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Nun bin ich aufgeklärt → Thomas Seedorf

NUN BIN ICH AUFGEKLÄRT

Über das Quartett in Mozarts Singspiel »Die Entführung aus dem Serail«

Erkenntnis kann schmerzhaft sein – und das im wörtlichen Sinne, wie Pedrillo in Mozarts Singspiel Die Entführung aus dem Serail am Ende des zweiten Aktes erfahren muss. Auf die – nur mit Zaudern herausgebrachte – Frage, ob Osmin vielleicht seine Rechte als Herr und Gebieter gegenüber Blonde durchgesetzt habe, erhält er von der Gefragten eine Ohrfeige zur Antwort. »Nun bin ich aufgeklärt«, tut Pedrillo darauf kund.

Man könnte es sich leicht machen, indem man die Formulierung als harmlos kalauernden ersten Teil eines Verspaares versteht, das in Blondes anschließendem Ausruf – »Du bist mich gar nicht wert.« – sein reimendes Gegenstück findet. Es lassen sich aber auch Gründe dafür anführen, Pedrillos Äußerung als Ausdruck einer echten Einsicht zu verstehen:

1. In Christoph Friedrich Bretzners »Operette« Belmont und Constanze, oder: Die Entführung aus dem Serail, der Vorlage, auf die Johann Gottlieb Stephanie der Jüngere sich bei seinem Libretto für Mozart stützte, fehlt die Auseinandersetzung zwischen Pedrillo und Blonde und damit auch die Ohrfeige. Der von Angst und Eifersucht geprägte Diskurs über partnerschaftliche Treue ist hier allein Sache Belmontes und Konstanzes:

BELMONTE Aber, Konstanze, ists wahr? Du bist die Geliebte des Bassa? –KONSTANZE Wie, Belmonte? Konntest du glauben, das deine Konstanze jemals untreu werden könnte? Traust du einem Mädchen nicht mehr Treue und Standhaftigkeit zu? – Wie viel Nächte hab’ ich schlaflos auf meinem Lager durchwacht, wie viel Seufzer für dich zum Himmel geschickt – Ha! rief ich aus: Gütiger Himmel! erhalte nur meinen Belmonte; und ich will gern alles erdulden, ihm dieß Herz so treu wieder zu bringen, als es bey unserer Trennung war. BELMONTE O verzeih, Konstanze, verzeih dem misstrauischen Liebhaber. Du weißt ja: Unglück macht misstrauisch. Mit diesem Kuß empfange meine Gelübde aufs Neue, ewig, ewig der Deine zu seyn! – – Und nun zu unserem Vorhaben [...]

Belmontes Verdacht ist, ganz anders als bei Stephanie und Mozart, in Bretzners Stück nur ein Nebenmotiv, das noch dazu in gesprochener Prosa abgehandelt wird und schnell erledigt ist, bevor Belmonte sich der Hauptsache, dem »Vorhaben« der Entführung zuwendet. Blonde und Pedrillo sind in dieser Szene zwar auf der Bühne anwesend, agieren aber lediglich stumm im Hintergrund und ohne jeden Hinweis auf eine Auseinandersetzung über die heikle Frage der Treue – die bleibt dem hohen Paar allein vorbehalten. Indem Mozart und sein Librettist das Dienerpaar nicht nur in den Diskurs einbeziehen, sondern mit der Ohrfeige auch einen deutlich erkennbaren Effekt, ein

wirkungsvolles theatralisches Ereignis integrieren, gewinnt die Auseinandersetzung bei ihnen eine ganz andere Dimension und größere Bedeutung als bei Bretzner.

2. Die Briefe, in denen Mozart während der Arbeit an der Entführung aus dem Serail seinem Vater Einblicke in seine Werkstatt gewährt, dokumentieren eindrücklich, wie bewusst der Komponist und der von ihm inspirierte Textdichter in allen Belangen der Dramaturgie und insbesondere der theatralischen Wirkung vorgegangen sind. Kein Zufall dürfte daher der Zeitpunkt sein, zu dem Blonde die Ohrfeige verabreicht. Geht man von einer durchschnittlichen Aufführungsdauer von ca. 10 Minuten aus, so fällt die Ohrfeige mit einer Genauigkeit, die von Interpretation zu Interpretation leichten Schwankungen unterworfen ist, zeitlich ins Zentrum des Satzes und markiert dort den Dreh- und Wendepunkt des Ganzen: Alles Folgende ist Konsequenz jener Erkenntnis, die Pedrillo durch den Schlag ins Gesicht aufgegangen ist.

3. Nach Wolfgang Hildesheimer erscheinen Ohrfeigen »bei Mozart als läuternder Wirkstoff«. Ob Blonde auf diese Weise ihrer Empörung Ausdruck verleiht oder die als Gräfin verkleidete Susanna ihre Wut über den scheinbar um die Gunst seiner Herrin buhlenden Figaro mit Schlägen zum Ausdruck bringt – stets wirkt die aus dem Affekt erfolgende körperliche Züchtigung wie »eine strahlende Bekräftigung der Treue«, eine Auffassung, der auch Zerlina folgt, wenn sie dem eifersüchtigen Masetto anbietet, sie zum Beweis ihrer Treue schlagen zu dürfen (»Batti, batti, o bel Masetto«). Es ist dabei bezeichnend, dass es die Dienstboten und einfachen Frauen sind, nicht die hochgestellten Herrschaften, die sich so handgreiflich äußern. »Die Frage von Treue und Untreue«, so sieht es der Psychoanalytiker Bernd Oberhoff, »wird auf der Körperebene abgehandelt und entschieden,« mehr noch: sie wird, und das ist bei einem Theaterstück von großer Bedeutung, durch die sich entladende Spannung zwischen Blonde und Pedrillo sicht- und hörbar gemacht. Für Konstanze und Belmonte geht es dagegen »primär [um] ein innerseelisches Geschehen, eine Angelegenheit des Gefühls und der innerlichen Verbundenheit,« um ein Abstraktum also, das sich mit elementar theatralischen Mitteln nicht sinnlich darstellen lässt.

Beide Männer gehen mit Zweifeln an der Treue ihrer Frauen in die Wiederbegegnung, doch artikulieren sie dieses Gefühl auf ganz unterschiedliche Weise. Während Belmonte die bange Frage stellt, ob Konstanze den Bassa liebt und dabei das seelische Band der Liebe, nicht die körperliche Vereinigung meint, treibt Pedrillo der Argwohn um, Blonde könnte von Osmin sexuell bedrängt worden sein. Die Frauen antworten auf jener Verständigungsebene, die die Männer jeweils vorgeben: Konstanze reagiert seelisch, indem sie weint und ihren Schmerz nach innen nimmt (»O! wie du mich betrübst!«), Blonde dagegen körperlich, indem sie ihren Zorn nach außen dringen lässt.

Die planvolle Integration der Ohrfeige in die Dramaturgie des Aktschlusses, ihre genaue Positionierung im Ablauf des Ensemblesatzes, ihr Zusammenhang mit ähnlichen Situationen in anderen Werken Mozarts und die Sinnfälligkeit, mit der die beiden Paare sich durch die Unterschiedlichkeit ihrer Reaktionen gegenseitig spiegeln und damit zugleich ihre Eigenheit verdeutlichen – all dies sind Gründe dafür, Pedrillo zuzugestehen, dass der Schock, den Blondes Ohrfeige für ihn bedeutet, ihn tatsächlich »aufgeklärt«, d.h. zu einer Einsicht gebracht hat.

Doch zu welcher Einsicht? Die Antwort geben die Männer wenig später gemeinsam:

Sobald sich Weiber kränken, Daß wir sie untreu denken, Dann sind sie wahrhaft treu, Von allem Vorwurf frey.

Hörend zu verstehen ist diese aus heutiger Sicht befremdliche Interpretation weiblichen Verhaltens, die aus der Reaktion auf den Verdacht der Untreue die Unschuld der Frauen ableitet, so gut wie nicht, denn zur gleichen Zeit singen Konstanze und Blonde einen anderen Text:

Wenn unsrer Ehre wegen Die Männer Argwohn hegen, Verdächtig auf uns sehn, Das ist nicht auszustehn.

Die Überlagerung zweier so unterschiedlicher Texte hebt die Aussagen der Frauen und die der Männer fast gegeneinander auf, bringt sie, zumindest auf der Ebene der Semantik, beinahe zum Verschwinden. Doch da ist noch eine weitere Ebene, die der Musik, die hier, jenseits des bloß verstandesmäßigen Verstehens, zum Wesentlichen wird – doch davon später.

Ein Finale?

Den Schauspielern vergleichbar, die – laut Denis Diderot – »spectateurs« sein müssen, aufmerksam und objektiv schauende Betrachter des menschlichen Verhaltens, war auch Mozart ein Menschenbeobachter. In vielen seiner Briefe schildert und charakterisiert er Personen seines Lebensumkreises bis in kleinste Einzelheiten und schuf dabei »verbale Menschenporträts«, die, so Georg Knepler, »gewissermaßen Vorstudien zu seinen musikalischen« darstellen. Mozarts Vermögen, menschliches Verhalten nicht nur in Worten zu erfassen, sondern auch und vor allem mit den ihm zur Verfügung stehenden

Möglichkeiten des Musiktheaters künstlerisch zu gestalten und zu vermitteln, ist ein wesentliches Moment seiner Teilhabe an den vielfältigen Richtungen aufgeklärten Denkens seiner Zeit, durch das seine reifen Opern zu einem Forum der Aufklärung werden. Zu den wesentlichen Formen einer Oper des ausgehenden 18. Jahrhunderts gehören Arien und Ensembles. Die Arien dienen der Darstellung einzelner Figuren, deren Charakter sie ebenso porträtieren wie sie verschiedene Stadien einer seelischen Entwicklung innerhalb eines Werks deutlich werden lassen können. Ensembles dagegen bieten die Möglichkeit, das Handeln, Sprechen und Empfinden mehrere Figuren sowohl sukzessiv wie simultan in einer musikalisch stringenten Weise zu gestalten. Beide Formen verhalten sich aber nicht nur komplementär zueinander, sondern können Grundzüge der jeweils anderen übernehmen, d.h. die Arie kann handlungshafte Elemente besitzen, während Ensembles auch dazu dienen können, Seelenzustände hörbar werden zu lassen.

Mozart macht in der Entführung aus dem Serail von diesen Möglichkeiten reichen Gebrauch. Bevor sich Konstanze und Belmonte, Blonde und Pedrillo im Quartett erstmals musikalisch vereinen, haben sie sich dem Zuschauer bereits musikalisch vorgestellt, und das heißt: ihre Charaktere sind bereits ebenso bekannt wie Teile ihrer inneren und äußeren Geschichte. Belmonte tritt als erster auf und führt sich als empfindsam Liebender ein, der sich aber in der Konfrontation mit Osmin auch als vermeintlich überlegener Europäer vornehmer Abstammung zeigt. Pedrillo hingegen erweist sich von Anfang an als gewandter Tatmensch, der sich allerdings manchmal über den eigenen Mut erschrickt. Konstanze zeigt sich schon mit ihrer ersten Arie als edle Seele, die sich den Wünschen des Bassa gegenüber zu behaupten weiß. Vor allem in der unmittelbaren Aufeinanderfolge der Arien »Traurigkeit ward mir zum Lose« und »Martern aller Arten« wird das weite Spektrum der Empfindungen deutlich, das für Konstanze charakteristisch ist. Blonde schließlich zeigt von Anfang an, dass sie eine willensstarke Frau ist: »Ich bin eine Engländerinn, zur Freyheit gebohren; und trotz jedem, der mich zu etwas zwingen will!« Wie bei Belmonte und Pedrillo zeigt sich ihre Haltung nicht nur in Arien, sondern auch in einer Ensemblesituation, dem Duett mit Osmin, in dem sie ihre stolze Überlegenheit demonstriert.

Im Quartett, das den zweiten Aufzug der Entführung aus dem Serail beschließt, kommen die vier Hauptpersonen erstmals zusammen. Anders als Bretzner, der die Begegnung selbst im gesprochenen Dialog stattfinden und die Musik erst ganz am Schluss im Sinne eines Ausblicks auf die bevorstehende Entführung und Flucht einsetzen lässt, gestalten Stephanie und Mozart die Szene als großen Ensemblesatz. Wegen seiner Platzierung an das Aktende, der weit ausgreifenden Gesamtanlage und der Unterteilung in mehrere deutlich voneinander abgesetzte Formabschnitte ist es immer wieder als ein »Finale« bezeichnet worden. Doch ist es das wirklich? Wie Finali in der Tradition der italienischen Opera buffa zu organisieren sind, hatte Mozart

bereits in früheren Werken erkundet, zunächst in La finta semplice, dann, bereits mit großer Meisterschaft, in La finta giardiniera: als musikalische Szenenfolge, deren Ereignisdichte auf der Ebene der äußeren Handlung eine sinnfällig gestaffelte Abfolge mehrerer Formteile in der Musik entspricht. Und tatsächlich plante Mozart ja für den Abschluss des zweiten EntführungAktes »ein charmantes quintett oder vielmehr final« (Brief Mozarts an seinen Vater Leopold vom 26. September 1781), eine Szene, in der der Entführungsversuch in einer den Usancen der Opera buffa analogen Form musikdramatisch vorgestellt werden sollte. Er gab diesen Plan aber recht bald auf, da eine Musikalisierung dieser Szene in Gestalt eines ausladenden hochdifferenzierten Ensemblesatzes das musikalisch-dramaturgische Gleichgewicht des Werks zerstört hätte und insbesondere der Schluss des Singspiels zur Antiklimax geraten wäre.

Auf den ersten Blick folgt das Quartett in der Entführung aus dem Serail mit seiner Abfolge verschiedener und deutlich voneinander abgesetzter Abschnitte allerdings durchaus dem Modell des Buffa-Finales. Aber bereits hinsichtlich der äußeren Handlung zeigt sich ein gravierender Unterschied: Der von den Männern geäußerte Zweifel an der Treue der Frauen und die sich daran anschließende Auseinandersetzung innerhalb der Liebespaare samt Versöhnung ändern nichts an der Situation, aus der heraus das Quartett erwuchs – man ist, im krassem Gegensatz zu einem echten Finale, äußerlich keinen Schritt weiter gekommen. Das Entscheidende vollzieht sich in der Mitte des Quartetts und im Innern der Personen, die am Ende nicht mehr die sind, die sie zu Beginn des Stückes waren.

Folgen der Eifersucht

Die Frage nach der Treue ihrer Frauen, die Belmonte und Pedrillo beschäftigt und eine alle vier Figuren erfassende existenzielle Krise auslöst, ist von Stephanie und Mozart kaum zufällig in die Mitte ihres Singspiels gerückt worden. Beide folgten einer Einsicht, die Adolph Freiherr von Knigge nur wenige Jahre nach ihnen in seiner vom Geist der bürgerlichen Aufklärung durchdrungenen Abhandlung Über den Umgang mit Menschen so formulierte: »In der Ehe ist Eifersucht ein schreckliches, Ruhe und Frieden störendes Übel, und jeder Streit von bösen Folgen; in der Liebe hingegen wirkt Eifersucht neue Möglichkeiten hinein; nichts ist süßer als der Augenblick der Versöhnung nach kleinen Zwistigkeiten, und solche Szenen knüpfen das Band fester [...].«

Die Autoren der Entführung aus dem Serail gehen sogar noch einen Schritt weiter: Bei ihnen wirken die aus der Eifersucht resultierenden Folgen wie eine Befreiung von Ängsten, die das Verhalten der Männer bestimmten. Ihre Eifersucht provoziert Erkenntnis, das neu gewonnene Wissen um die Treue der Frauen, die die menschliche Basis für alles Kommende darstellt. Die Wiedervereinigung der Paare, die sich bei Bretzner en passant ereignet, wird in Mozarts Singspiel zu einer selbst auferlegten Prüfung der Herzen, aus der die Liebenden gestärkt hervorgehen.

Die Musik

Entscheidender noch als die schon im Text Stephanies zu erkennende grundlegend andere Menschendarstellung ist aber das, was Mozart aus der Vorlage seines Librettisten entstehen ließ: »Erst Mozarts Musik macht mit ihrer eigenständigen und vielschichtigen Dramaturgie die Tiefe der Erschütterung deutlich, die hier unerwartet im Inneren des Ensembles passiert.«

Der erste Teil des Quartetts exponiert szenisch wie musikalisch die Grunddisposition, aus der sich das Folgende entwickelt.

KONSTANZE Ach Belmonte! ach mein Leben! BELMONTE Ach Konstanze! ach mein Leben! KONSTANZE Ist es möglich? welch Entzücken! Dich an meine Brust zu drücken Nach so vieler Tage Leid. BELMONTE Welche Wonne, dich zu finden! Nun muß aller Kummer schwinden, O! wie ist mein Herz erfreut! KONSTANZE Sieh die Freudenthräne fließen. BELMONTE Holde! laß hinweg sie küssen! KONSTANZE Daß es doch die letzte sey! BELMONTE Ja, noch heute wirst du frey.

Die vollkommen unterschiedlichen emotionalen Ausgangspositionen, von denen aus Konstanze und Belmonte in die Begegnung gehen, sind auf der Ebene des Textes nicht zu erkennen, im Gegenteil, die Worte suggerieren durch Übereinstimmung im Vokabular, in der Form und im Gestus viel eher eine Parallelität der Empfindungen. Der aber widerspricht die Musik: Konstanze tritt Belmonte mit emphatischen weit ausladenden Hochtongesten entgegen, auf welche dieser zunächst mit kurzen, wie abgerissen wirkenden Phrasen antwortet. Erst mit den Worten »Welche Wonne, dich zu finden!« übernimmt er Konstanzes Jubelton. Mozart zeigt, wie Belmonte sich erst von einer Beklommenheit lösen muss, deren Grund später offenbar wird. Doch

bevor er seinen Verdacht äußert, lässt er sich von der Wiedersehenseuphorie Konstanzes mitreißen.

PEDRILLO Also Blondchen hast’s verstanden? Alles ist zur Flucht vorhanden, Um Schlag zwölfe sind wir da. BLONDE Unbesorgt! es wird nichts fehlen, Die Minuten wird’ ich zählen, Wär’ der Augenblick schon da!

Pedrillos erste Äußerung bildet zum emphatischen Ton des hohen Paares einen drastischen Kontrast. Im sprechnahen Parlando geht es nicht um die Empfindungen des Herzens, sondern um pragmatische Aspekte der anstehenden Entführung. Das auch er wie sein Herr einen Zweifel in sich trägt, ist ihm auf der Ebene der Musik nicht anzumerken, gleichwohl ist auffällig, dass in den Worten, die er an Blonde richtet, keine Spur einer Liebesbekundung oder Wiedersehenfreude zu entdecken ist. Blonde erweist sich in ihrer Antwort als Pedrillo ebenbürtige Partnerin; auch von ihr ist kein persönliches Wort zu vernehmen und sie übernimmt in ihrer Antwort Pedrillos musikalische Phrase Ton für Ton.

ALLE VIER Endlich scheint die Hoffnungssonne Hell durchs trübe Firmament! Voll Entzücken, Freud’ und Wonne, Sehn wir unsrer Leiden End!

Mit dem Ausblick auf die nahende Befreiung könnte das Ensemble analog zur Vorlage von Bretzner und André schließen. Durch die Wiederaufnahme der hymnischen Marschmusik des Anfangs, durch die sich eine formale Abrundung anzukündigen scheint, wird ein solcher Schluss auch auf der Ebene der Musik suggeriert – zunächst. Bei den Worten »Voll Entzücken etc.« verändert sich der Gestus der Musik, der Marsch verwandelt sich in eine Gavotte, das für jenen charakteristische Moment der kraftvoll abtaktigen Betonung wird von der für Gavotten konstitutiven Auftaktigkeit abgelöst. So subtil dieser Wechsel ist, so wirkt er doch als Irritation, die den Elan, mit dem der Satz durch die Wiederaufnahme der Marschmusik einem Schluss entgegendrängt, ausbremst.

Daniel Heartz hat anhand von Beispielen aus Mozarts Le nozze di Figaro pausibel gemacht, dass Marsch und Gavotte bei Mozart semantisch geladene Topoi sein können. In unmittelbarer Kontrastierung wie im Fall des Quartetts in der Entführung aus dem Serail steht der Marsch für Männlichkeit, die Gavotte für Weiblichkeit. Beide Prinzipien geraten am Ende des ersten Teils des Quartetts miteinander in einen Konflikt, der mit immanent musikalischen

Mitteln den Übergang in die sich unmittelbar anschließende Auseinandersetzung auf der Ebene des Textes und der Szene vorbereitet.

BELMONTE Doch, ach! bei aller Lust Empfindet meine Brust Noch manch’ geheime Sorgen! KONSTANZE Was ist es, Liebster, sprich, Geschwind erkläre dich, O halt mir nichts verborgen! BELMONTE Man sagt: du seist – – –KONSTANZE Nun weiter?

(Belmonte und Konstanze sehn einander still’ schweigend und furchtsam an.)

PEDRILLO (er zeigt, daß er es wage, gehenkt zu werden) Doch Blondchen, ach! die Leiter! Bist du wohl soviel werth? BLONDE Hanns Narr! schnappt’s bei dir über? Ey hättest du nur lieber Die Frage umgekehrt. PEDRILLO Doch Herr Osmin – – –BLONDE Laß hören! KONSTANZE Willst du dich nicht erklären?

Ohne Zäsur geht der von der Gavotte überformte Marsch in den nächsten Abschnitt über, der sowohl auf der Ebene des Textes wie jener der Musik eine Veränderung bringt. Die bisher vorherrschenden vierhebigen Trochäen werden von dreihebigen Jamben abgelöst, das musikalische Metrum wechselt vom 4/4- zum 3/8-Takt, die Tonart von D-Dur nach g-Moll, das Tempo von Allegro zu Andante. Aufgegeben ist der hymnische Tonfall, nun herrschen kurze Phrasen vor, in denen Belmonte und Konstanze ihre Gedanken und Fragen äußern. Mit dem Eintritt Pedrillos und Blondes verändert sich die Stimmungslage nicht grundlegend, vielmehr äußert sich auch das Dienerpaar in einem ähnlichen Duktus wie die Herrschaften.

BELMONTE Ich will. Doch zürne nicht, Wenn ich nach dem Gerücht, So ich gehört, es wage, Dich zitternd, bebend frage, Ob du den Bassa liebst?

PEDRILLO Hat nicht Osmin etwan, Wie man fast glauben kan, Sein Recht als Herr probiret Und bey dir exerciret? Dann wär’s ein schlechter Kauf.

In einem ersten Anlauf hatten die Männer nicht mehr als Andeutungen herausgebracht, die allerdings ausreichten, um die Frauen zu irritieren. Waren Belmonte und Pedrillo bisher stets einzeln zu hören, da Mozart beide versetzt singen und dabei das Orchester den musikalischen Zusammenhang bilden ließ, kommt nach Konstanzes rezitativisch gefasster Frage »Willst du dich nicht erklären?« eine andere Strategie zum Zuge. Abermals wechseln Takt- und Tonart, vor allem aber ändert sich die Art der Musikalisierung der Rede. Bis kurz vor dem entscheidenden Wendepunkt, der Ohrfeige, singen Belmonte und Pedrillo gemeinsam, doch jeder auf seine ganz persönliche Weise. Belmonte hüllt seine Frage, ob Konstanze den Bassa liebe, in eine noble Kantilene, Pedrillo dagegen bringt seinen Argwohn in lauter kurzen Notenwerten hervor, wobei er, anders als Belmonte, mehrmals Halbsätze oder Satzteile wiederholt, als würde es ihm schwer fallen die richtigen Worte zu finden. Die Wiederholungen haben aber auch einen pragmatischen Grund: Sie erleichtern es dem Zuhörer zu verstehen, was Pedrillo singt.

KONSTANZE (sie weint) BLONDE O! wie du mich betrübst! (giebt ihm eine Ohrfeige) PEDRILLO (hält sich die Wange) Da nimm die Antwort drauf. Nun bin ich aufgeklärt! BELMONTE (kniet nieder) Konstanze! ach vergieb! BLONDE (geht zornig von Pedrillo) Du bist mich gar nicht werth. KONSTANZE (seufzend sich von Belmonte wegwendend) Ob ich dir treu verblieb!

Mit der Ohrfeige ändert sich wieder alles: Das Tempo zieht an (Allegro assai), die Tonsatzstruktur tendiert zur Einstimmigkeit, die Melodik bleibt an dem Modell hängen, das Pedrillo mit »Nun bin ich aufgeklärt« vorgibt, nur Konstanze wiederholt ihren Satz und akzentuiert das für diesen Zusammenhang so überaus wichtige Wort »treu« mit einer Fermate über einen dissonant gespannten Akkord.

BLONDE (zu Konstanze) Der Schlingel fragt sich an: Ob ich ihm treu geblieben? KONSTANZE (zu Blonde) Dem Belmont sagte man, Ich soll den Bassa lieben. PEDRILLO (hält sich die Backe) Daß Blonde ehrlich sey, Schwör’ ich bey allen Teufeln.

BELMONTE (zu Pedrillo) Konstanze ist mir treu, Daran ist nicht zu zweifeln.

Nach einer Generalpause beginnt ein neuer Abschnitt, im Orchester geprägt durch ein unruhiges Motiv in den Violinen, bei den singenden Personen durch Varianten jener Phrase, mit der Blonde sich an Konstanze wendet. Alle vier Texte erscheinen am Ende noch einmal, simultan gesungen in einem rezitativisch anmutenden Ensemblesatz, der wie ein sich zum Folgenden öffnender Doppelpunkt wirkt.

BLONDE U. KONSTANZE Wenn unsrer Ehre wegen Die Männer Argwohn hegen, Verdächtig auf uns sehn, Das ist nicht auszustehn.

BELMONTE U. PEDRILLO So bald die Weiber kränken, Daß wir sie untreu denken, Dann sind sie wahrhaft treu, Von allem Vorwurf frey.

Ein weiterer Wechsel, dieses Mal in die Tonart A-Dur, die im harmonischen Kontext des Vorangegangenen wie entrückt wirkt. Entscheidender noch ist der Übergang zu einem 6/8-Takt und der mit ihm einhergehende Eintritt eines vollkommen neuen Charakters. Mozart evoziert hier den Topos der Pastorale, die musikalische Chiffre einer friedlichen Hirtenwelt, die im 18. Jahrhundert jedem Hörer vertraut war. Die Singstimmen bewegen sich in dem Raum, den zunächst das Orchester öffnet, in einem akkordischen Satz, dessen Modell der Choral ist. In der allein von der Musik geleisteten Überhöhung des Moments, der Transzendierung des Konflikts in eine religiös eingefärbte Idylle, verschwindet sowohl die seltsame Einsicht der Männer wie die Betroffenheit der Frauen. Vorwurf und Selbsterkenntnis sind aufgehoben in einem höheren menschlichen Ganzen, das Mozart jenseits der Worte erfahrbar macht.

PEDRILLO Liebstes Blondchen! ach! verzeihe, Sieh, ich bau auf deine Treue, Mehr itzt als auf meinen Kopf!

BELMONTE Ach Konstanze! ach mein Leben, Könntest du mir doch vergeben, Daß ich diese Frage that?

Pedrillo, der Tatmensch, ergreift die Initiative und bittet Blonde um Verzeihung, Belmonte tut es ihm nach, und zwar mit der gleichen Melodie, als könnte er von seinem Diener lernen, wie man sich in einer misslichen Situation wie dieser hilft. Konstanze greift Belmontes Tonfall auf und führt ihn in empfindsamen Gesten weiter. Blonde hingegen reagiert vollkommen anders, und Mozart unterstreicht dies in zweifacher Hinsicht: Nur Blonde singt im 12/8-Takt und nur sie hat ein von nur wenigen Pausen unterbrochenes

Feuerwerk verbaler Tiraden zu singen, die sich gegen Pedrillo richten – unverkennbar eine Reminiszenz an ihre Auseinandersetzung mit Osmin (»Ich gehe doch rate ich dir«).

PEDRILLO UND BELMONTE Ach verzeihe! Ich bereue!

KONSTANZE UND BLONDE Ich verzeihe Deiner Reue!

Auch in der letzten eindringlichen Bitte um Verzeihung, dieses Mal von Belmonte initiiert, entsprechen sich die Tonfälle von Herrn und Diener. Wie dringend diese Bitte ist, lässt Mozart aus dem Orchester heraus spürbar werden: Über einen Orgelpunkt synkopieren stark dissonierende Akkorde in den Streichern und erheben sich Beschwörungsgesten gleiche Drei- und Vierklangsbrechungen in den Holzbläsern – eine musikalische Verdichtung, wie sie sich im Quartett an keiner anderen Stelle findet. Die Antwort der Frauen ist frappierend: Der gespannten Aufregung der Männer setzen sie gefasste Ruhe entgegen, indem sie die Worte, mit denen sie ihr Verzeihen bekunden, in langen ruhigen Notenwerten und in der Form eines Miniaturkanons singen, nur von den beiden Violinen in der unteren Oktave verdoppelnd unterstützt. Bei dem Wort »Reue« tritt allerdings das Tutti des Orchesters hinzu und unterstreicht die Bedeutung dieses Worts.

Mit den Worten »Wohl, es sey nun abgethan!«, bei denen die vier Personen sich endlich wieder musikalisch und textlich vereinigen, wird das Geschehene formelhaft beschwörend abgeschlossen. Mozart lässt die Worte zunächst aber wie furchtsam gestammelt singen, jeden Ton und jede Silbe von den anderen durch eine Pause trennend – die Erschütterung durch das, was soeben durch den Akt des Verzeihens ein Ende gefunden hat, ist noch zu spüren. Erst in einem zweiten Anlauf finden die Vier zueinander.

Es lebe die Liebe! Nur sie sey uns theuer Nichts fache das Feuer Der Eifersucht an.

Der Schluss greift die musikalische Verzeihensgeste der Frauen auf: Mozart lässt die Worte »Es lebe die Liebe« in langen Notenwerten und in einer Art Kanon vortragen. Das Tempo ist allerdings von Allegretto zu Allegro beschleunigt und die begleitenden Stimmen des Orchesters, vibrierende Achtel in den Violinen vor allem, evozieren einen vollkommen anderen Charakter, den einer von den Spannungen des Vorangegangenen befreiten Euphorie. Gleichwohl klingt in der neu gewonnenen Emphase die Erfahrung der Krise nach: Die Bedrohung durch das »Feuer der Eifersucht«, die durch den Akt

des Verzeihens gerade noch gebannt wurde, vereinigt die Liebenden, die die Verneinung »nichts« geradezu formelhaft beschwören.

Eine soziale Utopie?

Im Quartett in der Entführung aus dem Serail sind Herren und Diener vereint. Mozart und Stephanie akzentuieren den Standesunterschied, indem sie Blonde und Pedrillo – zumindest zu Beginn – anders handeln und reden lassen als Konstanze und Belmonte. Diener und Zofe weisen aber zugleich viele Parallelen zu ihren Herrschaften auf, deren Handlungen in ihrem eigenen Verhalten gleichsam komplementär gespiegelt wird. Am Ende des Quartetts aber, nachdem beide Paare gemeinsam eine existenzielle Krise überwunden haben, sind die Standesunterschiede aufgehoben.

Neben dem Libretto von Mozarts Oper und der Vorlage von Christoph Friedrich Bretzner werden in diesem Text folgende Werke zitiert:

Wolfgang Hildesheimer, Mozart, Frankfurt a. M. 1977 Wolfgang Oberhoff, Wolfgang A. Mozart. Die Entführung aus dem Serail. Ein psychoanalytischer Opernführer,

Gießen 2008 Denis Diderot, Paradoxe sur le comédien. Édition critique et annotée, Paris 1995 Georg Knepler, Wolfgang Amadé Mozart. Annäherungen, Berlin 1991 Adolph Freiherr von Knigge, Über den Umgang mit Menschen [nach der 3. Aufl. Hannover 1790], Frankfurt am

Main 2001 Jörg Krämer, Deutschsprachiges Musiktheater im späten 18. Jahrhundert. Typologie, Dramaturgie und Anthropologie einer populären Gattung, Tübingen 1998, Bd. 1 Daniel Heartz, Mozart’s Operas, Berkeley u.a. 1990 Lisette Oropesa (Konstanze) und Christian Nickel (Bassa Selim) →

Michael Laurenz und Regula Mühlemann als Pedrillo (Sänger) und Blonde (Sängerin), davor Ludwig Blochberger als Pedrillo (Schauspieler)

Nun sitze ich wie der Haaß im Pfeffer – über 3 wochen ist schon der Erste Ackt fertig – eine aria im 2ten Ackt, und das Saufduet (per li Sigri vieneri) welches in nichts als in meinem türkischen zapfenstreich besteht ist schon fertig; – mehr kann ich aber nicht davon machen – weil izt die ganze geschichte umgestürzt wird – und zwar auf mein verlangen. – zu anfange des dritten Ackts ist ein charmantes quintett oder vielmehr final – dieses möchte ich aber lieber zum schluß des 2t Ackts haben. um das bewerksteligen zu können, muß eine grosse veränderung, Ja eine ganz Neue intrigue vorgenommen werden – und Stephani hat über hals und kopf arbeit. da muß man halt ein wenig gedult haben.

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