Programmheft »Aida«

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AIDA

Giuseppe Verdi


INHALT

Die Handlung

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Synopsis in English

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Über dieses Programmbuch

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Der historische Hintergrund → Dieter Arnold

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Im Banne der Obelisken und Pyramiden → Oswald Panagl

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Auguste Mariette, der eigentliche Erfinder der Aida

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Ein Auftrag aus einem fernen Land → Andreas Láng

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Priesterzögling, Medizinstudent, Sänger, Librettist → Andreas Láng

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Briefe

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Reise nach Kairo → Ernst Reyer

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Das Ägyptische in Aida → Daniel Brandenburg

44

Unisono zum seligen Oktavenvorhalt → Thomas Mann

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Was Verdi wert ist → Karl Löbl

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Allmächtiger Pthà! → Walter Dobner

54

Priesterfiguren in den Opern Giuseppe Verdis → Annette Frank

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Facetten der Zuneigung → Frieder Reininghaus

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Es war immer die Aida → Andreas Láng

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Verdi in Wien 1875

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I sacri nomi di padre, d’amante né proferir poss’io, né ricordar. Per l’un, per l’altro, confusa tremante, io piangere vorrei, vorrei pregar. Ma la mia prece in bestemmia si muta, delitto è il pianto a me, colpa il sospir. Die heiligen Namen des Vaters, des Geliebten darf ich nicht aussprechen, noch erinnern. Für den einen wie den anderen möchte ich, verwirrt und zitternd, weinen und beten. Aber mein Gebet wird zur Lästerung, mein Weinen zum Verbrechen, mein Seufzen zur Schuld. Aida, 1. Akt


AIDA → Oper in vier Akten / sieben Bildern Musik Giuseppe Verdi Text Antonio Ghislanzoni

Orchesterbesetzung 2 Flöten, 1 Piccoloflöte, 2 Oboen, 1 Englischhorn, 2 Klarinetten, 1 Bassklarinette, 2 Fagotte, 4 Hörner, 2 Trompeten, 3 Posaunen, 1 Cimbasso, Schlagwerk, 2 Harfen, Violine I, Violine II, Viola, Violoncello, Kontrabass Bühnenmusik auf der Szene 6 »ägyptische« Trompeten, 2 Harfen, Banda Bühnenmusik unterhalb der Szene 4 Trompeten, 4 Posaunen, 1 Große Trommel Spieldauer 3 Stunden 15 Minuten (inkl. einer Pause) Autograph Verlagsarchiv Ricordi Mailand; Ouvertüre: Villa Verdi Sant’Agata Uraufführung 24. Dezember 1871 im Opernhaus von Kairo Erstaufführung an der Wiener Hofoper 29. April 1874




DIE HANDLUNG

1. Akt 1. Bild Die Äthiopier unter der Führung ihres Königs Amonasro bedrohen aufs Neue das Ägyptische Reich: Auf Rat der Göttin Isis soll Radames als Feldherr an der Spitze der ägyptischen Krieger gegen die Äthiopier ziehen (Introduktion). Radames träumt von Ehre und Ruhm – und von Aida, die als äthiopische Sklavin der ägyptischen Königstochter Amneris dient. Geheime, innige Liebe verbindet Radames und Aida (Romanze des Radames). Aber auch Amneris begehrt den jungen Krieger leidenschaftlich (Duett Amneris-Radames). Plötzlicher Argwohn erwacht in ihr, als sie der Blicke zwischen den Verliebten gewahr wird (Terzett Aida-Amneris-Radames). Unter Jubel und Zeremonien wird Radames vom König die Feldherrnwürde übertragen (Szene und Ensemble). Aida ist verzweifelt: Radames, der Geliebte, wird gegen ihr Volk, ja, sogar, was am ägyptischen Königshof allerdings niemand ahnt, gegen ihren Vater Amonasro kämpfen (Szene und Romanze der Aida)!

2. Bild Priester und Priesterinnen beschwören den Gott Ptàh, den Ägyptern im Kampf gegen die Äthiopier beizustehen. Radames erhält vom Oberpriester Ramfis das heilige siegbringende Schwert (Tempelszene und Erstes Finale). DIE H A N DLU NG

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2. Akt 3. Bild Das ägyptische Heer hat die Feinde geschlagen. Amneris wird von ihren Sklavinnen für das Siegesfest geschmückt. Sehnsüchtig erwartet sie Radames (Introduktion). Aber plötzlich quälen sie wieder Zweifel. Sollte sie wirklich in Aida eine Rivalin haben? Sie muss sich Gewissheit verschaffen. Mit Hilfe einer List gelingt es ihr, Aida das Geständnis ihrer Liebe zu Radames zu entlocken (Szene und Duett Aida-Amneris).

4. Bild Radames wird als Sieger triumphal empfangen. Im Zug der äthiopischen Gefangenen erblickt Aida ihren Vater. Amonasro verschweigt jedoch seinen Stand, erklärt, dass der äthiopische König im Kampf gefallen sei und bittet um Gnade für die Mitgefangenen. Ramfis warnt, aber sogar Radames schließt sich dieser Bitte an. Die Gefangenen werden freigelassen. Nur Aida und ihr Vater sollen weiterhin als Geiseln am ägyptischen Hof bleiben. Als Dank für seinen mutigen Einsatz fürs Vaterland bietet der König Radames die Hand seiner Tochter Amneris und die Thronfolge an. Das Volk jubelt; freudentrunken sieht sich Amneris am Ziel ihrer Träume (Zweites Finale).

3. Akt 5. Bild Amneris wird von Ramfis in den Tempel der Isis geführt, um dort die Nacht vor ihrer Vermählung mit Radames zu beten (Introduktion und Gebet). Aida erwartet Radames (Romanze der Aida). Amonasro, dem die Liebe seiner Tochter zu dem ägyptischen Feldherrn nicht verborgen geblieben ist, ist ihr gefolgt. Unter Beschwörung der Leiden ihres Volkes überredet er sie, Radames zur Preisgabe der ägyptischen Angriffspläne gegen die inzwischen wieder erstarkten Äthiopier zu bewegen. Verzweifelt willigt Aida ein. Amonasro verbirgt sich (Duett Aida-Amonasro). Aida gelingt es, Radames zu einer gemeinsamen Flucht zu verleiten und von ihm einen Weg zu erfahren, der vor den ägyptischen Truppen sicher ist (Duett Aida-Radames). Damit hat Radames aber den Aufmarschplan der Ägypter für den bevorstehenden Kampf verraten. Triumphierend tritt Amonasro aus 5

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seinem Versteck hervor und gibt sich als König der Äthiopier zu erkennen. Radames, die Tragweite seines Verrats erkennend, stellt sich den Wachen. Amonasro und Aida fliehen (Szene und Drittes Finale).

4. Akt 6. Bild Radames, des Hochverrats angeklagt, soll zum Tod verurteilt werden. Amneris, die ihn noch immer liebt, versucht, ihn durch Widerruf seines Geständnisses dem bevorstehenden Schicksal zu entreißen. Aber für Radames ist ein Leben ohne Aida sinnlos. Er weist den Antrag von Amneris zurück (Szene und Duett Amneris-Radames). Schweigend erkennt Radames das Urteil der Priester an: Tod durch Einmauerung (Gerichtsszene).

7. Bild In einem unterirdischen Gewölbe eingeschlossen, erwartet Radames sein Ende. Plötzlich wird er gewahr, dass er nicht alleine ist. Aida hat sich unbemerkt eingeschlichen, bereit, mit dem Geliebten zu sterben. Im Tod erfüllt sich beider Liebe. Amneris betet währenddessen um ewigen Frieden für Radames (Szene, Duett Aida-Radames und Finale).

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Uwe Schweikert

» Indem Radames – wie es dem Funktionswandel der bürgerlichen Öffentlichkeit im 19. Jahrhundert entspricht – sein privates Glück von seiner gesellschaftlichen Stellung abzuspalten versucht, erliegt seine Sehnsucht erst recht der Entfremdung. «


SYNOPSIS

Act 1 Scene 1 Under the leadership of their King Amonasro, the Ethiopians are again threa­ tening the kingdom of Egypt. At the advice of the goddess Isis, Radames is to be placed in command of the Egyptian army raised against the Ethiopians (introduction). Radames dreams of honour and fame – and of Aida, an Ethiopian slave to Amneris, the Pharaoh’s daughter. A deep but secret love binds Radames to Aida (Radames’ romanza). However, Amneris is also passionately in love with the young warrior (duet: Amneris-Radames). Sudden suspicion is kindled in her breast when she notices the looks that the lovers exchange (trio: Aida, Amneris and Radames). With much rejoicing and ceremony, Radames is appointed commander of the army by the Pharaoh (scene and ensemble). Aida is despondent: her beloved Radames is about to fight against her own people, and (nobody at the Egyptian court knows this) against her father Amonasro (scene and romanza of Aida).

Scene 2 The priests and priestesses call on the god Ptàh to support the Egyptians in their struggle against the Ethiopians. Radames receives the holy sword of victory from Ramfis, the high priest (temple scene and Act 1 finale). SY NOPSIS

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Act 2 Scene 3 The Egyptian army has defeated the enemy. Amneris is being dressed by her slaves for the celebration to mark the victory. Longingly she awaits Radames, whom she so loves (introduction). But suddenly she is again tormented by doubt. Is Aida really her rival for his love? She must know for certain. She tricks Aida into revealing her love for Radames (scene and duet AidaAmneris).

Scene 4 The victorious Radames is given a triumphant welcome. Aida sees her father in the procession of Ethiopian captives. However, Amonasro does not reveal his identity, saying that the Ethiopian king has been slain in battle and begging for mercy for his fellow captives. Radames supports his request in spite of Ramfis’ warning. The captives are released. Only Aida and her father are to remain as hostages at the Egyptian court. In gratitude for his courageous efforts for the fatherland, the Pharaoh offers Radames the hand of his daughter Amneris in marriage and the succession to the throne. The people rejoice, and the rapturous Amneris is convinced that her dreams have come true (Act 2 finale).

Act 3 Scene 5 Ramfis leads Amneris into the temple of Isis to spend the night in prayer prior to her marriage to Radames (introduction and prayer). Aida awaits Radames (Aida’s romanza). Amonasro, who has noticed his daughter’s loveww for the Egyptian commander, has followed her. Conjuring up visions of the suffering of her people, he persuades Aida to induce Radames to reveal the Egyptians’ plans for attacking the Ethiopian army, which has now received reinforcements. In despair, Aida agrees to comply with his wish. Amonasro goes into hiding (duet Aida-Amonasro). Aida manages to persuade Radames to flee with her and to tell her a path that will be safe from the Egyptian army (duet Aida-Radames).

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SY NOPSIS


However, by doing so Radames reveals the Egyptian plan of deployment for the forthcoming battle. Triumphant, Amonasro emerges from his hiding-place and discloses his identity as king of the Ethiopians. Radames, realizing the extent of his folly, gives himself up to the guards. Amonasro and Aida flee (scene and Act 3 finale).

Act 4 Scene 6 Radames is accused of high treason and is to be condemned to death. Amneris still loves him, and tries to save him from the fate that awaits him by persuading him to renounce his love for Aida. However, life has no meaning for Radames without Aida. He rejects Amneris’ proposition (scene and duet: Amneris-Radames) and accepts the priests’ judgement in silence: he is to be buried alive (judgement scene).

Scene 7 Radames awaits the end in an underground vault. Suddenly he becomes aware that he is not alone. Aida has managed to steal in unnoticed to die with her beloved Radames. The couple’s love is perpetuated in death. Amneris prays for eternal peace for Radames (scene, duet Aida-Radames, finale).

SY NOPSIS

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Georg Titscher

» Aida ist ein pessimistisches, fatalistischexistenzialistisches Stück, die Personen können nicht frei handeln, sondern sind Gefangene jeweils ihres Systems und eines übergeordneten Ganzen. «


ÜBER DIESES PROGRAMMBUCH

Verdi schrieb die vieraktige Oper Aida – sein drittletztes Musiktheaterwerk – im Auftrag des ägyptischen Vizekönigs Ismail Pascha, wobei es ihm in dieser Partitur gelang, Besonderheiten der französischen Grand opéra und der italienischen Oper zusammenzuführen. Auch wenn Verdi den Stoff nicht von sich aus gesucht hatte, reihte sich die Thematik lückenlos in die ausgeprägt Ägyptomanie des 19. Jahrhunderts ein. Wie sehr die neu aufgekommene Beschäftigung mit dem antiken Ägypten Einfluss auf die europäische Kunst, Alltagskultur und auf das Musiktheater hatte, schildert Oswald Panagl ab Seite 20. In welchem Ausmaß altägyptische Wurzeln in der Aida-Handlung zu finden sind beziehungsweise auf welche Weise Verdi ein vermeintliches musikalische Lokalkolorit schuf, beschreiben Dieter Arnold (Seite 14), Daniel Brandenburg (Seite 44) und Ernst Reyer (Seite 42). An religiösen Autoritäten arbeitete sich Verdi in seinen Werken ein Leben lang ab. Auch in der Aida wird dem privaten Liebesglück die harte, unmenschliche Position der ägyptischen Priesterschaft entgegengesetzt, die rein der Staatsräson geschuldet ist. Annette Frank und Walter Dobner nähern sich in ihren Beiträgen aus unterschiedlichen Perspektiven diesem komplizierten und wechselhaften Verhältnis Verdis zur Religion ab Seite 62 bzw. ab Seite 54. Weniger komplex war Verdis Stimmfachkonzeption: Dass Aida einer Sopranstimme und ihre Rivalin Amneris einem Mezzo zugewiesen ist, kam nicht von ungefähr. Frieder Reininghaus untersucht ab Seite 70 Verdis Œuvre von diesem Gesichtspunkt aus und ihre entsprechende Einbettung in der damaligen Operntradition. Ausgewählte Briefe von und an Verdi im Zusammenhang mit der Entstehungsgeschichte der Aida (Seite 34), eine skurrile Geldforderung an den Komponisten (Seite 52) sowie Aspekte der Wien-Rezeption runden das Angebot dieses Programmbuches ab. ÜBER DIESES PROGR A M MBUCH

→ Ekaterina Gubanova als Amneris, 2019

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Dieter Arnold

DER HISTORISCHE HINTERGRUND

Die Gestalt der ägyptischen Prinzessin Amneris geht ganz sicher auf die thebanische Gottesgemahlin Amenirdais zurück, deren wunderschöne Alabasterstatue der Ägyptologe Auguste Mariette – er verfasste die ursprün­gliche Geschichte der Aida unter dem Titel La fiancée du Nil – 1858 in einer kleinen Kapelle bei der Südmauer des Month-Bezirkes von Karnak gefunden hatte, eine damals berühmte, im Bulaq-Museum ausgestellte Statue, auf die Mariette sicherlich sehr stolz war. Ironischerweise war nun die historische Amneris/Amenirdais keine Ägypterin, sondern eine äthiopische Prinzessin. Ihr Bruder, König Pianchi von Napata, eroberte Ägypten und zwang zur Sicherung seiner Herrschaft die in Theben residierende Priesterfürstin Schepenupet, seine Schwester Amenirdais zu adoptieren und damit zur Nachfolgerin in diesem für die Spätzeit Ägyptens so bedeutenden Amt einer Gottesgemahlin zu erheben: Amneris also eine zur Herrscherin aufgestiegene äthiopische Prinzessin (etwa 740-700 vor Christus). Der Name Radames ist eine – wohl melodisch umgestaltete – Form des ägyptischen Namens Ramses oder Ramesses. Dass Radames die Hand der Königstochter erhalten soll, ist ein für altägyptische Verhältnisse nicht unmöglicher Vorgang. Denn wir wissen, dass beim Fehlen eines männlichen Thronfolgers eine erbberechtigte Königstochter das Anrecht auf den Thron auf ihren nichtköniglichen Gemahl vererben kann, der – wie am Ende der Amarna-Zeit (etwa 1320 vor Christus) – auch Truppenführer gewesen sein kann. DIET ER A R NOLD

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Der Äthiopierkönig Amonasro ist eine historische Figur. Es handelt sich um den etwa 275 bis 260 vor Christus regierenden König Amanislo von Kusch, den Erbauer einer Pyramide in der königlichen Nekropole von Meroe. In der Ägyptologie wurde er als Usurpator der beiden liegenden Löwenfiguren des Tutanchamun bekannt, die er aus Soleb nach dem Amunstempel am Gebel Barkal transportieren und neu beschriften ließ. Zwar befanden sich die beiden Löwen schon seit 1828 oder 1835 in England, also bevor sie Auguste Mariette im Original noch hätte sehen können. Man muss jedoch erwarten, dass Mariette sie aus den damals bereits erschienenen Veröffentlichungen kannte. Aida entspricht jenen äthiopischen (oder eher nubischen) Königstöchtern, die am ägyptischen Hof als Sklavinnen gehalten wurden, aber – ihrer Herkunft gemäß – ständige Begleiterinnen der ägyptischen Prinzessinnen waren. Sie wurden zusammen mit vornehmen ägyptischen Kindern am Königshof aufgezogen, um sie zu ägyptisieren und um notfalls Geiseln in der Hand zu haben. Der Name Aida ist jedoch arabischen Ursprungs und Á-ida zu betonen. Die Schauplätze, an denen die Aida-Geschichte spielt, lassen sich dank der recht genauen Regieanweisungen Auguste Mariettes noch erkennen. So heißt es zum ersten Bild des ersten Aktes: »Saal im Königspalasts zu Memphis. Rechts und links Säulengänge mit Statuen und blühenden Sträuchern. Im Hintergrund ein großes Tor, durch das man die Tempel und Paläste von Memphis und die Pyramiden sieht.« Ein solcher Palast war zu Mariettes Zeiten in Memphis noch nicht ausgegraben. Erst 1909 legte ihn Flinders Petrie frei. Es ist der aus der ägyptischen Spätzeit stammende Palast von Apries, von dessen Anhöhe herab man den beschriebenen Blick über Memphis und die Pyramiden gehabt haben wird. Von den Säulen mit Palmblattkapitell liegen noch beachtliche Trümmer auf dem Palasthügel. Das zweite Bild des ersten Aktes spielt im »Inneren des Ptàh-Tempels zu Memphis. Geheimnisvolles Licht von oben. Eine lange Säulenreihe verliert sich im Dunkel. Statuen verschiedener Gottheiten. In der Mitte erhebt sich auf einer mit Teppichen bedeckten Erhöhung der Altar, der mit den heiligen Emblemen verziert ist. Aus goldenen Dreifüßen dampft Räucherwerk.« Mit diesen Worten ist die Wirkung eines ägyptischen Tempelraumes genau beschrieben. Denn nur wenig Licht dringt durch die Fensterschlitze der Decke, sodass sich die Säulenreihe tatsächlich im Dunkeln verlor. Der memphitische Ptàh-Tempel ist zwar total zerstört, seine von G. Haeny rekonstruierte westliche Säulenvorhalle entspricht der obigen Beschreibung aber völlig. Mariette kannte sie natürlich noch nicht und dürfte die Szenerie an den besser erhaltenen Tempeln von Dendera, Edfu und Abusimbel orientiert haben. Nach dem in der Oper beschriebenen Kriegszug gegen die Äthiopier versammelt sich der königliche Hof in dem 700 Kilometer südlich von Memphis gelegenen Theben zu einem Siegesfest. Es heißt zum zweiten Bild des zweiten Aktes: »Vor einem Tore Thebens. Davor eine Palmgruppe. Rechts der Amuntempel, links ein von einem purpurnen Baldachin überwölbter Thron. Im 15

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Hintergrund ein Triumphbogen. Die Bühne ist mit Volk belebt.« Mit diesem Tor Thebens dürfte sicher einer der beiden ptolemäischen Torbauten gemeint sein, die von Südwesten und Osten in den großen Amuntempel von Karnak führten, möglicherweise auch der große, erste Pylon an der Westseite des Tempels. Auch dass der König unter einem Baldachin sitzend den Tribut der Fremdländer empfängt, ist etwa aus dem zwölften Jahr Echnatons bekannt, der Kiosk des Königs ist in thebanischen Gräbern mehrfach abgebildet und im Erscheinungsfenster des Tempels Ramses III. von Medinet Habu ist eine enge Verbindung von Tempel, Palast und militärischer Siegesfeier überliefert. Etwas unmotiviert erscheint nun der zweite Ortswechsel mit der ersten Szene des dritten Aktes. Denn diese spielt »am Ufer des Nils, Granitfelsen, zwischen denen Palmen wachsen. Auf der Felsenhöhe der Isistempel, zur Hälfte von Laub verborgen. Mondschein.« Denn diese Kombination von Granitfelsen, Nil und Isistempel weisen ganz eindeutig auf den Isistempel von Philae, denn nicht in Theben, sondern erst südlich von Assuan findet sich in Ägypten Granit am Nilufer, und nur dort steht ein Isistempel im Granitfelsen. Mit dieser topografischen Zuweisung ist jedoch Auguste Mariette oder dem Librettisten ein arger Fehler unterlaufen. Denn einmal wäre der plötzliche Ortswechsel von Theben nach dem 300 Kilometer weiter im Süden gelegenen Philae nicht recht einzusehen. Dann aber besprechen Aida und Radames an diesem Ort ihren Fluchtplan über einen von ägyptischen Truppen nicht bewachten Weg. »Die Schlucht von Napata« ist der entscheidende Satz, mit dem sich Radames an den Äthiopierkönig verrät. Dort dürften sich also die ägyptischen und äthiopischen Truppen gegenübergelegen haben. Dass sich aber beide Feldherren in der Nacht vor der Schlacht 700 km weiter nördlich in Philae begegnen, ist geradezu absurd. Man hätte also – um eine gewisse Logik in die Ortsverhältnisse zu bringen – die »Schlacht von Napata« unbedingt nach Norden, in die Nähe der ägyptischen Südgrenze bei Philae verlegen müssen. Der vierte Akt bringt uns wieder zurück nach Memphis, wo im Königspalast die Gerichtssitzung über Radames stattfindet. Dass ein von einem Oberpriester geleitetes Sondergericht über den Fall des Verrates des Feldherrn zusammentritt, erscheint durchaus glaubwürdig. Man denkt dabei natürlich an die in der ägyptischen Geschichte überlieferten Gerichtshöfe zur Untersuchung von Verschwörungen unter Pepi I. oder Ramses III. Auch das Verhängen der Todesstrafe wird in solchen Fällen nicht unüblich gewesen sein. Die in der Oper vorgeführte lebendige Einmauerung in den unterirdischen Räumen (also etwa in den Krypten) eines Tempels ist dagegen keine im Alten Ägypten bekannte Todesstrafe. Was Auguste Mariette auf diesen Gedanken gebracht hat, ist nur zu klar: Denn eine seiner archäologischen Großtaten war die Ausgrabung des Serapeums, der unterirdischen Katakomben der heiligen Apis-Stiere, in die er am 12. November 1851 eindrang. Dessen Hauptgalerie könnte tatsächlich mit »lunghe file d’arcade si perdonno nell’oscurità« (»lanDIET ER A R NOLD

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ge Bogengänge, die sich im Dunkel verlieren«) umschrieben werden, wie es in der Regieanweisung zur Schlussszene der Oper heißt. Und dort fand Mariette auch das sogenannte Grab des Chaemwaset, eines bekannten Sohnes Ramses II. Dass hier, unter zahllosen Grüften der heiligen Apis-Stiere, das Grab eines einzigen Menschen lag, dürfte die Fantasie Mariettes angeregt und den unmittelbaren Anlass zur Erfindung der Schlussszene der Aida geliefert haben. Wenn man sich nun noch einen anderen Vorgang vergegenwärtigt, der in der Oper von Bedeutung ist, nämlich die Meldung, dass Feinde in Ägypten eingefallen sind, der König seinen Hof um sich versammelt, zum Kampf aufruft, dass dann von Ptàh das Kriegsschwert überreicht wird, dass die Ägypter den Sieg erringen und den besiegten Feind samt Beute im Triumphzug vor den König führen, so wird man an eine Schilderung eines ganz analogen Vorganges aus der Zeit des Königs Merenptàh erinnert, an dessen Siegesbericht über die Libyer an der Verbindungsmauer zwischen dem 7. Pylon und dem Hauptgebäude des Amuntempels von Karnak. Auch dieser Text war Mariette bestens vertraut, hatte er ihn doch selbst 1859 freilegen lassen und 1875 publiziert. Und dieser Text dürfte es gewesen sein, der Mariette den kriegerisch-historischen Teil seiner Aida-Geschichte eingegeben hat. Aus dieser Merenptàh-Inschrift erklärt sich wahrscheinlich noch ein weiteres Motiv, das für den Fortgang der Oper von Bedeutung ist. So wird dort Amonasro unter den Gefangenen nicht als König erkannt und kann sich zunächst noch durch Flucht retten. Desgleichen schildert auch die Merenptàh-Inschrift, dass der Libyer-König beim unglücklichen Ausgang der Entscheidungsschlacht die Flucht ergriff, Familie und Schätze im Stich ließ, um – wie der Bericht eines ägyptischen Grenzkommandanten meldete – bei Nacht und Nebel nach Libyen zu entkommen. Mariette hat also den Gang seiner Geschichte etwas abgeändert, indem er Aida bereits von einer früheren äthiopischen Niederlage her in Ägypten gefangen gehalten darstellt. Aus all diesen Beispielen – und sie ließen sich noch vermehren – mag zur Genüge hervorgehen, dass Auguste Mariette in die berühmte Verdi-Oper sogar inhaltlich viel mehr altägyptische Substanz eingebracht hat, als man zunächst bei Betrachtung szenischer Äußerlichkeiten vermuten würde. Eine abschließende Frage möge diese Theorie bestätigen: Welcher Ägyptologe würde beim Schlussgesang der Amneris mit dem dreimalig wiederholten »Pace« nicht an die ägyptische Formel »m htp« (»in Frieden«) denken, die von den Trauernden bei der Fahrt der Toten in die Nekropole gesungen wird?

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DER HISTOR ISCHE HIN T ERGRU N D




Oswald Panagl

IM BANNE DER OBELISKEN UND PYRAMIDEN

Zur Ägyptomanie im Umfeld von Giuseppe Verdis Aida


I. Lesarten und begriffliche Klärung Der Terminus erschließt sich dem Kunstfreund von selbst und hat gleichwohl unscharfe semantische Ränder. Ihm stehen kultur-, zeit- und sprachspezifische Synonyme wie Nil-Stil, Pharaonismus oder Egyptian Revival zur Seite. Aber der Ausdruck muss sich auch von verwandten, doch nicht bedeutungsgleichen verbalen Konkurrenten absetzen, nimmt man den Gegenstand fachlich genau, wie es die Autoren des 1993 zur Ausstellung Ägyptomanie des Wiener Kunsthistorischen Museums mit Recht verlangten und beispielhaft verdeutlichten: »Die gemalte Darstellung einer ägyptischen Landschaft mit Palmen und einer Wüstenkarawane beschwört den Orientalismus und Exotismus, nicht die Ägyptomanie. In Ägypten zu reisen, eine Vorliebe für Antiquitäten zu haben und dann verschiedene Dinge nach Hause zu bringen und sie in einer Sammlung auszustellen, sind eher Verhaltensweisen der Ägyptophilie als der Ägyptomanie. Gemeinsam ist den letztgenannten Varianten freilich der Hang europäischer Künstler, aber auch von Mäzenen und Sammlern, Objekte bzw. deren Imitate aus ihrem historischen und situativen Kontext abzulösen und in ein neues Ambiente – ob Regierungsgebäude, Theatersaal oder private Villa – zu verpflanzen. Oder wie es im genannten Katalog exemplarisch heißt: »Obelisken wurden als Dekoration von Kamineinfassungen verwendet; Pyramiden fanden Eingang in die ornamentalen Strukturen von Gärten, Sphingen in jene von Kaminböcken; Tempel wurden in Tafelaufsätze und Uhren verwandelt; das Nemes-Kopftuch wurde von den Pharaonen ausgeliehen, um unzählige Beispiele von Möbeln und angewandter Kunst zu verzieren; fantasievolle Varianten der Hieroglyphen wurden in Dekorfliesen wiederverwendet.« Die bereits angesprochene Trennschärfe zwischen den nur scheinbar identischen Strömungen und Spielarten der Begeisterung für das Land am Nil ist für den Experten wichtig – und wird dennoch von einer gleichgestimmten Neigung überwölbt, die freilich über das bloße ästhetische Interesse für das Alte Ägypten hinausgeht: »Es reicht nicht aus, ägyptische Formen zu kopieren – Künstler müssen sie im Rahmen ihrer eigenen Empfindsamkeit und im Kontext ihrer Zeit aufs Neue schaffen oder ihnen das Erscheinungsbild einer erneuerten Vitalität verleihen.«

II. Daten, Fakten, Perioden Strömungen der Kunst in Produktion wie Rezeption ziehen oft am gleichen Strang und in dieselbe Richtung wie Ereignisse der politischen Geschichte beziehungsweise sind von diesen abhängig. So lässt sich ein erster Höhepunkt der Ägyptomanie kurz nach 1800 unmittelbar mit dem Feldzug von Napoleon Bonaparte in Verbindung setzen. Dem ersten Sieg des Korsen in der Schlacht 21

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bei den Pyramiden (1798) und der Besetzung weiter Landstriche folgte freilich die Vernichtung der französischen Flotte durch Admiral Nelson und die Rückkehr Napoleons in die Heimat. Nachhaltiger als die militärischen Ereignisse waren die kulturellen Begleiterscheinungen: die Erkundung von Resten des Alten Ägypten »in situ«, das erwachende Interesse der Wissenschaft, die Aneignung beziehungsweise Verschleppung von Gegenständen nach Frankreich. Ein weiterer Einschnitt auf der Skala der Neuentdeckung war die Entzifferung der Hieroglyphen. Bereits im Altertum war die Kenntnis und Beherrschung dieser Schrift verloren gegangen und man schrieb so den Zeichen skurrile Funktion und Verwendung zu. Noch Athanasius Kircher dachte im 17. Jahrhundert an die symbolhafte Wiedergabe esoterischer Lehren, was sich ja auch in Texten des 18. Jahunderts (Christoph Martin Wieland, Emanuel Schikaneder im Libretto der Zauberflöte) spurenhaft andeutet. Nach dem Fund des dreisprachigen Steines von Rosette (1799) ist es Jean-FranÇois Champollion 1822 gelungen, die Hieroglyphenschrift anhand des gleichlautenden griechischen Textes der Trilingue zu erschließen. Das Zeichensystem verlor seinen magischen Zauber, die nunmehr lesbar gewordenen Texte ermöglichten aber Aufschluss über Geschichte und Religion, über Land und Leute des geheimnisvollen Milieus. Ein anderes bemerkenswertes Faktum war die »Entdeckung« der Obelisken als Signatur der alten Kultur und als faszinierende Objekte für das moderne Leben. Schon Alexander der Große hatte eine dieser Spitzsäulen (die Wortverwandtschaft mit dem Obolos, dem ursprünglich nadelförmigen Zahlungsmittel, erweist es auch sprachlich!) in seine Stadt Alexandria bringen lassen, römische Kaiser folgten mit Bezug auf ihre Hauptstadt seinem Beispiel. Im 19. Jahrhundert avancierten Obelisken zu beliebten Geschenken ägyptischer Regenten an abendländische Herrscherhöfe oder Mäzene (Paris, London, New York). Die »Nadeln der Kleopatra« gelangten dabei zu sprichwörtlicher Berühmtheit. Doch wurden sie – und das ist ja das Symptom einer ägyptomanen Strömung – bereits in der Renaissancezeit als Stilideal aufgegriffen und als bauliches Ornament zur Gestaltung von Giebeln, später auch als architektonischer Grabschmuck verwendet. Ein weiteres Datum, das uns direkt in die Entstehungszeit von Verdis Aida als Auftragswerk führt, war die Eröffnung des Suezkanals, ein sensationelles, auch ökonomisch erhebliches Ereignis, da nunmehr der Seeweg nach Indien um 6000 Kilometer verkürzt und die Handelsbeziehungen erweitert und beschleunigt werden konnten.

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III. Im Spiegel der Oper Für das Musiktheater – ob als Sujet von Bühnenwerken oder als Faktor von Inszenierungen und Ausstattung – wird die Ägyptomanie zu Ende des 18. Jahrhunderts bedeutsam. Dieser Umstand erhellt sich schon aus Titeln wie Lullys Isis oder Rameaus heroischem Ballett Les Fêtes de l’Hymne et de l’Amour ou Les Dieux d’Egypte. Über Mozart/Schikaneders Zauberflöte zu sprechen, verbietet in diesem Rahmen das begrenzte Platzangebot. Auf die Bühnenmusik des Komponisten zum Drama des Barons Tobias von Gebler Thamos, König von Ägypten sei wenigstens verwiesen. Als unmittelbare Reaktion auf Napoleons Ägyptenfeldzug wird die große Ballettpantomime Les Amours d’Antoine et de Cléopâtre (Pierre Gardel, musikalisch ein Pasticcio aus Stücken von Haydn, Méhul, Viotti u.a. 1808 an der Pariser Oper monumental ausgestattet und inszeniert. Die Wirkung der Strömung aber hält an. Das Oratorium Moïse wird von Gioachino Rossini szenisch adaptiert und 1827 erfolgreich als Oper aufgeführt. 1850 erscheint Daniel François Esprit Aubers fünfaktiges Werk L’Enfant prodigue auf der Bühne, das den biblischen Stoff vom verlorenen Sohn in prunkvoller Manier »ägyptomanisch« präsentiert. Den Höhepunkt aber erreicht die kulturelle Anziehungskraft und ästhetische Sogwirkung des Alten Ägypten mit Auguste Mariettes stofflichem Entwurf zum Libretto von Aida und seinen akribischen wissenschaftlichen Beiträgen zur Erstaufführung.

Zwischen Kleopatra und Tutanchamun – ein Abgesang Das Jahr 1870 markiert wohl eine Zäsur, aber keineswegs das Ende der Faszination des Landes am Nil für die hohe Kunst und das schlichte Kunsthandwerk, für Malerei und Bühne, ja, selbst für Geistesgeschichte und das neue Medium des Films. Im Rahmen dieses Textes müssen dafür ein paar Stichworte genügen. Die Maler Paul Gauguin und Alfons Mucha integrierten ägyptisierende Facetten in ihre thematisch-stilistischen Entwürfe. Auch für Picasso und Matisse hat die Kunstgeschichte Vergleichbares nachgewiesen; für Modigliani ist eine Vorliebe für dieses frühgeschichtliche Ambiente sogar authentisch bezeugt. Die Ägyptenbegeisterung Sigmund Freuds entzündete sich an der Symbolik dieses Kulturkreises und mündete in seiner Schrift Der Mann Moses und die monotheistische Religion. Die schon seit dem Altertum berühmt-berüchtigte Femme fatale Kleopatra steht seit dem Fin de Siècle im (Zwie)Licht von Bühne und Film. 1899 wurde der erste Streifen gedreht, dem bis zum Ende des 20. Jahrhunderts etwa 90 weitere Produktionen folgen sollten. Am berühmtesten wurde wohl – auch wegen privater Begleitumstände – der Hollywoodfilm mit Elizabeth Taylor 23

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und Richard Burton als Marc Anton aus den 1960er Jahren. Einen sensationellen Erfolg feierte auch die Choreographie der Ballets Russes für die Pariser Cléopâtre, zu der Musik von Arenski, Glinka, Mussorgski, Rimski-Korsakow u.a. eingesetzt wurde. Ein wesentliches Datum war das Jahr 1922, in dem die Grabkammer Tutanchamuns entdeckt und freigelegt wurde. Die Malerei (Otto Dix) reagierte darauf ebenso wie das Kunstgewerbe des Art déco. Die Mode entwarf ebenso »ägyptische Sandalen« wie »Pharaonenblusen«, und das reich bestickte »Luxor-Kleid« reimt lautlich wie semantisch auf Luxus. Die »König Tut-Zitronen« wie­derum scheinen bereits moderne Werbeslogans vorwegzunehmen. Schier seriös wirkt dagegen das Sujet von Nico Dostals Operette Nofretete, in der ein tenoraler Archäologe die Personen seiner Umgebung mit den Figuren der Forschungsarbeit vermengt. Der Modetrend aber ist in der (Post-) Moderne noch immer präsent. J.-M. Humbert konstatiert dazu trefflich, dass sich gerade in der Gegenwart zeige, »wie die von einem Demokratisierungsprozess ab der Jahrhundertmitte getragene Ägyptomanie die Mittel findet, ihr Überleben und ihre Dauerhaftigkeit sicherzustellen«. P.S.: Der Verfasser weiß sich seinen Münchener Freunden, den Ägyptologen Isabel und Adolf Grimm, zu Dank verpflichtet.

→ Gregory Kunde als Radames, 2019

IM BA N N E DER OBELISK EN U N D PY R A MIDEN

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AUGUSTE MARIETTE, DER EIGENTLICHE ERFINDER DER AIDA


Giuseppe Verdis Aida wurde im Auftrag Ismail Paschas, des Vizekönigs von Ägypten, komponiert – den ursprünglichen Stoff dazu lieferte der französische Ägyptologe Auguste Mariette Pascha, der dem Vizekönig als Direktor der ägyptischen Altertümer bekannt war und der sich bereits in seinen Jugendjahren literarisch betätigt hatte. Geboren wurde François Auguste Ferdinand Mariette am 11. Februar 1821 in Boulogne-sur-Mer. 1849 war er als Ägyptologe in den Louvre berufen worden – bereits 1850 begab er sich im Auftrag des Louvre auf eine ausgedehnte Ägyptenreise, um koptische Manuskripte ausfindig zu machen. Im Zuge seiner Studien entdeckte er unter anderem das Serapeum in Sakkara und die Apisgräber in Memphis. Nach weiteren interessanten Funden wurde er vom ägyptischen Vizekönig in Dienst genommen, erhielt den Titel Bey und wurde zum Leiter der Ausgrabungsarbeiten bestellt, die in Ägypten durchgeführt wurden. Auguste Mariette war auch der Gründer und erste Direktor des Ägyptischen Nationalmuseums und der Ägyptischen Altertümerverwaltung. Trotz dieser glänzenden Karriere, die in der Beförderung zum Kommandanten der Ehrenlegion, in der Mitgliedschaft bei der Französischen Akademie und der Verleihung des Titels Pascha gipfelte, hatte sein Leben auch viele Schattenseiten: Er war Diabetiker und litt schwer unter dieser Krankheit. Bereits 1864 hatte er den Verlust seiner Frau und fünf seiner elf Kinder zu beklagen. Und von seinem Arbeitgeber, dem Vizekönig, wurde er zudem finanziell kurz gehalten; es bedeutete für ihn also eine willkommene Abwechslung, auf Kosten des Vizekönigs – dem er seit einiger Zeit seinen Aida-Stoff in Form einer Oper für die Feierlichkeiten der Suezkanal-Eröffnung einzureden versuchte – nach Paris zu reisen, um für die Umsetzung dieser Vertonung mit dem französischen Librettisten Camille Du Locle über die Herstellung eines Librettos und den richtigen Komponisten – Giuseppe Verdi – zu verhandeln. Verdi seinerseits lobte das ihm übermittelte »ägyptische Szenarium«, das schließlich als Basis für das Aida-Textbuch des italienischen Librettisten Antonio Ghislanzoni diente – wusste allerdings zunächst nicht, dass dieser Handlungsentwurf von Mariette stammte. Am 18. Jänner 1881 verstarb Auguste Mariette knapp 60-jährig in Bulaq bei Kairo – rund zehn Jahre nach der Uraufführung der Oper Aida.

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AUGUST E M A R IET T E


Andreas Láng

EIN AUFTRAG AUS EINEM FERNEN LAND Die Musikwelt verdankt die letzten Opern Verdis nicht nur, aber zumindest in nicht unerheblichem Maße der Hartnäckigkeit diverser, dem Komponisten nahestehender Personen, die den alten Meister aus Busseto immer wieder mit Sujet-Vorschlägen überhäuften, bombardierten, im positiven Sinne reizten. Der französische Librettist Camille Du Locle beispielsweise, Textdichter des französischen Don Carlos, wurde Ende der 60er Jahre nicht müde, Verdi mit den unterschiedlichsten Opernvorschlägen zu konfrontieren: Molières Tartuffe stand ebenso auf der Locle’schen Liste wie Adrienne Lecouvreur, Frou-Frou, Sardous’ Piccolino und noch weitere mehr. Verdi selbst tendierte zunächst noch am ehesten in Richtung Komödie, ein Terrain, das er seit seiner Frühzeit nicht mehr betreten hatte und erst mit dem Falstaff wieder erreichen sollte. Von diesem Gesichtspunkt aus ist sein Interesse und der Wunsch nach einer Übersetzung der spanischen Satire El tanto por ciento von Adelardo López de Ayala zu sehen. An diesem Punkt aber setzt gewissermaßen die Entstehungsgeschichte der Aida ein: Denn Du Locle lieferte Verdi zwar eine französische Fassung von El tanto por ciento, legte aber – aus freien Stücken – auch die Handlungsskizze eines im Alten Ägypten spielenden Stoffes dazu. Und Verdi las das unangefragte Angebot, fand Gefallen daran, erkundigte sich nach weiteren Details und hatte somit den Köder geschluckt. Freilich, für die Pariser Oper, die Grande Boutique, wie Verdi sie verächtlich nannte, wollte er keinesfalls mehr etwas schreiben, und das Textbuch des etwaigen neuen Werkes sollte in italienischer Sprache verfasst werden. Du Locle taktierte daraufhin vorsichtig: »Ein fernes Land« wäre der Auftraggeber, die Verfasser der Handlungsskizze der Ägyptologe Auguste Mariette und der Vizekönig von Ägypten. Die Erwähnung des Letzteren war ein »Verkaufsgag«, A N DR EAS LÁ NG

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Auguste Mariettes Autorenschaft entsprach hingegen der Realität. Dieser französische, literarisch ambitionierte Forscher, der es in Ägypten bis zum Titel eines Paschas bringen sollte, hatte sein nicht unerhebliches Fachwissen in die Geschichte verpackt, wodurch zumindest manche Aspekte der Handlung durchaus historisch fundiert waren. Dass allerdings sein Bruder Edouard der eigentliche Erfinder der Person der Aida (ursprünglich Aita) sein wollte, in diesem Zusammenhang auf die von ihm verfasste Novelle La fiancée du Nil hinwies und Auguste Mariette des Plagiats bezichtigte, steht auf einem anderen Blatt. Ebenso die nicht leugbare Ähnlichkeit der endgültigen Oper Aida mit manchen Passagen bereits vorher existierender Libretti beziehungsweise Stücke, etwa Metastasios Nitteti oder Racines Bajazet. Wie dem auch sei, Auguste Mariettes Name ist durch Aida untrennbar mit jenem von Verdi verbunden, zumal der Ägyptologe auch für die »archäologisch echte« Ausstattung der Uraufführung Pate stand. Verdi hatte also dem Projekt Aida zugestimmt, sich mit zahllosen Details historischer und musikhistorischer Besonderheiten befasst und genaue vertragliche Vorgaben an die Auftraggeber gemacht – sich unter anderem ein beträchtliches Honorar ausbedungen. Die eigentliche Entstehung der Oper Aida ging dann verhältnismäßig rasch vonstatten: Im Sommer 1870 schrieben Verdi und Du Locle in Sant’ Agata ein französisches Prosalibretto, das der Komponist mithilfe seiner Frau ins Italienische übertrug. Von da an kam der Librettist Antonio Ghislanzoni ins Spiel, der den Komponisten wiederholt besuchte und in relativ kurzer Zeit das Textbuch verfasste, sodass Verdi seinerseits zügig mit der Komposition voranschritt. Auf diese Weise lag das Werk bereits nach vier Monaten im Wesentlichen fertig vor. In der Zwischenzeit war aber der Deutsch-Französische Krieg ausgebrochen und Paris sehr bald von der Welt abgeschnitten, was direkte Auswirkungen auf die geplante Uraufführung der Aida hatte: Da die entsprechenden Kostüme und Bühnenbilder unter Mariettes Aufsicht in der Seine-Metropole zur Herstellung gelangten, konnten sie nicht zeitgerecht nach Kairo gesandt werden. (Verdi nutzte übrigens die Verzögerung und arbeitete manche Passagen der Partitur um). Statt im Jänner 1871 kam es daher erst fast ein Jahr später, am 24. Dezember 1871, zur Weltpremiere in der ägyptischen Hauptstadt – allerdings ohne Beisein des Komponisten, der die kurz darauf stattfindende Mailänder Premiere (8. Februar 1872) vorbereitete. Erfolgreich waren dann, auch international gesehen, beide Produktionen (Verdi wird von ägyptischer Seite zum Komtur des Ottomanischen Ordens ernannt), und den bis heute andauernden Siegeszug der Oper rund um den Erdball konnte nichts mehr aufhalten.

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EIN AU F T R AG AUS EIN EM FER N EN LA N D...


Attila Csampai

» Aida liebt ohne Einschränkungen. An ihr machen sich alle anderen schuldig. Sie steht für die soziale Unterdrückung des Menschen und zugleich ist sie die Allegorie intakter Menschlichkeit,


die Verkörperung der unbeschädigten menschlichen Natur, die an der Inhumanität, der Entfremdung, den brutalen Zwängen der bürgerlichen Gesellschaft zerbricht. «


Andreas Láng

PRIESTERZÖGLING, MEDIZINSTUDENT, SÄNGER, LIBRETTIST

In der Musikgeschichte finden sich nicht wenige Textdichter – insbesondere italienischer Provenienz –, deren Biografien durchaus Stoff für die eine oder andere Dramatisierung hergeben würden. So etwa jene des Aida-Librettisten Antonio Ghislanzoni, der beruflich mehr als nur einmal komplett umsattelte, um seinem Lebensweg jedes Mal eine gänzlich neue Richtung zu geben, der Kerkermauern ebenso kennenlernte wie nachhaltigen Ruhm, der als politischer Aktivist ebenso auffiel wie als versierter Literat. Am 25. November 1824 im lombardischen Lecco geboren, war Ghislanzoni zunächst Untertan des österreichischen Kaisers, der zur damaligen Zeit auch als König von Lombardo-Venetien fungierte. Zunächst plante Ghislanzoni, den Weg eines Geistlichen einzuschlagen, wurde aber bereits mit 15 Jahren wegen schlechter Führung aus dem Priesterseminar ausgeschlossen. Also wandte er sich, in Pavia, einer anderen Studienrichtung zu: der Medizin. Doch auch auf diesem Gebiet kam Ghislanzoni nicht sehr weit – spätestens 1846 hat er die Universität verlassen, um sich aufgrund seiner, wie er meinte, schönen Baritonstimme der Gesangskarriere zu verschreiben, die er immerhin rund acht Jahre lang recht erfolgreich verfolgte. So interpretierte er unter anderem 1851 in Paris den Don Carlo in Verdis Ernani. A N DR EAS LÁ NG

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Seine republikanisch-nationalistisch-revolutionär geprägte politische Gesinnung ver­kom­plizierte jedoch sein Sängerleben gravierend: Als Anhänger Giuseppe Mazzinis und als Gründer mehrerer republikanischer Zeitungen in Mailand geriet er wiederholt mit der österreichischen und der französischen Obrigkeit in Konflikt. Der diesbezügliche Höhepunkt respektive Tiefpunkt war seine vorübergehende Einkerkerung und Stationierung durch die Franzosen auf Korsika. Heute ist Antonio Ghislanzoni vor allem als Librettist bekannt – eine Tätigkeit, die er zwar schon 1857 begonnen hatte, deren Zenit aber erst mit seinen Arbeiten für Verdi (1869 zweite Fassung von Forza del destino, 1871 Aida, 1872 Mitarbeit am italienischen Don Carlo) und Amilcare Ponchielli (1874 I lituani) erreicht war. Insgesamt verfasste er – je nach Zuschreibung – zwischen 45 und 85 Opernlibretti. Hervorzuheben wären noch seine unzähligen Artikel in diversen Zeitungen und Zeitschriften und seine Herausgebertätigkeit der Gazzetta musicale di Milano und der Rivista minima. Am 16. Juli 1893 verstarb Antonio Ghislanzoni in Caprino Bergamasco (Lombardei).

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PR IE ST ER ZÖGLING, MEDIZINST U DEN T, SÄ NGER, LIBR ET T IST


BRIEFE IM ZUGE DER ENTSTEHUNG DER AIDA

Verdi an Drahnet Bey 9. AUGUST 1869

Ich weiß sehr wohl, dass anlässlich der Feierlichkeiten, die wegen des Durchbruchs des Suezkanals stattfinden werden, ein neues Theater in Kairo eröffnet werden soll. Obwohl ich es zu schätzen weiß, dass Sie, Monsieur Le Bey, mir liebenswürdiger Weise die Ehre zuteil werden ließen, an mich zu denken, um diese Hymne zu schreiben, die das Eröffnungsdatum hervorheben soll, bedaure ich, diese Ehre ablehnen zu müssen; zum einen wegen meiner zahlreichen Verpflichtungen, zum anderen, weil es nicht meine Gewohnheit ist, Gelegenheitsstücke zu schreiben.

Verdi an Camille Du Locle 26. MAI 1870

Ich habe das ägyptische Szenarium gelesen. Es ist gut gemacht; die mise en scène ist vortrefflich, und sie enthält zwei oder drei Situationen, die – wenngleich nicht brandneu, so doch – sehr schön sind. Wer hat es nur geschrieben? Man spürt die überaus sachkundige Hand, die Erfahrung hat und sehr viel vom Theater versteht. Hören wir uns einmal die finanziellen Bedingungen aus Ägypten an, dann werden wir weitersehen. Das italienische Libretto müsste geschrieben werden, und selbstverständlich müsste ich es selbst verfassen lassen. BR IEFE IM Z UGE DER EN TST EH U NG DER A IDA

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Verdi an Camille Du Locle 2. JUNI 1870

Hier meine Meinung über die Sache mit Ägypten. In erster Linie muss ich mir die Zeit vorbehalten, um die Oper zu komponieren, denn es handelt sich um eine Arbeit von gewaltigen Ausmaßen (so als wäre sie für die Grande Boutique), und weil der italienische Textdichter zuerst die Gedanken finden muss, die er den Personen in den Mund legt, bevor er sich an den Text macht. Vorausgesetzt also, dass ich es zeitlich schaffe, hier die Bedingungen: 1. Das Libretto werde ich auf eigene Kosten schreiben lassen. 2. Ebenfalls auf meine eigene Kosten werde ich jemand nach Kairo schicken, um die Oper einzustudieren und zu leiten. 3. Ich werde eine Kopie der Partitur schicken und alle Rechte am Libretto und an der Musik nur für das Königreich Ägypten abtreten, mir jedoch die Rechte am Libretto und an der Musik für alle anderen Teile der Welt vorbehalten. Als Vergütung zahlt man mir die Summe von 150.000 Franken in Gold [heute ca.: 380.000 €], zahlbar in Paris bei der Rothschild-Bank, im Augenblick der Übergabe der Partitur (...).

Verdi an Giulio Ricordi 25. JUNI 1870

(...) Letztes Jahr wurde ich eingeladen, eine Oper für ein sehr fernes Land zu schreiben. Ich antwortete mit Nein. Als ich in Paris war, wurde Du Locle beauftragt, nochmals mit mir darüber zu sprechen und mir eine hohe Summe anzubieten. Ich antwortete wieder mit Nein. Einen Monat darauf schickte er mir einen gedruckten Entwurf und sagte mir, er stamme von einer mächtigen Persönlichkeit (was ich nicht glaube), er halte ihn für gut und ich solle ihn lesen. Ich fand ihn sehr gut und antwortete ihm, dass ich unter diesen und jenen Bedingungen komponieren würde. Drei Tage später antwortete er mir telegrafisch: »Akzeptiert«. (...) Kann und will Ghislanzoni mir diese Arbeit machen? Es ist keine Originalarbeit, erklärt ihm das genau; es geht lediglich darum, die Verse zu machen, die selbstverständlich (das sage ich Euch) sehr großzügig bezahlt sein werden.

Giulio Ricordi an Verdi 3. JULI 1870

Ghislanzoni, überglücklich über den erhaltenen Auftrag, wird sich mit Leib und Seele damit befassen... ich frage ihn nach dem Honorar, doch er wollte mir – wie ich vorausgesehen hatte – nichts sagen, erklärte sich vielmehr mit 35

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dem einverstanden, was Sie für angemessen halten. Inzwischen werde ich mich erkundigen, was Sie über historische Daten wissen möchten, und werde es Ihnen mitteilen.

Verdi an Giulio Ricordi JULI 1870

Immer und immer wieder lese ich das Szenarium der Aida durch. Ich sehe einige Anmerkungen von Ghislanzoni, die mich (unter uns gesagt) ein wenig ängstlich stimmen, denn ich möchte nicht, dass man, um imaginären Gefahren aus dem Weg zu gehen, letztlich etwas sagt, was nicht der Situation entspricht. Ebensowenig möchte ich jedoch, dass die »parole sceniche« vergessen werden. Unter »parole sceniche« verstehe ich solche Worte, die eine Szene oder einen Charakter einprägsam machen und die auch stets eine starke Wirkung auf das Publikum ausüben. Ich weiß wohl, dass es zuweilen schwierig ist, ihnen eine erlesene und poetische Form zu geben. Doch (verzeiht mir die Blasphemie) sowohl der Dichter als auch der Komponist müssen notfalls die Fähigkeit und den Mut haben, weder Poesie noch Musik zu schreiben... Entsetzlich! Entsetzlich!

Verdi an Camille Du Locle 15. JULI 1870

Ich danke Euch für die Information, die Ihr mir über die Musikinstrumente in Ägypten gebt (...). Ich versichere Euch, dass es mir schrecklich widerstrebt, zum Beispiel Instrumente von Sax einzusetzen. Bei einem modernen Stück ist das zulässig... aber bei den Pharaonen!!! ... Schreibt mir auch, ob es Priester­ innen der Isis und anderer Gottheiten gab. In den Büchern, die ich durchgeblättert habe, lese ich, dass dieser Dienst vielmehr Männern vorbehalten war.

Verdi an Ghislanzoni 28. SEPTEMBER 1870

Bester Herr Ghislanzoni, dieser dritte Akt ist sehr gut, wenn es auch für mein Gefühl ein paar Dinge zu verbessern gibt. Aber, ich wiederhole, im Ganzen sehr gut, und dafür mache ich Ihnen mein aufrichtiges Kompliment. Ich sehe, dass Sie Angst vor zwei Dingen haben: vor einigen szenischen Kühnheiten, würde ich sagen, und davor, keine Cabaletten zu machen! Ich bin stets der Ansicht, dass man Cabaletten machen soll, wo die Situation es verlangt. Die der beiden Duette verlangt die Situation nicht, und besonders scheint mir BR IEFE IM Z UGE DER EN TST EH U NG DER A IDA

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die Cabaletta im Duett zwischen Vater und Tochter nicht am Platz zu sein. Aida kann und darf in jenem Zustand von Furcht und moralischer Niedergeschlagenheit keine Cabaletta singen. Im Entwurf gibt es zwei außerordentlich dramatische Stellen, die wahr und gut für den Schauspieler sind und in der Dichtung nicht recht herauskommen. Erstens: Nachdem Amonasro gesagt hat »Du bist die Sklavin der Pharaonen«, kann Aida nur in abgerissenen Sätzen sprechen. Zweitens: Wenn Amonasro zu Radames sagt »der König von Äthiopien«, da muss Radames fast allein die Szene halten und beherrschen, mit seltsamen, verrückten, sehr exaltierten Worten; aber davon sprechen wir zur rechten Zeit... Analysieren wir diesen Akt von Anfang bis Ende. Im ersten Chor kommt mir die zweite Fassung besser vor; nur muss nicht noch einmal gesagt werden, was in den Litaneien gesagt wurde: »Luce divina eterna, spirto fecondator«; besser sagen wir wie im Entwurf »Iside favorevole agli Amori ecc...«. Gut Rezitativ und Romanze. Gut das Duett, das auf die Zeile folgt: »Ti maledico. Ah no«. Danach kommt mir »Tu agli occhi miei, Die faraon ecc« schwach vor, und ich finde diese Art von Enthusiasmus bei Aida falsch: »Della patria il sacro amor«. Nach der furchtbaren Szene und den Schmähungen des Vaters hat Aida, wie ich Ihnen sagte, keinen Atem zum Sprechen mehr: darum abgerissene Worte mit tiefer dunkler Stimme. Ich habe den Entwurf nochmals gelesen, und mir scheint, dass die Situation dort gut wiedergegeben ist. Für meinen Teil würde ich auf Strophe und Rhythmus verzichten; ich würde nicht daran denken, singen zu lassen, sondern die Situation genauso geben wie sie ist, selbst in Form eines Rezitativs. Ich würde allerhöchstens Amonasro eine Phrase singen lassen: »Pensa alla patria, e tal pensiero ti dia forza e coraggio«: Vergessen Sie nicht die Worte: »Oh patria mia, quanto quanto mi costi!« Kurz und gut, ich würde mich so weit wie möglich an den Entwurf halten. Morgen schreibe ich Ihnen wieder und mache ein paar Bemerkungen zu dem Übrigen.

Verdi an Ghislanzoni OKTOBER 1870

Lieber Ghislanzoni, aber dieses Duett ist wunderschön! Amneris-Radames, 4. Akt. Nach dem Duett zwischen Aida und Amonasro aus dem 3. Akt scheint es mir das beste von allen zu sein. Wenn Sie eine etwas modernere Form für die Cabaletta finden, so ist dieses Duett vollkommen. Das können wir aber auf jeden Fall einrichten, indem wir einige Verse ändern.

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Verdi an Giulio Ricordi 10. JULI 1871

Ich halte wenig von der sogenannten Vollendung des Gesangs: ich lasse die Partien gerne singen, wie ich will; aber ich kann weder die Stimme, noch die Seele, noch jenes gewisse Etwas geben, das man gewöhnlich den Teufel im Leib haben nennt. (...) Weiterhin: Das unsichtbare Orchester schaffen. Diese Idee stammt nicht von mir, sondern von Wagner: sie ist ausgezeichnet.

Verdi an Ghislanzoni 7. SEPTEMBER 1871

Noch eine Bemerkung »sotto voce«: auf Seite 40 steht diese Strophe: »Morir! Sì pura e bella (...). Troppo t’amai, troppo sei bella«: Gewiss werden unsere Primadonnen schön sein, aber wenn es später jeweils eine gäbe, die es nicht wäre? Dann könnte das Publikum scherzen, und das täte mir leid, weil der Moment zu bedeutend ist.

Ghislanzoni an Giulio Ricordi 21. SEPTEMBER 1871

Versuchen Sie, Maestro Verdi zu überreden, Radames’ Worte »Morir! Sì pura e bella« so zu lassen, wie sie sind. (...). Selbst wenn wir ein Ungeheuer aus Lappland auf der Bühne hätten, würde das Publikum in Ekstase geraten.

Verdi an Giulio Ricordi DEZEMBER 1871

Sie haben sehr unrecht getan, Außenstehenden die Aida zu zeigen. Vorweggenommene Urteile sind völlig wertlos und nützen niemandem. Misstrauen Sie solchen Urteilen immer, mögen sie von Freunden oder Feinden kommen. Ich will unter keinen Umständen Reklame. (...) Entweder hat die Aida Erfolg, dann braucht sie keine Reklame, oder sie hat keinen, dann verschlimmern solche Vorurteile nur das Fiasko.

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Verdi an Tito Ricordi 2. JÄNNER 1873

(...) Dumme Kritiken und noch dümmere Lobhudeleien, kein erhabener, künstlerischer Gedanke; nicht einer, der meine Absichten hat aufzeigen wollen... immerzu albernes Geschwätz und Unsinn, und hinter allem eine gewisse Missgunst mir gegenüber, als hätte ich ein Verbrechen begangen, dass ich die Aida geschrieben und habe gut aufführen lassen. Keiner, der zumindest die materielle Tatsache einer ungewöhnlichen Aufführung und mise en scène unterstrichen hätte! Nicht einer, der zu mir gesagt hätte: Hund, ich danke dir!

Verdi an Giulio Ricordi 4. APRIL 1875

(...) Ihr sprecht mir von erzielten Erfolgen!!! Welchen? Ich werde sie Euch nennen. Nach 25-jähriger Abwesenheit von der Scala habe ich nach dem ersten Akt von La forza del destino ein Pfeifkonzert erlebt. Nach der Aida endloses Geschwafel: das war nicht mehr der Verdi des Ballo ( jenes Ballo, der beim ersten Mal an der Scala ausgepfiffen wurde); welch eine Katastrophe, wenn es den vierten Akt nicht gegeben hätte (...); ich hätte nicht für die Sänger zu schreiben verstanden; nur im zweiten und vierten Akt (im dritten nichts) seien ein paar passable Stellen gewesen; und schließlich, ich sei ein Wagner-Imitator!!! Ein schöner Erfolg, nach 35-jähriger Karriere als Imitator zu enden!!!

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Ernst Reyer

REISE NACH KAIRO So wunderbar der Herrscher dieses Landes auch war und welch uneingeschränkte Macht er auch hatte, die Macht, ein Meisterwerk zu befehlen, hatte er nicht. Er wusste dies sehr gut, als er beim populärsten italienischen Komponisten eine ganz neue Partitur in Auftrag gab, deren Erstaufführung im Opernhaus von Kairo stattfinden sollte. Verdi musste dem Wunsch des Khediven umso mehr mit den besten Absichten entsprechen, als er mehrere Jahre zuvor der Einladung des russischen Zaren gefolgt war und La forza del destino komponiert hatte. Glücklicherweise ist Aida ein unvergleichlich besseres Sujet als jenes und hat den Komponisten bedeutend mehr inspiriert. Er ergriff sogar die Gelegenheit, das lokale Kolorit einzufangen, was er noch nicht oft gemacht hatte und in seinen früheren Werken anscheinend nicht anstrebte. Ein türkisches Motiv, das man ihm aus Konstantinopel zukommen ließ, und eine einheimische Melodie, die auf der Flöte die Bewegungen der tanzenden Derwische begleitet, waren für Verdi eine wertvolle Hilfe. Ich würde noch hinzufügen, dass diese beiden Themen, die viel Charakter haben, aber nur wenige Takte lang sind, durch ihre geschickte Behandlung, die Instrumentierung und die Anordnung der Stimmen in der Partitur einen bedeutenden Stellenwert erlangen. Mit dem einen Motiv gestaltete Verdi den Chor der [Priesterin] Termuthis und der Priester des Vulkan im Tempel von ER NST R EY ER

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Memphis, mit dem anderen kreierte er eine Art mystischen Tanz. Diese zwei Motive, die aufeinanderfolgen und von denen eines dem anderen antwortet, bilden einen sehr reizvollen Effekt und werden unendlich kunstvoll vorgestellt, entwickelt und rückgeführt. Ich habe sie mit Entzücken gehört, und doch verfallen meine Ohren dem Charme dieser lieblichen Überraschungen nicht mehr, den die Melodien des Orients diejenigen empfinden lassen, die sie das erste Mal hören. Aber diese Partitur hat noch mehr zu bieten. Denen, die die Bewegung in der Musik in Abrede stellen, antwortet Verdi wie der antike Philosoph: Er geht. Natürlich, das ist noch der alte Verdi. Man findet ihn in Aida mit seinen Übertreibungen, seinen plötzlichen Gegensätzen, seinen stilistischen Unachtsamkeiten und Ausbrüchen wieder. Aber es zeigt sich hier auch ein anderer Verdi, inspiriert von der deutschen Schule, der er sich äußerst geschickt bedient: Ein Verdi, der sich mit einer Kunstfertigkeit und einem Fingerspitzengefühl ausdrückt, die man ihm nicht zugetraut hätte, mit allen Kunstgriffen der Fuge und des Kontrapunkts, der Klänge mit einer seltenen Findigkeit miteinander verbindet, sogar jene, die für ihn charakteristisch waren, nacheinander mit den großen Rezitativen und den langen Gesängen liebäugelt, manchmal nach den fremdartigsten Harmonien, den unerwartetsten Modulationen trachtet, die der Begleitung mehr Beachtung, ja oft mehr Wert geben, als der Melodie selbst. [...] Das Opernhaus von Kairo ist innen wie die meisten italienischen Opernhäuser gestaltet und eingerichtet. Es gibt weder Galerie- noch Balkonlogen, und das Parkett wird von den Parkettlogen dominiert. Die Gestaltung in Mattgold auf Weiß beweist vollendeten Geschmack. Das Innere der Logen ist in Dunkelrot gehalten, die Vorderseite mit Velourstapeten in derselben Farbe versehen. Vor dem Eingang zum Parkett befindet sich ein Säulenvestibül, über das man zu zwei Seitentreppen kommt, die in die oberen Etagen führen. Das Foyer ist in der zweiten Etage. Es ist weitläufig und wundervoll verziert. In den Pausen flaniert man dort ein wenig. Die Zuschauer mit Fes auf dem Kopf kommen in das Vestibül und rauchen dort ihre Zigarette, während sie mit großem Ernst eine Tafel lesen, die ihnen das Rauchen verbietet. Kairo, 31. Dezember 1871 Notes de musique, 1875

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R EISE NACH K A IRO


Daniel Brandenburg

DAS ÄGYPTISCHE IN AIDA

Exotische Sujets haben in der Operngeschichte eine lange Tradition und gründen ihren Erfolg, auch Giuseppe Verdis Aida ist dafür nur ein Beispiel unter vielen, wesentlich auf den visuellen und musikalischen Möglichkeiten, die sie den Opernschaffenden eröffnen. Von Beginn ihrer Gattungsgeschichte an war Oper aufwendiges Sinnesspektakel, das im Zusammenspiel unterschiedlicher Künste, von der Dichtung und der Musik über den Gesang und den Tanz bis hin zur Malerei mit der Unterstützung von »special effects« der Beleuchtung und der Maschinerie sein Publikum in den Bann zu ziehen versuchte. Im 17. Jahrhundert waren es u.a. Sujets der antiken Götter- und Sagenwelt, die mit Pomp und maschinellem Aufwand in Szene gesetzt wurden, ein Jahrhundert später wurden hingegen exotische Geschichten um die Eroberung der Maya- und Inkareiche populär. Die kriegerischen Auseinandersetzungen mit dem Osmanischen Reich führten schließlich dazu, dass bis in die Napoleonische Zeit hinein »türkische« Opern, von Christoph Willibald Glucks Pilgrime von Mekka über Wolfgang Amadeus Mozarts Entführung aus dem Serail bis hin zu Gioachino Rossinis L’italiana in Algeri, sich größter BeDA N IEL BR A N DEN BU RG

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liebtheit erfreuten. Das Faszinosum fremder, exotischer Welten und Kulturen pflanzte sich schließlich auch im 19. Jahrhundert weiter fort. Opern wie Giacomo Meyerbeers L’Africaine von 1865, George Bizets Djamileh von 1872, Karl Goldmarks Königin von Saba von 1875 oder auch Camille Saint-Saëns Samson et Dalila von 1877 sind beredte Zeugnisse für die Popularität orientalischer Stoffe im zeitlichen Umfeld von Verdis Aida. Namentlich in Frankreich und in der französischen Oper war das Interesse am Orient groß. Auslöser dafür waren u.a. die Besetzung Ägyptens durch Napoleon in den Jahren 1798 bis 1802 und die während dieser Zeit angestoßenen wissenschaftlichen Untersuchungen zur Geschichte und Kultur jenes Landes. Ergebnisse dieser Forschungen wurden in Paris veröffentlicht, auf diese Weise einer großen Leserschaft zugänglich gemacht und damit Ausgangspunkte für eine richtige Ägypten-Mode. Musikalisch wirksam wurde diese Ägypten-Begeisterung auch in der Instrumentalmusik, etwa durch den französischen Komponisten Félicien David (1810-1876), der zwischen 1833 und 1835 unter zum Teil abenteuerlichen Umständen den Vorderen Orient durchquerte. In seiner sinfonischen Ode Le Desert schildert er den Zug einer Karawane durch die Wüste, inklusive Sandsturm, orientalischen Tänzen und Gebeten. 1844 erzielte er damit in Paris einen durchschlagenden Erfolg, der ihn zu einem der Väter des musikalischen Exotismus im 19. Jahrhundert machte. Der Romancier, Kritiker und Librettist Théophile Gautier (1811-1872) stellte allerdings fest, dass Davids Musik trotz arabischer Anklänge eine völlig europäische sei, die nur durch Einzelheiten die Vorstellung von Orient evoziere. Diese Technik, die nur darauf setzt, beim Publikum bestimmte Assoziationen auszulösen, ohne notwendigerweise auf »authentische« Musik und kompositorische Verfahrensweisen des jeweiligen Kulturkreises zurückzugreifen, war auch in der Oper weit verbreitet. Während Italien um die nationale Einheit kämpfte, entwickelte sich Paris infolge des durch Napoleon ausgelösten Modernisierungsschubs zur modernen Metropole und zum kulturellen Zentrum von europäischem Rang. Schon Rossini, Bellini und Donizetti zog es an die Seine, weil ihnen das dortige sehr lebendige Musik- und Theaterleben vielfältige Perspektiven eröffnete. Die französische Hauptstadt wurde damit zu einer wichtigen Drehscheibe des Opernrepertoires und zum Sprungbrett für internationale Künstlerkarrieren. Auch Verdi empfing in Paris wichtige künstlerische Impulse, vor allem durch die Opernwerke des damals sehr erfolgreichen Komponisten Giacomo Meyerbeer. Diese flossen in seine italienischen Werke ein und führten, etwas vereinfacht gesagt, zu einer Synthese von italienischem Melodramma und französischer Grand opéra. Mit Aida findet Verdis Beschäftigung mit der Grand opéra ihren krönenden Abschluss, indem er die für die französische Gattung typischen groß, als sogenannte Tableaux angelegten Massen- und Ballettszenen mit der Individualdramaturgie der italienischen Oper verbindet und damit eine nahtlose Einheit von Musik und Szene erzielt. 45

DAS ÄGY P T ISCHE IN A IDA


Szenen wie die des von Trompetengeschmetter begleiteten Triumphzugs, die in erster Linie der Entfaltung von Lokalkolorit und der Befriedigung von Schaulust dienten, waren für die große Oper, wie sie in Paris gepflegt wurde, konstitutiv. Ebenso gehörte die genau an Ort und Zeit der Handlung orientierte Gestaltung von speziellen Bühnenbildern und Kostümen zu den besonderen Errungenschaften des Pariser Theaterlebens. Aida entsprach auch in diesem Punkt ihren französischen Vorbildern: Der Ägyptologe Auguste Mariette war nicht nur der Verfasser des ersten Handlungsentwurfs dieser Oper, sondern überwachte später auch die historisch korrekte Ausführung der für die Uraufführung vorgesehenen Bühnenbilder und Kostüme. In der Musik war diese Detailtreue jedoch nicht gegeben und wurde, wie schon der Opernforscher Jürgen Maehder festgestellt hat, auch nicht vom Publikum erwartet. Nichteuropäische Musik wurde auf der Bühne generell nicht genau nach Herkunftsland typisiert. Fremde Völker wie Inder oder Mexikaner wurden deshalb in der Oper des 19. Jahrhunderts als exotische Komponente meist auf der Basis orientalisch anmutender melismatischer Melodik und chromatischer Halbtonschritte charakterisiert. »Türkische« Instrumente, wie sie zum Beispiel in der Janitscharenmusik der Opernbühne des 18. Jahrhunderts als fremdländische bzw. orientalische Klangkomponente beliebt waren, wurden nach 1800 durch die Erweiterung des Schlagzeugs im Orchester hingegen immer weniger als exotisch wahrgenommen. Ägyptische Musik war nur in bildlichen Darstellungen von Instrumenten bekannt, weshalb Verdi, auch wenn er es gewollt hätte, kein authentisches Material zur Verfügung stand. Aber auch der tragische Konflikt der Handlung ist nicht »typisch ägyptisch«, sondern nur in ein äußeres ägyptisches Gewand gekleidet. Und selbst einige Szenen, wie etwa die Tempelszenen, die man aufgrund ihrer äußerlichen Ausgestaltung als exotisches Element wahrnehmen könnte, entsprechen im Kern einem Typus, der zum Beispiel auch in Opern mit in der griechischen oder römischen Antike angesiedeltem Sujet zu finden sind. Sie wurden in Aida lediglich entsprechend angepasst. Letzteres war für die erfahrenen Opernbesucherinnen der damaligen Zeit – und selbst für Auguste Mariette – als Teil herrschender Konventionen selbstverständlich. In Anbetracht dieser ohnehin vorhandenen Distanz zwischen dem Handlungsort und den dargestellten Verwicklungen stand Verdi also vor der Aufgabe, ein überzeugendes, jedoch vollständig fiktives musikalisches Lokalkolorit zu schaffen. Als Anknüpfungspunkte dafür boten sich die Tanzund Tempelszenen an, nicht zuletzt, weil Tanz ohnehin konventionellerweise zur Charakterisierung von Fremdheit und fremden Völkern eingesetzt wurde und weil über sakral-rituelle Momente beim Publikum besonders gut eine distanzierte Wahrnehmung des Fremden, Exotischen zu erzeugen war. Verdi greift für die musikalische Gestaltung der Tempelszene im ersten Akt u.a. auf Instrumente zurück, die aus bildlichen Darstellungen der Zeit bekannt waren, und lässt die Stimme der Oberpriesterin, die sich in orienDA N IEL BR A N DEN BU RG

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talisch anmutender Melismatik ergeht, von Harfenklängen begleiten. Die Einflüsse bildlicher Darstellungen ägyptischer Musik gehen in der Partitur der Aida aber noch weiter. Auch solistisch eingesetzte Flöten und Trompeten lassen sich darauf zurückführen. Flöten und Piccolo spielen eine wichtige Rolle in den Ballettmusiken, stehen dort als »einfache« Holzblasinstrumente für die Ursprünglichkeit einer fremden Musikkultur. Eine ähnliche Funktion erfüllt auch die solistische Flötenmelodie in der Orchestereinleitung zum 3. Akt. Sie evoziert auf emotionaler Ebene die exotische Landschaft am Nil, mit Palmen und Isistempel unter nächtlichem Sternenhimmel. Das musikalische Lokalkolorit intensiviert hier den visuellen Eindruck des Bühnenbilds: Zur Flötenstimme treten schließlich ferne Priesterchöre aus dem Tempel der Isis hinzu, die über schwebenden Flageoletttönen der Violoncelli eine entrückte Stimmung erzeugen. Teil des ägyptischen Kolorits sollten auch, wie bereits angedeutet, die Aida-Trompeten des Triumphmarsches sein. Verdi ließ sie extra bei einem Mailänder Instrumentenbauer anfertigen, verwirklichte damit aber eine schon ältere Idee. Kurioserweise überlegte Verdi schon 1854, in Zusammenhang mit der später nie realisierten Lear-Oper, »altertümliche« Trompeten einzusetzen: Sie hätten also ursprünglich auch für das Kolorit eines vollkommen anderen Kulturkreises stehen können. Verdi war ein Vollblutdramatiker, der beim Komponieren immer die Bühne und die bereits vorher erdachten Szenen vor Augen hatte. Deshalb sind Überlegungen zu dem exotischen Kolorit seiner Musik in Aida immer vor dem Hintergrund der prächtigen Inszenierung der Uraufführung zu sehen. Nach der Uraufführung in Kairo war es vor allem die italienische Premiere, die unter Verdis Oberaufsicht zu einer Musterproduktion wurde, die lange Zeit die Aufführungstradition dieses Werks bestimmte. Ein Regiebuch dieser Produktion hielt Verdis Vorstellungen fest und sollte sie für Neuaufnahmen in ganz Europa nachvollziehbar fixieren. Verdi wollte kein historisches Drama schaffen, sondern eines, das im Zusammenspiel von Musik und Bühne, von »fremdländischem« Flair und konventionell Vertrautem vom Publikum als einzigartig wahrgenommen werden konnte. In diesem Sinne gelang es ihm mit Aida, ähnlich wie vor ihm Giacomo Meyerbeer mit L’Africaine, die Träume und das Fernweh eines Jahrhunderts zu bedienen.

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DAS ÄGY P T ISCHE IN A IDA


Thomas Mann

UNISONO ZUM SELIGEN OKTAVENVORHALT Thomas Manns literarische Aida-Paraphrase in seinem Zauberberg Eine kleine Gruppe von Platten bot die Schlussszene des pompösen, von melodiösem Genie überquellenden Opernwerks, das ein großer Landsmann des Herrn Settembrini, der Altmeister der dramatischen Musik des Südens, in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts aus solennem Anlass, bei Gelegenheit der Übergabe eines Werkes der völkerverbindenden Technik an die Menschheit, im Auftrage eines orientalischen Fürsten geschaffen hatte. Hans Castorp wusste bildungsweise ungefähr Bescheid damit, er kannte in großen Zügen das Schicksal des Radames, der Amneris und der Aida, die ihm auf Italienisch aus dem Kasten sangen, und so verstand er so ziemlich, was sie ihm sangen – der unvergleichliche Tenor, der fürstliche Alt mit dem herrlichen Stimmbruch in der Mitte seines Umfanges und der silberne Sopran –, verstand nicht jedes Wort, aber doch eines hie und da mit Hilfe seiner Kenntnis der Situationen und seiner Sympathie für diese Situationen, einer vertraulichen Anteilnahme, die wuchs, je öfter er die vier oder fünf Platten laufen ließ, und schon zur wirklichen Verliebtheit geworden war. Zuerst setzten Radames und Amneris sich auseinander: Die Königstochter ließ den Gefesselten vor sich führen, ihn, den sie liebte und sehnlich für sich zu retten wünschte, obgleich er um der barbarischen Sklavin willen Vaterland und Ehre hingegeben hatte, – während allerdings, wie er sagte, »im Herzensgrunde die Ehre unverletzt geblieben« war. Diese Intaktheit seines Innersten bei aller Schuldbeladenheit jedoch half ihm wenig, denn durch sein klar zutage liegendes Verbrechen war er dem geistlichen Gerichte verfallen, dem alles Menschliche fremd war und das bestimmt kein Federlesen machen würde, wenn er sich nicht im letzten Augenblick dahin besann, der Sklavin abzuschwören und sich dem königlichen Alt mit dem Stimmbruch in die Arme zu werfen, der dies, rein akustisch genommen, so vollkommen verdiente. Amneris gab sich die inbrünstigste Mühe mit dem wohllautenden, T HOM AS M A N N

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aber tragisch verblendeten und dem Leben abgewandten Tenor, der immer nur »Ich kann nicht!« und »Vergebens!« sang, wenn sie ihm mit verzweifelten Bitten anlag, der Sklavin zu entsagen, es gelte sein Leben. »Ich kann nicht!« – »Höre noch einmal, entsage ihr!« – »Vergebens!« Todwillige Verblendung und wärmster Liebeskummer vereinigten sich zu einem Zwiegesang, der außerordentlich schön war, aber keine Hoffnung ließ. Und dann begleitete Amneris mit ihren Schmerzensrufen die schauerlich-formelhaften Repliken des geistlichen Gerichtes, die dumpf aus der Tiefe schollen und an denen der unselige Radames sich überhaupt nicht beteiligte. »Radames, Radames«, sang dringlich der Oberpriester und führte ihm in zugespitzter Form sein Verbrechen des Verrates vor Augen. »Rechtfertige dich!« forderten im Chore alle Priester. Und da der Oberste darauf hinweisen konnte, dass Radames schwieg, erkannten alle in Einstimmigkeit auf Felonie. »Radames, Radames!« fing der Vorsitzende wieder an. »Du hast das Lager vor der Schlacht verlassen.« »Rechtfertige dich!« hieß es abermals. »Seht, er schweigt«, durfte der stark voreingenommene Verhandlungsleiter zum zweiten Mal feststellen, und so vereinigten auch diesmal alle Richterstimmen sich mit der seinen in dem Wahlspruch: »Felonie!« »Radames, Radames!« hörte man den unerbittlichen Ankläger zum dritten Mal. »Dem Vaterlande, der Ehre und dem Könige brachst du deinen Eid.« – »Rechtfertige dich!« scholl es aufs neue. Und: »Felonie!« erkannte endgültig und mit Schauder die Priesterschaft, nachdem sie aufmerksam gemacht worden, dass Radames absolut stillschwieg. So konnte denn das Unausbleibliche nicht ausbleiben, dass der Chor, der stimmlich gleich beieinander geblieben war, dem Missetäter für Recht verkündete, sein Los sei erfüllt, er sterbe den Tod der Verfluchten, unter dem Tempel der zürnenden Gottheit habe er lebend ins Grab einzugehen. Die Entrüstung der Amneris über diese pfäffische Härte musste man sich nach Kräften selber einbilden, denn hier brach die Wiedergabe ab, Hans Castorp musste die Platte wechseln, was er mit stillen und knappen Bewegungen, gleichsam mit niedergeschlagenen Augen, tat, und wenn er sich wieder zum Lauschen niedergelassen hatte, war es schon des Melodramas letzte Szene, die er vernahm: das Schlussduett des Radames und der Aida, gesungen auf dem Grunde ihres Kellergrabes, während über ihren Köpfen bigotte und grausame Priester im Tempel ihren Kult feierten, die Hände spreizten, sich in dumpfem Gemurmel ergingen... »Tu – in questa tomba?!« schmetterte die unbeschreiblich ansprechende, zugleich süße und heldenhafte Stimme des Radames entsetzt und entzückt... Ja, sie hatte sich zu ihm gefunden, die Geliebte, um derentwillen er Ehre und Leben verwirkt, sie hatte ihn hier erwartet, sich mit ihm einschließen lassen, um mit ihm zu sterben, und die Gesänge, die sie in dieser Sache, zuweilen unterbrochen von dem dumpfen 49

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Getön des Zeremoniells im oberen Stockwerk, miteinander tauschten, oder zu denen sie sich vereinigten, – sie waren es eigentlich, die es dem einsamnächtlichen Zuhörer in tiefster Seele angetan hatten: in Hinsicht auf die Umstände sowohl wie auf ihren musikalischen Ausdruck. Es war vom Himmel die Rede in diesen Gesängen, aber sie selbst waren himmlisch, und sie wurden himmlisch vorgetragen. Die melodische Linie, die Radames’ und Aidas Stimmen einzeln und dann in Vereinigung unersättlich nachzogen, diese einfache und selige, um Tonika und Dominante spielende Kurve, die vom Grundton zu lang betontem Vorhalt, einen halben Ton vor der Oktave, aufstieg und nach flüchtiger Berührung mit dieser sich zur Quinte wandte, erschien dem Lauscher als das Verklärteste, Bewunderungswürdigste, was ihm je untergekommen. Doch wäre er in das Lautliche weniger verliebt gewesen ohne die zum Grunde liegende Situation, die sein Gemüt für die daraus erwachsende Süße erst recht empfänglich machte. Es war so schön, dass Aida sich zu dem verlorenen Radames gefunden hatte, um sein Grabesschicksal mit ihm zu teilen in Ewigkeit! Mit Recht protestierte der Verurteilte gegen das Opfer so lieblichen Lebens, aber seinem zärtlich verzweifelten »No, no! troppo sei bella« war doch das Entzücken endgültiger Vereinigung mit derjenigen anzumerken, die er nie wiederzusehen gemeint hatte, und dieses Entzücken, diese Dankbarkeit ihm deutlich nachzufühlen, bedurfte es für Hans Castorp keines Aufgebotes an Einbildungskraft. Was er aber letztlich empfand, verstand und genoss, während er mit gefalteten Händen auf die schwarze kleine Jalousie blickte, zwischen deren Leisten dies alles hervorblühte, das war die siegende Idealität der Musik, der Kunst, des menschlichen Gemüts, die hohe und unwiderlegliche Beschönigung, die sie der gemeinen Grässlichkeit der wirklichen Dinge angedeihen ließ. Man musste sich nur vor Augen führen, was hier, nüchtern genommen, geschah! Zwei lebendig Begrabene würden, die Lungen voll Grubengas, hier miteinander, oder, noch schlimmer, einer nach dem anderen, an Hungerkrämpfen verenden, und dann würde an ihren Körpern die Verwesung ihr unaussprechliches Werk tun, bis zwei Gerippe unterm Gewölbe lagerten, deren jedem es völlig gleichgültig und unempfindlich sein würde, ob es allein oder zu zweien lagerte. Das war die reale und sachliche Seite der Dinge – eine Seite und Sache für sich, die vor dem Idealismus des Herzens überhaupt nicht in Betracht kam, vom Geiste der Schönheit und der Musik aufs Triumphalste in den Schatten gestellt wurde. Für Radames’ und Aidas Operngemüter gab es das sachlich Bevorstehende nicht. Ihre Stimmen schwangen sich unisono zum seligen Oktavenvorhalt auf, versichernd, nun öffne sich der Himmel und ihrem Sehnen erstrahle das Licht der Ewigkeit. Die tröstliche Kraft dieser Beschönigung tat dem Zuhörer außerordentlich wohl und trug nicht wenig dazu bei, dass diese Nummer seines Leibprogramms ihm so besonders am Herzen lag.

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Giuseppe Verdi

» Wenn mir jemand vor zwei Jahren gesagt hätte, › du wirst für Kairo schreiben ‹, hätte ich ihn für einen Verrückten gehalten, aber jetzt sehe ich, dass ich der Verrückte bin! «


Karl Löbl

WAS VERDI WERT IST Prospero Bertani, wohnhaft gewesen in Reggio, Via San Domenico Nr. 5, ist ein Opernstar, den keiner kennt. Zu Unrecht. Denn Herr Bertani ist mit der Aufführungsgeschichte der Oper Aida untrennbar verbunden. Er hat vom Komponisten knapp 28 Lire kassiert unter der Bedingung, nie mehr eine Aufführung einer Verdi-Oper zu besuchen. Die Geschichte ist wert, gekannt zu sein. Am 7. Mai 1872 beklagte sich Herr Bertani, er habe in Parma Aida besucht, die Inszenierung und die Sänger bewundert, aber nach der Aufführung erkannt, das neue Stück habe ihn nicht zufriedengestellt. Da rundum alle anderen Zuschauer Aida als »ein Werk ersten Ranges« bezeichneten, beschloss Herr Bertani, es noch einmal zu versuchen. Doch auch nach dem zweiten Besuch kam er zu dem Ergebnis, dass »die Oper durchaus nichts enthält, was begeistert oder elektrisiert; wenn die pomphaften Dekorationen nicht wären, würde das Publikum nicht bis zum Schluss aushalten«. Dies alles teilte er wortreich in einem ausführlichen Brief Giuseppe Verdi mit. Weil er aber »für diese beiden Vorstellungen 32 Lire ausgegeben habe, obwohl ich von meiner Familie abhängig bin«, bat er gleichzeitig den Komponisten, »mir die Summe gefälligst zurückzusenden«. Und da Herr Bertani offenbar ein Pedant war, schlüsselte er auf: 6 Lire für Hin- und Rückfahrt, 8 Lire fürs Theater, 2 Lire fürs Abendessen. Und das alles mal zwei. Giuseppe Verdi hatte grimmigen Humor. Er wies seinen Verleger Ricordi an, dem Herrn Bertani das Geld zu schicken, aber bloß 28 Lire, denn es gehe ihm »gegen den Spaß, dass ich ihm auch noch sein Abendessen bezahlen soll; er hätte ganz gut zu Hause essen können«. Verdi verlangte aber nicht nur eine Quittung, sondern auch eine briefliche Erklärung, »keine meiner Opern mehr zu hören, damit er mir neue Reisekosten erspare!« Was Herr Bertani auch schriftlich zusicherte. Ob er sein Versprechen gehalten hat, wissen wir nicht. Jedenfalls erhielt Verdi keine Rechnungen mehr von ihm. K A R L LÖBL

→ Kristin Lewis als Aida, 2013

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Walter Dobner

ALLMÄCHTIGER PTÀH!

Anmerkungen zu Verdi und der Religion


→ Nächste Seiten: Szenenbild

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Der heute weitgehend vergessene, 1811 in Frankfurt am Main geborene, 1885 in Köln verstorbene Ferdinand Hiller war einer der einflussreichsten Dirigenten und Musikmanager seiner Zeit. Früh erkannten der Geigenvir­tuose Louis Spohr und der Pianist Ignaz Moscheles seine Begabung. Durch Vermittlung des knapp jüngeren Felix Mendelssohn Bartholdy wurde er Klavierschüler von Johann Nepomuk Hummel in Wien, lernte dort Schubert, Grillparzer und Beethoven, dessen fünftes Klavierkonzert er später zur Pariser Erstaufführung brachte, kennen. Ab 1828 lebte Hiller acht Jahre in Paris. Er freundete sich mit Berlioz, Liszt und Chopin an, der ihn als »Bursche von gewaltigem Talent« und »Mensch voller Poesie, Feuer und Geist« bezeichnete. Zu seinen prominenten Förderern zählten Cherubini, Rossini und Meyerbeer. Von den zahlreichen Konzerten, in denen er mitwirkte und bei denen einige seiner Kompositionen erfolgreich aufgeführt wurden, fand das denkwürdigste am 15. Dezember 1833 im Pariser Conservatoire statt: Neben Hillers zweiter Symphonie stand ein Satz aus Bachs d-Moll Konzert für drei Klaviere BWV 1063 mit Chopin, Liszt und ihm als Solisten auf dem Programm. 1836 kehrte Hiller nach Frankfurt zurück. Anschließend ging er für einige Jahre nach Italien und komponierte auf Anraten von Rossini die Oper Romilda, die mit allerdings nur mäßigem Erfolg an der Mailänder Scala uraufgeführt wurde. 1842 vertrat er den nach Berlin berufenen Mendelssohn als Dirigenten der Leipziger Gewandhauskonzerte. Zwei Jahre später übersiedelte er nach Dresden, wo er intensive Kontakte zu Wagner und Schumann pflegte. 1847 übernahm Hiller die Leitung der Konzerte des Düsseldorfer Musikvereins. Als er 1850 als Städtischer Kapellmeister nach Köln wechselte, empfahl er Schumann als seinen Nachfolger, der diese Aufgabe auch annahm. In Köln setzte Hiller, der weiterhin als Dirigent und Pianist durch Europa tourte, die Errichtung eines Konservatoriums durch und lud zahlreiche zeitgenössische Komponisten ein, unter ihnen Berlioz, Wagner, Brahms sowie Verdi, der 1877 seine Messa da Requiem dirigierte. Und zwar mit solchem Erfolg, dass ihm die Choristen einen Taktstock aus Elfenbein mit goldenem Griff überreichten. Die Kölner Damen ehrten ihn mit einer aus Gold und Silber verfertigten Krone, und die Organisatoren der Niederrheinischen Musikfeste – in diesem Rahmen fand Verdis gefeierter Auftritt statt – überreichten ihm eine Sammlung von Rhein-Ansichten. Darüber hinaus waren einige von Verdis Chor- und Kammermusikwerken zu hören, darunter sein e-Moll-Streichquartett. So konnte Hiller Verdi überzeugen, dass er neben der Musik seiner Freunde Rossini und Mendelssohn auch ein engagiertes Interesse für italienische Zeitgenossen besaß. Es war der Beginn ihrer lebenslangen Freundschaft, die sich auch in einem Briefwechsel niederschlug. Darin fragte Hiller Verdi, wie er selbst seinen Don Carlos und seine Aida einschätze, was dieser in einem Brief vom Jänner 1884 mit dem berühmten Satz beantwortete: »Im Don Carlos gibt es wohl hier WA LT ER DOBN ER




eine Stelle, dort ein Stückchen, das wertvoller ist, als alles in der Aida; aber Aida hat mehr Biss und (verzeihen Sie den Ausdruck!) mehr Theatralik.« Eine Einschätzung, die nicht uneingeschränkt geteilt wird. So etwa zieht der Verdi-Biograf Julian Budden unter dem Blickwinkel westlichen Demokratieverständnisses Don Carlos wegen der hier thematisierten Auflehnung des jugendlichen Idealismus gegen die »Tyrannei des Alters« der späteren Aida mit ihren »martialischen Aufmärschen und kriegerischen Emotionen« sowie der »stillschweigenden Duldung der geschlossenen Gesellschaft« vor.

»Auffallende harmonische Geschlossenheit, raffinierte melodische Originalität« Kritik am Aida-Libretto übte auch Piotr Iljitsch Tschaikowski. »Was sind Effekte?«, fragte er seinen Schüler Sergej Tanejew. »Wenn Sie zum Beispiel in einer Aida zu finden sind, so kann ich Sie versichern, dass ich um keine Reichtümer in der Welt eine Oper mit einem solchen Sujet schreiben würde, denn ich brauche lebendige Menschen und keine Puppen. Ich werde stets gerne eine Oper schreiben, welchen jeglichen Effekts bar ist, aber in welcher mir ähnliche Wesen vorkommen, mit denselben Gefühlen und Gedanken, die auch ich habe und verstehe. Die Gefühle einer ägyptischen Prinzessin, eines Pharaos oder eines verrückten Nubiers kenne ich nicht.« Dagegen lobte er in einer Kritik die musikalische Realisierung dieses ihm fern stehenden Stoffes, hob die »ungewöhnliche Anmut der harmonischen Arbeit, eine auffallende formale Geschlossenheit und eine beinahe schon an Raffinesse grenzender Originalität der Melodiefindung« hervor. Der Komponist Dieter Schnebel wiederum legt in seinem Essay über Verdis musikalischem Realismus, Die schwierige Wahrheit des Lebens, dar, dass die Schönheit von Verdis Aida »zuweilen bloß schöner Schein« sei. Er begründet dies mit dem »entrückten Stoff, dessen historisch zeitliche Ferne wenig Wirklichkeitsnähe zeigt. Anders als in Nabucco, wo das Schicksal der versklavten Hebräer die in Abhängigkeit von fremden Mächten lebenden Italiener unmittelbar betraf, gibt die gründerzeitliche Altägyptenromantik der Aida kaum konkrete Identifikationsmöglichkeiten«, und weist in diesem Zusammenhang auch auf die »orientalische« Ornamentik der Musik dieser Oper hin. Schließlich kommt er auf die geradezu stereofone Konzipierung einiger Massenszenen von Aida zu sprechen, namentlich der Chöre der Priesterinnen und Priester sowie der Finalszene. Mit den Stimmen des Liebespaares Aida und Radames in einem dunklen Kellerambiente, dem Chor der Priesterinnen und Priester einer Etage höher und der Solostimme der Amneris bringt sie Verdis klangräumliche Vorstellungen besonders deutlich zum Ausdruck. Die Hoffnungen von Amneris auf eine gemeinsame Zukunft mit Radames haben sich zerschlagen, längst ist er mit seiner Aida auf dem Weg ins Paradies. »Allmächtiger Ptàh!«, rufen die Priesterinnen und Priester am Ende WA LT ER DOBN ER

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ihre Gottheit an. Wäre Verdi nicht mit Arrigo Boito zusammengekommen, hätte ihn dieser nicht mit seinen Libretti zu seinem Opernspätwerk Otello und Falstaff inspirieren können, so hätte Verdi mit diesem Finale – und nicht mit einer groß angelegten Fuge wie schließlich in Falstaff – sein Opernœuvre beendet. Nicht »Spaß auf Erden«, sondern ein sakrales Moment bildete damit den Abschluss eines gewaltigen Opernschaffens. Hätte solches das Bild Verdis wesentlich verändert, wo er in der Literatur immer wieder als Agnostiker angesprochen, aus dieser Perspektive zuweilen auch sein geistliches Schaffen gesehen wird?

Trotz allem: ein großer Christ »Er ist kein Arzt, er ist Künstler. Alle sind sich darin einig, dass er mit der göttlichen Gabe der Genialität ausgestattet ist. Er ist ein Muster an Aufrichtigkeit, versteht und fühlt die zartesten und erhabensten Empfindungen. Trotz alledem erlaubt sich dieser Räuber, ich will nicht gerade sagen Atheist, aber doch nur ein nicht sehr gläubiger Mensch zu sein, und dies mit einer Hartnäckigkeit und einer Ruhe, dass man ihn dafür prügeln möchte«, sagte Verdis zweite Frau, Giuseppina, über die Religiosität ihres Gatten gegenüber Verdis venezianischem Freund, den Arzt Cesare Vigna. Sie bestätigte dieses Urteil auch gegenüber der Frau von Verdis zeitweiligen Librettisten Andrea Maffei: »Es gibt tugendhafte Menschen, die den Glauben an Gott brauchen. Andere, gleichermaßen tugendhafte, sind glücklich, wenn sie an nichts glauben und einzig und rigoros alle Gebote einer strengen Moral folgen.« Das gäbe ihr »wahrlich Stoff zum Nachdenken«. Für Boito war Verdi im »idealen, moralischen und sozialen Sinn« ein »großer Christ, aber man muss sich sehr wohl hüten, ihn in politischer und, im strengen Wortsinn, theologischer Hinsicht als Katholik hinzustellen; nichts stünde in größeren Widerspruch zur Wahrheit«, betonte er in einem Schreiben an den französischen Kritiker Camille Bellaigue, der 1912 eine Verdi-Monografie publizierte. Kannte Boito, als er diese Einschätzungen formulierte, Verdis Äußerung an seinen engen Brieffreund, den Bildhauer und Professor an der römischen Accademia di Santa Lucca, Vincenzo Luccardi: »Eure Priester sind ganz gewiss Priester, aber keine Christen« oder die in einem Brief an Claudia Maffei enthaltene Passage: »Papst und König von Italien möchte ich nicht einmal in einem Brief nebeneinander sehen«? Denn nichts hasste Verdi mehr als die Verflechtung zwischen der katholischen Kirche und dem italienischen Staat. Immer wieder kritisierte er auch die Diskrepanz zwischen dem äußeren Bild der katholischen Kirche in Italien und ihrem weitaus weniger gefestigten inneren Zustand. Inwieweit für diese Einstellung frühe persönliche Erfahrungen eine Rolle gespielt haben, lässt sich nur mutmaßen. Jedenfalls unterlag er in jungen Jahren bei der Besetzung des Organisten im heimatlichen Busseto. Weil er auf die falsche Karte gesetzt 59

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hatte? Unterstützung bekam er jedenfalls von der von seinem Gönner Antonio Barrezi angeführten antiklerikalen Seite. Unbestritten ist aber auch, dass Verdi aus einem streng katholischen Milieu stammte. Seine spätere Hoffnung auf eine liberalere Haltung der katholischen Kirche unter dem Pontifikat von Pius IX. blieb freilich unerfüllt, selbst wenn er ihm anlässlich seines Todes ehrliches Bemühen dafür wie auch für seinen Einsatz um Italiens nationale Einheit attestierte.

»Ich bin, der ich bin!« Trotz seiner grundsätzlichen Skepsis spielen Kirche und Religion immer wieder eine wichtige Rolle in Verdis Schaffen, abgesehen von seinem rein sakralen Werk. Dieses gipfelt in den zwischen 1895 und 1898 komponierten Quattro pezzi sacri und seiner als aufrüttelnde Hommage an den Tod des von ihm verehrten Dichters Alessandro Manzoni geschriebenen, 1874 in Mailand uraufgeführten Messa da Requiem. Man denke an das vordergründig von der babylonischen Gefangenschaft handelnde, damit aber die Geschichte des besetzten Italiens meinende lyrische Drama Nabucodonosor (zugleich die erste Oper Verdis, die – 1843 im Kärntnertortheater – in Wien gezeigt wurde), die ebenfalls vom Freiheitsgedanken bestimmte Kreuzfahreroper I Lombardi alla prima crociata, die Verdi später für Paris in einer zweiten, von der Originalgestalt wesentlich abweichenden Version unter dem Titel Jérusalem vorlegte, die Bedeutung des Marienbildes in Giovanna d’Arco, wodurch sich der Franzosenherrscher Carlo VII. aufgefordert sah, seine Waffen niederzulegen, an die Rolle von Papst Leo II. im von den patriotischen Gefühlen des Risorgimento, der italienischen Einheitsbewegung, bestimmten Dreiakter Attila oder das von protestantischem Gedankengut bestimmte, sich um die Themen Gnade und Vergebung rankende Sujet von Stiffelio. Eines der beherrschenden Themen des teilweise im klösterlichen Ambiente spielenden Vierakters La forza del destino ist das hilflose Ausgeliefertsein höheren Mächten, die mit ihrem Agieren jede Hoffnung auf Erlösung auf Erden zunichte machen. Kirchliche Machtpolitik und die Zuversicht auf eine himmlische Gerechtigkeit stoßen in Don Carlos aufeinander, innige Gläubigkeit und Gotteslästerung kontrastieren in Otello. Immer wieder keimt in Verdis Opernsujets die Idee der von Gott gewollten kriegerischen Auseinandersetzung um Frieden auf, wie die Libretti von Nabucodonosor, Giovanna d’Arco oder La battaglia di Legnano zeigen. Und Aida? Eine historische Oper, eine große italienische Oper nach französischen Vorbildern, insbesondere von Giacomo Meyerbeer. Ebenso – und dies vor allem – ein Kammerspiel mit drei Personen im Mittelpunkt, deren Schicksal von Beginn an so zu erwarten ist, wie es sich dann auch abspielt, bei dem unterschiedliche Völker bloß Nebensache sind. »Theater im strengen Sinn«, analysiert Attila Csampai in seinem scharfsinnigen Aida-Essay, findet WA LT ER DOBN ER

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hier erst gar nicht statt. Aida, so sein Befund, präsentiert sich als »Konzeption von Musiktheater, bei der das oberste Ziel die ›glaubwürdige Darstellung‹ der Leidenschaften und Passionen der Beteiligten ist, und nicht die Handlungen und Motive, die sie auslösen«. Den »Duft Ägyptens« müsse man spüren, wünschte sich Verdi von seinem Librettisten Antonio Ghislanzoni, dessen Text auf einer Vorlage von Auguste Mariette, dem Leiter der ägyptischen Abteilung des Pariser Louvre, basiert. Dies und wenig sachkundige Uraufführungskritiken haben zur Mär geführt, manche von Verdis Melodien – etwa für die Szenen im Vulkantempel und in den Gemächern der Amneris – beruhten auf ägyptischen oder türkischen Vorlagen. »Ich bin, der ich bin! Jeder mag mich für den halten, den er will. Nein, nein, es gibt keine italienische, keine deutsche, keine türkische Musik – es gibt eine MUSIK!!«, entgegnete Verdi wütend. Wie berühmte Vorbilder, etwa Mozart in seiner Entführung aus dem Serail, verwendet er keineswegs orientalische Melodien, dafür aber Tonarten und Tonfolgen, mit denen sich dieses Kolorit imaginieren lässt. Für die Chorpassage der Priester »Tu che dal nulla hai tratto« (»Der du aus dem Nichts das Universum geschaffen hast«) ließ er sich vom Stil orthodoxer Gesänge inspirieren. Trotzdem: Auch die Priester und Priesterinnen, selbst der Oberpriester Ramfis, sind in diesem nicht nur exotische Klischees bedienenden, mit ihrem Zug zur Kostümoper so manchen »Hollywood-Monumental-Farbfilm« (Attila Csampai) vorausahnenden Musiktheater nichts mehr als eine, zugegeben klangmalerisch brillant eingesetzte, Staffage. Religiöse Dimension hat das nicht, selbst wenn manche Interpreten hier einen religiösen Fundamentalismus erkennen wollen. Im Gegensatz zu manch anderer seiner Opern, die sehr wohl Rückschlüsse auf Verdis Einstellung zur Religion ziehen lassen, bietet Aida dafür keine Anhaltspunkte. Vielmehr bildet diese vieraktige Oper in sieben Bildern den Abschluss von Verdis Bemühen, Grand opéra und Melodramma zu einer überzeugenden Synthese zu führen. Aida, fasst es die Musikwissenschaftlerin Silke Leopold klar und knapp zusammen, ist eine Dreiecksgeschichte, verbunden mit dem »Widerstreit zwischen Kindespflicht und Liebe«. Wenn man so will, ein nur in einem besonderem Rahmen spielendes Kammerspiel. Ihre Rahmenhandlung ist deshalb nach Ägypten verlegt, weil es sich ursprünglich um ein Auftragswerk für die Feierlichkeiten zur Eröffnung des Suezkanals handelte. Tatsächlich erlebte Aida erst in der zweiten Saison des Kairoer Opernhauses, am 24. Dezember 1871, ihre Uraufführung. Verdi reiste dafür nicht an. Er hörte seine Aida zum ersten Mal bei ihrer ebenso triumphalen italienischen Erstaufführung 1872 am Mailänder Teatro alla Scala. 1874 folgte die deutschsprachige Erstaufführung in der Berliner Hofoper, noch im selben Jahr ihre Premiere in Wien, wo Verdi 1875 sein Erfolgsstück zweimal selbst dirigierte.

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Annette Frank

PRIESTERFIGUREN IN DEN OPERN GIUSEPPE VERDIS »I primi cantici con cui l’amore di Dio, della patria, del vero, spandendosi dall’abbondanza del cuore, mostrarono coll’armonia delle voci l’interna armonia de’pensieri e degli affetti dell’uomo.« (Die ersten Gesänge mit ihrer Liebe zu Gott, zum Vaterland, zur Wahrheit, die sich aus der Überfülle des Herzens ergießen, zeigten im Gleichklang der Stimmen die innere Harmonie der Gedanken und der Affekte des Menschen auf.)

In einem nostalgischen Rückblick auf die Anfänge der italienischen Literatur hat der angesehene italienische Schriftsteller und Sprachwissenschafter Niccolò Tommaseo in seiner Schrift Ispirazione e arte (1858) treffend beschrieben, was im Sinne der italienisch geprägten Romantik die Bedeutung von Religion für die Kunst kennzeichnet: die Darstellung der Gesamtheit aller seelischen, weltanschaulichen und patriotischen Werte. Die Wertschätzung von Religion lässt sich auch in vielen Opern Giuseppe Verdis nachweisen. In ihnen finden sich zahlreiche religiöse Elemente, von den hymnischen, ja, nahezu liturgischen Chören in Nabucco und I Lombardi alla prima crociata bis hin zur individuellen Frömmigkeit des Ave Maria Desdemonas in Otello. In der Darstellung religiöser Motive treffen wir auf Priesterfiguren, die im Œuvre Verdis eine unterschiedliche Bewertung erfahren und so manchen dramaturgischen Akzent in Libretto wie Partitur setzen. Sie können einerseits als Indizien für die wechselhafte Geschichte der politischen und religiösen Strömungen in Italien verstanden werden. Andrerseits geben sie Aufschluss über die Stellung der Librettisten und des Komponisten zu religiösen Fragen im Allgemeinen und zur Institution Kirche im Besonderen. Es lassen sich drei Phasen des Opernschaffens Verdis erkennen, die für die Inszenierung der Priesterfigur modellhaft von Bedeutung sind: die Opern aus der Zeit des frühen Risorgimento, die als kultureller Beitrag zur italienischen Nationalbewegung im Widerstand gegen die Fremdherrschaft zu verstehen und dem Bestreben verpflichtet sind, alle gesellschaftlichen Kräfte, kirchliche wie laizistische, zu bündeln. Ferner die in der Zeit nach dem Revolutionsjahr 1849 entstandenen Opern, die einen gewissen Rückzug aus der politischen A N N ET T E FR A N K

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Debatte signalisieren und der individuellen Zeichnung allgemein menschlicher und bisweilen auch religiöser Gefühle den Vorzug geben. Schließlich die beiden großen Opern der späteren Schaffensperiode Don Carlos und Aida, die nach der Gründung des Regno d’Italia (1861) entstanden sind und die eine erneute Hinwendung zu Fragen der Öffentlichkeit vollziehen, indem sie die Aufgaben und Grenzen der staatlichen wie kirchlichen Institutionen und ihr Verhältnis zueinander und zum einzelnen Individuum thematisieren.

Vom Priester zum Krieger Zur erstgenannten Phase zählt die Oper Nabucco (1842). In keiner der frühen Opern Verdis spielt eine Priesterfigur eine so tragende Rolle wie in dieser. Der Hohepriester Zaccaria erscheint als Personifikation der Verbindung von Religion und Politik: Er ist Hüter der Gesetze, tritt dem feindlichen König Nabucco mutig entgegen, als dieser die heiligen Stätten Gottes betreten und entweihen möchte. Er benützt dessen Tochter Fenena als Pfand und schleudert einen Fluch auf Ismaele, seinen Landsmann, der die Königstochter liebt und Nabucco übergibt, um sie vor der Tötung zu bewahren. Er tröstet seine gefangenen Landsleute, führt sie in die Freiheit und setzt am Ende Ismaele als König ein. Ein charakteristisches narratives Muster der Opern dieser Zeit sind plakative Gegenüberstellungen und Visionen, die Bilder künftiger Freiheit in die gegenwärtige Zeit der Unterdrückung projizieren. Nach dem berühmten Hymnus der leidenden Juden Va, pensiero, sull’ali dorate schließt eine profezia Zaccarias an, in der vom Zerbrechen der Ketten durch Gott und vom löwenhaften Wagemut des Volkes die Rede ist. Hier erfüllt der Priester die Aufgabe, eine Vision des Sieges zu entwerfen. Sein heidnischer Widerpart, der Gran sacerdote des Baalkultes, muss zusehen, wie angesichts der Macht des Gottes der Israeliten die Statue des Baal zu Boden fällt. In den folgenden Opern treten an die Stelle der Priesterfigur andere religiöse Gestalten. In I Lombardi alla prima crociata (1843) begegnen wir der Figur eines Eremiten, der sich nach einem Vatermord und dem Zerwürfnis mit seinem Bruder als Büßer in die Wüste zurückzieht. Er wird nicht nur zum Mittler zwischen Himmel und Erde, der die Taufe eines zur »rechten Religion« Konvertierten vornimmt, sondern auch zum Vermittler im Zwist der Kreuzfahrer untereinander. So kommt es denn auch zur Versöhnung mit dem Bruder. Durch eine Sühneleistung, den heldenhaften Kampf um Jerusalem und die dabei erlittene tödliche Verletzung verhilft er den Kreuzfahrern zum Sieg und zum Besitz der heiligen Stätten. Das Opernsujet, das die Sehnsucht nach Einheit, nach Integration aller Kräfte und die Wiederherstellung eines nationalen Zentrums thematisiert, weist auf die tatsächliche Zerrissenheit der geistigen und politischen Land 63

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schaft Italiens hin und auf das Bedürfnis der italienischen Nationalbewegung, auf religiösem oder kulturellem Gebiet ein Identifikationssystem zu bilden. Es gibt klerikal-konservative Kreise, die sich um den Papst scharen und im Papsttum den Zentrumsgedanken bereits verwirklicht sehen. Die neoguelfische Bewegung setzt auf den Aufbau einer gerechteren Welt, die durch die Institution des Papsttums garantiert scheint. Die neoghibellinischen Kreise hingegen sehen die päpstliche Politik für die Misere in Italien verantwortlich. Den religiösen Gruppen stehen die säkular orientierten gegenüber, etwa die alten Jakobiner, die noch die Ideale der Französischen Revolution pflegen, oder die säkular-republikanischen, die sich eine Änderung der prekären Situation aus der Kraft des Volkes erwarten. Viele dieser Gruppen setzen auf die Erinnerung an siegreiche Epochen der Geschichte Italiens mit ihren Helden, nun vorwiegend an jene des Mittelalters. Als Beispiel des Rückgriffs auf die antike Geschichte Italiens sei die Oper Attila genannt (1846). Ähnlich wie in Nabucco kommt es auch hier zur Gegenüberstellung der »wahren« und der »falschen« Religion: Attila huldigt dem germanischen Gott Wodano, während die Bewohner Aquilejas den christlichen Gott verehren. In Anspielung an Papst Leo den Großen erscheint in der Oper der vecchio romano Leone an der Spitze einer Prozession und lässt den heidnischen König unter Hinweis auf die Verletzung territorialer Rechte in beispiellosem Entsetzen zu Boden stürzen. Schlussendlich ist es eine Freiheitsheldin, Odabella, die nach dem Muster der alttestamentlichen Judithund-Holofernes-Erzählung den Gewaltherrscher Attila tötet. Durch Friedrich Schillers dramatische Vorlagen gelangen weitere religiöse Figuren in die Libretti der frühen Opern. So begegnet uns in I masnadieri (1847) Pastor Moser, an den sich Francesco, von Gewissensbissen geplagt, als Beichtvater wendet. Er erhält jedoch keine Absolution, da er des Vater- und Brudermordes bezichtigt wird. Die Oper Giovanna d’Arco (1845) stellt eine starke religiöse weibliche Figur auf die Bühne, in der sich erneut Religion und Politik vereinen. Ihre am Ende der Oper erfolgende Transfiguration lässt nicht nur Elemente der Volksfrömmigkeit erkennen (Heiligenviten), sondern erhebt Giovanna zum leuchtenden Vorbild patriotischen Handelns. In La battaglia di Legnano (1849) gibt es keinen religiösen Anführer. An seine Stelle tritt der Krieger, der den feindlichen König eigenhändig vom Pferd stürzt und seinen Wagemut mit dem Leben bezahlt. Erfuhr Giovanna als Heilige eine Aufnahme in den Himmel, so ist es nun der Krieger, für den sich der Himmel öffnen soll.

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Vom strengen Pfarrherrn zum unbotmäßigen Mönch Nach dem Revolutionsjahr 1849 mit seinen für die italienischen Patrioten schmerzhaften Niederlagen wendet sich der Komponist vom risorgimental geprägten Themenkreis ab und widmet sich gemeinsam mit seinem Librettisten Francesco Maria Piave vorwiegend der Darstellung der Privatsphäre des Individuums im Spannungsfeld von Liebe, Familie und den Machtansprüchen von Vätern, Ehemännern und Herrschern. In diesem Sinn stellt die Oper Stiffelio (1850) einen verheirateten protestantischen Pastor in den Mittelpunkt der Handlung. Aufgrund des Ehebruchs seiner Frau gelangt dieser in den inneren Konflikt zwischen seiner Rolle als Bürger, der nach dem Ehrverlust Genugtuung im Duell verlangt, und als Geistlicher, der nach dem Vorbild Christi die Vergebung aussprechen soll. Er wird vom alten Pfarrer Jorg in seinen Nöten begleitet und beraten. Er führt nach inneren wie äußeren Wirrungen Stiffelio in die Kirche, wo dieser durch die biblische Erzählung von Jesus und der Ehebrecherin in einem Läuterungsprozess zur Einsicht gelangt, seiner Frau verzeihen zu müssen. Es liegt auf der Hand, dass diese Oper mit der Darstellung eines protestantischen Pfarrers in Italien wenig Anklang fand. So erfolgt später in der Oper Aroldo (1857) eine Übertragung des Stoffes ins Rittermilieu. Bei den folgenden Opern, die in Zusammenarbeit mit Piave entstehen, ist auffällig, dass Priesterfiguren fehlen. Violetta stirbt in La traviata (1853) ohne Priester nur im engeren Kreise der Familie und des Doktors, obwohl in der literarischen Vorlage von Alexandre Dumas fils ein Priester die Sterbesakramente reicht. Erst in La forza del destino (1862), der letzten Oper nach einem Libretto von Piave, finden sich zwei Kapuzinermönche als religiöse Repräsentanten. Der eine, Padre Guardiano, nimmt die Beichte Leonoras ab, die unter dem Fluch des Bruders wegen des schicksalhaften Todes ihres Vaters leidet, spendet die Absolution, nimmt sie feierlich in die Gemeinschaft auf und weist ihr eine Klause zu. Der Padre wird im Geiste intimisierter Frömmigkeit zum Beichtvater, Schutzherrn und spirituellen Begleiter. Der andere, Fra Melitone, stellt eine buffoneske Gegenfigur dar. In literarischer Anlehnung an die Kapuzinerpredigt aus Schillers Wallenstein ruft er die Soldaten zur Buße und geißelt ihre Lebensweise. Die religiösen Elemente der Handlung sind Teile des bunten Bildes einer unruhigen Welt von Entwurzelten, die nur in den Gegenorten der Klause Ruhe und Trost finden.

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Vom Leiden an der Institution In den Opern Don Carlos und Aida gewinnt die Inszenierung der Priesterfigur wieder an Bedeutung. Kirchliche Würdenträger – zudem auch die höchsten – werden zu Akteuren der Handlung. In Don Carlos (1867) sind es Mönche, die König Philippe in der Szene des Autodafé umgeben und die Verdammung der Ketzer fordern. Die politischen Entscheidungen des Königs werden vom obersten kirchlichen Repräsentanten, dem Grand Inquisiteur, überwacht. Dies wird besonders im dialogischen Gegenüber von König und dem Haupt der Inquisition deutlich, eine Konfrontation über das Schicksal des rebellischen Königssohnes und des die Freiheit einfordernden Marquis von Posa (IV,2 bzw. III,2). Er beschreibt die äußere Gestalt des Großinquisitors als aveugle, 90 ans […] appuyé sur deux Dominicains und rückt sie so in die Nähe steinerner Standbilder und in die Nähe des Todes. Der deklamatorische Stil seiner Repliken wirkt gesetzhaft-belehrend und zunehmend bedrohlich. Durch das unversöhnliche Nebeneinander der Repliken des Königs und des Großinquisitors gewinnt der Dialog immer mehr den Charakter eines agonalen Wortduells, was sich durch die sich steigernde Tonhöhe der jeweiligen Repliken um einen Halbton äußert, so, als wollten sich die Kontrahenten gegenseitig übertrumpfen. Gegenüber der lebensverachtenden Verbindung von Kirche und Politik, Glaube und Macht in einer Religion des Dogmas kann sich die Sprache des Herzens nicht durchsetzen. Das Beichtgespräch wird zum Gerichtsforum, das Urteil ist auf Bewährung ausgesetzt. Die Erkenntnis L’orgueil du Roi fléchit devant l’orgueil du prêtre ist Ausdruck eines resignativen Zurückweichens vor der Macht der Kirche. In der italienischen Fassung der Oper Dunque il trono piegar dovrà sempre all’altare wird das Begriffspaar Thron und Altar genannt, eine mögliche Anspielung auf den öffentlichen Diskurs, wie er in diesen Jahren in Italien über das Verhältnis von Staat und Kirche geführt wird. Es ist Papst Pius IX., der unter dem Anspruch der Weltherrschaft den Primat der Kirche über den Staat begründet und die Idee des italienischen Nationalstaates infrage stellt. Der zunehmende Machtanspruch zeigt sich in den Enzykliken der 1860er Jahre und der Erklärung der dogmatischen Unfehlbarkeit des Papstes. Die Trennung von Staat und Kirche wird vom 1864 erscheinenden Syllabus in Satz 55 wie auch andere 80 Irrtümer verworfen. Verdis Politikverdrossenheit in dieser Zeit ist bekannt. Er spricht sich in einem seiner wenigen Briefe über dieses Thema gegen die Vermischung der beiden Institutionen aus, da er unüberwindliche Gegensätze zwischen dem Parlament und dem Kardinalskollegium, der Pressefreiheit und der Inquisition, dem Codice Civile und dem Syllabus sieht und daraus den Schluss zieht: »Papa e Re d’Italia non posso vederli insieme« (Brief an Clarina Maffei vom 30. September 1870). A N N ET T E FR A N K

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Es ist die Zeit der Entstehung und Aufführung der Oper Aida (1871). In ihr werden wie in einem Brennglas alle schon bisher bekannten Motive und dramaturgischen Konstellationen zu den Themenkreisen Religion-Politik bzw. Individuum-Institution durchgespielt. Die Kritik an den Vertretern der religiösen Institution setzt sich in Aida fort. Gleichzeitig aber zeigt die Oper einen Weg auf, bei aller Kritik der priesterlichen Institution die Bedeutung religiöser Erfahrung darzustellen. Dies geht schon in der Gran scena della Consacrazione e Finale des ersten Aktes hervor, in der die Priester und Priesterinnen gemeinsam in einer breit angelegten feierlichen Liturgie die Schöpfergottheit Ptàh anrufen. Dieser Lobpreis des Gottes der Liebe und Fruchtbarkeit wird in der Schlussszene der Oper angesichts des Todes der Liebenden erneut erfolgen. Als institutionelle Gegenfigur fungiert – ähnlich dem Großinquisitor in Don Carlos – Ramfis, il capo dei Sacerdoti. Sein Amt verleiht ihm Allmacht. So mischt er in der Politik kräftig mit, vollzieht eine Schwertweihe und schlägt dank eines Orakels der Isis Radames zum Feldherrn vor. Seine Macht stützt sich auf die Priesterkaste, die nach erfolgtem Sieg gegen den äthiopischen König Amonasro den Tod der Gefangenen fordert. Das Volk jedoch steht nicht auf ihrer Seite, es bittet um Begnadigung der Gegner. Ebenso Radames, der ihnen im Geiste junger, zukunftsweisender Politik Leben und Freiheit schenken möchte. Ramfis hingegen setzt auf politisches Kalkül, Amonasro und Aida als menschliches Pfand zu behalten. Ramfis kommt im Prozess gegen den vermeintlichen Verräter Radames auch richterliche Gewalt zu (scena del giudizio, IV,1). Die musikalische Rhetorik zur Charakterisierung des richtenden Ramfis ähnelt jener des Großinquisitors in Don Carlos. Hier wie dort zeigt die jeweilige Steigerung der Repliken um einen Halbton den Charakter des unnachgiebigen Richters auf. Doch der gerichtliche Akt – im tonalen Fortschreiten der Szene von e-Moll über f-Moll nach fis-Moll – wirkt in seiner Ritualität noch unerbittlicher als in der Szene aus Don Carlos: die dreimal wiederholte dreimalige Ausrufung des Namens des Angeklagten, die Nennung des Verbrechens, die Aufforderung zur Rechtfertigung des Inkriminierten vonseiten Ramfis’ und der Priesterschaft, die Feststellung des Schweigens des Angeklagten und schlussendlich die Feststellung der Schuld. Hier gibt es kein dialogisches Gegenüber, da das Urteil feststeht, der Angeklagte schweigt und die Verhandlung durch ihre Inszenierung im Backstage unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfindet. An diesem Prozessverlauf prallt die emotionsgeladene Bitte Amneris’ um Gnade ungehört ab. Durch die Unnachgiebigkeit Ramfis’ und der Priester erregt und erbost, beschimpft diese die Priester als Diener des Todes, als blutgierige Tiger, als Schänder der Götter, als Verurteiler eines Unschuldigen und als gottlose Rasse. Sie spricht jenen Fluch über Ramfis aus, der auch Ausdruck eines – im 1. Vatikanischen Konzil 1870 zur Abwehr der Irrlehren verwendeten – Kirchenbannes ist: das Anathema. In ironisierender Verfremdung trifft 67

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der Bann nun die Repräsentanten der Institution selbst: »l’anatema d’un core straziato col suo sangue su te ricadrà!« (IV,1). Im dunklen Gewölbe treffen sich die Liebenden. In ihrem Schicksal baut sich der Gegensatz der individuellen Liebe zur Macht der Institution auf. Angesichts des Todesurteils vonseiten der Institution muss Aida Trauer tragen: »Triste canto! [...] Il nostro inno di morte...« Doch Verdi lässt diesen Gegensatz nicht unversöhnlich stehen. In einer mystischen Audition durch den Chor der Priester im Backstage lässt sich die Versöhnung von Religion, Universum und Liebe erahnen. Sie darf als Versuch gewertet werden, den Graben zwischen den Bedürfnissen individuellen Lebens und den Ansprüchen ökonomischer Zwänge wie institutioneller Mächte in einer übergreifenden und doch innerlich verankerten Schau zu überbrücken und weist auf die mystische Bewegung hin, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Wiederbelebung erfährt. Schon in Don Carlos hat Verdi auf mystische Motive zurückgegriffen, indem er zu Beginn des 1. (bzw. 2.) Aktes den kaiserlichen Vorfahren Charles-Quint, als Herrscher zu Asche und Staub geworden, vor der Grabkapelle als Mönch erscheinen lässt, während der Chor der Mönche die Größe Gottes preist und um Gnade für ihn bittet. In dieser Szene und im Schluss der Oper, in der Don Carlos dem Zugriff des Großinquisitors entzogen wird, wird deutlich, dass der Religion eine institutionenkritische Rolle zukommt. In der Schlussszene von Aida hingegen werden Gestaltungselemente religiöser Mystik auf das Schicksal der Liebenden bezogen. Durch das chorisch-hymnische Element des Lobpreises des Lebens und durch die musikalisch-thematische Rahmung vom Liebesmotiv im Preludio bis hin zu den letzten aufsteigenden Figuren desselben am Schluss findet das klassische Motiv des Liebestodes seine Vertiefung durch das neue der Verschmelzung der Liebenden im Kontext religiöser Sinngebung.

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Dieter Schnebel

» Verdi fühlte trotz aller Aversionen gegen die Besatzungsmacht Frankreich aus persönlicher Sympathie stark mit dem französischen Kaiser Napoleon III. – ein Wohlwollen, das in die Zeichnung der Gestalt des Amonasro einging. «


Frieder Reininghaus

FACETTEN DER ZUNEIGUNG

Stimmen der liebenden Frauen bei Verdi


Um Liebe geht es in der Oper fast immer – und in den Bühnenwerken Giuseppe Verdis ausnahmslos. Dabei folgte der Komponist strikt der Gattungskonvention: Die Partie der begehrten, in ihren Herzensneigungen angefochtenen und in den meisten Fällen zu Tode kommenden jungen Frau ist die der Primadonna. Das gilt bereits für die erste aufgeführte Oper Verdis, Oberto, conte di San Bonifacio (Scala Mailand 1839): Leonora, Tochter des Titelhelden und eine von Graf Riccardo betrogene Braut, also Rächerin in eigener Sache, wurde die Sopranpartie zugeschrieben; die Rolle der Cunizai, ihrer Gegenspielerin im Dramma, wurde als contralto-parte comprimaria angelegt, ist also die einer Altistin. Die Konnotation der hohen Stimme zieht sich durch das ganze BühnenŒuvre Verdis bis zum Otello (Mailand 1887): Wie selbstverständlich singt Desdemona, die der Untreue verdächtigte Gattin des Befehlshabers der venezianischen Flotte, Sopran (der finale Falstaff, der 1893 wiederum an der Scala herauskam, erscheint in Gestalt einer Commedia lirica in der stimmlichen Disposition der Rollen als singulärer dramaturgischer Sonderfall). Desdemonas lichte Stimme ist die der liebenden Frau. Verschiedentlich wurde auf die »von übermäßigen Dreiklängen mit Erotik durchdrungene Klanglichkeit« hingewiesen, die im Duett von Otello und Desdemona am Ende des ersten Akts auf ihre Avancen zusteuert: »Vien ... Venere splende« (wörtlich: »Komm, strahlende Schönheit«; heute eher: »Du sieht so gut aus, komm!«). Das darf als unverhohlene Einladung an den vom Kriegszug Heimkehrenden und Traumatisierten zur Liebesnacht verstanden werden. Die groß und tragisch liebenden, familiär und nicht selten auch in ein Komplott verstrickten jungen Frauen sind allesamt klar hervorgehobene durch ihre für Primadonnen konzipierten Rollen. Ihnen gelten die männlichen Rivalitäten, um sie spinnen sich die Intrigen: Um die Elvira in Ernani (1844), um Giovanna d’Arco (1845), um Amalia in I masnadieri (Die Räuber; nach einer Vorlage von Schiller; 1847), um Gilda im Rigoletto (1851) und Leonora in Il trovatore (1853). Violetta Valéry in La traviata (1853) darf und muss ebenso in den höchsten Tönen singen wie die Hélène in Les Vèpres Siciliennes (1855), wie Maria-Amelia Boccanegra-Grimaldi (1857), wie die Amelia des Maskenballs (1859), wie die Donna Leonora in Die Macht des Schicksals (1862) oder wie Aida (1871). Das Rollenprofil ist stets eindeutig, nach den Regeln der sich mit Verdi nochmals weiterentwickelnden Gesangskunst positiv und treu bis in den Tod. Als weit weniger einheitlich erweist sich der Zuschnitt der (stimmlich in der Regel tiefer angesiedelten) Rivalinnen, sofern das Libretto eine solche vorsieht. Die beiden Protagonistinnen des Nabucodonosor (Nabucco; 1842) sind Soprane. Doch die usurpatorische und intrigante Abigaille übertrumpft die legitime Thronerbin Fenena. Verdi komponierte für die Heroine Abigaille, die den Vater entmachtet und die Halbschwester hinrichten lassen will, die technisch weit anspruchsvollere, in der Kraftentfaltung und Agilität überle 71

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gene Partie. Diese Rollengestaltung gab für die Opern von Verdis mittleren Schaffensphase die Spur der tragischen Heldinnen vor. Bis hin zur Aida. Der in Sklaverei geratenen äthiopischen Königstochter (mit den einschlägig wirkungsvollen stimmlichen Attributen) wurde mit Amneris die Tochter des Pharao gegenübergestellt – ­ eine Mezzo-Partie. Die eifersüchtige Amneris gelangt trotz ihrer Machtüberlegenheit und des von ihr ausgeübten Drucks auf den begehrten Feldherrn Radames nicht zum Ziel ihrer Wünsche. Mithin scheitert sie in der Hauptsache. Sie überlebt, muss aber, indem ihr die Handlungskontrolle im Kräftemessen von Königshaus und Priesterkaste, patriotischen und dynastischen Interessen entgleitet, den musikalischen Triumph des gemeinsamen Liebestods Radames und Aida lassen. Im archaischen Rahmen und im Zuge der archetypischen Affekte, die das Szenario des Pascha François Auguste Ferdinand Mariette und das Libretto von Antonio Ghislanzoni heraufbeschwören, profiliert sich Amneris als eine von Selbstverwirklichungswünschen getriebene Frau. Die ist durchaus als moderne Figur zu verstehen. Bei ihrem ersten Auftritt stellt sie Radames bezüglich seiner Herzensneigungen zur Rede und erwägt mit acht chromatisch ansteigenden Halbtonschritten den Handlungsbedarf für den Fall, dass diese nicht mit den ihren korrespondieren: »Guai se il mio sguardo penetra questo fatal mister« (»Wenn mein Blick entdecken müsste ein Geheimnis«) – ein fatales Geheimnis, angesichts dessen sie die Willensstärke zu unterstreichen scheint. Das Schicksal der musikalisch fein gezeichneten Unterlegenheit teilt Amneris mit Federica, der Herzogin von Ostheim in Luisa Miller (1849). Wie das bürgerliche Trauerspiel Kabale und Liebe von Friedrich Schiller, auf dem die Oper basiert, weist auch Salvatore Cammaranos Libretto die Nichte des durch den Mord an einem Verwandten zu Besitz und Grafentitel gelangten Herrn von Walter als Intrigantin aus, allerdings bei Weitem nicht als die fatalste im Ränkespiel: Graf von Walter will, wiederum aus machtpolitischem Kalkül, dass sein Sohn die einflussreiche Federica heiratet und nicht die kleinbürgerliche Luisa. Da es aber auch der Schlossverwalter Wurm auf die Tochter des Kriegsveteranen Miller abgesehen hat, presst er nach dessen willkürlicher Verhaftung Luisa einen Brief ab, der Federica glauben machen soll, ihrer Heirat mit Rodolfo von Walter stünden keine ernsthaften Hindernisse im Weg, und nötigt Luisa zusätzlich zu einem persönlichen Bekenntnis zu seinen Gunsten vor den Ohren der Herzogin. Die Zensur in Neapel sorgte dafür, dass der Librettist nicht nur die als rüde eingestufte Sprache Schillers im Detail entschärfte (z.B. Millers Rede von der »Bassgeige« oder Walters vom »Verschluss«), sondern insgesamt sexuelle Anspielungen tabuierte und »gottlose« Formulierungen beschönigte. Er ersetzte den »seduttore« durch den »traditore« (begnadigte also »Verführung« zum unscharfen »Liebesverrat«). Statt vom »Sattano« sollte vom »misfatto« (»Missetäter«) gesungen werden. Insbesondere aber mutierte Schillers fürstliche Mätresse Lady Milford zur augenscheinlich ehrbaren Nichte, einer verFR IEDER R EIN INGH AUS

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witweten Herzogin. Wie mehrere Briefe des Komponisten belegen, wünschte er sich im Wesentlichen Gleichrangigkeit der beiden rivalisierenden Frauen. Doch hatte Verdi die Rechnung ohne den Wirt und dessen eifersüchtig auf seine Rechte pochendes Personal gemacht. Die ursprüngliche Rollenkonzeption, die Federica zur altra prima donna erhoben hätte, entsprach nicht der eingebürgerten Sängerhierarchie im italienischen Theater. »Keine Sängerin erster Partien, so Cammaranos Antwort, würde die dramatisch wie musikalisch zwangsläufig gegenüber Luisa benachteiligte Rolle übernehmen«, referierte Peter Ross zutreffend. Die Autoren legten die Partie der Herzogin als contralto-parte comprimaria an, also für eine Altstimme. »Büßte Federica zensurbedingt ihren ursprünglich komplexen Charakter bereits ein, so verblasst sie als Komprimarierin aus Gründen der Ensemblestruktur völlig gegenüber dem Original. Die hierarchisch organisierte compagnia di canto, die nach strikt abgestufter Rollendefinition neben der Ka­tegorie der kleinen Solopartie (Sekundarier) zwischen erster Partie (Primarier) und mittlerer Partie (Kompri­ marier) mit dem Kriterium unterschied, dass der parte comprimaria höchstens eine einsätzige Solo­nummer zustand«, führte bei der Transformation des Dramas in ein Libretto auch zu Konflikten bei der stimmlichen Ausstattung der Männerpartien. Nach dem Stimmtypenklischee der Zeit wurden Väter und Bösewichte durch tiefe Stimmen repräsentiert. Also wären die bei Schiller fast gleichwertigen Hauptrollen Miller, von Walter und Wurm in der Oper in eine der Hierarchie widersprechende Konkurrenz getreten. Verdi entschärfte sie unter Berücksichtigung der Fähigkeiten der drei Sänger, die ihm für die Uraufführung am Teatro San Carlo in Neapel zur Verfügung standen, indem er sich pragmatisch zugunsten von Miller als erster Partie entschied und den beiden männlichen Intriganten systemkonform Bass-Stimmen zuordnete. Federica aber wurde, trotz der mehr oder minder deutlich hervortretenden sittlich-moralischen Mangelerscheinungen, in der Oper durchaus als liebende Frau charakterisiert. Sie liebt eben auf ihre Weise und so gut sie noch kann. Dass die Intrigantin nicht in den strahlenden Höhen der jugendlichen Liebhaberin angesiedelt ist, entsprach einer seit Langem eingefleischten Tradition der opera italiana, in der man zwischen Sopran und Mezzo nicht sonderlich scharf unterschied. Generell hielten in der Buffa junge Dienerinnen die intriganten Fäden in der Hand. Da sich ihre Partien jedoch von denen der adeligen Damen auch im gesanglichen Duktus unterscheiden sollten oder mussten (buffoneskes Geplapper und empfindsames Schluchzen statt koloraturenreicher Virtuosität), wurden sie eher dem kurzen Sopran zugedacht als dem hohen. Die Serpina in Giovanni Battista Pergolesis La serva padrona ist hierfür ein illustres Beispiel oder Despina in Lorenzo Da Pontes und Mozarts Così fan tutte. Auch Rachelina, eine Ränkeschmiedin mit empfindsamem touch, in Giovanni Paisiellos La molinara (ein Hit, der noch 1795 in Beethovens Klavier-Variationen über »Nel cor pu non mio sento« nachhallt oder 1828 in der Winterreise von Franz Schubert). 73

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Intrigensubjekt »reinsten Wassers«, das freilich auch mehr von Liebeswünschen als Machtkalkül getrieben wird, ist die nochmals frei nach Schiller und in der Mezzosopranlage singende Prinzessin Eboli, die gefährliche Gegenspielerin von Don Carlos. Spätestens bei der Uraufführung (Paris 1867) demonstrierte Verdi, wie fein er die Nuancen einer verletzten Seele zu zeichnen verstand, deren Begehren in der Brunnen- oder Gartenszene in Hass umschlägt und zur Ankündigung jener Erpressung führt, welche die Eboli tatsächlich ins Werk setzt und damit Verderben und Tod heraufbeschwört. In der allerchristlichsten Welt Philipps II. stellt sie mit dem Schleierlied auch das dramaturgische und musikalische Ferment bereit, das mit seinem kunstmaurischen Ton eine Arabeske in die martialische Christenwelt einflechtet. Insbesondere, weil Verdi mit der Traviata einen ganz neuen Frauentypus – eine Pariser »Lebedame« – so haarscharf zu charakterisieren verstand, wurde immer wieder versucht, Rückschlüsse aus dem Werk auf das Leben zu ziehen und aus der Biografie für das Schaffen. Auch Katharina Dennig-Jaschke versuchte dies wieder in ihren Psychoanalytischen Betrachtungen (Maestro Verdi lächelt). Die Sachbuchautorin verlangt, der Komponist hätte sich vor der Mitund Nachwelt entblößen müssen: »Ähnlich wie Sigmund Freud hat auch Giuseppe Verdi am Ende seines Lebens viele Unterlagen selbst vernichtet oder vernichten lassen und gerade dadurch die Möglichkeit eröffnet, dass ein jeder hinter dem Schleier erträumen kann, was er sehen will.« Die Autorin bedauert intensiv, dass es keinerlei »veröffentlichte Äußerungen zu seiner gelebten Sexualität« gäbe, »ein scheinbar sicheres Wissen über dieses Thema« nur »unter der Hand kommuniziert wird«. Zu Mutmaßungen gibt insbesondere Anlass, dass und wie Verdi erstmals eine Figur der Zeitgeschichte auf die Opernbühne promovierte – ausgerechnet eine wie Alphonsine bzw. Marie Duplessis (1824-1847) alias Marguerite Gautier alias Violetta Valéry. Überhaupt, dass und wie er »Frauen mit ungemein feiner psychologischer Feder zeichnet«. Ja, so die Schlussfolgerung: »Der muss doch...«. Freilich würde man, auch wenn Verdi Briefe und Aufzeichnungen nicht vernichtet und sogar über sein Sexualleben Auskunft gegeben hätte, wohl nicht tiefer in seine Tonkunst eindringen. Biografie und Werk sind zwar notwendigerweise verwoben, aber durch gröbere oder feinere Filter voneinander getrennt. Dies dokumentiert gerade die unter erheblichen politischen, gesellschaftlichen und vor allem künstlerischen Anfechtungen entstandene Aida: Es wurde ein Werk der emotionalen Ausgewogenheit und effektvollsten Theatralität in höchstem Perfektionsgrad. Nicht vergessen werden sollte schließlich, dass Verdi Mitteilungen über sein Privatleben für belanglos hielt. »Ich schicke Euch die Druckfahnen meiner Biografie mit einigen Korrekturen zurück«, schrieb er am 18. November 1879 aus Sant’ Agata an seinen Verleger Giulio Ricordi. »Aber ganz offen gesagt, glaubt Ihr, dass diese Biografie interessieren kann? Wäre es nicht besser gewesen, sie unter dem vergessenen Artikel des Ménestrels eines altprovenzalischen Spielmanns, schlafen zu lasFR IEDER R EIN INGH AUS

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sen? Mich würde sie, wenn ich das Publikum wäre, sehr wenig interessieren und womöglich würde ich über allerhand Details lachen und sagen ›Was geht’s mich an!‹«

→ KS Johan Botha als Radames, Luciana D’Intino als Amneris, 2009

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FACET T EN DER Z U N EIGU NG


Andreas Láng

ES WAR IMMER DIE AIDA

In Hinblick auf Aida ist das musikalische Wien selbstverständlich keine Ausnahmestadt, also auch eine Aida-Stadt (so wie unter anderem ebenso eine Figaro-Stadt, eine Lohengrin-Stadt, eine Rosenkavalier-Stadt). Hier ist, wie anderswo nicht anders, Aida ein obligater Teil des Opernspielplans mit garantiertem Publikumsandrang. Und das von Anbeginn an. Schon etwas mehr als drei Jahre nach der Kairoer Uraufführung konnte man in der Donaumetropole, an der damals neuen Hofoper, Aidas und Radames’ Leben und Sterben erleben. Dass Kritiker in ihren Besprechungen der Wiener Erstaufführung von 1874 arg danebengriffen und beispielsweise einen entsprechenden Artikel mit den Worten »Diese Oper ist kein Meisterwerk« (Neue Freie Presse) eröffneten, vergrößerte nur den Anekdotenschatz rund um das Meisterwerk Aida. Das damalige Publikum erkannte vielleicht nicht in vollem Umfang das Neue und Reife der Partitur, aber es öffnete Herzen und Ohren und erfühlte den Wert, das Wesentliche der Partitur. Und so blieb Aida konsequent im Repertoire, ja, brachte es in kürzester Zeit auf eine Vorstellungsanzahl, die jene der meisten übrigen populären Opern in den Schatten stellte. A N DR EAS LÁ NG

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Inzwischen, rund 150 Jahre später, ist die diesbezügliche 1000er-Grenze allein an der Wiener Staatsoper längst überschritten. Dass darüber hinaus sehr bald erste Aida-Vorstellungsserien auf zwei weiteren wichtigen Wiener Opernbühnen stattfanden, lag in der Natur der Sache: ab 1904 im Theater an der Wien, ab 1912 an der heutigen Wiener Volksoper. 1924 fand außerdem noch ein spektakuläres, aber nichtsdestotrotz künstlerisch erstrangiges Projekt ihre Verwirklichung: Die erste Wiener Freiluftaufführung mit einem Heer an Statisten und einem noch größeren Heer an Zuschauern. 25.000 Besucherinnen und Besucher fanden sich ein, um auf der Hohen Warte im 19. Wiener Gemeindebezirk, in einer Art ephemeren Arena di Vienna, den Klängen der Aida zu lauschen. Die Kulissen kamen aus Mailand, die Solisten großteils aus Italien, ebenso der Dirigent – niemand Geringerer als Pietro Mascagni. Das Orchester hingegen war auffällig durchsetzt mit Mitgliedern der Wiener Philharmoniker. Alles in allem aber blieb die Staatsoper bis heute die eigentliche Wiener Heimat der Aida. Man spielte sie durchgehend, solange das Haus bespielbar war. Man brachte sie zwischen 1945 und 1955 im Ausweichquartier Theater an der Wien heraus, nahm sie im November 1955 in das feierliche Eröffnungsprogramm des wiedererrichteten Hauses am Ring auf und zeigt sie seither praktisch jede Spielzeit. Zwar waren die szenischen Lösungen der einzelnen Neuproduktionen nicht immer von Erfolg gekrönt, aber das tat der Popularität dieser Oper keinerlei Abbruch. Zumal regelmäßig die Größten der Größten die Interpretation übernahmen. Allen voran der Komponist selber, der im Juni 1875 persönlich ans Pult trat, um sein Werk zu leiten. Natürlich sang man zunächst, von ausgewählten Vorstellungen abgesehen, auf Deutsch und erst ab 1958, bedingt durch Herbert von Karajans Reformgeist, auf Italienisch. Aber es war immer die Aida, die man schon von klein auf kannte und aus unterschiedlichen Gründen liebte. Und es wird, allen Moden zum Trotz, auch hier in Wien immer die Aida bleiben, die man von klein auf kennt und aus unterschiedlichen Gründen liebt.

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E S WA R IM MER DIE A IDA


VERDI IN WIEN 1875 Mit größtem Interesse verfolgten die Wiener Zeitungen den Aufenthalt Giuseppe Verdis in Wien. Fast täglich wurde über Besuche, Proben und Aufführungen, über Öffentliches und Halbprivates berichtet. Der folgende Abriss zeichnet Ausschnitte aus der Berichterstattung in der Presse nach.

3. Juni »Verdi kommt übermorgen nach Wien. Vor 32 Jahren war er zum erstenmal in unserer Stadt, um hier seine dritte Oper, Nabuccodonosor, unter persönlicher Leitung vorzuführen, was auch am 4. und 5. April 1843 geschah. Seitdem hat Verdi Wien zwar nicht mehr besucht, allein umso häufiger beliebte Gäste waren seine späteren Werke: Hernani, Rigoletto, Troubadour, Traviata, Sicilianische Vesper, Maskenball auf der k. k. Hofopernbühne. Verdi’s jüngste Anwesenheit gilt, wie bekannt, der persönlichen Vorführung seines Requiem Manzoni-Messe, und der Oper Aida.«

4. Juni »Verdi ist heute Früh mit dem Schnellzuge aus Paris hier eingetroffen und vom Director Jauner, dem Capellmeister Faccio und Herrn Ricordi am Bahnhofe empfangen worden.«

12. Juni »Diese Tondichtung [das Requiem], von der man bereits so viel gehört und gelesen hat, ist nun heute Abends unter der persönlichen Leitung ihres Schöpfers im Hofopernhause zur ersten Aufführung gekommen.« V ER DI IN W IEN 1875

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15. Juni »Gestern fand im Hofoperntheater unter Verdi’s Leitung die erste Probe zur Aufführung der Aida in italienischer Sprache statt; derselben folgen noch drei weitere Proben, da die Oper nach ganz neuen Arrangements des Meisters aufs Sorgfältigste studirt wird.«

16. Juni »Von der Direction des Hofoperntheaters kommt uns folgende Anzeige zu: Verdi wurde vorgestern Abends während des Zwischenactes auf der Hofopernbühne von einer Ohnmacht befallen und musste in eine der nahen Künstler-Garderoben gebracht werden, wo er sich unter ärztlichem Beistand rasch erholte, so dass er das Theater ohne Begleitung, die er freundlich ablehnte, verlassen konnte. Der Unfall wurde in Folge einer Nerven-Affection herbeigeführt, welche sich Verdi beim Dirigiren am linken Handgelenk zugezogen. Obwohl der Meister den Arm in der Binde trägt und heute auch so dirigiren wird, befand er sich doch bereits gestern wieder so wohl, dass er die Aida-Probe leiten konnte. Die bevorstehenden Aufführungen des Requiems und der Aida sind durch diesen Zwischenfall in keiner Weise in Frage gestellt.«

18. Juni »Heute Vormittags fand im Operntheater die Generalprobe zu Verdi’s Aida, welche Samstag zur Aufführung gelangt, unter des Componisten Leitung statt. Ungefähr 300 Personen waren bei der Probe, bei welcher man es nicht unterließ, den Componisten auszuzeichnen, zugegen. Die nun nach der Auffassung des Componisten sozusagen neu einstudirte Oper soll theilweise einen ganz anderen Charakter erhalten haben. Feinfühlige Zuhörer wollen die Bemerkung gemacht haben, dass die Wagner-Anklänge, die man bisher in dieser Oper gefunden, fast verschwunden sind.«

19. Juni »Der Zudrang zu der im Hofoperntheater morgen Samstag stattfindenden ersten Aufführung der Aida in italienischer Sprache übertrifft sogar jenen zur erstmaligen Aufführung der Manzoni-Messe.«

20. Juni »In ebenso glanzvoller Weise wie neulich das Requiem, ist heute Abends auch die Oper Aida zur Aufführung gekommen. Das Haus war in allen Räumen 79

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gefüllt; in der Hofloge wohnten der Vorstellung bis nach dem dritten Acte Se. Majestät der Kaiser und Kronprinz Rudolph bei.«

22. Juni »Die heutige zweite Aufführung der Aida hat dieselbe Anziehungskraft ausgeübt und einen womöglich noch größeren Triumph erzielt. Selbstverständlich musste jedes Mal, ja noch öfter auch Verdi sich zeigen, dem überdies nach dem zweiten Acte ein großer Lorbeerkranz mit weißer Schleife überreicht wurde.«

25. Juni »Se. Majestät der Kaiser hat heute Audienzen ertheilt und wurden unter Anderen empfangen: FML. Ritter Kees, Militärbevollmächtigter Flügeladjutant Major Alois Fürst zu Liechtenstein, wie schon gemeldet Giuseppe Verdi und Musikalienverleger Ricordi... Verdi reist, wie wir bereits gemeldet haben, morgen von Wien ab. So sehr ihm die Stadt gefällt, so beeilt er sich doch, nach den ungewohnten Anstrengungen und Aufregungen der letzten Woche wieder der Ruhe zu pflegen. ... Die ersten drei Aufführungen des Requiems ergaben ein Erträgniss von 24.000 fl., das der letzten Aufführung gegen 6100 fl., das der beiden Aida-Vorstellungen 16.800 fl. Im Ganzen betragen die Einnahmen der Verdi-Abende 47.500 fl., wovon 30.000 fl. dem Operntheater als eigenes Erträgniss verbleiben.«

26. Juni »Verdi hat Wien bereits verlassen. Wahrscheinlich, um den ihm zugedachten Ovationen zu entgehen, brachte er seiner Bequemlichkeit ein Opfer und reiste mit seiner Gemalin heute Morgens 5 Uhr mit der Südbahn ab.«

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Die OMV ist seit langem Generalsponsorin der Wiener Staatsoper und wir sind stolz, diese herausragende österreichische Kulturinstitution mit voller Energie zu unterstützen. Wir freuen uns mit Ihnen auf die bewegenden Inszenierungen. Alle Sponsoringprojekte finden Sie auf www.omv.com/sponsoring


Impressum Giuseppe Verdi AIDA Spielzeit 2022/23 (Premiere der Produktion: 30. April 1984) HERAUSGEBER Wiener Staatsoper GmbH, Opernring 2, 1010 Wien Direktor: Dr. Bogdan Roščić Musikdirektor: Philippe Jordan Kaufmännische Geschäftsführerin: Dr. Petra Bohuslav Redaktion: Sergio Morabito, Oliver Láng, Andreas Láng Gestaltung & Konzept: Fons Hickmann M23, Berlin Layout & Satz: Julia Pötsch Bildkonzept Cover: Martin Conrads, Berlin Lektorat: Martina Paul Druck: Print Alliance HAV Produktions GmbH, Bad Vöslau TEXTNACHWEISE Handlung (Übernahme aus dem Programmheft der Wiener Staatsoper 1984; englische Übersetzung: Andrew Smith) – Andreas Láng: Über dieses Programmbuch – Oswald Panagl: Im Banne der Obelisken und Pyramiden (Übernahme aus dem Programmheft der Wiener Staatsoper 2013) – Andreas Láng: Ein Auftrag aus einem fernen Land (Übernahme aus dem Programmheft der Wiener Staatsoper 2013) – Andreas Láng: Priesterzögling, Medizinstudent, Sänger, Librettist (Übernahme aus dem Programmheft der Wiener Staatsoper 2013) – Daniel Brandenburg: Das Ägyptische in Aida (Übernahme aus dem Programmheft der Wiener Staatsoper 2013) – Karl Löbl: Was Verdi wert ist (Übernahme aus dem Programmheft der Wiener Staatsoper 2013) – Walter Dobner: Allmächtiger Ptàh (Übernahme aus dem Programmheft der Wiener Staatsoper 2013) – Annette Franck: Priesterfiguren in den Opern Giuseppe Verdis (Übernahme aus dem Programmheft der Wiener Staatsoper 2013) – Frieder Reininghaus: Facetten der Zuneigung (Übernahme aus dem Programmheft der Wiener Staatsoper 2013) – Andreas Láng: Es war immer die Aida (Übernahme aus dem Programmheft der Wiener Staatsoper 2013) – Verdi in Wien (Übernahme aus dem Programmheft der Wiener Staatsoper 2013) Die Briefe wurden von Mag. Christian Springer übersetzt. BILDNACHWEISE Coverbild: »Bas van Wieringen Locked, 2018« Szenenbilder Seite 2, 3, 13, 18, 19, 25, 38, 39, 53, 56, 57: Michael Pöhn / Wiener Staatsoper GmbH Seite 75: Axel Zeininger / Wiener Staatsoper GmbH Seite 24: akg-images Nachdruck nur mit Genehmigung der Wiener Staatsoper GmbH / Dramaturgie Kürzungen werden nicht gekennzeichnet. Rechteinhaber, die nicht erreicht werden konnten, werden zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten.


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