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Deconstructing Singspiel → David J. Levin

DECONSTRUCTING SINGSPIEL

Zwischen Schau-Spielen und Singen

Hans Neuenfels’ Inszenierung der Entführung aus dem Serail ist ebenso erstaunlich wie verwirrend. Zum Teil liegen die Gründe hierfür auf der Hand: Neuenfels kürzt den Dialogtext radikal und fügt eigenen Text hinzu. Darüber hinaus wird jede Rolle, mit Ausnahme des Bassa Selim, verdoppelt, so dass sich eine Sängerin oder ein Sänger und eine Schauspielerin oder ein Schauspieler eine Rolle teilen. Auf diese Weise entsteht ein Überfluss, wo der Operntext sonst einen Mangel aufweist: Während der Bassa normalerweise als Schauspieler verstanden und besetzt wird, dem eine Gesangsstimme fehlt, wird hier jede andere Hauptrolle durch einen Schauspieler bzw. eine Schauspielerin ergänzt. Nicht die Verdopplung der Hauptrollen oder die Eingriffe ins Libretto sind jedoch das Auffälligste an dieser Inszenierung, sondern die atemberaubenden theatralen Erfindungen, die Neuenfels aus dem Stück entwickelt. Einige davon können auf den Text des Werks und seine Dramaturgie zurückgeführt werden, was sie nicht weniger überra-

schend macht. Wenn wir beispielsweise Osmin in der zweiten Szene des ersten Akts erstmals begegnen, singt er das Lied »Wer ein Liebchen hat gefunden« und holt dabei Körperteile einer anscheinend vor kurzem abgeschlachteten Frau aus einer osmanischen Truhe und liebkost diese. So ergibt sich ein grausamer Kommentar auf den Liedtext, in dem davon die Rede ist, dass man sein Liebchen »mit tausend Küssen belohnen« soll. Osmin erscheint hier als eine Art böswilliger Gast aus Roland Barthes’ Welt des Wrestlings – was natürlich mit seinen in Arienform geäußerten Fantasien von Enthaupten, Erhängen, Spießen, Verbrennen, Fesseln, Ertränken und Häuten zusammenhängt.

Neuenfels konzentriert sich nicht auf mögliche Berührungspunkte zwischen der Türkei des 18. Jahrhunderts und heute. 40 Jahre nach Edward Saids Orientalismus sind die ideologischen Anteile der »Türkenopern« hinreichend bekannt. Neuenfels’ Inszenierung erkundet weniger bekanntes Terrain: Statt sich auf die Politik des Orientalismus zu fixieren (z.B. was es bedeutet, Osmin und Selim als »Türken« darzustellen), erforscht sie das, was wir die Politik der orientalistischen Form nennen können (z.B. was es bedeutet, Selim als eine Sprechrolle zu konzipieren). Dabei macht uns die Inszenierung auf die formalen Bedingungen des Werkes, auf die Unterscheidungen und Beziehungen zwischen Schauspiel- und Gesangskunst aufmerksam. Neuenfels setzt die Entführung, die oft sehr leichtgewichtig daherkommt, in einen konzeptuellen (und bisweilen auch thematischen) Zusammenhang mit weitaus sperrigeren Stücken wie etwa Schönbergs Moses und Aron.

In Moses und Aron stellt Schönberg die Unterscheidung zwischen Moses’ heiligem, transzendentalem und Arons profanem, alltäglichem Streben als Bruch zwischen Diskursen dar: Während Moses seine heilige Botschaft in einer höchst maniriert gesprochenen, mehr oder weniger unverständlichen, orakelhaften und unpopulären (sprich: Schönberg’schen) Form kundgibt, singt Populist Aron mit und zu den Massen – leicht, flüssig, verständlich (gemeint ist: in einer ästhetisch einen Kompromiss eingehenden und politisch wirksamen Form). Auch wenn die Unterschiede zu Mozarts Werk in vielerlei Hinsicht nicht größer sein könnten, zeigt Neuenfels’ Inszenierung, dass die Themen des Singspiels und von Schönbergs Oper durchaus verzahnt sind. Mozarts Werk erscheint in der Neuenfels-Inszenierung nicht fragmentiert wie Schönbergs Oper, sondern vielmehr gespalten. Dieser Eindruck folgt aus der Logik des Werkes im Allgemeinen und aus der Figur des Bassa Selim im Besonderen. Als eine Sprechrolle verkörpert Selim die Trennung des gesprochenen Wortes von der Musik. Er verkörpert nicht nur die Stimme eines an die Macht gelangten »Fremden«, sondern darüber hinaus die Macht einer fremden Stimme – nämlich die Macht einer Sprechstimme auf der Opernbühne. Man kann sagen (oder besser gesagt: die Binsenweisheit wiederholen), dass Selim die Rolle eines Sprechers der Aufklärung übernimmt. Aber was bedeutet es für die Aufklärung, wenn sie in einer Oper durch

Sprache charakterisiert und dadurch zugleich in ihrem Anspruch beschnitten wird? Und wenn Selim für die Aufklärung spricht: Welche Funktion hat dann der Gesang in diesem Stück?

Die kulturelle Konnotation verschiedener Arten des Stimmgebrauchs hat eine lange Geschichte. Die Gesangsstimme wird dabei tendenziell mit Transzendenz und Rausch assoziiert, die Sprechstimme mit eher funktionalen, rationalen Aufgaben und einer Tendenz zu Analyse. Während die musikalische Stimme meist in Opposition zu Wort und Gesetz gestellt wird, richtet der Philosoph Mladen Dolar unsere Aufmerksamkeit auf eine andere Stimme mit denselben Qualitäten, die die entgegengesetzte Funktion erfüllt: »Aber es gibt auch noch eine andere Stimme: die Stimme des Vaters, die Stimme, die von Natur aus mit dem Logos verhaftet ist, die Stimme, die befiehlt und bindet, die Stimme Gottes … Das Gesetz selbst, in seiner reinen Form, bevor es etwas Besonderes befiehlt, ist verkörpert von der Stimme, der Stimme, die totales Einverständnis befiehlt, obwohl sie in sich sinnlos ist.« So kommt es zu einem Kampf der Stimme (als der sinnlosen Trägerin des Genießens) gegen die Stimme (des Vaters).

Ich möchte behaupten, dass die Neuenfels-Inszenierung dieses Modell »der Stimme gegen die Stimme« aufgreift und zum »dramaturgischen Motor« der Inszenierung macht. Dabei hinterfragt die Inszenierung den Status von Selims Sprechstimme ebenso wie den der verschiedenen anderen Stimmen, also die Sprech- und die Singstimme der einzelnen Figuren, die Stimme des Orchesters im Unterschied zur Sprechstimme oder im Einklang mit der Gesangsstimme usf. Die Neuenfels-Entführung problematisiert die Bestandteile des Singspiels, indem sie nach den Unterschieden zwischen Singen und Spielen und zwischen einer verführerischen Singstimme und der Stimme des Vaters fragt; sie richtet unsere Aufmerksamkeit auf die Brüche, auf die Spannungen und auf den Austausch zwischen diesen Stimmen.

Wenn sich der Vorhang im ersten Akt hebt, erkennt man im Dunkeln eine männliche Figur vor einem großen, dreidimensionalen, blau angeleuchteten Schmetterling. Der Schmetterling ist vermutlich die Bühnenbildgewordene Metapher aus Osmins Lied »Wer ein Liebchen hat gefunden«, in dem es heißt: »Schließ’ er Liebchen sorglich ein: | Denn die losen Dinger haschen | Jeden Schmetterling und naschen | Gar zu gerne von fremdem Wein.« In Osmins (wachsamen) Augen sind Pedrillo und Belmonte natürlich »Schmetterlinge«, nach denen Blonde und Konstanze haschen wollen. Gleichzeitig verweist die Raupe auf das Motiv der Verwandlung, das sich mehrfach in der Inszenierung findet, von Bassa Selims Metamorphose von einem Terroristen zu einem aufgeklärten Herrscher bis zur Spaltung der Rollen in Schauspieler und Sänger. Die männliche Figur in der Dunkelheit der Bühne erweist sich nicht als Belmonte, sondern als zwei Belmontes: als Sänger und direkt dahinter stehender Schauspieler, der während der ersten Arie die Gesten des Sängers spiegelt.

Dass die Schauspieler und Sänger der gleichen Figur die Gesten des jeweils anderen spiegeln, ist die Ausnahme und nicht die Regel; denn beide sind deutlich voneinander unterschiedene Personen – sie interagieren miteinander, handeln oder singen aber auch autonom. Nur selten stimmen sie in Handlungen und Verhalten überein. Die beiden Belmontes mögen ähnlich aussehen – sie haben ungefähr dieselbe Größe und Statur, tragen denselben Schnurrbart und denselben schwarzen, spanischen Anzug und Hut –, aber sie haben sehr unterschiedliche Rollen. Die beiden Osmins sind von äußerst verschiedener Statur, und eine Konstanze ist blond, die andere brünett. Die beiden Pedrillos sind sich ihrer selbst am deutlichsten bewusst: Bei ihrem ersten Auftritt streiten sie sich, wem die erste Äußerung zusteht.

Neuenfels streicht rund die Hälfte des gesprochenen Textes (wobei der Text, den Mozart vertont hat, unberührt bleibt). Stattdessen fügt Neuenfels einerseits zusammengefasste Informationen ein, die für die Handlung wichtig sind, andererseits zusätzliches Material, das sich mit dem Unterschied zwischen Gesang und Schauspiel (sowie zwischen Sängerrolle und Schauspielerrolle) beschäftigt. Indem die Inszenierung diese Unterschiede theatralisch behandelt und explizit macht, lenkt sie unsere Aufmerksamkeit auf eine Reihe von Problemen, die sonst nur implizit im Werk enthalten sind und daher meist übersehen werden. Im Ergebnis wird klar, dass Sänger und Schauspieler in Mozarts Werk dasselbe Territorium bewohnen, aber auf verschiedene Weise. Ich möchte die Behauptung aufstellen: Auch wenn die zum Teil recht drastischen Änderungen des gesprochenen Textes von Neuenfels stammen, fokussieren sie auf strukturelle und dramatische Koordinaten, die für Mozarts Werk essenziell sind. Hier haben wir es mit einem Beispiel dessen zu tun, was man radikale Werktreue nennen könnte: Es ist eine Treue zur Struktur des Werks, in der die Eingriffe auf Textebene, die die Geschlossenheit des Textes scheinbar missachten, in Wahrheit seine immanente Logik auskristallisieren.

In dem Ausschnitt, den ich hier zur Betrachtung vorschlage, wird der Bruch zwischen Schauspielern und Sängern nochmals im Bühnenbild verdoppelt: Etwa acht Meter hinter dem Proszenium der Hauptbühne befindet sich eine zweite, erhöhte Bühne, also ein Theater auf dem Theater. Während die Hauptbühne gleichermaßen dem Singen wie dem Spielen dient (und deren Konkurrenz untereinander), hat die zweite Bühne eine andere Funktion: Dieser Ort ist dieser Konkurrenz räumlich und konzeptionell enthoben. Die hintere Bühne, die wie eine Opera-seria-Bühne aussieht und funktioniert, verleiht der Spaltung des Stückes eine physikalische, ja wahrhaft theatralische Form: So wird das Singen bisweilen im wahrsten Sinne des Wortes erhöht (und doppelt theatralisiert durch die Bühne auf der Bühne), während das Spielen – das Material des Dramas, sein narratives telos und seine Handlung – unten stattfindet.

Beide Auftritte des Janitscharenchors sind auf die hintere Bühne verlegt, ebenso – wenn auch aus anderen dramaturgischen Gründen – die Auftritte von Konstanze bei »Welcher Wechsel herrscht in meiner Seele« und von Blonde für »Welche Wonne, welche Lust«. In beiden Fälle fungiert die hintere Bühne als ein Ort über und jenseits der alltäglichen Konkurrenz zwischen Spielen und Singen, die auf der Hauptbühne stattfindet. Die hintere Bühne dient als hervorgehobener und unangefochtener Ort musikalischer Darstellung.

Dies möchte ich an Belmontes und Konstanzes Rezitativ und AbschiedsDuett »Welch ein Geschick! O Qual der Seele!« demonstrieren. Diese Szene verdeutlicht Neuenfels’ Unterscheidung zwischen Sprechen und Singen und welche Implikationen sie für die Dramaturgie des Werkes hat. Die hier geäußerte Absicht des (Sänger-)Liebespaares, gemeinsam zu sterben, entsetzt die versammelte Truppe der Schauspieler(innen) und Sänger(innen), die auf der Hauptbühne zurückbleiben – nicht nur Belmontes und Konstanzes Doubles, sondern auch ihre Begleiter (beide Pedrillos und Blonden). Die Inszenierung materialisiert die gattungsspezifischen Ursprünge dieses Moments, seine Begründung durch – oder besser: seine stratosphärische Flucht in – eine herausfordernde, antirationale Musikalität. Die hier hergestellte Topographie von Gesang und Schauspiel ist mehr als ein cleverer Einfall, denn sie macht uns auf die dramaturgische Konstruktion des Werkes aufmerksam, auf die Architektur entscheidender Momente und besonders auf die entscheidenden Brüche: Brüche in der Struktur des Werkes (zwischen Wort und Musik) und seiner Logik, beispielsweise nicht nur zwischen Belmonte und Pedrillo, sondern auch zwischen Belmonte und Belmonte, mit einem Belmonte als Schauspieler, der das Prinzip vernünftiger Zurückhaltung verkörpert, und einem Belmonte als Sänger, der eine kompromisslos antirationale Musikalität darstellt.

Indem Neuenfels einzelne musikalische Nummern auf der hinteren Bühne inszeniert, verleiht er ihrer Herausgehobenheit einen Ort. Hier erleben wir eine lyrische Rezitation, die sich räumlich wie dramaturgisch vom Schauspiel abgrenzt. Auf diese Weise führt die Neuenfels-Inszenierung uns mittels der Architektur die Einzigartigkeit von Konstanzes und Belmontes ekstatischem Todeswillen vor Augen und, wichtiger noch, vor Ohren. Durch die zweite Bühne kann der Wechsel vom Spielen zum Singen sowie vom funktionalen Drama zur puren Musikalität eine materielle Form annehmen. Die Inszenierung macht uns außerdem implizit auf die Politik dieser Zone aufmerksam, das heißt auf die Frage, wer Zugang zu ihr hat und wem dieser verweigert wird. Indem die Inszenierung den Sänger-Belmonte auf der hinteren Bühne situiert und sie ihm überlässt, verdeutlicht sie, dass der Gesang mit der Aufhebung des Spiels verbunden ist.

Auch die letzte Strophe des Quartetts am Ende des zweiten Akts ist durch eine Aufhebung des Dramas charakterisiert: Der Raum wird einer Feier der

Liebe in einem italienischen Finale überlassen, das Schauspiel zugunsten des musikalischen Vortrags quasi verlassen. Neuenfels inszeniert dieses Verlassen, indem er es buchstäblich umsetzt: Während sich die Stimmen des Orchesters sowie der Sängerinnen und Sänger verbinden, begeben sich die Sängerinnen und Sänger für eine kurze konzertante Darbietung ins Orchester. Hier wird die Auflösung des Dramas und der sie begleitende Ausbruch des musikalischen Vortrags inszeniert, indem die Bühne nach vorn ausgeweitet und durch die allmähliche Vereinigung mit dem Orchestergraben in ein Konzertpodium umfunktioniert wird.

Wenn Neuenfels den Großteil der Aktion auf der Hauptbühne lokalisiert, gibt er die Spaltung zwischen den verschiedenen Bezirken nicht auf, sondern artikuliert sie nur anders. Denn wie bereits angedeutet, existiert ebenso eine Spaltung innerhalb der Hauptbühne: eine interne Spaltung, die wir als charakteristische Spaltung des Singspiels selbst bezeichnen könnten. So wie die hintere Bühne (und zumindest zeitweise die Vorder- oder Konzertbühne am Ende des zweiten Aktes) als Platzhalter eines Raumes vor oder jenseits von Narration dient, können wir die Hauptbühne als Raum bezeichnen, in dem die Probleme der Gattung ausgearbeitet werden. Die Hauptbühne ist damit ein Ort, an dem nicht nur über das Singspiel verhandelt wird, sondern an dem diese Verhandlung auch als Singspiel stattfindet. Im Gegensatz dazu ist die hintere Bühne mit dem Gang ins Orchester am Ende des zweiten Aktes vergleichbar, nämlich als Ort von unbestrittener – und oftmals unmotivierter – musikalischer Äußerung.

Dramaturgie der Aufklärung

Wie bereits ausgeführt, verknüpft die Neuenfels-Inszenierung eine Reihe von Gegensätzen in Mozarts Werk – z.B. zwischen Europäern und Türken, Aufklärung und Barbarei – mit dem Gegensatz zwischen Sprechen und Singen. Einige dieser Verknüpfungen sind lediglich implizit. Ein Beispiel: Bleiben die hintere Bühne und der Raum des Orchesters den Europäern vorbehalten, werden auf der Hauptbühne die Spannungen zur Schau gestellt – zwischen Ost und West, aber auch zwischen Mann und Frau, zwischen fremd und vertraut –, die sinnbildlich für den Kampf um die Herrschaft über Normen und Zeichen der Aufklärung stehen. So zeigt die Inszenierung (ohne es heraus zu posaunen), dass die Substanz musikalischer Reflexion den Europäern vorbehalten ist.

Die Entführung aus dem Serail offeriert bekanntlich eine Lektion in Sachen Zivilisation. Die Neuenfels-Inszenierung schärft die Inhalte dieser Lektion, indem sie ihre gewalttätigen Auswirkungen unterm Mantel der europäischen Zivilisation darstellt. Indem Bühne und Spieler getrennt werden, macht sie uns auf die Verteilung der Ressourcen innerhalb des Werkes auf-

merksam: Wer erhält was und wie erhält er es? Die hintere Bühne macht gewissermaßen die Wirkung dieser Verteilung sichtbar; die Hauptbühne stellt ihre Bedingungen dar. Was auf der Hauptbühne vor sich geht, suggeriert wiederholt, dass sich eine Beherrschung von Formen – seien es die Formen der aufgeklärten Zivilisation oder die Formen des Singspiels – in Herrschaft übersetzt.

Bevor Selim den Zeichen der Barbarei abschwört, um am Ende des Werkes als vollkommener Rationalist der Aufklärung zu erscheinen, bedienen sich die Europäer der Zeichen ihrer Zivilisation, um diejenigen zu überlisten und zu erniedrigen, die die genauen kulturellen Anforderungen nicht kennen. Es stellt sich heraus, dass sie dies tun, um die Zweifel, die wiederholt in ihrem musikalischen Material ausgedrückt werden, auf die »Türken« zu übertragen. So etwa am Beginn des zweiten Aktes, wenn Blondes pädagogische Arie »Durch Zärtlichkeit und Schmeicheln« Osmin lehrt, wie eine ›europäische Dame‹ zu behandeln ist. In Neuenfels’ Darstellung dieser Arie wird Osmin (Sänger) eingeladen, die beiden Pedrillos dabei zu beobachten, wie sie Blonde (Sängerin) bei der komplizierten Toilette einer Dame des 19. Jahrhunderts assistieren. Osmins Einführung in die Welt der Raffinesse ist offensichtlich eine Lektion über seine eigene Ignoranz. Die Darstellung wird so zu einem Echo der Pädagogik der Arie: Die Unterscheidung zwischen Könnern und Nichtkönnern (oder zwischen Zivilisierten und Barbaren, Europäern und Türken) wird durch Manieren erzeugt und durch Musik vorgeführt.

Eine andere Szene arbeitet mit einer ähnlichen Logik. Am Ende des ersten Aktes versuchen Pedrillo und Belmonte, an Osmin vorbei in den Palast einzudringen. Aber selbst als Pedrillo und Belmonte Osmin musikalisch involvieren, bleibt Letzterer ungerührt und unerschütterlich. Diese Sackgasse ist dadurch ausgedrückt, dass Belmonte und Pedrillo auf Osmins musikalisches Material antworten, ohne dieses zu verändern. Im Verlauf dieser Konfrontation teilen sich Osmin, Belmonte und Pedrillo im Wesentlichen also das textliche und musikalische Material. Eine kurze Betrachtung von Text und Musik offenbart, dass es sich nicht um den allerkultiviertesten Meinungsaustausch handelt:

BELMONTE UND PEDRILLO Wir gehn hinein! OSMIN Sonst schlag’ ich drein.

BELMONTE UND PEDRILLO Wir gehn hinein! OSMIN Sonst schlag’ ich drein.

BELMONTE UND PEDRILLO Wir gehn hinein! OSMIN Sonst schlag’ ich drein.

In der Neuenfels-Inszenierung wird die textliche und musikalische Sackgasse nicht etwa dadurch durchbrochen, dass Belmonte und Pedrillo Osmin einfach beiseitestoßen, wie es die Regieanweisung vorschlägt, sondern indem sie Zeichen der europäischen Zivilisation einführen: Mit einem Teleskop und einem Warhol-ähnlichen Bild einer drallen Rothaarigen gelingt es den Pedrillos und Belmontes, die beiden Osmins abzulenken, die sich von diesen Objekten erst verwirren und dann faszinieren lassen. Durch die Einführung dieser Requisiten grenzen sich die Europäer sowohl buchstäblich als auch sinnbildlich von ihrem »primitiveren«, »ignoranten« osmanischen Hemmschuh ab. In diesem Konflikt am Ende des ersten Aktes (wie auch in der gesamten Inszenierung) verändert die Einführung der Musik die Bedingungen der Auseinandersetzung, während die spätere Einführung kultureller Artefakte aus der »zivilisierten Welt« die Sackgasse durchbricht. Diese Szene offeriert einen seltenen Moment von »Sing-spielen«, in dem dramatische und musikalische Erfindung im Dienste der europäischen Sache stehen.

Die Europäer, die singen und spielen können, unterscheiden sich in bedeutendem Maße von Selim, dessen gesprochene Reflexionen durchdacht, aber durch den fehlenden Rückhalt der Musik unterlegen sind. Aber auch das Gegenteil kommt vor: die Osmin zur Verfügung stehenden Mittel musikalischen Ausdrucks unterscheiden sich deutlich von Form und Inhalt »europäischer« Musik. Osmin besitzt eine Menge musikalisches Material, welches wiederum charakterisiert wird durch seinen außerordentlichen Stimmumfang – aber sowohl musikalisches Material wie Stimmumfang repräsentieren Kategorien von Quantität, nicht Qualität: Als psychologischer Charakter ist und bleibt Osmin roh und unkultiviert. Dazu ein Beispiel: Im Verlauf seines Duetts mit Blonde »Ich gehe, doch rate ich dir« (2. Akt, 1. Szene) ist Osmins Andante »O Engländer, seid ihr nicht Toren« uncharakteristisch sanft, geradezu verinnerlicht. Aber es bleibt melodisch wie harmonisch elementar und stellt das simple Bassfundament zu Blondes ausgestalteten, provokanten und vergleichsweise kultivierten melodischen Umspielungen dar. Osmins Passage ist eine neue psychologische (und damit dramaturgische) Farbe, ein Modus von Innerlichkeit, der ansonsten nicht aus Osmins Worten und Musik herauszuhören ist. Aber selbst diese Innerlichkeit und Reflexion dienen nur dem Ausdruck seiner Bestürzung, dass Blonde unwillig ist, seinen Anordnungen zu folgen. Nicht, dass Osmin kein Innenleben hätte, aber der Ausdruck seiner Innerlichkeit und seiner Absichten wird als unbeholfen markiert.

Die Inszenierung macht jedoch auch deutlich, dass diejenigen, die die Zeichen der Aufklärung als Waffe vor sich hertragen, zugleich unter ihren Bedingungen leiden. Denn während die Türken in diesem Werk auf verschiedene Weise als unmusikalisch oder nichtmusikalisch präsentiert werden, werden die Europäer in ihrem Zugang zur Musik als durch Zweifel zerrissen gezeigt. Auf diese Weise verdeutlicht die Inszenierung, dass, während die

Europäer mit ihrer Kultur Macht ausüben, diese Kultur gleichzeitig auch Macht über sie ausübt. Belmontes Ankunft löst eine Kette von Zweifeln aus, die vor allem um die Treue kreisen. Die Musik gibt dem Zweifel eine Stimme, z.B. in Belmontes Rezitativ und Arie Nr. 4 »O wie ängstlich« (1. Akt, 7. Szene) sowie im Final-Quartett des zweiten Aktes, Nr. 16 »Ach Belmonte, ach mein Leben!«. Selim mag das Sprachrohr der Aufklärung sein, aber indem er nicht singt, steht er ihren existenziellen Ängsten fern. Man könnte behaupten, dass seine formale Situation (als anderer gegenüber dem Singen) mit seiner politischen Situation (als anderer gegenüber europäischer Macht) korreliert und darüber hinaus als Inszenierung seiner psychologischen Situation (als anderer gegenüber europäischem Zweifel) angesehen werden kann. In der Neuenfels-Inszenierung trägt Selim – aber nicht nur er – diese Unterschiede quasi als Kostüm.

Inszenierte Fallstricke der Aufklärung

Wie so oft in Komödien (und immer in Neuenfels’ Inszenierungen) wird auch im Kostüm (Bettina Merz) die Identität der Figuren überhöht und der Affekt inszeniert. Dies trifft am offensichtlichsten auf Osmin zu, dem bösen osmanischen Pendant zum aufgeklärten Adel des Bassa. Wie bereits angedeutet, scheinen beide Osmins direkt aus der Bösewicht-Umkleide des World-Wrestling-Entertaiments zu kommen: Sie tragen eine rote osmanische Leibbinde und darunter einen hautengen beigen Körperanzug, der mit exotischen, osmanisch anmutenden Tätowierungen bedruckt ist. Der erste Auftritt des Janitscharen-Chors im ersten Akt ist auf der gleichen Ebene reißerischer Fantasie angesiedelt: Sie tragen aufgespießte Köpfe und Babys auf Pfählen und ihre Kostüme lassen sie wie Comic-Darstellungen osmanischer Barbaren erscheinen. Am Ende des Werkes kehren sie in Smoking und Abendkleidern zurück und markieren damit ihre Übereinstimmung mit einem neuen Regime der Aufklärung.

Diese Kostüme sind nicht nur starke visuelle Statements, sondern auch von der dramaturgischen Logik der Inszenierung her gut lesbar. Abgesehen von dem vorhersehbaren Comic-Erscheinungsbild der beiden Blondinen als Personifikation eines englischen Dienstmädchens, machen auch die Kostüme der übrigen Hauptdarsteller sie zu Comic-Figuren, mit der möglichen Ausnahme von Selim und Konstanze. Beide Pedrillos erscheinen als froufrouinfizierte Wunderknaben aus dem 18. Jahrhundert (mit üppigem blonden Haar und rosa Rüschen), im Gegensatz zum machohaften und spanischen Charme der beiden Belmonte-Zorros. Konstanze hingegen ist die am wenigsten verzerrte Figur der Gruppe: Sie erscheint als Verkörperung der Lieblichkeit in ihrer zeitgenössischen europäischen Form. Wie der Chor spielt auch Bassa Selim in einem gespaltenen Körper, wie er sonst durch die Ver-

doppelung der Rollen entsteht: Er erscheint auf der Bühne zunächst als charismatischer moderner Terrorist à la Abu Nidal oder Carlos der Schakal, der inmitten seiner Gefolgschaft herumschleicht, eine schwarze Skimaske und einen schwarzen Trenchcoat trägt und die ohnmächtige Konstanze-Schauspielerin im Arm hält. In der letzten Szene verdeutlicht Selims Outfit seinen Identitätswechsel: Er erscheint im Frack. In diesem Sinne könnte man sagen, dass Selim die Entwicklung vom Terrorismus zum väterlichen Gesetz verkörpert – er taucht zunächst als Gesetzloser auf, um schließlich nicht nur im Namen des Vaters, sondern als Name des Vaters zu erscheinen.

Eine lyrische Stimme des Vaters?

Etwas Merkwürdiges ereignet sich am Ende der Oper: Die Gegensätze, die in der Aufführung kultiviert wurden, z.B. die zwischen türkischen Despoten und europäischen Adligen oder zwischen Singen als Mittel lyrischer Transzendenz und Spielen als Mittel der Repräsentation von Handlung, werden aufgelöst, fallengelassen oder sogar verkehrt. Auf diese Weise wird das Singspiel de-konstruiert: Seine Bestandteile werden hinterfragt, aber nur, um sie am Ende wieder zusammenzufügen.

Selims abschließende – und natürlich gesprochene – Zeilen nähern sich einem musikalischen Zustand an. In der auffälligsten von Neuenfels’ Neuerungen im Text wird Selims Abwendung vom osmanischen Despotismus hin zur aufgeklärten Vernunft durch eine stilistische Wendung vom funktionalen gesprochenen Text zur poetischen Rezitation verdoppelt. Nach dem Finale lässt Neuenfels Selim als eine Art Epilog ein Gedicht von Eduard Mörike rezitieren. Nachdem er von allen gefeiert wurde (merkwürdigerweise auch von Osmin, den Mozart in den Refrain des Finales einstimmen lässt), winkt Selim den Applaus sowohl auf der Bühne als auch im Zuschauerraum ab und rezitiert Mörikes unerbittliches Gedicht »Denk’ es, o Seele«. Das Gedicht, etwa 70 Jahre nach der Uraufführung von Mozarts Singspiel verfasst, erschien in Mörikes Hommage an den Komponisten Mozart auf der Reise nach Prag. Dieser Text, erklärt Selim, sei auf seine Weise so schön wie die Musik.

Nicht nur durch diesen Regie-Eingriff verliert Mozarts Werk einen Großteil seiner bekannten und gewollt komischen Qualität. An ihre Stelle tritt eminente Verzweiflung, die mehrere Gründe hat: Die Europäer wurden entführt und gefangen gehalten und sie werden von Zweifeln an der gegenseitigen Treue geplagt; Selim und Osmin sind auf verschiedene Weisen traurig darüber, von den Objekten ihres Begehrens zurückgewiesen zu werden. Die Inszenierung verdeutlicht, dass die Hauptrollen im Stück – Belmonte und Konstanze, aber nicht nur sie – nicht einfach nur in ihren eher fadenscheinig konstruierten Rollen gefangen sind. Tatsächlich erscheint Gefangenschaft

als unpassender Begriff für den Zustand der Hauptrollen, wenn man bedenkt, dass die Inszenierung die Rollen aufteilt. Aber die Charaktere werden durch diese Aufteilung nicht befreit. Stattdessen dient sie dazu, die Bedingungen ihrer Begrenzung zu verdeutlichen. Dies bringt uns zum zweiten Effekt, der durch Mörikes Gedicht produziert wird, in diesem Fall ein dramatischer Effekt innerhalb der Figuren. Denn als Selim sein Gedicht rezitiert, und vor allem wenn er erwähnt, dass es von Mörike ist, leben die Schauspieler(innen)-Doubles der Europäer – Pedrillo, Belmonte und Blonde – merklich auf. Das Ende stellt so für einen Moment ein – zumindest annäherndes – diskursives Gleichgewicht her, durch einen gesprochenen Beitrag, von dem man behaupten kann, dass er sich auf Augenhöhe mit Mozarts Erfindungskraft bewegt. Nach Selims Rezitation geht Konstanze (Sängerin) bewegt auf ihn zu und dankt ihm.

Parallel zur politischen Wende vollzieht sich hier ein Gattungswechsel: Jenseits des bekannten Coups de théâtre, in dem sich der Despot als aufgeklärter als die Europäer erweist, nähert sich hier das Gesprochene einem Zustand von Gesang. Ein einziges Mal werden die Sängerinnen und Sänger durch Text bewegt, anstatt dass umgekehrt die Schauspielerinnen und Schauspieler durch Gesang verdrängt oder einfach überflüssig gemacht werden. Am Ende ist das Stück also in einer Art diskursivem Zwischenraum zwischen Singen und Sprechen, zwischen Aufklärung und Barbarei, zwischen Türkei und Europa aufgehoben.

Kann Poesie eine lyrische Stimme des Vaters konstituieren? Kann Musik – getrennt von, erhaben über und jenseits eines Raumes des Dramas – nichtsdestotrotz der Sache eines logophilen, wenn nicht logozentrischen Dramas dienen? Dies sind die Fragen, die Neuenfels’ Entführung in zwingender Weise stellt. Gleichzeitig fordert die Inszenierung uns in einem allgemeineren Sinne heraus. Denn es gibt nicht nur vieles, dass neu gehört, sondern ebenso vieles, dass neu überdacht werden muss.

Christian Nickel als Bassa Selim, Christian Natter als Belmonte →

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