibilität seiner Natur«. Zumindest war Newmarch dem Komponisten wohlgesinnt; für andere Kritiker war aber Tschaikowskis Musik ein zutiefst negatives Phänomen. Ein gutes Beispiel sind die kritischen Texte von Hubert Parry, Professor für Musik in Oxford und Professor für Komposition am Royal College of Music in London und außerdem einer der führenden britischen Komponisten seiner Zeit. In seiner Geschichte der Europäischen Musik, die 1905 herauskam, beklagte er das aktuelle Interesse der Briten an russischer Musik: Die Eigenschaften jener Rassen, die sich nur wenig von primitiven Temperamentseigenschaften entfernt haben, sind noch klar zu sehen in der russischen Musik, die in den letzten Jahren des Jahrhunderts fast die gesamte Welt überschwemmt hat, insbesondere England. Die vehemente emotionale Spontanität, orgiastische Ekstase, die schillernden Farbeffekte, der barbarische Rhythmus und die ungebremste Hingabe an die körperliche Erregung, die den weniger entwickelten Rassen eigen ist, findet natürlich große Zustimmung bei der erwachenden Intelligenz der musikalischen Massen. Des Weiteren analysierte er die Gründe, warum Tschaikowskis Musik, insbesondere die Symphonie Pathétique, so großen Zuspruch beim Publikum findet: Das Publikum hat die einzigartige Intensität ihres emotionalen Ausdrucks erkannt, welche vom Hochgefühl der Begeisterung bis zum Abgrund eines fast komatösen Zusammenbruchs reicht. Als menschliches Dokument war das Werk unmissverständlich, und das Interesse, das von einer derart dras 75
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tischen Studie der subjektiven Gefühlszustände geweckt wurde, rief ein Verlangen nach mehr hervor, und so kam es, dass der russische Komponist für eine Weile im Zentrum des Interesses der musikalischen Öffentlichkeit stand. Die Beschreibung der Pathétique als »menschliches Dokument« und der Verweis (in einem anderen Text) auf Tschaikowskis »anormal sensible Natur« zeigen klar, dass Parrys Interpretation zumindest ebenso sehr auf biografischen wie auf ästhetischen Kriterien beruht. Der Ruf Tschaikowskis im frühen zwanzigsten Jahrhundert war stark von zeitgenössischen Ideen über Dekadenz, Degeneration und Perversion beeinflusst, die dann sämtlich auf seine Homosexualität und seine russische Herkunft bezogen wurden. Zur selben Zeit gab es allerdings auch andere Stimmen, die ein sehr anderes Bild von Tschaikowskis Musik und der Verbindung zwischen seiner Musik und seiner Homosexualität präsentierten. Als Beispiel können wir einen Roman des englischen Schriftstellers E. M. Foster nehmen. Maurice wurde kurz vor dem Ersten Weltkrieg geschrieben, wegen der Thematik aber erst 1971 publiziert. Der Roman handelt von einem jungen Mann und seinen Versuchen, mit seiner Homosexualität zurechtzukommen – zu einer Zeit, in der Homosexualität in Großbritannien noch illegal war. Maurice studiert klassische griechische Literatur an der Universität Cambridge, aber sein damaliger Geliebter besteht darauf, dass ihre Beziehung keusch bleiben muss. Später wendet er sich an die Medizin. Zuerst spricht er mit dem Hausarzt, der ihm die Ehe als wirksame Gegenmaßnahme empfiehlt, dann lässt er sich von einem Hypnotiseur behandeln. Aber Maurice enthält eine weitere, wesentlich gehaltvollere Quelle des Wissens über Homosexualität – Tschaikowskis Pathétique. Maurice hört die Symphonie zum ersten Mal in Cambridge, wo eine Gruppe männlicher Studenten den Walzer aus der Symphonie auf einem Pianola spielt. Später besucht er ein Konzert in London, wo er die gesamte Symphonie hört. Das Werk weckt seine Neugier, und so leiht er sich in der Bibliothek eine Biografie Tschaikowskis aus und ist begeistert, als er die Wahrheit über das Privatleben des Komponisten erfährt. Von diesem Moment an ist er gerettet und findet letztlich sein Glück mit einem anderen Mann. Forsters Beschreibung von Tschaikowskis Leben hatte auch in der deutschen Literatur Parallelen. Thomas Manns Der Tod in Venedig, der ungefähr zur gleichen Zeit geschrieben wurde wie Maurice, enthielt ebenfalls eine Reihe von Anspielungen auf Tschaikowskis Biografie, die ebenso bedeutsam sind wie die Parallelen zum erst kurz zuvor verstorbenen Gustav Mahler. Genau wie Tschaikowski steckt sich Aschenbach mit einer tödlichen Cholera an, die mit seiner Verliebtheit in den polnischen Teenager Tadzio in Verbindung steht. Klaus Mann, der Sohn von Thomas, hat später das kreative Potenzial von Tschaikowskis Leben untersucht. Sein Roman Symphonie Pathétique (1935), eine Beschreibung der letzten Lebensjahre des Komponisten, ist nicht nur eine fiktive Biografie, PHILIP ROS S BU LLOCK
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sondern auch eine Apologie der sexuellen Orientierung, die Klaus’ eigene war. Im frühen zwanzigsten Jahrhundert also wurde Tschaikowskis Biografie dazu benutzt, gleichgeschlechtliche Anziehung zu rechtfertigen. Teil dieser Strategie war, eine Parallele zwischen Homosexualität und Genie zu ziehen. Edward Carpenter betrachtete den Homosexuellen als ein Individuum, ausgestattet mit »einer Künstlernatur, mit der Sensibilität und Wahrnehmung eines Künstlers. So ein Mann ist häufig ein Träumer, zurückhaltend und grüblerisch, oft Musiker oder sehr kultiviert, umworben von der Gesellschaft, die ihn doch nicht versteht.« Im Rückblick auf die Geschichte, wie er sie sah, macht Carpenter eine Verbindung zwischen Genie und Homosexualität (oder ›Uranismus‹, wie er sie nannte): »Es ist doch bemerkenswert, dass einige der größten Führungspersönlichkeiten und Künstler dieser Welt entweder zur Gänze oder teilweise mit dem uranischen Temperament ausgestattet waren – wie im Fall von Michelangelo, Shakespeare, Marlowe, Alexander dem Großen, Julius Cäsar, oder, bei den Frauen, Christine von Schweden, Sappho der Dichterin und andere.« In den Augen von Carpenter ist Musik die ideale Form für gleichgeschlechtlichen künstlerischen Ausdruck: »Es gibt wenige Menschen dieser Natur, die nicht irgendein musikalisches Talent besitzen.« In ähnlichen Worten stellt der Psychologe Havelock Ellis eine Verbindung zwischen der Liebe zur Musik und einer homosexuellen Veranlagung her: »Es wäre vielleicht extravagant, zu behaupten, dass alle Musiker andersrum sind. Es ist aber sicher, dass viele berühmte Musiker homosexuell sind, unter den Lebenden wie unter den Toten.« Eine ähnliche Beobachtung wurde von Magnus Hirschfeld gemacht, der im späten neunzehnten und im frühen zwanzigsten Jahrhundert viele der wichtigsten Bücher zu gleichgeschlechtlicher Anziehung geschrieben hat. Obwohl er in seinem Werk Homosexualität des Mannes und des Weibes, geschrieben 1914, bemerkte, dass »die Zahl großer homosexueller Komponisten« nicht sonderlich hoch zu sein schien, sagte er auch: »Ganz so negativ verhält es sich mit dem Uraniertum nun zwar nicht, wie das Beispiel des einwandfrei homosexuellen Tschaikowski und manches anderen noch lebenden Tondichters lehrt.« Hirschfelds Forschungen zeigten ihm noch eine andere Methode für das Betrachten der Verbindung zwischen Musik und Homosexualität. Neben seinen Betrachtungen zur Verbindung zwischen gleichgeschlechtlichem Verlangen und künstlerischem Genie zitierte Hirschfeld Statistiken, die die besondere Sensibilität homosexueller Menschen betonen, wenn es um die Wertschätzung für Musik geht: Unter den lustbetont empfundenen Sinneseindrücken steht obenan die Musik. Von 100 Homosexuellen verhielt sich nur einer der Musik gegenüber ablehnend, zwei bezeichneten sich als wenig interessiert, alle übrigen, also 98%, stehen in engem Verhältnis zur Musik, für mehrere ist Musik »ein Le 77
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bensbedürfnis«, auf andere wirkt sie »überwältigend«. Sehr viele begeistern sich für Wagner. Doch sind auch Antiwagnerianer dabei. In 8% besteht Hinneigung zu leichter Musik, die meisten anderen bevorzugen »klassische«, »ernste«, »gute« Musik (35%). Aus all diesen Gründen ist ersichtlich, warum »musikalisch« am Ende des neunzehnten Jahrhunderts ein Codewort für »homosexuell« geworden war, auf jeden Fall im Englischen und Französischen, und sehr wahrscheinlich im Deutschen auch. Diese Assoziation zwischen Musik und Homosexualität beruhte hauptsächlich in der komplexen Rezeption von Tschaikowskis Biografie sowohl in Russland als auch in Westeuropa zu dieser Zeit. Die Frage nach Tschaikowskis Privatleben war entscheidend für seine Reputation während des gesamten zwanzigsten Jahrhunderts. Für viele galt seine Musik als kitschig, sentimental und trivial, und als der Modernismus sich als dominierender Ansatz in der Musikkritik und Musikwissenschaft etablierte – etwa in den Werken von Theodor W. Adorno und Pierre Boulez –, konnte Tschaikowskis Reputation nur sinken. Einer der Gründe, warum solche Ansichten gedeihen konnten, besonders im Westen, war die Abwesenheit von Quellen, aus denen Tschaikowskis eigene Stimme hätte klingen können. Im Gegensatz dazu wurden seine Briefe in der Sowjetunion in großer Zahl herausgegeben, allerdings immer in stark zensierter Form. Jede Diskussion über Details seines Privatlebens wurde herausgeschnitten, und seine eigene Einstellung zu seiner sexuellen Orientierung blieb Gegenstand der Spekulation und Fantasie. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion änderte sich diese Situation radikal mit der Erstveröffentlichung einer Zahl von Briefen und Archivdokumenten. Bereits im Jahr 1991 veröffentlichte Alexander Poznansky eine umfangreiche Biografie auf Englisch, eine Kampfansage sowohl an das sowjetische Stillschweigen zu Tschaikowskis Sexualität als auch an das Hörensagen und den Mythos im Westen. Andere Wissenschaftler begannen, ein differenzierteres und historisch genaueres Bild homosexuellen Lebens in der russischen Hauptstadt zu zeichnen und insbesondere von Tschaikowskis Platz in dieser Stadt. An dieser Stelle können wir wichtige Werke zitieren, so zum Beispiel K. K. Rotikovs Das andere Petersburg (1998), eines der ersten Bücher zur geheimen homosexuellen Geschichte der Stadt, das sich besonders mit den Schriftstellern, Künstlern und Musikern der Jahrhundertwende befasst. Auf ganz ähnliche Weise stellt Lev Klein in seinem Buch Die andere Seite des Planeten: Die ungewöhnliche Liebe außergewöhnlicher Menschen (2002) unvollständige Biografien vieler führender russischer Homosexueller vor, von denen viele enge Beziehungen mit der Petersburger Kunstwelt pflegten. Das Resultat solcher Werke russischer und westlicher Wissenschaftler war ein komplexeres und historisch genaueres Bild des Komponisten als geselliges, weltgewandtes und selbstbewusstes Mitglied der russischen und westeuropäischen Gesellschaft. Und die Ansichten über seine Musik änderPHILIP ROS S BU LLOCK
→ KS Neil Shicoff als Hermann und Martina Serafin als Lisa, 2007
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ten sich auch. Sie wurde nicht länger als Erguss intensiver Emotion interpretiert, sondern als Objekt für seriöse wissenschaftliche Forschung. Die Pathétique wird nicht mehr zwangsläufig als Ankündigung eines frühen Todes angesehen, sondern als radikaler Aufbruch in eine erneuerte Symphonieform und -struktur. Heute hören wir ihren Einfluss auf Gustav Mahler, Jean Sibelius und Dmitri Schostakowitsch. Wir verstehen, warum Igor Strawinski so tief in der Schuld seines Vorgängers steht und wie Tschaikowskis Leidenschaft für das 18. Jahrhundert den Weg bereitet hat für den Neoklassizis 79
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mus der 1920er Jahre. Das Interesse für soziale und kulturelle Ansätze in der Musikgeschichte hat uns dabei geholfen, Tschaikowski als Russlands ersten professionellen Komponisten zu erkennen und als einen Mann, der sämtliche künstlerischen Institutionen seiner Zeit für seine erfolgreiche und lukrative Karriere im russischen Reich und in Westeuropa nutzte. Seine intime Biografie hat an Bedeutung für das Verständnis seiner historischen Relevanz verloren. Und obwohl seine sexuelle Orientierung ein wichtiges Merkmal bleibt, wird sie immer weniger wichtig für das Verständnis seiner Musik. Aber Biografie besteht fort, und zwar aus gutem Grund. Obwohl russische Wissenschaftler eine große Anzahl von Primärquellen veröffentlicht haben, die einen tieferen, vielseitigeren Einblick in Tschaikowskis Privatleben ermöglichen, gibt es noch immer Menschen, die versuchen, die historische Wahrheit zu bestreiten. Dieses Thema hat sich in den letzten Jahren sehr zugespitzt, besonders seit der Verabschiedung eines Gesetzes durch das russische Parlament im Jahr 2013, welches die »Propaganda nicht-traditioneller sexueller Beziehungen« in der Gegenwart von Minderjährigen verbietet. Dieses sogenannte »Anti-Schwulen-Gesetz« hat nicht nur ernsthafte Auswirkungen auf die Arbeit von wohltätigen Organisationen, Nichtregierungsorganisationen, Lehrern, Ärzten und vielen anderen in den Bereichen Erziehung, Medizin und Sozialarbeit, sondern auch auf die Kultur. Und Tschaikowski – als Russlands größter Komponist des neunzehnten Jahrhunderts und Nationalheld – hat besonders scharfe und häufig widersprüchliche Reaktionen bei Politikern und politischen Kommentatoren hervorgerufen. Sogar Wladimir Putin, der russische Präsident, kommentierte die sexuelle Orientierung von Russlands größtem Komponisten in einem Fernsehinterview aus dem September 2013: »Alle sagen, dass Piotr Iljitsch Tschaikowski homosexuell war. Das ist aber nicht der Grund, weswegen wir ihn lieben. Wir lieben ihn, weil er ein großer Musiker war und wir alle seine Musik lieben.« Der damalige russische Kulturminister Wladimir Medinsky formulierte es noch kategorischer: »Es gibt keinen Beweis dafür, dass Tschaikowski homosexuell war. Tschaikowski war einer von Russlands größten Komponisten. Das ist eine Tatsache.« Medinsky hat Unrecht. Das Werk vieler Wissenschaftler hat schon vor langer Zeit die »Wahrheit« über Tschaikowskis Homosexualität etabliert. Warum also sollte Medinsky versuchen, sie zu verleugnen? Im Fall von Tschaikowskis Privatleben sind historische und dokumentarische Beweise zwar sehr wichtig, aber fast noch wichtiger ist der Zweck, zu dem diese Beweise verwendet werden. In der Geschichte der modernen Homosexualität haben die Einzelheiten von Tschaikowskis Biografie zum Verständnis und zur Akzeptanz gleichgeschlechtlicher Liebe beigetragen. Dementsprechend hat die Diskussion der Biografien von schwulen und lesbischen Persönlichkeiten in Russland heute das Potenzial, zu einer wichtigen politischen Strategie für Gleichberechtigung zu werden, ganz besonders zu einer Zeit, in der PHILIP ROS S BU LLOCK
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der Staat versucht, diese Rechte zu beschneiden. Menschen, die versuchen, die Relevanz von Tschaikowskis Sexualität für das Verständnis seiner Musik zu bestreiten, zielen in Wirklichkeit darauf ab, das Leben des Komponisten von dem Zweck zu befreien, für den es in der Vergangenheit so sichtbar eingespannt wurde. Dies ist der Grund, warum Tschaikowskis Biografie und der Platz, den seine Homosexualität darin einnimmt, auch heute noch wichtig sind. Und auch, warum es so angemessen ist, dass eine der ersten postsowjetischen Lobbygruppen für die Rechte der schwulen und lesbischen Bürgerinnen und Bürger Russlands den Namen »Tschaikowski Stiftung« trug. Diese Stiftung, die 1991 in Sankt Petersburg gegründet wurde, brach das offizielle Schweigen zur sexuellen Orientierung des Komponisten und erklärte, dass Biografik nicht nur eine Form von Geschichte sei, sondern auch eine von Aktivismus und Engagement. Tschaikowskis Biografie ist im heutigen Russland besonders wichtig, wo Homophobie und hasserfüllte Sprache von offizieller Seite in den letzten Jahren häufiger geworden sind und toleriert werden. Tschaikowskis Biografie ist auch im Westen wichtig und in jedem Land, in dem seine Musik gehört und geschätzt wird. Tschaikowskis Homosexualität ist Teil unserer Geschichte, und die Biografien homosexueller Männer und Frauen – seien sie berühmt oder ganz gewöhnliche Menschen – sind nicht nur historische Dokumente, sondern auch Teil unserer modernen sexuellen Identität. Im August 1880 schrieb Tschaikowski an seine Mäzenin Nadezhda von Meck: Der Gedanke, dass ich jemals ein winziges bisschen Ruhm erfahren sollte und dass das Interesse an meiner Musik auch Interesse an meiner Person wecken kann, ist sehr bedrückend für mich. Nicht etwa, weil ich das Licht fürchte. Hand aufs Herz, ich kann sagen, dass mein Gewissen rein ist und es nichts gibt, dessen ich mich schämen müsste. Aber der Gedanke, dass andere Menschen irgendwann versuchen werden, in die intime Welt meiner Gefühle und Gedanken vorzustoßen, in all das, was ich während meines Lebens so sorgfältig von der Berührung der Massen ferngehalten habe, ist sehr schwer und traurig. Die Geschichte hat Tschaikowskis Wunsch enttäuscht, sein Privatleben möge im Verborgenen bleiben. Aber ich hoffe, dass er uns – den Biografen und auch den Leserinnen und Lesern – vergeben kann für unser Interesse an der wichtigen Frage der Homosexualität, weil seine Zeit auch die unsere ist.
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Andreas Láng
PIQUE DAME AN DER WIENER STAATSOPER
Nach dem Tod Tschaikowskis mussten noch einige Jahre vergehen, ehe seine Bühnenwerke Eingang in den Spielplan des neuen Wiener Operntheaters fanden. Erst Gustav Mahler, der sich schon in Hamburg für den zu früh verstorbenen russischen Komponisten-Kollegen stark gemacht hatte, verhalf in seiner Direktionszeit innerhalb kürzester Zeit gleich drei TschaikowskiOpern zur Erstaufführung im Haus am Ring: Eugen Onegin, Jolanthe und zuletzt Pique Dame. Wenn auch Jolanthe kein dauerhafter Erfolg beschieden war – das Stück erlebte auf dieser Bühne bis heute lediglich neun Aufführungen –, so entwickelten sich immerhin die beiden anderen Opern zu regelrechten Publikumsmagneten, wobei die Pique Dame den früher entstandenen Eugen Onegin zunächst an Popularität sogar noch übertraf. Nicht weniger als 63 Mal wurde die tragische Geschichte um Hermann, Lisa und die mysteriöse alte Gräfin vor dem Zweiten Weltkrieg – genauer bis 1935 – von der Staatsoper zur Aufführung gebracht – wenn auch nur in einer deutscher Übersetzung des Kritikers und Librettisten Max Kalbeck. A N DR EAS LÁ NG
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Am 9. Dezember 1902, dem denkwürdigen Abend der Wiener Erstaufführung, stand übrigens der Hausherr Gustav Mahler selbst am Dirigentenpult und sorgte somit persönlich für das exzellente Niveau der Produktion, von der der legendäre und gefürchtete Meisterkritiker Eduard Hanslick in einem ausführlichen Feuilleton in der Neuen Freien Presse berichtete. Mahlers hervorragende musikalische Umsetzung dürfte offenbar, neben der hohen Qualität der Oper an sich und der damaligen eindrucksvollen Besetzung, mit ein Grund gewesen sein, warum die Zahl der Vorstellungen nicht ausreichte, um den Publikumsansturm aufzufangen, obwohl die Pique Dame in den ersten Wochen ohnehin schon überdurchschnittlich häufig angesetzt war. Bereits am Tag nach der Premiere erfolgte die zweite Aufführung – nebenbei bemerkt mit Leo Slezak als Hermann, der an jenem Abend als Alternativbesetzung zum ebenfalls gefeierten Tenor Erik Schmedes eingesetzt wurde. Die Zugkraft der Pique Dame war sogar so groß, dass sie zu allen bedeutenderen Feiertagen auf dem Spielplan stand: Ob am Weihnachtstag am 25. Dezember, zu Jahresbeginn am 1. Jänner oder zum Dreikönigsfest am 6. Jänner: Stets sorgte das Werk für ein restlos ausverkauftes Haus. Dass Hanslick an der Musik der Pique Dame das Nichtvorhandensein eines Wagner-Einflusses lobenswert fand, überrascht nicht wirklich. Bemerkenswerter ist hingegen sein Tadel an der Ausstattung beziehungsweise Kostümierung, gerade weil sie sich streng an die im Werk vorgeschriebene Epoche des 18. Jahrhunderts hielt: »Für die Gesamtwirkung einer Oper ist das Costüm so wichtig, dass es den Eindruck der Dichtung wie der Musik fördern oder schädigen kann. Letzteres tut die Pique Dame durch die Tracht vom Ausgange des achtzehnten Jahrhunderts. Unter den wulstigen weißen Perücken, welche gleichmäßig die blonden, schwarzen, grauen Köpfe aller Sänger und Sängerinnen bedecken, sehen sie alle entsetzlich aus... Lächerlicheres in einer ernsten Oper haben wir selten gesehen.« Nichtsdestotrotz begrüßte Hanslick die Wiener Erstaufführung der Pique Dame und schwärmte, abgesehen von der Qualität der Wiedergabe, von der »feinen, stets charakteristischen Instrumentierung«, beschrieb akribisch die »musikalisch hervorragenden Stücke« der Oper und pries sie als »willkommene, hochinteressante Gabe inmitten der gegenwärtigen Opernnoth«. Ab 1931 nahm sich dann der damalige Direktor der Wiener Staatsoper, Clemens Krauss, der »willkommenen, hochinteressanten Gabe« an. Sein Hermann war – und das für die nächsten vier Jahre – der gefeierte Tenor Franz Völker, dessen Leistung Julius Korngold in einer Besprechung in der Neuen Freien Presse über alle Maßen pries: »Herr Völker hielt restlos durch, erwies in Leidenschaft wie Ekstase die Widerstandskraft seines schönen, stählernen Tenors. Für den Parlandobogen der Oper wurde seine deutliche Deklamation wichtig, für die Konturierung der ganzen Gestalt der sicher differenzierte Ausdruck, die miterlebende Darstellung.« Im Gegensatz zur Besetzung der männlichen Hauptpartie, die in den ersten Jahrzehnten im Haus am Ring 83
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lediglich von den drei erwähnten Tenören Slezak, Schmedes und Völker verkörpert wurde, war die Abwechslung bei den Sängerinnen der Lisa beziehungsweise der Gräfin doch etwas größer: So interpretierten Berta FörsterLauterer, Lucie Weidt, Eva Hadrabova, Margit Angerer, Lotte Lehmann und Viorica Ursuleac die Lisa, Josie von Petru, Rosette von Anday, Gertrud Rünger, Hermine Kittel und Sarah Cahier die Gräfin. Ab 1935 trat dann eine mehrjährige Pique-Dame-Pause ein, die erst am 22. März 1946 mit der Inszenierung von Oscar Fritz Schuh im Theater an der Wien, dem Ausweichquartier der zerstörten Staatsoper, wieder beendet wurde. Die musikalische Leitung dieser Premiere übernahm Josef Krips, der schon die letzten beiden Aufführungen vor dem Krieg dirigiert hatte, für spätere Vorstellungen traten auch Berislav Klobučar, Otto Ackermann und Fritz Sedlak ans Pult. Die abermals deutschsprachige Produktion blieb bis 1954 ununterbrochen am Spielplan des Hauses und wies auf den Besetzungszetteln so illustre Namen auf wie Max Lorenz, Julius Patzak, Josef Gostic als Hermann, Rosette Anday, Margarethe Klose, Elisabeth Höngen als Gräfin, Hilde Konetzni, Judith Hellwig, Ljuba Welitsch als Lisa, Eberhard Waechter als Tomski oder Paul Schöffler und Alfred Poell als Jeletzki. Nach der Wiedereröffnung der Wiener Staatsoper im Jahre 1955 vergaß man offensichtlich für mehr als ein Vierteljahrhundert auf die Pique Dame. Erst 1982 kam es in der Inszenierung von Kurt Horres zur nächsten eigenen Neuproduktion. In der Zwischenzeit konnte sich das Wiener Publikum mit gelungenen Gastspielen des Bolschoi-Theaters (1971: mit Wladimir Atlantow als Hermann und Tamara Milaschkina als Lisa) und der Oper der bulgarischen Hauptstadt Sofia (1979: mit Michail Svedov als Hermann und Stefka Evstatieva als Lisa) trösten, die Franz Endler in der Presse zur Bemerkung veranlassten, »dass die Wiener Staatsoper nicht in der Lage wäre, Pique Dame mit Sängern eigener Provenienz zu besetzen – schon gar nicht so achtbar, wie es dem Opernhaus von Sofia gelingt«. Nun, drei Jahre später, »wagte« die Wiener Staatsoper doch wieder eine, vorerst deutschsprachige, Neuproduktion mit Christa Ludwig als gefeierte Gräfin sowie den Wagner-Sängern René Kollo (Hermann) und Catarina Ligendza (Lisa). Die Regie von Kurt Horres wurde allerdings vom Buh-Orkan des Publikums hinweggefegt. Andrea Seebohm kommentierte diesen szenischen Misserfolg in der Welt mit den Worten: »Bei Prüfungen solcher Art fallen die höchstsubventionierten Opernfreunde der Welt immer wieder kläglich durch. Übermorgen schon kippen die ersten um, und in spätestens einem Jahr wird es sich herumgesprochen haben, dass nun auch in Wien eine Modell-Inszenierung zu sehen ist.« Wie recht sie hatte, beweist die Langlebigkeit der Produktion, die es bis 1999 immerhin auf drei Wiederaufnahmen brachte, von denen zwei – nämlich jene von 1992 (ab diesem Zeitpunkt wurde das Werk auch an der Wiener Staatsoper nur mehr im russischen Original gegeben) und von 1999 – vom Dirigenten der jüngsten Neuproduktion geleitet A N DR EAS LÁ NG
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wurden: von Seiji Ozawa. Wenn man sich die unterschiedlichen Besetzungen der Jahre 1982-1999 genauer ansieht, wird einem klar, wie falsch Franz Endler mit seiner Feststellung lag, dass die Wiener Staatsoper nicht in der Lage wäre, eine Pique Dame zu besetzen. Eine Mirella Freni oder Maria Guleghina als Lisa, ein Plácido Domingo, Wladimir Atlantow oder Vladimir Galouzine als Hermann, eine Martha Mödl, Anny Schlemm oder Rita Gorr als Gräfin, ein Dmitri Hvorostovsky als Jeletzki gereichten dem Haus wahrlich zur Ehre. Am 28. Oktober 2007 fand die Premiere der aktuellen Produktion in der Inszenierung der damals jungen und gefragten Regisseurin Vera Nemirova statt. Unter Musikdirektor Seiji Ozawa sangen unter anderem Neil Shicoff (Hermann), Martina Serafin (Lisa), Boaz Daniel ( Jeletzki), Albert Dohmen (Tomski) und Anja Silja (Gräfin).
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Impressum Piotr I. Tschaikowski PIQUE DAME Spielzeit 2021/22 (Premiere der Produktion: 28. Oktober 2007) HERAUSGEBER Wiener Staatsoper GmbH, Opernring 2, 1010 Wien Direktor: Dr. Bogdan Roščić Musikdirektor: Philippe Jordan Kaufmännische Geschäftsführerin: Dr. Petra Bohuslav Redaktion: Sergio Morabito, Andreas Láng, Oliver Láng Basierend auf dem Programmheft der Premiere von 2007 Gestaltung & Konzept: Fons Hickmann M23, Berlin Layout & Satz: Julia Pötsch Bildkonzept Cover: Martin Conrads, Berlin Druck: Print Alliance HAV Produktions GmbH, Bad Vöslau
TEXTNACHWEISE Sergio Morabito: Die Handlung (englische Übersetzung von Andrew Smith) – Oliver Láng: Über dieses Programmbuch – Sergio Morabito: Die Toilette der Venus Übernahmen aus dem Pique Dame-Programmheft 2007: Vera Nemirova: Im Schraubstock der Gesellschaft – Oliver Láng: Tschaikowskis Chef dʼOeuvre – Maria Tsurkan: Aleksandr Puškin und die russische Oper – Anita MayerHirzberger: Stadt des Prunkes, Stadt der Nöte – Andreas Láng: Pique Dame an der Wiener Staatsoper Weitere Übernahmen: Daniil Charms: Die Toten sind ein unseriöses Volk, Übernahme aus dem Pique Dame-Programmheft der Staatsoper Stuttgart, 2017, dort aus: Daniil Charms, Alle Fälle, Das unvollständige Gesamtwerk in zeitlicher Folge, Frankfurt a.M., 1984 – Konstantin Warlamow, Tschaikowskis Furcht vor Geistern, aus: Tschaikowski aus der Nähe, hrsg. von Ernst Kuhn, Berlin, 1994 – Boris Gasparov, Vorbote der Avantgarde, Übernahme aus dem Pique Dame-Programmheft der Staatsoper Stuttgart, 2017, dort aus: Five Operas and a Symphony – Word and Music in Russian Culture, Yale, 2005, übersetzt von Brigitte Reitter-Drain – Leoš Janáček: Musik des Grauens, aus: Leoš Janáček: Musik des Lebens, Reclam, 1979 – Aleksandr Puškin: Der Tod der Gräfin, aus: Aleksandr Puškin: Die Erzählungen, übersetzt und hrsg. von Peter Urban, Berlin, 1999 - Philip Ross Bullock: Das andere Petersburg zur Zeit Tschaikowskis, Vortrag gehalten am 15. Jänner 2017 im Rahmen des Werkraums Tschaikowski
Die Produktion von Pique Dame wird gefördert von
BILDNACHWEISE Coverbild: Lucky Palm? (Foto © RDImages/Epics/Getty Images) Szenenbilder Seite 33, 54, 57, 69 : Michael Pöhn / Wiener Staatsoper GmbH Szenenbilder Seite 2/3, 14/15, 18, 39, 44/45, 79: Axel Zeininger / Wiener Staatsoper GmbH AKG-Images Seite 64/65, 73
Nachdruck nur mit Genehmigung der Wiener Staatsoper GmbH / Dramaturgie Kürzungen werden nicht extra gekennzeichnet. Rechteinhaberinnen, die nicht erreicht werden konnten, werden zwecks nachträglicher Rechteabgeltung um Nachricht gebeten.
Generalsponsoren der Wiener Staatsoper
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