Programmheft »Iolanta«

Page 1

PIOTR I. TSCHAIKOWSKI

IOLANTA


INHALT

S.

4

DIE HANDLUNG S.

6

ÜBER DIESES PROGRAMMBUCH S.

9

»WAS BEDEUTET DAS WIRKLICH?« EVGENY TITOV IM GESPRÄCH S.

17

DIE BÖSEN CORMAC MCCARTHY S.

20

SPINOZAS ETHIK & TSCHAIKOWSKIS MUSIK TUGAN SOKHIEV S.

25

SOUND & VISION JULYA RABINOWICH S.

30

EINEN MANN TÖTEN DIETMAR DATH

S.

52

IOLANTAS OPTIONEN MARINA FRENK S.

60

TIMAIOS PLATON S.

62

ZEIT, ORT & SICHT NIKOLAUS STENITZER S.

69

36

BRIEF ÜBER DIE BLINDEN, ZUM GEBRAUCH FÜR DIE SEHENDEN DENIS DIDEROT

»ICH FÜHLE, DASS ICH AUS KÖNIG RENÉS TOCHTER EIN MEISTERWERK MACHEN KANN« KADJA GRÖNKE

DIE FUSSSPUREN EINES ROLLSESSELS ANDREAS LÁNG

S.

S.

44

»ICH WEISS, DASS ICH MICH MIT DER ZEIT BEHAUPTEN WERDE.« BRIEFE PIOTR I. TSCHAIKOWSKIS

S.

S.

70

76

IN EWIGEN GÄRTEN THEA VON HARBOU S.

80

IMPRESSUM


Вернись назад исполненный боязни, Сюда нельзя войти под страхом смертной казни. Kehre um, von Schauder ergriffen. Wer hier eintritt, wird mit dem Tod bestraft. INSCHRIFT AN IOLANTAS ROSENGARTEN, 6. SZENE


PIOTR I. TSCHAIKOWSKI

IOLANTA LYRISCHE OPER in einem Akt Text MODEST TSCHAIKOWSKI nach KÖNIG RENÉS TOCHTER Schauspiel von HENRIK HERTZ

ORCHESTERBESETZUNG 3 Flöten (3. auch Piccolo), 2 Oboen, Englischhorn, 2 Klarinetten, 2 Fagotte, 4 Hörner, 2 Trompeten, 3 Posaunen, Tuba, 2 Harfen, Pauken, Streicher

AUTOGRAPH

RUSSISCHES NATIONALMUSEUM FÜR MUSIK, MOSKAU (ausgenommen Vaudémonts Romance, No. 6a)

ZENTRALE MUSIKBIBLIOTHEK DES MARIINSKI-THEATERS, SANKT PETERSBURG (Vaudémonts Romance, No. 6a) URAUFFÜHRUNG 18. DEZEMBER 1892 Mariinski-Theater, Sankt Petersburg ÖSTERR. ERSTAUFFÜHRUNG 22. MÄRZ 1900 K. u. K. Hofoperntheater SPIELDAUER

1 H 30 MIN

KEINE PAUSE




DIE HANDLUNG Iolanta lebt verborgen von der Welt in einem zauberhaften Rosengarten. Beschützt und umsorgt von ihrer Amme Marta und deren Mann Bertrand, unterhalten von Brigitta, Laura und anderen Freundinnen. Doch sie fühlt, dass etwas nicht stimmt und wirft ihren Freundinnen vor, ihr etwas zu verheimlichen. Bertrand und Marta erklären dem königlichen Waffenträger Almerik Iolantas Lage: Sie ist von Geburt an blind. Ihr Vater, König René, hält sie vor der Welt verborgen. Ihr Verlobter von Kindheit an, Herzog Robert von Burgund, soll nichts von ihrer Blindheit erfahren. Sie selbst wird über ihre Lage im Unklaren gehalten. In ihrer Gegenwart darf nicht vom Sehen oder Licht die Rede sein. Almerik kündigt die Ankunft des Königs in Begleitung des Arztes Ibn-Hakia an. Der Arzt soll die Fähigkeit besitzen, Iolantas Blindheit zu heilen. Als der König und Ibn-Hakia eintreffen und der Arzt die schlafende Iolanta gesehen hat, erklärt er, die Prinzessin müsse über ihren Zustand aufgeklärt werden. Der Wunsch zu sehen ist Bedingung für die Heilung, Seele und Körper müssen in Einklang gebracht werden. Ibn-Hakia will bis zum Abend im Schloss des Königs dessen Entscheidung erwarten. Der König kann sich nicht vorstellen, Iolanta über ihr Schicksal aufzuklären. Durch das Dickicht um Iolantas Garten kämpfen sich Herzog Robert und sein Begleiter und Freund Graf Vaudémont. Robert hat sich in eine andere Frau verliebt und will von König René die Auflösung der Verlobung mit Iolanta erbitten. Trotz eines Warnschildes, das jeden Eindringling in den Garten mit dem Tod bedroht, gehen die beiden Freunde weiter und finden im Garten die schlafende Iolanta vor. Vaudémont ist bei ihrem Anblick wie hypnotisiert. Robert warnt und vermutet einen Zauber hinter dem Schlaf der Schönen.

Vorige Seiten: SONYA YONCHEVA als IOLANTA DARIA SUSHKOVA als LAURA MARIA NAZAROVA als BRIGITTA CHOR & STATISTERIE der WIENER STAATSOPER

4


DIE HANDLUNG

Iolanta erwacht und freut sich über den Besuch der Fremden. Während sie ihnen Wein holt, macht sich der misstrauische Robert aus dem Staub, um Verstärkung zu holen. Vaudémont irritiert Iolanta mit seinen Komplimenten – immerhin kennt er sie ja noch gar nicht. Der Ritter will sie nicht weiter bedrängen und bittet sie, ihm zum Abschied und zur Erinnerung eine Rose zu pflücken. Als sie ihm trotz wiederholter Aufforderung statt einer roten Rose immer wieder eine weiße gibt, begreift Vaudémont Iolantas Situation. Er klärt sie über ihre Blindheit auf. Sie könne, erklärt er, die Vorzüge der Schöpfung nicht vollständig erfassen, ohne das Licht – »Gottes erstes Werde« – zu sehen. Iolanta widerspricht und gibt ihre eigenen vielfältigen Sinneseindrücke zu bedenken. Er hat aber Gefühle in ihr geweckt und sie möchte sehen können, was er sieht. Der Hofstaat, der König und der Arzt suchen rufend nach Iolanta. Der König ist außer sich, den fremden Ritter bei ihr zu finden. Auf seine Nachfrage erklärt Iolanta, nun über das Wunder des Lichts unterrichtet zu sein. Der König macht Iolanta mit dem Arzt und dem Plan zu ihrer Heilung vertraut. Als diese erklärt, den Wunsch nach etwas, das sie nicht kenne, nicht verspüren zu können, zweifelt IbnHakia dem König gegenüber an der Möglichkeit zur Heilung. Der König greift zu einer List: Wenn die Heilung nicht gelinge, solle Vaudémont hingerichtet werden. Er ist schließlich dem Verbot zum Trotz in den Garten eingedrungen. Iolanta will das unbedingt verhindern und erklärt sich mit der Behandlung durch Ibn-Hakia einverstanden. Der König entschuldigt sich bei Vaudémont für seine frühere Ungehaltenheit und das Todesurteil. Es sei richtig gewesen, Iolanta über Blindheit und Licht aufzuklären. Vaudémont bittet um Iolantas Hand. Der König lehnt mit Verweis auf die Verlobung mit Robert ab. Robert ist zurück und bittet den König, ihn für Mathilde freizugeben. Der König willigt ein und verspricht Vaudémont, ihm Iolanta zur Frau zu geben, sofern sie geheilt wird. Vaudémont möchte die Prinzessin in jedem Fall heiraten, auch wenn sie blind bleibt. Bertrand meldet die vollzogene Heilung. Ibn-Hakia führt Iolanta herein. Sie kann sehen. Alle preisen Gott und das Wunder der Heilung.

5


ÜBER DIESES PROGRAMM- BUCH »Ihr verheimlicht mir etwas!« Iolanta, Tochter des Königs René von Provence, ist blind und hellsichtig zugleich. Der König enthält ihr entscheidende Informationen vor: Weder weiß sie von ihrer Blindheit, noch von ihrem königlichen Stand. Wenn sie ihre Ahnung äußert – ahnt sie, dass sich ihre Wahrnehmung von der der anderen unterscheidet? Oder ahnt sie etwas ganz anderes? Darüber hat sich Regisseur Evgeny Titov Gedanken gemacht. »Ich glaube, sie sagt, ich spüre, etwas stimmt nicht mit der Welt.«, sagt Titov im Gespräch mit Dramaturg Nikolaus Stenitzer (S. 9). Der Regisseur spricht darin über seinen Zugriff auf Tschaikowskis letztes Opernwerk, den Gewinn aus der Zusammenarbeit mit seinen Sängerdarstellerinnen und -darstellern – und die Geheimnisse und Gefahren der Regiearbeit. Was stimmt, was stimmt nicht? Die Schriftstellerin Julya Rabinowich nimmt die Ungewissheit, in der Iolanta gehalten wird und die die bedeutende Grundlage für Evgeny Titovs Inszenierung bildet, zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen. In dem Essay der Schriftstellerin (ab S. 25) geht es um nicht weniger als die Kontrolle der Realität – auch und gerade in Zeiten, in denen diese Kontrolle so umkämpft scheint wie lange nicht.

Premierendirigent Tugan Sokhiev weist in seinem Beitrag (S. 20) auf Piotr Tschaikowskis tiefe Verehrung für Wolfgang Amadeus Mozart hin, die ihm für die Interpretation von Tschaikowskis Werken einen wichtigen Hintergrund liefere. Sokhiev erläutert darüber hinaus Besonderheiten des atmosphärischen Komponierens in Iolanta und weist auf den Einfluss der Philosophie Baruch de Spinozas auf das Werk ebenso hin wie auf historische Verweise. Kadja Grönke, Musikwissenschaftlerin, ausgewiesene Tschaikowski-Expertin und Gründungs- und Vorstandsmitglied der Tschaikowski-Gesellschaft e.V., analysiert in ihrem Beitrag (ab S. 36) die Spezifika und Hintergründe des von Sokhiev beschriebenen »Atmosphärischen« in der Iolanta-Partitur ebenso wie die Feinheiten im Übergang von der Schauspielvorlage der Oper, Henrik Hertz’ Schauspiel Kong Renés Datter (König Renés Tochter, 1845) zu Modest Tschaikowskis Libretto und die Konsequenzen für Piotr Tschaikowskis Komposition. Der historische Rahmen von Hertz’ Schauspiel und in der Folge von Modest Tschaikowskis Libretto bildet den Ausgangspunkt des Beitrags von Nikolaus Stenitzer (ab S. 62). Die spärlichen historischen Daten über Jolande von Loth-

6


ÜBER DIESES PROGRAMMBUCH

ringen (frz. Yolande d’Anjou, 1428–1483), auf die Vorlagenautor Henrik Hertz sein Schauspiel stützte, werden darin mit Ideen von Herrschaft und für Hertz und Tschaikowski wichtigen philosophischen Theorien über Licht und Erkenntnis in Verbindung gesetzt. Herrschaft ist auch ein zentrales Thema in dem Beitrag der Schriftstellerin und Schauspielerin Marina Frenk (S. 52). Sie wagt ein Gedankenexperiment: Wie wird es weitergehen, nachdem Iolanta das Sehen gelernt hat? Wird sie sich dem Einfluss ihres königlichen Vaters entziehen können und wollen? Die Tradition der Iolanta-Aufführungen an der Wiener Staatsoper ist schnell beschrieben: Seit der von Gustav Mahler initiierten und großteils di-

rigierten Premierenserie 1900/1901 gab es im Haus am Ring keine einzige Vorstellung mehr. Andreas Láng schreibt in seinem Beitrag (ab S. 70) über die Umstände der Erstaufführung und Mahlers Faszination für das Werk. Faszination und Verzweiflung sprechen aus den Briefen, in denen Piotr Tschaikowski über die schwierige Komposition von Iolanta schreibt. Eine Zusammenstellung findet sich ab S. 44. Was wird Iolanta sehen, wenn sie ihren Rosengarten verlässt? Evgeny Titovs Inszenierung macht Andeutungen über diese Frage. In diesem Programmbuch spinnen Auszüge aus Romanen von Cormac McCarthy, Dietmar Dath und Thea von Harbou diese Andeutungen weiter.

7


KOPFZEILE

8


NIKOLAUS STENITZER IM GESPRÄCH MIT EVGENY TITOV

»WAS BEDEUTET DAS WIRKLICH ?« ns

Was waren deine ersten Eindrücke beim Hören von Iolanta? et Zunächst war es für mein Empfinden von Musik toll und auch interessant, erstmals eine Oper in meiner Muttersprache zu inszenieren. Es ist anders, wenn man beim Hören wirklich jedes Wort versteht. Und dann war mein Eindruck, dass es sehr »Tschaikowski« ist, so komisch das klingen mag. Dass es ganz, ganz tolle Arien gibt. Eine davon war auch eine Überraschung: Der erste Satz in Roberts Arie, »Kto mozhet sravnit’sya s Matil’doy moyey« [»Wer kann sich mit meiner Matilda vergleichen«], ist in Russland eine Art geflügeltes Wort, das sich verselbstständigt hat. Leute benutzen es als Redewendung, ohne noch den Kontext zu kennen. ns So wie im Deutschen »Mein lieber Schwan«? et So in der Art. Ich war sehr überrascht, dass diese Arie aus Iolanta stammt (lacht). Und ja, um zurückzukommen zu den Höreindrücken, natürlich ein unheimlich beeindruckendes Finale. ns Ein gutes Stück? et Es ist sicher ein gutes Stück, es ist kein leichtes Stück. Iolanta ist so eine lineare Geschichte. Die Gefahr ist, dass man das gesehen hat und denkt: »Ich

war im Theater, das war jetzt ein Märchen, das war schön, sie haben gesungen, sie hat am Anfang nicht gesehen und dann hat er gesagt: Jetzt musst du sehen, und dann hat sie gesagt, na gut, für die Liebe werde ich sehen. Wunder, Wunder – sie sieht. Na und?« ns Der Weg vom Nicht-Sehen zum Sehen ist aber ziemlich kompliziert? et Das stimmt, da steckt wahnsinnig viel drin. Aber bei der ersten Begegnung mit dem Stück habe ich mir den Spannungsbogen angesehen, und ich hatte eben diese Frage: »Was könnte ich als Regisseur damit machen?« Natürlich erschließt sich dann schnell die ganze Komplexität von Sehen und Nicht-Sehen, und man versteht, was an dem Stück interessant ist. Aber mein erster Eindruck ist vielleicht die Antwort auf die Frage, warum diese Oper nicht so oft inszeniert wird – nicht, weil sie musikalisch nicht interessant ist, denn das ist sie. Aber man fragt sich: Wie kann man das so inszenieren, dass es wirklich fesselnd ist? ns Wie kann man? et Ich finde es jetzt unheimlich interessant. Wir sind so tief eingetaucht, ich kann lange darüber philosophieren... aber wir haben auch viele Aspekte in

SONYA YONCHEVA als IOLANTA, DARIA SUSHKOVA als LAURA MARIA NAZAROVA als BRIGITTA, CHOR & STATISTERIE der WIENER STAATSOPER

9


EVGENY TITOV IM GESPRÄCH

den Proben herausgefunden, die mich überrascht haben. Sonya Yoncheva, unsere Premieren-Iolanta, hat zum Beispiel bei den Proben etwas gesagt, das mich total fasziniert hat. Sie meinte: »Natürlich liebt mich mein Vater, der König. Aber er schämt sich für mich. Ich bin nicht vollständig, weil ich blind bin.« Ich hatte das so noch nie gedacht. Und zugleich hatte ich mit unserem René Ivo Stanchev ganz stark an einer Obsession mit Iolantas Blindheit und Heilung gearbeitet. Einfach aus einer Intuition heraus. Ich glaube ja, Intuition spielt in der Kunst eine größere Rolle als Wissen. Aber als Sonya das so auf den Punkt brachte, war das einer der Momente, in denen ich mir dachte: Dieses Stück ist so komplex, so raffiniert, so vielfältig. Im Nachhinein scheint es mir auch vollkommen logisch: Die Figur des Königs, die sich nicht abfinden kann mit einer Tochter, die nicht perfekt ist – und der sie zugleich sehr liebt. Das ist nur ein Beispiel dafür, dass diese Geschichte so reich ist. ns Bleiben wir noch einen Augenblick bei der Figur des Vaters, des Königs. Du hast in den ersten Proben intensiv mit den Sängerinnen und Sängern die Konflikte und die Charaktere besprochen, teilweise in lebhaften Diskussionen. Die Motivation des Königs war eines der ersten Themen. et Der Vater ist vollkommen besessen, so sehr, dass er nicht mehr darauf achtet, welche Mittel er verwendet, um an sein Ziel zu kommen, und wie er handelt. Ich finde den Gedanken von Sonya grandios, zu sagen, er schämt sich. So funktioniert Psychologie manchmal: Man hält das eine für das andere. Man sagt: »Ich möchte mit dir

befreundet sein«, und dann findet man heraus, ich möchte überhaupt nicht mit dieser Person befreundet sein, sondern sie erinnert mich an meinen verstorbenen Bruder. Und so ist das auch bei dieser Vaterfigur. Die Grenze zwischen seiner Liebe zu seiner Tochter und seinen anderen Motivationen verschwimmt. ns Was er für Liebe hält, ist eigentlich etwas anderes? et Ja, das finde ich an dieser Vaterfigur eben wahnsinnig spannend. Alles, was widersprüchlich ist, ist spannend. Alles, was widersprüchlich ist, hat ein Volumen. Je größer die Widersprüche, umso größer das Volumen, und bei ihm ist das diese Gewalt und diese Kraft zu zerstören, auch zu schützen, aber auch so radikal, dass es fast wie Geiselnahme aussieht, wie Gewalt: Er geht auf die Knie und sagt: »Du musst helfen, und wenn du nicht hilfst, schmeiß ich dich an die Wand.« Das ist doch unheimlich interessant, unbalanciert, unharmonisch! Er ist auch eine Figur, die leidet, weil sie ihre eigenen Fehler erkennt. Tschaikowski hat das auch komponiert: Die Bandbreite in der Arie des Königs geht von einer Tiefe, die sich fast nicht mehr singen lässt, bis zu einer Höhe, die sich fast nicht mehr singen lässt. Bis zum hohen F. So hat Tschaikowski ausgedrückt, wie sehr diese Figur sich quält. Für mich war es unglaublich, das zu erleben: Man arbeitet, man entwickelt gemeinsam, man findet den Charakter, man stellt ein Muster fest – und dann bekommt man diese Bestätigung, direkt aus der Partitur, das ist einfach faszinierend. Natürlich kann man auch sagen, man sieht einfach in die Partitur, da steht es ja klar und deutlich drin, und schon hat man den Charakter. Aber so funktioniert Theater nicht. In der Theorie ist das ja schön, aber nicht in

10


»WA S B E DE U T E T DA S W I R K L IC H ?«

der Praxis. Man muss psychophysisch darauf kommen, bei den Proben. Und ich fand es so aufregend, das auf diese Weise zu erfahren: als würde man gerade nach dem Weg fragen wollen, und dann kommt ein Schild, und du bist absolut richtig unterwegs. ns Wir haben vor Probenbeginn darüber gesprochen, dass du sehr genau mit dem Text umgehst und deine Inszenierung aus der Textarbeit entwickelst. Was du jetzt beschreibst, ist aber bei der Probenarbeit auch deutlich zu sehen: Du inszenierst unheimlich stark aus der Musik heraus. Du kommst ursprünglich vom Schauspiel. Woher kommt die musikalische Intuition? et Ich glaube, es ist mir nicht bewusst. Ich sitze nicht und denke »ach so, ich erkenne«. Es macht etwas mit mir. Und das Wichtige daran ist grundsätzlich: du arbeitest an dem Stück, aber das Stück arbeitet auch an dir. Und das Stück hat auch seine eigene Dynamik. Der größte Fehler in der Regie ist, einfach dem zu folgen, was man irgendwann entschieden hat. Natürlich ist es verständlich, das zu tun, man hat wenig Zeit. Aber das Stück, das zeigt dir auch, wohin es gehen muss. Und darauf muss man achten, das ist eigentlich das Wichtigste, wesentliche. Und es ist wahnsinnig anstrengend, immer dieses Sensorium zu haben, immer dieses Hören, Hören, Hören, das ist unheimlich anstrengend und kräftezehrend. Aber dann arbeitet man und folgt dem Stück und es passiert etwas, und man denkt: Spannend, vielleicht wird niemand im Zuschauerraum das verstehen, aber es kommt aus dem Stück, es ist in der DNA und das ist die Arbeit, das ist, was ich meine. Ich arbeite an dem Stück und das Stück arbeitet an

uns allen. So, wie ich mir bei unserer Inszenierung denke: Wir haben lange geplant, dass da ein Teich ist und dass wir mit Einflüssen von Botticelli in den Kostümen arbeiten, aber dann probt man zwei Wochen, und auf einmal kommt diese Idee: Es gibt doch von Botticelli auch dieses Gemälde, die Geburt der Venus. Und wir haben ja schon den Teich und wir haben die Botticelli-Einflüsse, und auf einmal kommt etwas zusammen, das ich mir so vorher nie überlegt hatte. Dann denkt man plötzlich: Ich bin jetzt nicht an einer Produktion, sondern ich bin gerade in einer Welt, die sich um mich herum entwickelt, und es macht so wahnsinnig Spaß und man wird so frei, und nur wenn man frei ist, passieren solche Sachen wie die, die uns passiert sind. ns Was an deiner Beschreibung auffällt ist etwas, das man auch bei deiner Arbeit auf der Probe sieht: Alles geht über sehr viel Energie, die von dir auf die Sängerinnen und Sänger überspringt. Es ist erstaunlich, dass das mit allen Beteiligten klappt. Hast du ein Geheimnis? et Ja, Liebe. Die müssen spüren, dass du das meinst, was du sagst, dass es dir wichtig ist und dass du das tatsächlich liebst. Wenn sie spüren, dass du sie wirklich lieben möchtest, dass du es auch meinst, wenn du wirklich zu jedem Einzelnen sagst, »wir werden jetzt ... du und ich, wir werden … das muss so schön mit uns sein!« … Und wenn sie das wirklich merken und verstehen, es ist nicht »fake«, dann sind sie … ns Dann machen sie auf? et Dann sagen sie: »Endlich!« Denn sie lernen ja immer schon in der Ausbildung, vorsichtig zu sein, sich zu schützen. Wenn du aber kommst und das zeigen kannst, was ich beschrieben

11


EVGENY TITOV IM GESPRÄCH

habe, dann kommt es auch an. Ich fange wirklich da an, ich sage, ich liebe, was ich mache, ich liebe das, es gibt nichts Besseres im Leben. Ich kann es mit Torte beschreiben. Ich liebe Torte, und da steht eine große Torte, eine Sachertorte und du sagst, »ach, so lecker!« Und eben nicht: »Ok, lass uns was kochen und was zusammen essen, weil es die Zeit ist, es ist Abendzeit. Du weißt, es ist sieben Uhr, ich weiß, es ist sieben Uhr, wir müssen essen, lass uns kochen«, nein! Man muss kommen mit großem Appetit und sagen: »Das ist das Lieblingsgericht! Für dich und für mich!« Nicht, weil du es unterschrieben hast und ich auch und es ist Abendessenzeit und Appetit haben wir nicht. Sondern wir sagen: »Nein, das ist jetzt Geburtstag!« ns Jeden Tag Geburtstag? et So ungefähr. ns Das ist anstrengend, oder? et Gesundheitsschädlich. Kunst, das ist so wie mit Schleifpapier eine Oberfläche schleifen. Je schneller du dich reibst, umso schneller bist du weg. Und je sensibler du bist und je raffinierter du bist, je schöner du bist, aus je schönerem Material du gemacht bist, umso schneller … Wenn du dich richtig auf die Oberfläche legst, mit Vollkontakt, dann musst du schauen, wie lang das hält. ns So, wie du arbeitest, kannst du nur sehr fest reiben und sehr schnell reiben. et Weil nur dann die schönste Oberfläche entstehen kann. ns Sprechen wir noch über das Sehen. Vaudémont ist in unserem Stück die Figur, die Iolanta erzählt, was Sehen und was Licht ist. Du hast aber mal auf einer Probe erzählt, vielleicht weiß Iolanta viel mehr als Vaudémont über die Welt.

et Sie weiß anderes. Er sagt zu ihr: »Wie kannst du die Welt richtig kennen, ohne sehen zu können?« Und sie sagt: »Um etwas Bestimmtes zu begreifen, um die Schöpfung zu begreifen, braucht man diesen Sinn nicht unbedingt.« Eine These dazu kann auch sein: vielleicht steht er sogar im Weg. Was Iolanta versucht und wovon sie spricht ist, die Sachen wahrzunehmen, wie sie sind, das ist wahnsinnig spannend. ns Was glaubst du, warum sie ganz am Anfang sagt: »Ich merke, dass etwas nicht stimmt«? und »Ihr verheimlicht mir etwas«? et Es gibt zwei Thesen. Eine klassische, würde ich sagen: Ich spüre, ich bin kurz davor, Frau zu sein oder ich bin Frau geworden, ich habe etwas in mir, ich weiß nicht, was das ist. Was sich dann herausstellt als die Liebe, Emanzipation: Ich trenne mich vom Vater und werde vollständig vom Kind zu einer Frau. Ich gehe vom Vater zu meinem Liebhaber. Ich versuche in meiner Inszenierung etwas anderes: Ich glaube, sie sagt, ich spüre, etwas stimmt nicht mit der Welt. Marta macht auch gleich am Anfang einen Fehler – vielleicht ist es nicht der erste solche Fehler, aber im Stück ist es der erste. Iolanta fragt, warum sie weint, und Marta sagt: »Wie kann ich nicht weinen, wenn du weinst?« Aber natürlich dürfte Marta gar nicht wissen, dass Iolanta weint. Sie hat ihr Gesicht nicht berührt. Und Iolanta kann die Welt nur taktil erfahren. ns Du hast auch von anderen Unstimmigkeiten gesprochen, die nicht nur logische Fehler sind? et Ja, zum Beispiel, wenn Iolanta Marta bittet, ihr ein Lied zu singen, und sie sagt zu Iolantas Freundinnen Laura und Brigitta: »I vy sa noj pojte.« – »Und ihr singt mit.« Iolanta sagt sofort,

12


»WA S B E DE U T E T DA S W I R K L IC H ?«

dass die beiden das langweilen würde, und sie wehren sich dagegen, »nein, nein, nein, wie kannst du das sagen?« Aber sie kennt sie ja und sie weiß, etwas an ihnen ist »fake«. Das spürt Iolanta. Und dann kommt Vaudémont – und der klingt komplett echt. Er klingt ganz anders. Er sagt nicht: »Willst du dies, willst du das«, sondern er nimmt sie wahr. Und darum verliebt sie sich in ihn. ns Das heißt, du inszenierst auch hier, was du hörst – aber auch etwas mehr, als an der Oberfläche zu hören ist? Als ein Beispiel fällt mir der Blumenchor ein, den du mit deinem Choreographen Otto Pichler inszeniert hast. Das sieht nicht so süß aus, wie man es vielleicht erwarten würde, wenn man eine Aufnahme gehört hat. et Ich bin überzeugt davon, dass man dem Stück nicht gerecht wird, wenn man einfach »eins zu eins« inszeniert und den Kontext nicht mitdenkt. Es wäre nicht nur eine uninteressante Inszenierung, sondern es würde Iolanta dumm erscheinen lassen. Nicht wach genug, nicht sensibel genug. Kein komplexer Mensch. ns Tatsächlich stellen sie die Tschaikowskis gerade als eine besonders sensible Figur dar. et Absolut. Und das muss sich dann auch in dem ausdrücken, wie sie diesen Moment erlebt. Das ist eine Wahrnehmung, die aus dem Stück kommt. Das ist wichtig für mich. Manchmal sagen wir auf der Bühne: »Ich bringe dich um«, und man versteht gar nicht, was das bedeutet. Dann muss man kurz stoppen und sagen: Was bedeutet das wirklich? Wenn König René sagt, ich habe eine tolle Idee, ich motiviere dich,

indem ich dich glauben lasse, ich bringe deinen neuen Freund um, und wir sehen: Sie glaubt das auch! Wieviel hat er eigentlich bei ihr kaputtgemacht, dass sie, wenn sie erfährt, dass sie blind ist, sich nicht beschwert, nicht sagt: »Weißt du, was für ein Arschloch du bist? Du hast mich jetzt 40 Jahre oder 25 Jahre angelogen!« Sondern sie sagt: »Mein Vater! Weißt du, ich habe jetzt so viel erfahren, das ich von dir gar nicht wusste. Du wolltest ihn umbringen, aber schön, dass ich dich jetzt sehe, das bist du.« Schon ganz am Anfang des Stücks hat sie gesagt, dass ihr etwas verheimlicht wird. Und jetzt erfährt sie, was, und reagiert so. Was bedeutet das wirklich? Das sind die Dinge, die man wahrnehmen muss. Und ich glaube, das meinen die Leute, die über meine Arbeit sagen, dass ich in die Auseinandersetzung mit dem Werk gehe. ns Du hast jetzt noch ein Stichwort genannt: die Wahrnehmung. Die Besonderheit an deinem Zugriff ist auch, dass du gesagt hast, der König möchte, dass seine Tochter sieht, aber er möchte entscheiden, was sie sehen kann. et Das ist das Paradox, das viel weiter geht, als man erst denkt. Iolanta soll sehen lernen, erst dann wird sich ihr Vater nicht mehr für sie schämen. Wenn sie aber die Wahrheit nicht kennt, kann sie auch nicht sehen: das sagt Ibn-Hakia. Und das ist einfach ein genialer Konflikt: Erst am Sehen gehindert werden, dann wieder sehen müssen. Ich habe nicht gleich begriffen, was dahintersteckt, aber ich hatte die Intuition, dass es darum gehen muss. ns Gerade im letzten Bild musst du dieses »sie sieht etwas, und womöglich mehr, als sie sehen soll« gegen einen riesengroßen

13


»WA S B E DE U T E T DA S W I R K L IC H ?«

Schlusschor inszenieren, der Gott dankt. Hat dieser Chor deine Intuition angefacht, hat er dich herausgefordert, dem etwas entgegenzusetzen? et Eher umgekehrt. Ich habe Musik gehört und ich habe gedacht: Das ist die Wahrheit, die auf dich kommt. Was ich darin gehört habe, war der Schock, das Auf-die-Knie-Gehen vor etwas, das

gnadenlos ist und nicht süß, sondern … das dich fertig macht. Und dann kommt ein Moment, in dem ist es, als würde die Musik sagen: So ist das, so ist die ganze Welt. Das ist ganz deutlich zu hören. ns Also einmal mehr: Die Inszenierung entsteht aus der Musik. et Es ist alles in der Musik, wenn es ein guter Komponist ist. Man muss nur die Ohren aufmachen.

14

DMYTRO POPOV als GRAF VAUDÉMONT


15


KOPFZEILE

16


CORMAC MCCARTHY

DIE BÖSEN Sie marschierten los, die ungepflasterte Straße entlang über einen Hügel, wo einmal ein Haus gestanden hatte. Es war vor langer Zeit abgebrannt. Im schwarzen Wasser des Kellers stand die verrostete Form eines Heizkessels. Eingedellt auf den Feldern, wo der Wind sie hingeweht hatte, Stücke von verkohltem Dachblech. In der Scheune ergatterten sie auf dem staubigen Boden eines Stahlblechsilos ein paar Handvoll irgendeines Getreides, das er nicht erkannte und das sie mitsamt dem Staub an Ort und Stelle aßen. Dann machten sie sich über die Felder auf den Weg zur Straße. Sie folgten einer Steinmauer, vorbei an den Überresten eines Obstgartens. Die Bäume in ihren ordentlichen Reihen verkrümmt und schwarz, der Boden dicht mit abgebrochenen Ästen bedeckt. Er blieb stehen und blickte über die Felder. Wind im Osten. Die weiche Asche in den Furchen bewegte sich, kam zum Stillstand, bewegte sich erneut. Er hatte das alles schon gesehen. Auf den Grasstoppeln Formen aus getrocknetem Blut und Eingeweideschlingen, wo man die Erschlagenen ausgeweidet und fortgeschleppt hatte. Die Mauer dahinter zierte ein Fries von Menschenköpfen, lauter gleiche Gesichter, vertrocknet und eingefallen, mit straffem Grinsen und tief eingesunkenen Augen. Sie trugen Goldringe in ihren Lederohren, und IVO STANCHEV als KÖNIG RENÉ, ATTILA MOKUS als IBN-HAKIA DANIEL JENZ als ALMERIK, MONIKA BOHINEC als MARTA STATISTERIE der WIENER STAATSOPER

das schüttere, strähnige Haar auf ihren Schädeln flatterte im Wind. Die Zähne in ihren Höhlen wie Abgüsse, die primitiven Tätowierungen mit irgendeinem selbstgebrauten, im spärlichen Sonnenlicht verblassten Waid eingeritzt. Spinnen, Schwerter, Zielscheiben. Ein Drache. Runenhafte Slogans, falsch geschriebene Glaubenssätze. Alte Narben mit alten, an den Rändern eingestochenen Motiven. Den nicht völlig zertrümmerten Köpfen hatte man die Haut abgezogen, die nackten Schädel waren bemalt und auf der Stirn mit einem Krakel signiert, ein weißer Knochenschädel hatte sorgfältig mit Farbe nachgestochene Nähte, wie bei einer Bauanleitung. Er blickte zu dem Jungen zurück. Der stand neben dem Wagen im Wind. Er betrachtete das trockene, sich leicht bewegende Gras und die dunklen, verkrümmten Bäume in ihren Reihen. Ein paar an die Mauer gewehte Kleiderfetzen, alles grau von Asche. Er ging die Mauer entlang, kam zu einer letzten Inspektion an den Masken vorbei und gelangte durch einen Durchlass zu der Stelle, wo der Junge wartete. Er legte ihm den Arm um die Schultern. Okay, sagte er. Gehen wir. Inzwischen sah er in jeder derartigen Episode der jüngsten Vergangenheit eine Botschaft, eine Botschaft und eine Warnung, und als solche erwies

17


DIE BÖSEN

sich auch das Tableau der Erschlagenen und Gefressenen. Als er am Morgen erwachte, sich, in die Decke gewickelt, umdrehte und zwischen den Bäumen hindurch die Straße entlangblickte, auf der sie gekommen waren, sah er die ersten Viererreihen der Marschierenden auftauchen. In Kleidern aller Art, jeder mit einem roten Halstuch. Rot oder Orange, Farben, die Rot möglichst nahekamen. Er legte dem Jungen die Hand auf den Kopf. Pst, sagte er. Was ist denn, Papa? Leute auf der Straße. Lass den Kopf unten. Sieh nicht hin. Kein Rauch von dem toten Feuer. Vom Wagen nichts zu sehen. Er schmiegte sich an den Boden, beobachtete sie über seinen Unterarm hinweg. Eine Armee in Tennisschuhen, mit schwerem Schritt. In den Händen einen Meter lange Stahlrohrstücke, mit Leder umwickelt. Kordeln an den Handgelenken. Durch manche Rohrstücke waren kurze Ketten gefädelt, an deren Enden alle Arten von Knütteln befestigt waren. In wiegendem Gang, wie Spielzeuge zum Aufziehen, klirrten sie vorbei. Bärtig, ihr Atem wie Rauch vor ihren Mundschutzen. Pst, sagte er. Pst. Die folgende

Phalanx trug mit Bändern verzierte Speere oder Lanzen, die langen Spitzen in irgendeiner primitiven Schmiede im Landesinneren aus Lkw-Federn zurechtgehämmert. Der Junge barg völlig verängstigt das Gesicht in den Armen. Keine hundert Meter entfernt marschierten sie vorbei, sodass der Boden leicht bebte. Mit schwerem Schritt. Hinter ihnen kamen Karren, gezogen von angeschirrten Sklaven und hoch beladen mit Kriegsbeute, danach die Frauen, etwa ein Dutzend, einige davon schwanger, und zuletzt ein Reservekontingent von Lustknaben, für die Kälte zu dünn angezogen und um den Hals Hundehalsbänder, über die sie miteinander verbunden waren. Das Ganze zog vorüber. Sie lagen da und lauschten. Sind sie weg, Papa? Ja, sie sind weg. Hast du sie gesehen? Ja. Waren das die Bösen? Ja, das waren die Bösen. Gibt ganz schön viele von diesen Bösen. Ja. Aber jetzt sind sie weg. Sie standen auf, klopften sich die Kleider ab, lauschten der Stille.

18

SONYA YONCHEVA als IOLANTA


19


TUGAN SOKHIEV

SPINOZAS ETHIK & TSCHAIKOWSKIS MUSIK Sprechen wir über Tschaikowski und die russische Musik, so müssen wir im Auge behalten, dass er derjenige unter den großen Komponisten seines Landes war, der immer Richtung Westen blickte. Von hier kam seine musikalische Inspiration, von der Tradition Europas empfing er prägende Impulse. Und er bereiste diesen Kontinent kreuz und quer: Frankreich, Deutschland, Österreich, Italien… all diese Länder kannte und schätze er. Ein Komponist aus der Mitte Europas war ihm jedoch der allerwichtigste: Mozart. Und unter allen Werken dieses Komponisten war ihm eine Oper das Allerhöchste: Don Giovanni. Ja, selbst in der Stunde seines Todes soll eine Giovanni-Partitur in Griffnähe gelegen sein. Tschaikowskis Verbindung mit Mozart reicht aber weit über eine reine Verehrung hinaus. Es gibt eine enge Beziehung in Hinblick auf Rhythmus, die Klarheit der Struktur, die Genauigkeit der Artikulation und die Logik der Phrasierung, die diese beiden Komponisten verbindet. Tschaikowski bewunderte Mozart so sehr, dass er (unbewusst) immer versuchte, der ungemein kompakten und konzentrierten Klarheit der musikalischen Botschaft, der musikalischen Idee seines Idols zu fol-

gen. Wie schaffte es Mozart, die größten Dinge so einfach auszudrücken, diese Schwierigste aller Herausforderung in der Kunst? Wie ihm nachfolgen? Ohne Zweifel: Mozart war ein Vorbild für Tschaikowski. Was bedeutet das nun für uns Interpreten? Ganz einfach: Wir müssen beim Aufführen von Werken Tschaikowskis einen entsprechenden, von Mozart ausgehenden, Zugang wählen, egal, ob es sich um Opern, Symphonien, Konzerte oder Kammermusik handelt. Zwar hört man mitunter, vor allem bei älteren Aufnahmen, eine sentimentale Annäherung an seine Musik. Aber so ist Tschaikowski nicht. Es braucht keine Träne nach jeder Phrase! Was uns berührt sind die Harmonien, die Melodien, die klangliche Gesamtdramaturgie – nicht eine falsche Rührseligkeit. Hier hat sich auch in der russischen Interpretationspraxis in der letzten Zeit einiges geändert. Blickt man nun auf Tschaikowskis Schaffen bis Iolanta, so fällt auf, dass die meisten seiner Opern kein gutes Ende nehmen. Zentrale Figuren sterben, werden ermordet, lieben vergeblich, verzweifeln. Aber dann, bei Iolanta, findet er eine neue Sprache. Warum das? Tschaikowski war seit sei-

20


SPINOZAS ETHIK & TSCHAIKOWSKIS MUSIK

ner Kindheit ein sehr religiöser Mensch und wuchs in einer Welt des Glaubens auf, davon zeugt nicht zuletzt seine wunderbare sakrale Musik. Doch dann stößt er auf Spinozas Ethik – wir kennen aus seiner Bibliothek ein Exemplar dieses Buches, das der Komponist mit zahlreichen Anmerkungen versehen hat. In dieser Ethik wirft Spinoza ein damals grundstürzendes Gedankenmodell einer Universalität auf, das dem bisher herrschenden Dualitätsdenken, das zwischen Gott und dem Menschen, zwischen Natur und der Person, zwischen gut und böse trennte, entgegenstand. Unter dem Einfluss dieses großen, kühnen Philosophen schrieb Tschaikowski also seine Oper, die zwar eine Dualität in Form von zwei Welten – eine innere und eine äußere – ins Zentrum stellt, diese aber gleichzeitig als Teil eines Universalen denkt. Es gibt demnach die innere Welt der Iolanta und die sie umgebende – beide aber gehören zusammen und können nicht getrennt werden. Wir sehen also, dass Tschaikowski hier nicht nur die Geschichte einer blinden Frau erzählte, sondern sich mit großen philosophischen Fragen auseinandersetzte, die den Menschen in seiner Gesamtheit und seinem Wesen berühren. Das ist übrigens auch eine der ganz großen Herausforderungen für Interpreten dieser Oper: Es geht nicht nur darum, eine einfache, greifbare Handlung zu präsentieren, sondern darüber hinaus ins Philosophische, ja, auch Metaphysische zu greifen. Der Zug vom Dualen zum Universalen zieht sich durch das gesamte Werk und betrifft gerade auch die Glaubensebene: Während Iolanta dem christlichen Gott dankt, singt der Arzt Ibn-Hakia über die Größe Allahs. Auch wenn

es unterschiedliche Religionen sind, wird auf etwas Verbindendes hingewiesen. Ein eindrucksvolles musikalisches Beispiel, in dem Tschaikowski diesem Dualitäts-Universalitätsgedanken folgt, erleben wir in der Szene, in der Vaudémont erstmals Iolanta erblickt. Wir hören zweimal dieselbe Melodie, aber in unterschiedlichen Tongeschlechtern. Zunächst in Moll: Vaudémont weiß nicht, wer Iolanta ist, vielleicht eine Magierin? Er zweifelt. Und dann in Dur: er erkennt sie als Mensch. Zwei Klanggesichter – aber eine Melodie. Was mich stets fasziniert, sind die Details, mit denen Tschaikowski die Iolanta angereichert hat: zahllose Schichten, die es zu erforschen gilt, auch wenn sie für den reinen Handlungsablauf unwesentlich sind. Ein kleines Beispiel: In der Schlüsselszene, in der Vaudémont erkennt, dass Iolanta blind ist, bitte er sie, ihr eine rote Rose zu reichen. Sie reicht ihm eine weiße. Einfache Antwort: Weil sie blind ist. Aber ich sehe noch einen Aspekt, der mit den der Oper zugrundeliegenden historischen Figuren zu tun hat. Und zwar: Wenn wir weiße und rote Rose hören, denken wir sofort an die Rosenkriege – und tatsächlich, Margarete, die ältere Schwester Iolantas, heiratete König Heinrich VI. von England, der am Anfang der Rosenkriege stand. Und jetzt ist klar, warum Vaudémont die rote Rose haben will: Dieser Aspekt bezieht sich auf das Haus Lancaster, dem Heinrich VI. angehörte und dessen Symbol die rote Rose war. Diese Nuance hat Tschaikowski aus der Schauspielvorlage Vorlage von Henrik Hertz übernommen, nicht, weil sie für die Handlung von Bedeutung ist, sondern weil ihn die Mehr-, die Vieldeutigkeiten sowie die großen, universellen Zusammenhänge interessierten.

21


SPINOZAS ETHIK & TSCHAIKOWSKIS MUSIK

Und damit kommen wir wieder zur musikalischen Sprache Tschaikowskis in Iolanta. Wieder ein beredtes Beispiel: Die Handlung spielt laut Libretto im 15. Jahrhundert, und sie basiert wie erwähnt auf einem wahren historischen Kern. Aber anders als bei seiner Jungfrau von Orléans, in der er beinahe direkte Zitate aus historischen Ménestrel-Gesängen verwendete, um ein geschichtliches Kolorit zu erzeugen, setzte Tschaikowski in Iolanta keine Musikzitate aus alter Zeit ein: das Historisierende interessierte ihn nicht mehr. Stattdessen ging es ihm um einen mehrdimensionalen, umfassenden erzählerischen Zugang, der eher symbolistisch als realistisch-deskriptiv sein sollte. Wir sehen das auch an den Naturstimmungen. Tschaikowski verzichtete auf nachgeformte Naturlaute wie einen Kuckucksruf, vielmehr versucht er, eine Empfindung der Natur zu erzeugen, einen Eindruck, der uns an unsere eigenen Erfahrungen erinnert und diese aktiviert. Auch die Jagd-Hörner sind nicht als eine situationsgemäße 1:1-Darstellung zu verstehen, sondern dienen vielmehr als Symbol für die Aristokratie, dessen Zerstreuung die Jagd war. Im Sinne von: Hört, da kommt eine bedeutende Persönlichkeit! Atmosphäre also, nicht Abbildung. Genauso geht Tschaikowski bereits ganz zu Beginn der Oper vor. In der Introduktion hören wir – und das war damals etwas gänzlich Neues! – ausschließlich Blasinstrumente, die eine düster anmutende Stimmung evozieren: das ist das Dasein von Iolanta, da hört man ihre Zweifel und fühlt, dass sie in einer ganz eigenen, abgeschlossenen Welt lebt. Doch gleich danach eine gänzlich andere Schattierung: Wir hören die fröhlichen Gefährtinnen der

Prinzessin, erleben klanglich durch solistische Streicher und Harfen die Atmosphäre eines wunderschönen Gartens mit vielen Blumen, eine friedliche Umgebung, Idylle. Auch hier: kein musikalisches Abzeichnen, sondern das Erzeugen eines Gefühls. Wir wissen, dass Vaudémont in der Schauspielvorlage Tristan hieß, und tatsächlich fühlen sich viele schon bei den ersten Takten der Iolanta an Wagners Tristan und Isolde erinnert. Doch handelt es hier um kein direktes Zitat. Vielmehr denke ich, dass Tschaikowski, wie alle zu seiner Zeit, von Richard Wagner beeinflusst war, sei es nun bewusst oder unbewusst. Selbst wenn er sich in Opposition zu ihm begab, konnte er sich doch dessen Klangwelt nicht ganz entziehen. Vielleicht ist es also mehr eine musikalisch-emotionale Assoziation, eine Farbe, die Tschaikowski, wenn auch ohne Absicht, aus der großen Tristan-Welt schöpfte, ohne aber konkret Bezug zu nehmen. Wie auch die Leitmotivik, die Tschaikowski einsetzte, eine andere war als jene von Wagner. Denn diese schien ihm zu direkt – Tschaikowski hingegen wollte einen Charakter die gesamte Oper lang musikalisch entwickeln. Zuletzt stellt sich die Frage: Was können wir aus dieser Oper mitnehmen? Ich für meinen Teil empfinde die Passage, in der Iolanta feststellt, dass sie glaubt, dass sie an das Licht glaubt, ohne es je gesehen zu haben, als zentral. Denn erst so wird die Heilung möglich. Das kann man auf uns alle anwenden. Wir alle sind für unser Leben, für die Verwirklichung unserer Träume verantwortlich. Man muss also auch wirklich wollen und wirklich glauben, um an ein Ziel zu kommen!

22

BORIS PINKHASOVICH als ROBERT STATISTERIE der WIENER STAATSOPER


23



JULYA RABINOWICH

SOUND & VISION IOLANTA UND DIE UNERTRÄGLICHE UNBESTÄNDIGKEIT DES SEINS Wenn man Platon Glauben schenken soll, so ist die Wirklichkeit weit mehr als das, was wir sehen, die über Höhlenwände wandernden Schatten erfassen sie nur unvollständig und überlassen zu viel der mangelnden oder der überschießenden Phantasie. Bei manchen Wahrnehmungsteilnehmenden hat man gar die Sorge, sie würden nur die Höhlenwand wahrnehmen, ganz ohne Schatten, und die Höhlenwand ist bei ihnen auch keine Höhlenwand, sondern ein festes Holzbrett. Vor dem Kopf. Wäre hier nun das Gegengewicht, mit dem Kopf in rosa Zuckerwatte zu versinken? Wohl kaum. Bei manchen wiederum entsteht nicht ganz unbegründet die Sorge, sie sähen lauter Schatten ohne Wände. Nur Dunkelheit, Dunkelheit, und in dieser Dunkelheit beunruhigend wabernde Bewegung. Der Begriff der geistigen Umnachtung kommt nicht von ungefähr, denn der wache Geist wird mit Licht und damit auch mit der Möglichkeit der Sicht definiert. Diese in jeder Hinsicht erleuchtete Hellsichtigkeit, die man in absoluter Perfektion auch in der Zukunftsdeutung wiederfindet. Aber wie so oft gibt es in den Grenzbereichen der Wahrnehmung viel Licht und Schatten und wenig Eindeutiges. Hellsichtige Analyse also – oder schnöde Scharlatanerie? Und um

sich in den unendlichen Möglichkeiten der Sichtweisen noch mehr zu verirren, vielleicht auch irren zu können, muss man gar nicht so tief graben, bis man bei okkulten Clairevoyance und zwielichtigen Kartenlegern ankommt, es geht viel, viel einfacher als das. Menschliche Kommunikation ist ein Paradebeispiel für Mehrschichtigkeit und Widerspruch. Wer schon einmal in einen Disput zweier Personen mit unterschiedlicher Wahrnehmung hineingeraten ist, wird die Erfahrung gemacht haben, dass dieselben Geschehnisse so unterschiedlich wahrgenommen werden können, als ob man an zwei verschiedenen Geschehnissen teilgenommen hätte. Eine sehr gute Vorbereitung auf solche Erfahrungen sind übrigens Familienfeste, am besten solche von Großfamilien. In diese Verwandtschaftsfluten geworfen, lernt man entweder, sie zu navigieren, oder man geht in ihnen (und ab und zu sogar mit oder an ihnen) unter. Das ist nur menschlich, ja, sogar allzu menschlich. Und das Menschliche handelt gerne im Bedürfnis, das Gewollte zu glauben, nicht das Bewiesene. Das gilt für das Private genauso wie für das Politische. Das Private und das Politische sind kommunizierende Gefäße. Manchmal überlappen sie sich, verschlingen und

SONYA YONCHEVA als IOLANTA, DARIA SUSHKOVA als LAURA MARIA NAZAROVA als BRIGITTA, CHOR & STATISTERIE der WIENER STAATSOPER

25


JULYA RABINOWICH

verdauen und bedingen sich gegenseitig. Man kann sich jedenfalls auf Folgendes festlegen: Die Realität ist immer eine Herausforderung. Eine noch größere Herausforderung aber ist die Leugnung der Realität. Und eine mit der Zeit so gefährliche wie bedrohliche Herausforderung ist die bewusste Manipulation der Realität, ihre Zerfaserung, Verglitchung, Zerknüllung, Gemengelage und Verhöhnung. So kann man folgenlos behaupten, rechts sei links, oben sei unten, das Ministerium des Krieges sei ein Ministerium der Liebe, das Opfer sei Täter und die Kriegstreiber die Friedenstauben. Und wenn das maximal verwirrt, dann umso besser für jene, die Fakten aushebeln wollen. Wenn niemand mehr sagen kann, was wahr und was unwahr ist, hat das Chaos gewonnen – mehr noch: Es hat gewonnen, wer bewusst verdreht und gelogen hat, wer viel Kraft darin investierte, diese Wahrheit zu konterkarieren und zu untergraben, als wäre die Realität sein ganz ureigenes Kriegsgebiet, es ist die gnadenlose Ausdehnung der Kampfzone ohne Rücksicht auf Verluste. Ja, aber, könnte man einwenden. Aber. Moment! Wir wissen doch, dass es nicht die eine, die einzige Wahrheit gibt, es sei denn, man ist die predigend fordernde fanatische Führungskraft einer Sekte. Vielleicht kann man den Begriff Wahrheit etwas erweitern: Das Einzugsgebiet einer behaupteten Wahrheit verläuft immer über das Territorium von Fakten, diese wiederum kennzeichnen eine ganz bestimmte Realität, eine, die einem privaten Einschätzen ihrer Gültigkeit oder Nichtgültigkeit widersteht. Die Beleuchtung dieser Realität ist ja etwas, das uns wieder zu Platos Gleichnis

zurückbringt. Wir haben eigentlich sowieso keine Ahnung von der Wahrheit, wozu also über sie streiten, ja, sogar für sie sterben? Nun. Es gibt vieles, das allein von der eigenen und der Fremdwahrnehmung abhängt, beispielsweise ein gelungenes Werk, eine herausragende Nasenlinie wie jene der Kleopatra, die Einschätzung gegenseitiger Begehrlichkeit, ein Duft, der gelungen scheint oder aber aufdringlich und übel. Über Geschmäcker lässt es sich trefflich streiten. Und es gibt etwas, das unverrückbar ist, egal, von welchem Blickwinkel aus man es betrachten möge. Physikalische Gesetze beispielsweise. Man nehme die Schwerkraft. Sicherlich kann man ihre Existenz leugnen, als aufoktruierte Massenbeherrschung rahmen, man kann sogar aufrichtig gegen sie aufbegehren, aber am besten für die eigene Gesundheit wäre es, diese Rebellion nicht in erhöhten Lagen durchzuführen, es böten sich Rasenflächen und Teppichböden und Futonbetten dafür an. Alles andere könnte zu harten, ja, allzu harten Fakten führen, denen auch alternative Fakten einer alternativen Realität wenig entgegenzusetzen hätten. Jedenfalls nichts Schmerzfreies. Man bedenke, dass nicht nur die Schwerkraft etwas ist, das die alternative Realität herausfordert. Manchmal ist es nur ein einziges Wort. Ein Wort, dessen Aussprechen – wie bei einem riskanten magischen Ritual – als Beschwörung übelster Dämonen interpretiert werden kann, ein Frevel, der mit Freiheitsberaubung und ab und zu mit Gewalt geahndet wird: Das Wort heißt »Krieg«, und es gibt derzeit ein Land, in dem die Nennung dieses Wortes die Gesundheit sofort gefährdet. Aber wird ein Krieg ungeschehen, wenn man

26


SOUND & VISION

ihn nicht aussprechen darf? Stehen all die Toten wieder auf und gehen nach Hause? Die zerstörten Städte, sie schießen dann in schwindelerregender Geschwindigkeit aus dem Boden, bis sich wieder grüne Baumkronen über historischen Gebäuden entfalten? Ach, wäre diese Magie doch durchführbar, hätte man doch so viel Talent zur Zauberei … Hier stößt die alternative Realität an ihre Grenzen, denn die Umbenennung von Dingen verändert ihre Wesenheit eben nicht. Der König wird nicht unnackt. Doch von dem nackten König später! Vertiefen wir uns doch zuerst in den Mechanismus der alternativen Fakten. Was soll sie denn überhaupt sein, diese oftzitierte, vielbemühte alternative Realität? Ist sie vielleicht einfach nur ein weiterer Punkt am üppigen Meinungsmenü? Eine sogenannte Faktenbereicherung, gar Bilanzverschönerung, eine Art bestellte und abgeholte Fata Morgana, deren Unwirklichkeit man eigentlich kennt, aber freudig ausblendet? Aber nein, nichts von alldem! Die alternative Realität ist eine geladene Waffe, gedrückt an die Schläfe der Realität ohne Alternative. Eine alternative Realität ist der Tanz der sieben Schleier um den heißen Brei, während die Realität das ist, was auf dem Silbertablett zum Tanze serviert wird, die toten Augen verdreht, der Mund in Leichenstarre verzogen. Mit toten Augen sieht man allerdings nichts. Man sieht nur mit dem Herzen gut, sagt der kleine Prinz und ebnet damit der alternativen Realität den Weg. Denn das Herz ist ein trügerisches Vehikel, eine kleine, gnadenlose Maschine unter dem Brustbein, unerbittlich und berechenbar. Ob das Herz die Schwerkraft sehen würde? Eher

nicht. Der kleine Prinz klingt also verdächtig nach einem großen Populisten. Aber, und um noch zusätzliches Öl in die allgemeine Verunsicherung zu gießen und die Thematik des SehenKönnens und Sehen-Wollens noch um eine weitere verwirrende Facette zu bereichern: Wenn es klingt wie eine Ente, geht wie eine Ente und aussieht wie eine Ente – ist es denn tatsächlich eine Ente? Spätestens im Zeitalter der bearbeiteten Bildgebung, der deep fakes, der per künstlicher Intelligenz hergestellten und per menschlicher Unintelligenz rasant verbreiteten Videoclips kann man das nicht mehr so einfach sagen. Hier wird ein Werkzeugarsenal von Recherche und Überprüfung benötigt, das eigentlich jedem Kind bereits in der Schule vermittelt werden sollte – ein Schild und ein Schwert im Kampf gegen die Medusa, ja, die Hydra, denn ist ein Fake-News-Artikel überführt, wächst schon in Windeseile woanders der nächste heran – und manchmal ist nicht einmal dann der Gegencheck zu hundert Prozent nachvollziehbar. Und dennoch: Es gibt keinen anderen Weg als diesen, es wieder und wieder zu versuchen. Es stellt sich also nicht nur die Frage, was die alternative Realität ist. Sondern auch, was die nicht alternative Realität ist. Was sehen wir, wenn wir etwas sehen? Und was sehen wir nicht, wenn wir etwas sehen? Und, der Vollständigkeit halber: Was sehen wir, wenn wir etwas nicht sehen? Was sehen wir nicht, wenn wir etwas nicht sehen? Und schon taucht hier die titelgebende Iolanta auf, denn scheint es ihr doch an nichts zu mangeln, weil die Scheinwelt, in der sie durch die Lügen und Manipulation ihres Vaters gefangen ist, ihr keinen Mangel vermitteln darf. Und da sie ihren – von ihrem Va-

27


JULYA RABINOWICH

ter herbeiphantasierten – Makel (der aus der Sicht einer ekelhaft patriarchalen Deutung aus ihr ein minderes Heiratsmaterial macht), nicht kennt, erlebt sie sich als makellos. Was sie natürlich auf eine Art auch ist, denn ihre Blindheit öffnet ihr andere Wahrnehmungsmöglichkeiten. Solange sich ihr die Frage nach der richtigen Farbe einer Rose nicht stellt, ist die Welt, die sie inhabitiert, eine in sich geschlossene autarke Verzerrung der Wirklichkeit. Unangetastet von Widerspruch würde sich diese Kuppel aus Lügen ihr ganzes Leben lang über ihr spannen. Das Zerschmettern der Kuppel birgt natürlich Gefahren, und manche Wahrheit ist härter als das süße und schläfrig machende, einlullende Lügenlied. Dazu kommt noch, dass es ab der Überschreitung einer bestimmten Linie kein Zurück mehr gibt. So wie in der Matrix im gleichnamigen Film hat man sich zu entscheiden. Ob man die blaue oder die rote Pille wählt. Ob man in der alten Mirage verbleibt oder nicht. Und der Prozess, der sich mit der Entscheidung für die Realität in Gang setzt, ist unumkehrbar, auch wenn man ihn später bereuen sollte. Manchmal ist es allerdings keine Pille, sondern nur ein einziger Satz, der eine Fake-Realität in sich zusammenbrechen lässt wie ein instabiles Kartenhaus, wie ein zersplitterndes Spiegelfechtkabinett. Ein einziger Satz, den auszusprechen aber offenbar so gefährlich ist, dass es Tausende über lange Zeit nicht wagen: »Der Kaiser ist nackt!« Man könnte sagen, dass diese alternative Realität in Hans Christian Andersens Märchen – gewoben und angepriesen von zwei Scharlatanen, die es natürlich besser wissen – auf das Prächtigste gut gedeiht, solange nie-

mand bereit ist, seine Wahrnehmung zu hinterfragen und sich bloßzustellen fürchtet. So aber gelingt der Betrug bis in die höchsten Ebenen, und der Monarch, der seine Kronjuwelen luftig und beschwingt der üppig vorhandenen Öffentlichkeit zur Schau stellt, ist ein Opfer seiner eigenen Leichtgläubigkeit. Auch Iolanta ist ein Opfer. Aber sie ist ein Opfer anderer Art: Sie wächst in einer Lüge und mit einer Lüge auf, in einer zwar liebevoll gestalteten Scheinwelt, die aber eben das bleibt, was sie ist: eine Scheinwelt. Eine Manipulation. Eine Auswegslosigkeit. Eine echte Lüge von einer falschen Welt, aus der es kein Entkommen gibt, solange nicht eine neue, unbefangene Stimme von außen hineindringen kann. Spannenderweise ist das Entzaubern im Fall Iolantas ein ähnlicher Vorgang wie in dem genannten Märchen: Die eindeutige Wahrheit, die eigentlich alle wahrnehmen müssten, wenn sie sich nicht aus Zwang oder Dummheit fremden Manipulationen ausgeliefert hätten, wird in die gemeinsam inszenierte Scheinrealität von einer Person hineingetragen, die über die stille Übereinkunft der alternativen Realität (die ja eigentlich allen bewusst sein muss und auch klar erkennbar ist) nicht Bescheid weiß und folglich den eigenen Sinnen frei vertrauen kann und auch keine Bedenken hat, korrigierend einzugreifen. Wir könnten sogar noch tiefer in den assoziativen Kaninchenbau fallen und die Frage stellen, ob Iolantas Geschichte die erste Geschichte ist, die der Simulationstheorie breiten Raum gibt, quasi – pun intended – einen Platz an der Sonne, im Licht, das Iolanta, am Ende der Geschichte angekommen, überraschenderweise sehen kann – und das sie ängstigt. Der Garten, der ihr ge-

28


SOUND & VISION

liebter Garten ist, ist ihr fremd und verwirrend. Die Gesichter der Vertrauten sind ihr fremd. Das Gesehene erschüttert sie. Sie, die alles riskiert hat, muss sich in dieser neuen Welt, die man bis zu diesem Augenblick vor ihr verborgen gehalten hat, erst zurechtzufinden lernen. Das bedeutet zunächst einmal auch Schmerzhaftes und Erschütterndes. Aber es gibt ihr eben auch Hoffnung und Freiheit. Dieses Entblinden ist Iolantas beeindruckende Selbstermächtigung, ein Abschütteln der väterlichen Dominanz, es ist im Endeffekt ihre erste eigene Entscheidung, die sie für ihr Leben treffen kann. Sie, die Versprochene, die Belogene, die Unselbstständige, hat Mut und Kraft, das alles in das Gegenteil zu verkehren: Mit dem Wählen eines anderen Partners als des vorgesehenen, mit dem Wählen einer anderen Lebensmöglichkeit, mit dem Hinauswachsen aus der tastbaren Dunkelheit in die Welt im Licht, die sie mit anderen teilen kann. Es ist eine selbstgewählte Transformation. Die erhoffte Heilung ist allerdings erst möglich, wenn die Patientin eben völlige Verantwortung für ihre Entscheidung zur Behandlung übernehmen kann, und diese Entscheidung wiederum ist erst möglich, wenn sie die Wahrheit über ihren Zustand kennt. Und blind oder nicht blind, das ist hier nicht nur eine Frage, es ist eine Zu-

standsbeschreibung, die keinerlei Graustufen anzubieten hat, man kann ja nicht ein bisschen blind sein. Vielleicht kann man diese Annahme auch zum Abschluss sämtlicher Überlegungen zu Fake News und Real World Problems als krönenden Schlussstein in den Erzählbogen setzen: Ohne eine bewusste Auseinandersetzung mit dem Status quo, und sei diese Auseinandersetzung noch so erschreckend oder schmerzlich, ist ein Überwinden der Scheinrealitäten nicht möglich. Und selbst wenn man – das alles abwägend und einwilligend – sich der Auseinandersetzung ausliefert, ist der Erfolg nicht garantiert, so, wie es der behandelnde Arzt der Iolanta auch von Anfang an festhält. Das Risiko bleibt. Aber in welcher Realität ist eine Auslieferung an das Schmerzhafte denn garantiert erfolgreich? Mensch muss versuchen und riskieren. So, wie seine Vorfahren es auch versuchen mussten: Erst auf dem Weg vom Wasser auf das Land, dann als missing link bis hin zum homo erectus, und wer mehr darüber erfahren will, dem sei 2001: Odyssee im Weltraum dringend empfohlen. Also sprach Zarathustra. Und dann, erst wesentlich später, sprach Iolanta. Und wer spricht jetzt, in Zeiten der schwindenden Realität und der wachsenden Desinformation? Vielleicht nur Kassandra in all ihrer Einsamkeit. Es fehlt – und zwar schmerzlich! – ein vielstimmiger Chor.

29


DIETMAR DATH

EINEN MANN TÖTEN Noch höher, an den Rändern der waldumstandenen Schluchten, wurde Dmitri Stepanowitsch von der Stille überrascht, die bei längst vergessenen Menschen »Wolfsstunde« geheißen hatte: Unvorstellbar, dass noch einmal die Morgensonne scheinen würde, das Felsgestein kälter als Eis und jedes Geräusch, auch das leiseste, eine Drohung von Teufeln, die so klein waren, dass man sie nicht sehen konnte. Hier erst verstand der Wolf, dass seine lang zurückliegende Trennung vom Rudel ihn nicht nur verändert, sondern wirklich verwandelt hatte: Ich bin allein. Das ist etwas, was niemand in meiner Familie je war. Und wenn sie im Stollen Maschinen bauen, die alle Gente ganz anders verbinden sollen als bisher, weil der Löwe nicht will, dass welche allein sind, so ändert das nichts: Ich werde fortan immer allein sein. Eine sehr ruhige innere Stimme fand, das sei gut. »Ist es so?«, sagte er halblaut in die Stille, ohne zu wissen, ob er der inneren Stimme damit eigentlich wirklich widersprochen hatte oder nicht. Als es dämmerte, begegnete Dmitri einem verrücktgewordenen Überlebenden.

Der Mann schrie fürchterlich und richtete ein Gewehr auf den Wolf. Die Langeweile lebt, dachte Dmitri grimmig und sprang den Irren an, weil der ihm keine Wahl ließ. Noch ehe der Mensch einen Schuss abgeben konnte, hatte Dmitri ihm beide Hände abgebissen. Der Mensch brüllte, als lachte er, fuchtelte mit den sprudelnden Stümpfen, dann stillten Stoffe, die in Dmitris Speichel lebten, sowohl die Blutung wie den Schmerz. Der Wolf saß auf dem Brustkorb des Mannes, um ihm Gelegenheit zu geben, in Dmitris Augen die höhere Vernunft zu erkennen, die Leute wie er immer noch nicht wahrhaben wollten. Zu ihrem eigenen Schutz vielleicht, dachte der Wolf: Sie müssen das, was wir sind, ärger fürchten als den Tod, sonst verstehen sie bald nicht mehr, warum so viele von ihnen gestorben sind, im Krieg um die Befreiung. Der Mann war furchtbar dreckig, hatte einen kalkweißen Bart mit struppigen Pfefferfäden drin und etwas altem Eigelb. Jetzt hörte er auf zu weinen und zu schreien, fing aber dafür an, wirklich zu lachen, in einem Tonfall, der verriet, dass er sich für etwas ganz Besonderes, unwiederholbar Wahnsinniges hielt. Seine Gesichtsmuskeln zuckten, es sah ganz heillos aus. Jetzt brabbelte er

30

SIMONAS STRAZDAS als BERTRAND DANIEL JENZ als ALMERIK


KOPFZEILE

31


32


EINEN MANN TÖTEN

Worte, die an sämtlichen Bedeutungen abrutschten, die sie hätten haben können. Seine Atmung wurde flach, er schnappte nach Luft und erwischte auch die nicht. Wie er ihn sabbern sah und mit den Augen rollen, wie er spürte, dass der Besiegte sich auf bäumen wollte, wie sie das immer taten, dachte Dmitri: Wir hätten sie einfach entwaffnen sollen und auf entlegene Inseln verschiffen; da hätten sie sich gegenseitig aufgefressen. Es dauerte noch lang. Am Ende begann Dmitri, sprechenden Dampf zu schnauben, pherinfonierte, primitive Bilderspiele mit arithmetischen Reihen, auf das primitive Zentralnervensystem des Menschen zugeschnitten: beruhigende Sinnestäuschungen. Das endlich brachte den von verebbender Raserei Geschüttelten zur Ruhe. Der Mann sackte nach hinten, bis er wie ein Toter auf dem Rücken lag. Atmete aber noch ein. Aus. Dann fing er leise an zu sprechen, verständlicher jetzt: »Heult ... heult ... o ihr seid ... all ... von Stein ... Hätt’ ich eu’r ... Aug’ und ... Zunge nur, mein ... Jammer sprengte ... des ... Himmels ... « Dmitri hatte genug gehört. Er biss dem armen Idioten die Kehle durch und spuckte, was er zwischen seinen Zähnen aus dem Menschenhals herausgerissen hatte, angewidert in den Schnee. Die schwarze Galle vergiftete seinen Speichel; seine Flanken pulsten, so zornig war er, weil er sich mit den IVO STANCHEV als KÖNIG RENÉ

brechenden Augen des Mannes sah: ein Ungeheuer. Was denn? Sie fressen Dreck und halten sich verborgen an den unzugänglichsten Orten, sie graben sich ein wie die spritzenden Würmer und denken immer noch, wir Gente waren das Abscheuliche, die Niedrigkeit, und wüssten nichts von Shakespeare, von Symphonien, von der milanesischen Kathedrale, von den pindarischen Oden, dem ganzen alten Geraffel, und wenn sie zugeben müssen, dass wir davon doch wissen, dann reden sie sich ein, wir wüssten’s zwar, aber verstünden’s nicht. Die Gente werden das nie ändern. Diese Leute wollen nicht mit uns leben; sie bilden sich ein, sie dürften entscheiden, wer die Erde wie bewohnt. Blubbern und Gurgeln aus dem Rachen des Sterbenden, dann nichts mehr. Auf diesem Nichts blieb Dmitri Stepanowitsch ein Weilchen hocken und dachte an die Stadt, in die er zurückwollte. Der letzte Blick des Menschen sah auf Dmitris Schnauze. Ja: Das ist alles, was er sieht, das bin ich, ein Biest, das in der Dunkelheit hockt und sich beschmutzt, wenn er das rote Licht seines zerstörten Verstandes auf es richtet. Als der Mann, der ihn hatte erschießen wollen, nicht mehr atmete, ging Dmitri fort, auf einen Felsvorsprung, und blickte hinab in einen zusammenfließenden Nebelsee zwischen den spitzen finsteren Bäumen.

33




KADJA GRÖNKE

»ICH FÜHLE, DASS ICH AUS KÖNIG RENÉS TOCHTER EIN MEISTERWERK MACHEN KANN« Tschaikowskis letzte Oper, der Einakter Iolanta, basiert auf dem 1845 entstandenen Drama König Renés Tochter (Kong Renés Datter) des dänischen Dichters Henrik Hertz, das Tschaikowski 1883 in der gedruckten russischen Übersetzung Fjodor Millers kennenlernte. Schon damals fasste er es als mögliches Opernsujet ins Auge und erneuerte diesen Plan, als er fünf Jahre später in Moskau eine Aufführung des Theaterstücks besuchte. Aber erst 1891 gab ihm ein Kompositionsauftrag der Kaiserlichen Bühnen den endgültigen Anstoß. »Ich fühle, dass ich aus König Renés Tochter ein Meisterwerk machen kann«, schrieb er seinem jüngsten Bruder, Modest, der ihm auf Basis einer russischen Übersetzung von Vladimir Zotov das Libretto entwarf. Die Partitur entstand zwischen Juli und September 1891 und wurde am 18. Dezember 1892 gemeinsam mit dem Ballett Der Nussknacker am Petersburger Mariinski-Theater uraufgeführt. Die Reaktionen bei der Uraufführung waren gespalten: Die Presse reagierte eher Vorige Seiten: MONIKA BOHINEC als MARTA SONYA YONCHEVA als IOLANTA CHOR der WIENER STAATSOPER

kühl, während das Publikum mehrfach Szenenapplaus spendete und das Duett zwischen Iolanta und Vaudémont wiederholt werden musste. Durch die Zusammenarbeit der beiden Brüder entstand eine sehr persönliche Interpretation der literarischen Vorlage, die es dem Komponisten erlaubte, in seinem letzten Bühnenwerk die dramaturgischen Grundzüge seines Opernschaffens konsequent weiter zu vertiefen – und das Thema der Liebe zum ersten und einzigen Mal zu einem glücklichen Ende zu führen. Der Vergleich mit dem Drama von Henrik Hertz zeigt vor allem drei grundlegende Abweichungen. Dadurch, dass das Libretto die ersten drei Szenen zur Handlung hinzuerfindet, geht es nicht nur um Iolantas Heilung von der Blindheit, sondern um ihren Weg aus der Kindheit heraus in ein bewusstes (Erwachsenen-)Leben. Indem Iolantas Vater charakterlich zwiespältiger und facettenreicher gestaltet wird als bei Hertz und er sogar mit der Hinrich-

36


»ICH F ÜHLE, DASS ICH AUS KÖNIG RENÉS TOCHTER EIN MEISTERWERK MACHEN KANN«

tung Vaudémonts droht, falls Iolantas Heilung misslingen sollte, wird das Vater-Tochter-Verhältnis (tiefen-)psychologisch problematisch. Und weil Vaudémont in der Oper nicht Iolantas Bräutigam, sondern dessen Freund ist, thematisiert das Libretto dezidiert unterschiedliche Arten von Liebe: Freundesliebe, Tochterliebe, Liebe als Leidenschaft, als Besitzanspruch oder eben auch die idealisierte Liebe von Iolanta und Vaudémont. In keinem anderen seiner Bühnenwerke hat Tschaikowski die Liebe so deutlich als eine unabwendbare, göttliche Macht gefeiert, die dem Menschen auferlegt wird und an der er sich zu bewähren hat.

MUSIK DER INNERLICHKEIT: SUCHEN, SEUFZEN, ATMEN Ähnlich wie in dem Ballett Der Nussknacker arbeitet Tschaikowski auch in dem Einakter Iolanta intensiv mit Orchesterfarben und erzeugt dadurch eine klangliche Dramaturgie, die nicht nur eine märchenhaft-verzauberte Grundstimmung erzeugt wie im Tanzstück, sondern darüber hinaus auch die inneren Triebkräfte der Bühnenfiguren offenbart. Das Orchester bereichert das Verständnis der Personen und ihrer Handlungen und öffnet einen Raum, der weit über Text und Bühnenaktionen hinaus ihre innersten Empfindungen zum Klingen bringt. Wie differenziert Tschaikowski arbeitet, zeigt bereits die Introduktion. In ihr verwendet er ausschließlich Hörner und Holzbläser. Nikolai RimskiKorsakow, der große Zauberer der Orchesterfarben, vermisste hier nicht nur die übrigen Instrumentengruppen, sondern bemerkte außerdem irritiert:

»Musik, die für Streicher geeignet ist, gibt Tschaikowski den Bläsern.« Tatsächlich wären die Tremolo-Begleitfiguren der Fagotte und Hörner weitaus einfacher von Celli zu spielen. Die wirbelnden Skalen, die den Verlauf der Musik immer drängender vorantreiben, sind ursprünglich Violin-Figuren. Und die chromatische Seufzer-Melodie des Englischhorns, die auf einem Teppich aus Klarinetten- und Fagott-Akkorden in die Tiefe schwebt und dabei so sehr an Wagners Tristan erinnert, klänge im Streichersatz wesentlich einschmeichelnder. Dem reinen Bläsersatz fehlt also deutlich die Verankerung in einem »normalen« orchestralen Umfeld. Statt nun aber das Ungewohnte zu kritisieren, wäre wohl eher nach dem Warum zu fragen: Was erreicht Tschaikowski, wenn er aus dem vollen Orchester nur eine einzige Instrumentengruppe auswählt, und zwar diejenige, die durch die verwendete Atemluft der menschlichen Stimme und dem menschlichen Odem, der Seele, am nächsten ist? Tschaikowski war Musikdramatiker durch und durch, und so liegt es nahe, aus dieser scheinbar defizitären Schreibweise einen Hinweis auf die Titelfigur herauszulesen. Der reine Bläsersatz zeigt, dass Iolanta in einem reduzierten Umfeld lebt, das sorgfältig gegen das Eindringen andersartiger Elemente abgeschottet ist. Ihrer Welt fehlt etwas, so, wie dem Orchesterklang die Fülle der Instrumente fehlt. Wenn die Introduktion allerdings nicht an gewohnten Hörerfahrungen, sondern ausschließlich an sich selbst gemessen wird, entfaltet sie intern eine reiche Palette an Farben und Ausdrucksgesten: Die Blasinstrumente können all das, was vermeintlich Streichermusik ist, auf ihre eigene Art

37


KADJA GRÖNKE

gestalten – ganz so, wie die blinde junge Frau die Welt auf ihre eigene Weise erlebt. Da sie nicht weiß, dass ihr etwas fehlt, ist ihre Wahrnehmung für sie vollwertig. Das Publikum mit seinen eingeübten Hörgewohnheiten und angelernten Klangerwartungen mag – wie Nikolai Rimski-Korsakow – zunächst irritiert sein. Aber lässt man sich darauf ein, dann öffnen die ungewohnten Orchesterfarben die Aufmerksamkeit für das Gehör und damit für die besondere Weltwahrnehmung der Titelfigur. Tatsächlich entfaltet sich die Geschichte von König Renés Tochter während der Opernaufführung gleich zweimal: einmal als Bühnengeschehen mit Text, Gesang und äußerer Handlung, und ein zweites Mal als ein inneres Erleben, nämlich rein instrumental, in reichen Orchesterfarben, überraschenden Klangräumen und einer zielgerichteten Klangdramaturgie. Wenn der Komponist während der Arbeit an der Partitur selbstkritisch anmerkt, phasenweise enthalte ihm sein neues Werk »zu wenig Musik. Alles ist Erläuterung der Handlung«, dann ist klar zu differenzieren zwischen dem, was das Publikum auf der Bühne sieht, und dem, was es im Orchester hört und was dem offensichtlichen Geschehen eine Dimension hinzufügt, die mit den Augen bzw. den gewohnten Sinnen nicht zu erfassen ist. Diese Wahrnehmungsverschiebung in Iolanta ist die Essenz von Tschaikowskis kompositorischem Zugriff.

DER FESTE ÄUSSERE RAHMEN: PARADIESGARTEN DER FRAUEN Wie zum Beweis dafür beginnt die Opernhandlung mit einem akustischen

coup de théâtre. Bei der Uraufführung am 18. Dezember 1892 hatte der Bühnenbildner, Michail Botscharow, Tschaikowskis Szenenanweisung detailliert und pittoresk umgesetzt: Der Vorhang des St. Petersburger Mariinski-Theaters öffnete sich über einem »schönen Garten voll üppiger Pflanzen, einem Pavillon in gotischem Geschmack, blühenden Rosensträuchern und Bäumen voll reifer Früchte«. Gleichzeitig ziehen auch die Instrumente gewissermaßen den Vorhang auf: Die Holzbläser verstummen und machen einem fein ausziselierten, aber eher konventionellen Klanggemälde von kantablen Solo-Streichern (Bühnenmusik), Harfen-Arpeggien und Frauenstimmen Platz. Der Vergleich macht deutlich, dass die Introduktion bei all ihrer Unvollständigkeit eine Musik der Innerlichkeit ist: Iolantas Innerlichkeit, die ebenso individuell wie entwicklungsoffen ist. Das Paradies um sie herum besteht dagegen musikalisch aus wohlklingenden Versatzstücken. Hier ist alles genau an dem ihm zugewiesenen Ort. An der idealen, aber statischen Schönheit dieser Außenwelt kann Iolantas suchende Seele keinen Anteil nehmen. In ihrem Arioso voll unbeantworteter Fragen findet die Bläsergruppe des Orchesters ebensowenig zu einem ausgewogenen Miteinander mit den Streichern, wie die junge Blinde mit der sehenden Welt in Einklang kommt. Erst in dem Wiegenlied am Ende der dritten Szene, das die Sehenden der Blinden singen, finden Streicher wie Bläser endlich zu der üblichen satztechnischen Balance. Der Preis dafür ist allerdings, dass im Schlaf Iolantas suchende Sehnsucht und damit der Impuls für Entwicklung und Veränderung verstummen. Ähnlich wie die Bühnenfigur Iolanta angesichts ihrer Ausgangslage ein vages

38


»ICH F ÜHLE, DASS ICH AUS KÖNIG RENÉS TOCHTER EIN MEISTERWERK MACHEN KANN«

Unbehagen verspürt, so reagiert auch Nikolai Rimski-Korsakow auf die Besonderheiten der Partitur unwillkürlich (und ganz zutreffend) mit Abwehr. Denn genau darin besteht Tschaikowskis Kompositionskunst: Über die Verwendung der Instrumente, über Klangfarben und Orchestersatz ermöglicht er ein solches spontanes emotionales Mitgehen. Noch vor jedem rationalen Verstehen festigt sich das Gefühl, dass in dieser Idylle etwas falsch ist. Das Publikum erfasst instinktiv die Sehnsucht und die Einsamkeit Iolantas, ihre Disposition für Aufbruch und Veränderung, aber auch die unsichtbaren Mauern, die sie in dem immergleichen Paradiesgarten festhalten. Bühnenbild und Dialoge können dieses emotionale Erkennen nicht annähernd so unmittelbar erzeugen wie die Musik.

MÄNNER: MACHT & KONFLIKTE Die Szene mit Iolanta im Kreis ihrer Freundinnen Brigitte und Laura, der treusorgenden Marta und den Dienerinnen, haben Komponist und Librettist zu dem Drama von Henrik Hertz hinzuerfunden. Solche Einblicke in eine nur scheinbar heile Welt, in der die Heldin trotz aller äußeren Zugehörigkeit innerlich eine Fremde ist, gibt es in fast jeder Tschaikowski-Oper: Tatjana, die sich schon vor der Begegnung mit Eugen Onegin aus ihrer rein weiblichen Familienwelt hinausträumt; Maria, die wegen ihrer heimlichen Liebe zu dem Kosakenhauptmann Mazepa mit den Mädchenliedern ihrer Freundinnen nichts mehr anfangen kann, und Liza, die in der Oper Pique Dame zwar äußerlich ein etabliertes Mitglied der Gesell-

schaft ist, sich innerlich aber aus dem vorgezeichneten Leben hinaussehnt. Aus einer solchen grundsätzlichen Disposition des inneren Aufbruchs entstehen Konflikte, an denen die Heldinnen wachsen oder zerbrechen. Diese Konflikthaftigkeit deutet Tschaikowski in Iolanta ebenfalls zuerst im Orchester an: Auf das Schlaflied für Iolanta folgen zu Beginn der vierten Szene Hornsignale und öffnen das Ohr für den Bereich von Jagd, Militär, Adel. Celli und Kontrabässe bereiten mit unruhigem Tremolo den Eintritt von Männern in den Paradiesgarten vor. Der klangliche Kontrast greift auch auf die Singweise über: Anstelle geschlossener Vokalformen, die in Iolantas Frauen-Welt vorherrschen, komponiert Tschaikowski nun ausgedehnte Dialoge und erläutert im Stil des sogenannten »melodischen Rezitativs« Vorgeschichte und Hintergrund der Handlung. Schnell wird deutlich: Iolantas Leben basiert auf mehrfachen Lügen. Sie weiß weder von ihrer Blindheit noch davon, dass es überhaupt einen Gesichtssinn gibt; sie ahnt weder, dass ihr geliebter Vater René der König der Provence ist, noch weiß sie etwas über die Welt außerhalb ihres Gartens. Beim Auftritt Renés erklingen im Orchester Fanfarenmotive und von Streichern imitierte Trommelwirbel: Den liebevoll besorgten, beschützenden, ja: überbeschützenden Vater bewegen zugleich Überlegungen zu Staat, Militär und Macht. Denn nicht nur um ihres inneren Friedens Willen hat der König seiner Tochter ihr Handicap verschwiegen, sondern auch, weil er die politisch bedeutsame Heirat Iolantas mit Robert, dem Herzog von Burgund, nicht gefährden will. Voraussetzung

39


KADJA GRÖNKE

für diese Verbindung ist jedoch eine gesunde Braut. Und so ruht die gesamte Hoffnung König Renés auf dem maurischen Arzt Ibn-Hakia, dem große Weisheit auf dem Gebiet der Heilkunst nachgesagt wird. Damit treffen zwei starke Männerpersönlichkeiten aufeinander: der Herrscher, dessen Macht dort endet, wo die Natur seiner Tochter die Sehfähigkeit verwehrt, und der exotische Arzt, der auf die göttliche Verbindung von Natur und Geist vertraut. Gegenüber Ibn-Hakia findet René Worte der väterlichen Sorge und Liebe. Das Orchester aber verrät, wie zwiegespalten der König ist. Die martialischen Tutti in seinem ersten Monolog zeugen vom Willen des Politikers, dessen Unruhe nicht nur der Zukunft seiner Tochter, sondern auch der Staatsraison gilt. Als Vater und als Herrscher ist René nicht gewohnt, Verantwortung abzugeben und nun gar sein Schicksal in die Hände des geheimnisvollen und verunsichernd selbstbewussten Arztes zu legen. Das gilt umso mehr, als Ibn-Hakia als Vorbedingung der Heilung ein Ende aller Unwahrheit verlangt. Erst, wenn die Blinde selbst den Wunsch nach Veränderung verspürt und der Vater die Tochter aus seiner Verantwortung freigibt, sieht Ibn-Hakia eine Möglichkeit für Genesung. Der aufklärerische Aspekt, den der maurische Arzt in die Opernhandlung einbringt, ist auf eine für Tschaikowski ganz ungewöhnliche, für die Dramaturgie des Werks aber naheliegende Art an den Aspekt des Fremden gebunden. Zweifellos hätte der Komponist hier eine Musik ganz im Sinne des damals beliebten Exotismus schreiben können, aber trotz der Berufung auf Allah im Text und einige zart orientalisierende Floskeln im Gesang wird sein Ibn-Ha-

kia in einen Orchesterklang eingebunden, der zutiefst Tschaikowski ist. So liegt wohl eher der Gedanke an Mozarts Zauberflöte nahe, in der Sarastro eine ähnlich aufklärerische Autorität darstellt. Zudem führt Tschaikowski mit der Gestalt des Arztes einen Rollen-Typus fort, der für das Verständnis seiner Operndramaturgie grundlegend ist: In fast all seinen Bühnenwerken gibt es eine handlungsentscheidende Nebenfigur mit einer zentralen Arie. In dieser wird ein ethischer Orientierungspunkt formuliert, an dem sich das Verhalten der Hauptfiguren messen lassen muss. So, wie Fürst Gremin in Eugen Onegin und Fürst Elezki in Pique Dame das Ideal einer hingebenden, altruistischen Liebe proklamieren, so verkündet IbnHakia die Kraft der göttlichen Liebe, die aber vom Menschen vertrauensvoll angenommen und in eine innere Haltung umgewandelt werden muss. Zu Beginn der Oper können weder Iolanta noch König René einer solchen Vorstellung folgen: Iolanta nicht, weil ihr jede Möglichkeit für eine Entscheidung fehlt; René nicht, weil sein Stolz als Herrscher einer Einsicht entgegensteht. Das martialische Orchester-Tutti, mit dem die fünfte Szene endet, zeigt, dass er sogar noch einen Schritt weiterzugehen bereit ist: »Wer Iolantas Geheimnis entdeckt, bezahlt mit seinem Leben, und der Arzt muss vor dem Vater weichen.« Der von René einbestellte Arzt soll Iolanta heilen – oder er muss sterben.

VERÄNDERUNGEN Die bühnendramatische Ausgangssituation ist also ebenso konfrontativ wie die beiden musikalischen Welten, die Tschaikowski entwirft. Bewegung kann in diese Konstellation nur von au-

40


»ICH F ÜHLE, DASS ICH AUS KÖNIG RENÉS TOCHTER EIN MEISTERWERK MACHEN KANN«

ßen kommen. Und so führt die sechste Szene nicht nur die Freunde Robert und Vaudémont in die Handlung ein, sondern wechselt auch erneut die musikalische Struktur: Sowohl der Harfen- und Streicher-Wohlklang der Frauenwelt als auch die martialischen Untertöne der Männerwelt besitzen eine Klarheit und Stabilität, die Tschaikowski nun zugunsten eines vielfältigen und beweglichen Orchestersatzes auflöst. Robert und Vaudémont haben sich verirrt; sie finden den paradiesischen Garten nur aus Versehen und ignorieren das Warnschild »Zutritt bei Todesstrafe verboten«. Suchende und Verirrte sind sie auch im übertragenden Sinne: Robert, der Herzog von Burgund und Iolantas Verlobter, hat kein Interesse an einer politisch arrangierten Ehe; er liebt Matilda, die er lebhaft und mit sinnlichem Verlangen preist. Der Unterschied zwischen seinem überschwänglich direkten Liebesgefühl und Iolantas noch ungerichteter Lebenssehnsucht ist offenkundig. Auch Roberts Freund Graf Gottfried Vaudémont (in Henrik Hertz’ Originaltext heißt er Tristan Vaudémont; die Musik nennt ihn auch bei Tschaikowski so) sucht die Liebe, hat aber eine ganz andere Vorstellung: In einer für den Sänger der Uraufführung nachkomponierten Romanze besingt er ein verklärtes Frauenbild von anbetungswürdiger Reinheit. Tschaikowski verwendet dafür Gesangs-Intonationen, die sowohl an die aufrichtige Liebeserklärung des Fürsten Elezki als auch an die Leidenschaft Hermans in seiner ein halbes Jahr zuvor uraufgeführten Oper Pique Dame anknüpfen. Auf dem Weg der Musik definiert der Komponist Vaudémont also als eine geradezu ideale

Kombination aus Liebesfähigkeit und Leidenschaft. Spätestens an diesem Punkt der Opernhandlung ist endgültig deutlich, dass die idyllischen Gartenszenen weit mehr als eine rein lyrische Zutat sind. Sie stehen in unmittelbarer Beziehung zu der dramatischen Aktion. Indem sie Iolantas Zartheit, ihre Nachdenklichkeit und ihre Empfänglichkeit für Güte, Wohltat und Zuneigung deutlich machen, bereiten sie das Zusammentreffen mit Vaudémont vor. In ihren Solonummern singen die beiden jungen Menschen von ihrem sehnsüchtigen Verlangen, dem Alltäglichen etwas Eigenes, Andersgeartetes entgegenzusetzen, das ihnen in ihrem jetzigen Leben fehlt. Auch kompositorisch gibt es Parallelen: Sowohl Iolantas Arioso als auch Vaudémots Romanze bestehen – anders die übrigen Soli der Oper – aus zwei unterschiedlichen Großabschnitten; der fast identisch besetzte Orchesterpart ist jeweils ähnlich gestaltet, und am Ende wird bei beiden die klare Taktgruppengliederung aufgebrochen und die geschlossene Gesangslinie fragmentiert, sodass die Kernaussage deutlich hervortritt: Iolantas zweifache Frage »Warum? Warum?« und Vaudémonts wiederholter Ausruf »Ich warte, eile dich! O, komm!«, zeigen ihre suchende und sehnsüchtige innere Gleichgestimmtheit. Dass Vaudémont sein Herz sofort an Iolanta verliert, ist also folgerichtig. Im Gespräch stellt der Verliebte fest, dass Iolanta keine Farben unterscheiden kann und Worte, die den Gesichtssinn betreffen, nicht versteht. Bei dem Versuch, ihr das nie Erlebte zu beschreiben, erkennt er, dass sie beide die Schönheit der Natur und die göttliche Schöpfung gleichermaßen lieben, diese aber auf

41


»ICH F ÜHLE, DASS ICH AUS KÖNIG RENÉS TOCHTER EIN MEISTERWERK MACHEN KANN«

unterschiedliche Arten wahrnehmen, und er begreift, dass diese Wahrnehmungsweisen einander nicht ausschließen. Anders als Iolantas Vater und ihr Frauenkreis fasst Vaudémont Iolantas Blindheit nicht als einen Defekt auf, sondern als etwas Eigenes, Vollwertiges, das auch seine eigene Weltwahrnehmung bereichern kann.

AUFBRUCH: JUBEL & INNEHALTEN Als Vaudémont als unbefugter Eindringling aufgegriffen wird, erkennen sowohl König René als auch der Arzt, dass nun das Schicksal die Frage entschieden hat, ob Iolanta sich der Heilungsprozedur unterziehen oder lebenslang in Unwissenheit verharren soll. Um Iolantas Wunsch nach dem Augenlicht noch zu verschärfen, droht René Vaudémont mit dem Tod, sollte die Behandlung fehlschlagen. Licht, Liebe und Zukunftshoffnungen treten in Iolantas Bewusstsein untrennbar zusammen; gleichzeitig erhalten sie einen Gegenpol aus Blindheit, Trauer und Tod – all dies Elemente, die sie zuvor nicht gekannt hat. Liebe und Furcht um das Leben des Geliebten lassen Iolanta in Ibn-Hakias Behandlung einwilligen. In dem Drama von Henrik Hertz betreut Ibn-Hakia das Mädchen seit Jahren und bereitet eine Heilung vor. Eine Genesung liegt im Bereich des Möglichen, da Iolanta nicht von Geburt an blind ist, sondern ihr Augenlicht erst verloren hat, als sie als Säugling während eines Schlossbrandes zu ihrer Rettung

aus dem Fenster geworfen wurde. Den Operndramatiker Tschaikowski interessieren diese Details jedoch nicht, ebenso wenig wie die politischen Hintergründe der geplanten Heirat. Unmittelbar nach der hochdramatischen Oper Pique Dame, in der jede Form von Liebe und Leidenschaft nur zu Unglück und Tod führt, feiert Tschaikowski in seinem Einakter Iolanta das Wunder der erfüllten Liebe, die als himmlisches und göttliches Geschenk jegliche menschliche Unvollkommenheit zu heilen vermag. Es ist kein Zufall, dass Tschaikowski die Arbeit an seiner Partitur mit dem Duett von Iolanta und Vaudémont beginnt: Dies sind seine Hauptfiguren; hier liegt sein Interesse. Das Glück einer lebendigen, wertschätzenden Verbindung mit Vaudémont lässt Iolanta aus dem künstlichen Paradies ihrer Kindheit heraustreten und gemeinsam mit ihm das Leben und ihr ganzes Selbst entdecken. Dass König René diesen Aufbruch zunächst zu verhindern sucht, ihn am Ende aber zulässt und unterstützt, befreit ihn aus der Eindimensionalität eines »Übervaters« im Sinne Freuds. Und so feiern alle Mitwirkenden in einem geradezu martialischen, an Renés herrscherliche Intonationen anknüpfenden Jubelmarsch, dass Gott die menschlichen Gebete erhört hat. Kurz vor Schluss aber hält das Orchester noch einmal kurz inne, wie um einer individuellen Besinnung Raum zu geben und sich vor dem göttlichen Geschenk der erfüllten menschlichen Liebe zu verneigen.

42

BORIS PINKHASOVICH als ROBERT


43


BRIEFE PIOTR I. TSCHAIKOWSKIS

»ICH WEISS, DASS ICH MICH MIT DER ZEIT BEHAUPTEN WERDE.« IOLANTA IN DEN BRIEFEN PIOTR I. TSCHAIKOWSKIS Die nüchterne Beschreibung der Entstehung der Oper Iolanta (und des Balletts Der Nussknacker) liefert Librettist und Bruder Modest Tschaikowski in seiner berühmten Biografie Das Leben Peter Illjitsch Tschaikowskis (1900–1903): »Ende 1890 hatte die Direktion der Kaiserlichen Theater in Petersburg Čajkovskij mit der Komposition zweier an einem Abend aufzuführender Werke für die Saison 1891/92 beauftragt: die einaktige Oper ›König Renés Tochter‹ auf ein Libretto von Modest I. Čajkovskij nach dem lyrischen Drama des Dänen Henrik Hertz (1798–1870) in der russischen Übersetzung von Vladimir R. Zotov (1821–1896) sowie das zweiaktige Ballett ›Ščelkunik‹ [Der Nussknacker] nach Alexandre Dumas’ (d. Ä.) Fassung von E.T.A. Hofmanns Märchen ›Nußknacker und Mäusekönig‹, Szenarium und Tanzprogramm von Marius Petipa. Uraufgeführt wurden die Werke erst in der Saison 1892/93, und zwar erst am 6. Dezember 1892, weil sich ihre Komposition verzögerte. Die Oper entstand von Juli bis Mitte Dezember 1891; das Ballett von Februar 1891 bis März 1892.« Die folgenden Briefe, ebenfalls der Biographie entnommen, bringen eine Tendenz in den Blick, die Biograph Roland John Wiley als Schwierigkeit des Tschaikowski-Biographismus (und besonders von Modests Buch) benannt hat: Die stillschweigende Erhebung der Briefe in den Status neutraler Geschichtsschreibung. Ihr stellt Wiley Tschaikowskis eigene Aussage aus einem – offensichtlich ebenfalls

44


»ICH WEISS, DASS ICH MICH MIT DER Z EI T BEH AU P T EN W ER DE .«

für die Nachwelt geschriebenen – berühmten Tagebucheintrag vom 27. Juni 1888 gegenüber: »Mir scheint, Briefe sind niemals ganz aufrichtig. Zumindest, wenn ich von mir ausgehe. An wen auch immer und wozu auch immer ich schreibe, stets mache ich mir Sorgen, welchen Eindruck mein Brief nicht nur bei seinem Empfänger, sondern auch bei eventuellen zufälligen Lesern hinterlässt. Folglich verstelle ich mich.« Ist es überhaupt Verstellung, beim Schreiben auf die vorgestellten Jenigen zu reagieren, die das Geschriebene lesen werden? Ist ein anderes Schreiben überhaupt denkbar? Vielleicht hat Tschaikowski hier eine allgemeingültige Präambel für die Lektüre autobiographischer Schriften und Briefe verfasst. In jedem Fall ist der Hinweis zu bedenken, wenn der Komponist in den folgenden Briefauszügen erklärt, es »gehe mit ihm bergab« oder er die unschuldige Iolanta mit seinem »Hass« verfolgt.

AN MODEST TSCHAIKOWSKY Kiew 21. Dezember 1890 Ist es vernünftig, auf den Vorschlag der Direktion [der Kaiserlichen Theater in Petersburg] einzugehen, da doch das Sextett bewiesen hat, dass es mit mir bergab geht? Das Streichsextett op. 70 Souvenir de Florence komponierte Tschaikowski im Sommer 1890 auf seinem Landsitz in Frolowskowje. Die Komposition hatte ihn, wie er an seinen Bruder Modest schrieb, sehr angestrengt, vor der öffentlichen Uraufführung 1892 sollte er das Werk noch zweimal umarbeiten.

AN MICHAIL IPPOLITOW-IWANOW Kiew 21. Dezember 1890 … außerdem sind bei mir eine einaktige Oper und ein zweiaktiges Ballett bestellt worden. Wsewolohshsky ist mir sehr zugetan und lässt den Gedanken an eine Saison ohne eine Novität von mir überhaupt nicht aufkommen. Auf diese Weise bin ich unwillentlich zum Hindernis für die jüngeren Komponisten geworden, welche ihre Werke gern auf der Kaiserlichen Bühne aufgeführt sehen möchten. Das quält und beunruhigt mich, aber die Verführung ist gar zu groß, auch bin ich noch lange nicht überzeugt, dass es für mich Zeit wäre aufzuhören und der jüngeren Generation Platz zu ma-

45


BRIEFE PIOTR I. TSCHAIKOWSKIS

chen. […] Niemand weiß besser als ich, wie notwendig es für einen jungen Komponisten ist, dass seine Opern auf großen Bühnen gegeben werden, daher wäre ich gern sogar zu Opfern bereit, wenn ich die feste Überzeugung hätte, dass ein Opfer nützen könnte. Gesetzt den Fall, ich würde den Kompositionsauftrag für die Oper und das Ballett ablehnen. Was wäre die Folge davon? Man würde eher drei ausländische Opern geben als eine neue russische, die von einem jungen Autor stammt. Michail Ippolitow-Iwanow (1859–1935), russischer Komponist, Dirigent und Pädagoge.

AN MODEST TSCHAIKOWSKY 1. Jänner 1891 Denkst du hin und wieder an »König Renés Tochter«? Höchstwahrscheinlich wird es damit enden, dass ich zum Komponieren nach Italien reisen werde. Demnach müsste ich das Libretto Ende Januar in Händen haben müssen. Und das Ballett? In Frolowskoje möchte ich vierzehn Tage bleiben. Modest Tschaikowski fügt hier eine Fußnote hinzu: Tschaikowski reiste nicht nach Italien. Mit der Komposition der Oper Iolanta begann er erst im Juli 1891. Als Tschaikowskis Oper Pique Dame im Dezember 1891 nach 13 Vorstellungen überraschend vom Spielplan genommen wurde, war der Künstler außer sich. Er vermutete, dass die Oper Zar Alexander III. nicht gefallen hatte und er die Absetzung angeordnet habe. Ob im Ernst oder im Zorn, im folgenden Brief an seinen Verleger Piotr Jurgenson drohte Tschaikowski, die vereinbarten Kompositionen nicht zu liefern.

AN PIOTR JURGENSON Frolowskoe, 12. Februar 1891 Unter anderem habe ich erklärt, dass ich nach diesem beleidigenden Vorfall [der Absetzung von Pique Dame] Grund zu der Annahme hätte, dass man auch mit meinen zu-

46


»ICH WEISS, DASS ICH MICH MIT DER Z EI T BEH AU P T EN W ER DE .«

künftigen Kompositionen so umspringen könnte, und daher die bei mir für die nächste Spielzeit bestellten Stücke, Einakter [Iolanta] und Ballett [Der Nussknacker], erst dann in Angriff nehmen werde, wenn man mir die offizielle Versicherung zukommen lässt, dass der Kaiser es wünsche. Theaterdirektor Wsewoloschski schrieb Tschaikowski am 15. Februar einen beschwichtigenden Brief, woraufhin dieser mit der Komposition des Nussknacker begann. Im Vorfeld einer geplanten Amerikatournee wurde die Kompositionsarbeit an Iolanta für Tschaikowski zur Qual. Der Komponist wollte auf keinen Fall während der Reise mit der Komposition belastet sein, die Situation scheint zu einer Art Blockade geführt zu haben. Abhilfe schaffte die Bitte an Wsewoloschski, die Premiere um eine Saison zu verschieben.

AN MODEST TSCHAIKOWSKI Rouen, 15. April 1891 Die Hauptursache meiner Verzweiflung lag in der Vergeblichkeit meiner Anstrengungen zu arbeiten. Nichts gelang mir außer Schund. Zugleich haben sich Nussknacker und König Renés Tochter zu einem entsetzlichen fieberhaften Albdruck ausgewachsen und sind mir jetzt so verhasst, dass ich es gar nicht ausdrücken kann. Mich quälte einfach das Bewusstsein der Unmöglichkeit, die übernommene Arbeit gut auszuführen. Und die Perspektive des beständigen Zwanges während der Reise nach Amerika und dort und nach der Rückkehr ist für mich zu einem drohenden Gespenst geworden. Es ist schwer wiederzugeben, was ich empfunden habe, ich weiß nur, dass ich noch nie so unglücklich gewesen bin. Zu meinen kompositorischen Leiden gesellte sich noch das Heimweh, welches ich vorausgesehen hatte, und welches mich nie verschont, wenn ich aus Russland fort bin. Endlich habe ich heute Nacht beschlossen, dass es so nicht weitergehen könne, und schrieb am Morgen den Brief an Wsewoloschski, mit der Bitte, mir nicht böse zu sein, dass ich Oper und Ballett erst für die Saison 1892–93 fertigstellen werde. Nun habe ich mich dieser Last entledigt. In der

47


BRIEFE PIOTR I. TSCHAIKOWSKIS

Tat, wozu sollte ich mich quälen und vergewaltigen. Könnte dabei etwas Gutes herauskommen? Schon jetzt bin ich so weit, dass ich König Renés Tochter hasse. Von Rechts wegen müsste ich sie lieben. Mit einem Wort: Ich muss nach Amerika reisen, ohne die Arbeit am Halse zu haben, da ich sonst verrückt werden könnte. Schon jetzt bin ich so nervös, dass ich fieberhaft zittere, während ich dir schreibe. Nein, zum Teufel mit der Vergewaltigung, Übereilung und moralischen Folter!! Ich fühle, dass ich aus König Renés Tochter ein Meisterwerk machen kann – jedoch nur unter anderen Umständen.

AN NIKOLAI KONRADI 26. Juni 1891 Sobald ich mich in Petersburg erholt haben werde (die Arbeit ermüdet mich jetzt immer sehr), will ich an die Komposition der Oper König Renés Tochter gehen. Da mich dieses Sujet sehr anzieht, fühle ich, dass ich imstande bin – sofern nur meine musikalisch-schöpferischen Fähigkeiten noch nicht im Erlöschen begriffen sind – etwas Schönes zu schreiben, das Beste von Allem, was ich je geschrieben. Nikolai Konradi war der Ziehsohn Modest Tschaikowskis.

AN WLADIMIR DAWIDOW 22. Juli 1891 … widme meine ganze Zeit der Oper. A propos, sage Modest, dass ich die Qualitäten seines Librettos immer mehr zu würdigen lerne, je tiefer ich mich in die Komposition der Musik zu Iolanta versenke. Er hat es ausgezeichnet gemacht, die Verse sind stellenweise sehr, sehr schön. Wladimir Dawidow (»Bob«) war der Lieblingsneffe Tschaikowskis, Adressat zahlreicher schwärmerischer Briefe und Widmungsträger der 6. Symphonie (Pathétique).

48

SONYA YONCHEVA als IOLANTA DMYTRO POPOV als GRAF VAUDÉMONT


49


BRIEFE PIOTR I. TSCHAIKOWSKIS

AN MODEST TSCHAIKOWSKI 25. Juli 1891 Ich habe dir lange nicht mehr geschrieben, Modja, und habe doch ununterbrochen mit dir zu tun, indem ich Iolanta komponiere. Das Libretto ist wunderschön. Es hat nur einen Fehler; aber du bist schuldlos an ihm. Nach dem Duett vom Licht, finde ich, ist bis zum Schluss zu wenig Gelegenheit für Musik, sondern immer wird nur die Handlung erklärt. Ich fürchte, das wird langweilig sein. Übrigens irre ich mich möglicherweise. Ich habe mit der Szene Iolanta-Vaudémont angefangen. Diese Szene hast du ausgezeichnet gemacht, und die Musik hätte wunderschön werden können, ist mir aber, glaube ich, nicht besonders gut gelungen. Niederträchtig ist, dass ich immer wieder in Wiederholungen falle, so dass vieles in dieser Szene der Bezaubernden ähnlich sieht [Tscharodéjka, UA 1887, heute im deutschsprachigen Raum als Die Zauberin bekannt]. Doch abwarten! Immer öfter ergreifen mich Selbstzweifel. Vielleicht ist das aber noch kein allgemeiner Verfall, vielleicht muss ich nur für einige Zeit das Theater aufgeben und eine Symphonie oder Klavierstücke und dergleichen schreiben. Hoffentlich ist es so. Merkwürdig: Solange ich das Ballett komponierte [Der Nussknacker], hielt ich es für unbedeutend und vertröstete mich auf die Oper, in welcher ich zeigen wollte, was ich noch kann. Und jetzt will es mir scheinen, dass das Ballett gut ist und die Oper – nichts Besonderes.

50


»ICH WEISS, DASS ICH MICH MIT DER Z EI T BEH AU P T EN W ER DE .«

In zwei Briefen – an die Brüder Anatoli und Modest – sind der Premierenabend und die Reaktionen der Presse zusammengefasst:

AN ANATOLI TSCHAIKOWSKI Petersburg, 19. Dezember 1892 Lieber Tolja, Oper und Ballett hatten gestern einen großen Erfolg. Namentlich die Oper hat allen gefallen. Am Tage zuvor war die Probe in Anwesenheit des Kaisers. Er war entzückt, rief mich in seine Loge und sagte mir eine Menge teilnahmsvoller Worte.

AN MODEST TSCHAIKOWSKI Petersburg, 23. Dezember 1892 Heute ist es der vierte Tag, dass die ganze Petersburger Presse sich damit beschäftigt, über meine Jüngstgeborenen zu schimpfen. Doch ich bin demgegenüber völlig ruhig, – es ist ja nicht das erste Mal. Ich weiß, dass ich mich mit der Zeit behaupten werde.

51


MARINA FRENK

IOLANTAS OPTIONEN Iolantas Geschichte wirkt auf mich zunächst wie ein Märchen – eine Prinzessin, ein Königsvater, ein Ritter, ein Garten voller Blumen, die Liebe, der drohende Tod, falls ein Versprechen nicht eingehalten wird. Im zweiten gedanklichen Anlauf wirkt es dann wie ein antifeministisches Märchen auf mich – eine blinde Prinzessin, ein autoritärer Königsvater, ein heldenhafter Ritter, der die Prinzessin als Ehefrau im Visier hat, ein Garten, in dem man nichts tun kann, außer sich zwischen Blumen zu langweilen, die Liebe als Inbegriff der Verbindung zwischen Mann und Frau, der drohende Tod, falls der Rittersmann es nicht schafft, die auserwählte Prinzessin von ihrem körperlichen Leiden zu erlösen, indem er sie davon überzeugt, dass nur die Liebe zu ihm ihre Rettung sein kann. Im dritten Anlauf, wenn ich die Möglichkeit in Betracht ziehe, dass Iolanta am Ende des Märchens von ihrer Erblindung geheilt wird und in die Welt außerhalb des Gartens und Schlosses, in dem ihr Vater sie vor der Wirklichkeit behütet, hinauszieht, verwandelt sich die Geschichte in Realität: Eine junge Frau, die noch nicht viel weiß und keine Lebenserfahrung hat, wird erwachsen und verlässt ihren Vater und das Zuhause, das er ihr bieten konnte. Allein steht sie nun vor den Herausforderungen eines selbstständigen Lebens unter

den gegebenen Umständen der Zeit, in der sie lebt. Nehmen wir an, diese Zeit ist jetzt. Was für eine Frau wird aus ihr werden? Ich gehe davon aus, dass sie den Prinzen, der sie Kraft seiner Liebe davon überzeugt, dass selbst das Sehen nach einer jahrelangen Erblindung möglich sein kann, nicht heiratet, denn wenn ich vom Gegenteil ausgehe, werde ich sie immer nur als seine Ehefrau denken können. Natürlich sind auch verheiratete Frauen unabhängige Individuen, aber ich spitze die Ausgangssituation zu und stelle sie mir nicht nur sehend, sondern auch vollkommen allein vor, frage mich, was konkret sie tun würde in dieser neuen Freiheit. Was sieht sie ohne den Vater an ihrer Seite, ohne den Ritter, ohne die Dienerinnen, die im Libretto als Freundinnen bezeichnet werden, ohne Bildung, ohne Erfahrung im Umgang mit Menschen, ohne politisches Bewusstsein, ohne Vorstellung davon, wo sie sich geographisch oder im sozialen Kontext befindet? Was denkt und fühlt sie, wenn sie begreift, dass alles, was sie bisher geglaubt hatte, eine Illusion war, und ein ganz anderes Leben möglich ist als jenes, das sie bisher gelebt hat? Wird sie die neue Unabhängigkeit überhaupt wollen, oder entscheidet sie sich vielleicht sogar einfach, das alte Leben weiterzuleben, weil es gewohn-

52


IOLANTAS OPTIONEN

ter und einfacher erscheint? Ist es nicht ebenso eine freie Entscheidung, in der Lüge verbleiben zu wollen, wie es frei entschieden werden kann, sich aus einer Lüge zu befreien? Der Mensch lebt ja immer in mindestens zwei Welten, der seelischen Innenwelt, in der er im Gespräch mit sich selbst ist, und der Außenwelt, in der er mit anderen Menschen kommuniziert. Beide Bereiche sind real, und es ist schwierig zu sagen, in welchem wir »wahrhaftiger« sind. Ich kann etwas denken, ohne es auszusprechen, aber das Gegenteil davon nach außen kommunizieren, beides wird »stimmen«: meine Gedanken und die Lüge, die ich ausspreche. Andersherum geht das auch: Ich belüge mich selbst innerlich, kommuniziere aber vielleicht nach außen, dass ich etwas denke, was nicht stimmt – beides ist wahrhaftig. Eine Illusion kann aufgelöst werden, durch eine Tatsache widerlegt, dennoch bleibt sie als Vergangenheit bestehen in der Erinnerung als andere Realität, die nicht mehr ist, aber einmal war. In dem jeweiligen Antlitz, das sie hatte, hat sie gestimmt, war die gegebene Wahrheit. Was ist das also genau, das passiert, wenn sich die eine Wahrheit, die vielleicht lügenhaft war, durch eine andere Wahrheit abwechselt, die in dem Moment stimmiger erscheint und durch ihre Aktualität einen Schock auslöst in Form von plötzlicher Klarheit? Und auch die neu gewonnene Klarheit wird nach unbestimmter Zeit durch wieder andere Klarheit abgelöst. Sind Wahrheiten somit immer nur Momentaufnahmen wie Fotografien? Müsste somit die Kindheit als – idealisierte – behütete Zeit abgeschafft werden, um das Kind umso schneller an die harten Bedingungen des Erwachsenendaseins anzupassen

und widerstandsfähiger zu machen? Müsste der Mensch nicht jegliche Form von Illusion abschaffen, wenn er ausschließlich in Klarheit und Wahrhaftigkeit leben wollte, nur in dem, was wirklich »stimmt«? Würde es dann noch so etwas wie »Liebe« geben? Illusionen haben etwas mit Wahrheit und Lüge zu tun, mit Licht und Schatten, mit Ver- und Misstrauen, mit Enttäuschung. Ich sehe einen Sandhaufen vor mir, in dem ein Roller herumliegt und eine Schaufel aus Plastik, Reste von auftauendem Schnee. In dem Haufen befinden sich Krater und Löcher, von Kindern gebuddelt. Ich weiß, dass das ein Sandkasten ist. Dann schließe ich die Augen. Ich öffne sie wieder, sehe denselben Sandhaufen, interpretiere aber Verwüstung in das Bild. Das könnte ein Stück Erde sein nach einem Bombardement, vielleicht bin ich im Kriegsgebiet und habe mir vorhin nur eingebildet, dass ich friedlich auf einer Bank vor einem in die Erde hineingearbeiteten Sandkasten sitze. Vielleicht befinden sich Verletzte in den Kratern, vielleicht ist das ein umgebuddelter Friedhof. Was gibt mir die Sicherheit zu glauben, dass ich weiß, dass es nur ein Sandkasten ist? Was gibt mir die Sicherheit zu wissen, wo ich bin, und zu begreifen, dass ich eine leere Spielfläche für Kinder sehe? Meine Imagination kann sich alles Mögliche zu diesem Ort ausdenken, und wenn ich fest genug daran glaube, dass ich die »Wahrheit« denke, dann wird diese Vorstellung wahrhaftig. Wenn nun jemand dazukommt und ich ihm davon erzähle, dass das eine zerbombte Fläche ist, wird derjenige mich wahrscheinlich vom Gegenteil überzeugen wollen, und wenn ich auf meiner »Wahrheit« beharre, wird derjenige mich für verrückt erklären,

53


54


IOLANTAS OPTIONEN

denn objektiv betrachtet gibt es einige handfeste Beweise dafür, dass dies hier einfach nur ein Sandkasten ohne Kinder ist. Ich werde dann vielleicht fragen, was mich zu der Annahme verleitet hat, zu denken, es herrsche Krieg und es könnte jederzeit eine weitere Bombe einschlagen und mich in diesem Sandkasten begraben. Das von mir imaginierte Bild einer zerstörten Fläche wird im Gespräch zwischen uns aufflackern, diese Vision wird einige Zeit lang real sein, weil wir sie beide imaginieren müssen, um dann weitere Schlüsse daraus zu ziehen. Was ein Gehirn sich vorstellt, ist wahr, auch wenn es eine Täuschung ist. Illusionen sind überall. In Gegenständen, Gesichtern, in Büchern, Filmen, Musik, Nachrichten, in Geschichte, in jeder Handlung. Eine Tasse ist keine Tasse, sondern verarbeitete Keramik. Ein Gesicht ist das, was ich darin zu erkennen glaube, und nicht die mir unsichtbare Innenwelt des Gegenübers oder meines eigenen Gesichtes. Die Realität eines Buches ist immer Fiktion, auch wenn ein Text von realen Begebenheiten berichtet. Ein Film sind inszenierte und ausgesuchte Bilder, die mir in einer bestimmten Reihenfolge präsentiert werden, was manipulativ ist. Geschichte sind Fakten, die immer noch tiefgründiger erkundet werden können und sich somit verändern, oder auch nicht. Essen ist eine Notwendigkeit, gegen die ich mich nicht entscheiden kann, weil ich dann sterbe, was den Genuss daran relativiert, weil die Handlung in letzter Konsequenz nicht auf Freiwilligkeit beruht. Alles ist das, was es ist, aber auch etwas anderes, nichts kann vollständig festgehalten und definiert werden, weil es sich verändern wird schon im nächsten Augenblick, wie Kaffeepulver, das gerade noch SIMONAS STRAZDAS als BERTRAND ATTILA MOKUS als IBN-HAKIA STATISTERIE der WIENER STAATSOPER

trocken war und in fünf Minuten schon flüssig, oder die jordanische Wüste, die vor vielen Jahrtausenden ein Meer gewesen ist. Alles ist wandelbar, ist Veränderung, ist nicht das, worauf ich es festzulegen versuche, um meine Realität zu vereinfachen. Selbst Gefühle sind Chimären. Liebe ist, vergeht aber auch wieder oder verändert sich bis zur Unkenntlichkeit. Angst erscheint in einem Augenblick nicht auszuhalten, verfliegt aber im nächsten schon wieder, weil irgendjemand im richtigen Moment das richtige Wort sagt, das die Angst verdrängt. Ausgesprochene Worte, die nicht aufgezeichnet werden, bilden in den Köpfen der sie austauschenden Menschen Bedeutungen, die, wenn man das Gespräch als Tonaufnahme von außen hört, schon wieder etwas ganz anderes meinen können, je nachdem, wer zuhört. Ich kann meinen Namen ändern, mein Geschlecht, das Land, in dem ich lebe, den Partner, ich kann einen anderen Beruf lernen als den, den ich schon habe, Veränderung ist immer möglich. Was ist also wahrhaftiger – die Realität, die jetzt ist, oder die, die morgen sein wird? Was stimmt absolut? Was ist frei von Illusion? Gibt es irgendetwas, das sich nie verändert? Was ist Veränderung? Ich versuche, mir die Sekunde vorzustellen, die auf die Sekunde folgt, in der Iolanta noch nicht sehen konnte. Diese Millisekunde, in der auf einmal nicht Dunkelheit oder Undefinierbarkeit oder eben innere Wahrnehmung mit allen Sinnen außer denen des Sehens sich in ihr abspielt, sondern vielleicht eine Farbe, oder eine Form, wahrscheinlich beides gleichzeitig. Ich versuche, mir vorzustellen, dass ich nicht weiß, wie der Bildschirm des Computers vor mir aussieht, ich habe so

55


MARINA FRENK

ein Ding noch nie gesehen und weiß es somit nicht zu benennen. Ich öffne die Augen und sehe etwas Graues, Rechteckiges, mit einer Spiegelung darin, mit kleinen Zeichen, die aufeinander folgen, mit schwarzen, quadratischen Flächen, nur dass das alles schon zu definiert ist, denn ich weiß noch nichts von einem Rechteck, nichts von Farben, nichts von Lichtreflexionen, weil ich sie noch nie gesehen habe. Wohin Iolanta ihren Blick auch wenden würde, es würde ihr erst einmal nichts sagen, es würde nur da sein. Sie ist dieselbe wie davor, sie spürt sich von innen, sie weiß, wer sie ist, sie erkennt die Stimmen um sie herum, sie versteht die Worte, die man ihr sagt, aber sie versteht kein einziges Bild, kann noch gar kein Bild denken, keinen Zusammenhang zwischen Bildern herstellen. Ich bin sicher, diese Eindrücke würden sie so sehr verwirren und erschlagen, dass sie die Augen am liebsten wieder verschließen würde, in das gewohnte Umfeld ohne Bilder zurückkehren. Die Illusion, in der sie gelebt hat, die ja in allem »stimmig« gewesen ist, nur eben keine Bilder enthielt, wird ihr gewohnter erscheinen, unkomplizierter. Sie könnte also nun eine neue Illusion produzieren und aus Protest die Augen geschlossen halten, damit keine Veränderung in ihre Wahrnehmung dringt. Es wäre eine Möglichkeit, sich zu schützen. Das würde auch ihren Vater bestärken in seiner Vorstellung, sie zu behüten, denn ohne Irritationen von außen ist das Leben einfacher. Wahrscheinlich wird ihre Neugier aber stärker sein, und sie wird mit dieser neuen Fähigkeit immer mehr sehen wollen. Nachdem sie Schloss und Garten sehend erkundet haben wird, wird sie sich fragen, was es noch auf der Welt zu sehen gibt und das gewohnte Um-

feld verlassen. Wahrscheinlich wird sie jemand an die Hand nehmen müssen, ihr erklären müssen, was sie sieht: einen Bahnhof, einen Zug, Straßen, Menschen, Gebäude, Schrift, Natur – alles. Sie wird erst einmal mit dem Sehen des Alltäglichen zurechtkommen müssen. Wenn sie sich daran gewöhnt hat, wird sie lernen müssen, selbstständig zu sein, und das Erste, wovon die sehende Iolanta sich verabschieden müssen wird, ist wahrscheinlich die Art und Weise, auf die sie bisher geliebt wurde. Um ein eigenständiges Individuum zu werden, müsste sie die behütende Liebe ihres Vaters hinter sich lassen, die sich ohne einen illusorischen Blick darauf nicht als Liebe entpuppen würde, sondern als eine Befriedigung seines Sicherheitsbedürfnisses, im Sinne von: wenn ich mein Kind nicht rauslasse, kann ihm auch nichts passieren. Sie müsste sich auch von der Liebe des Ritters befreien, dessen Liebe sich ebenfalls nicht als Liebe definieren lassen würde, weil es mehr um seinen Wunsch gehen würde, eine Ehefrau zu haben und vor allem sie zu retten, also ein Held zu sein. Der Ritter behauptet zwar, er würde Iolanta so lieben und heiraten, wie sie ist, selbst, wenn ihre Erblindung nicht geheilt werden könnte. Da sie aber geheilt wird, erfahren wir nie, ob er die Wahrheit gesagt hat, oder ob das auch nur eine Illusion seinerseits war, weil er verblendet gewesen ist vom Verliebtsein in diese schöne junge Frau (die Phase des Verliebtseins vergeht bekanntlich nach einiger Zeit und wird durch etwas anderes abgelöst). Sie müsste sich auch von der Liebe ihrer Freundinnen verabschieden, die in Wirklichkeit ihre Dienerinnen am Adelshof des Königs gewesen sind, also Dienstleisterinnen, die die Illusion von Freundschaft erzeugt

56


IOLANTAS OPTIONEN

haben. Sie müsste sich letztendlich von der Liebe zu sich selbst verabschieden, die sie gelernt hat in den Jahren des Blindseins, denn womöglich würde sich ihr Gefühl von sich selbst vollkommen wandeln, wenn sie sich zum ersten Mal im Spiegel erblicken würde. Der Anblick könnte ihr nicht gefallen, weil er das vollkommene Gegenteil dessen sein könnte, wie sie sich bisher wahrgenommen hat, sie könnte es mit Zweifeln und Minderwertigkeitskomplexen zu tun bekommen, müsste sich eventuell komplett selbst hinterfragen, weil das visuelle Bild mit dem seelischen nicht in Einklang zu bringen sein würde. Vielleicht würde aber auch das Gegenteil passieren, und die »Schönheit«, die sie aus dem Spiegel anschaut, würde sie arrogant machen oder selbstverliebt, was ja auch Formen von Illusionen sind. Das Ideal einer wie auch immer gearteten zufriedenstellenden »Liebe«, in der man passiv verweilen kann wie in dem Garten ihres Vaters, müsste sie auf jeden Fall überdenken, um einen neuen Zugang zu sich selbst zu finden, aus dem sie handeln kann. Nach einiger Zeit der Gewöhnung an diese nun auch visuell wahrzunehmende Persönlichkeit in den eigenen Augen und den Blicken der außenstehenden Menschen müsste sie als dieses sehende Individuum anderen Menschen begegnen. Sie müsste ein auf ungewohnte Weise soziales Wesen werden, das von anderen nicht als Mittelpunkt betrachtet wird wie früher im Königsschloss, sondern als Teil einer Gesellschaft. Sie müsste lernen, sich als Frau wahrzunehmen, müsste die letzten Jahrtausende der Entwicklung von Frauen reflektieren, müsste sich fragen, was Emanzipation bedeutet, sich mit Mutterschaft auseinandersetzen. Sie müsste sich in einen Beruf integrieren

und versuchen, dasselbe Gehalt zu bekommen wie ein Mann. Sie müsste sich wahrscheinlich nach einer Anzahl von diskriminierenden Erfahrungen, die jede Frau im Laufe ihres Lebens macht, fragen, ob diese Illusion vom Unterschied zwischen den Geschlechtern, die es seit Jahrtausenden gibt, nicht aufgegeben werden sollte, da es zu viele Beweise dafür gibt, dass Männer und Frauen in ethischer Hinsicht absolut gleichwertige menschliche Wesen sind, die grundsätzlich und überall auf der Welt gleiche Rechte zugestanden bekommen sollten. Sie müsste sich Gedanken über ihre Sexualität machen, müsste sich einen Sinn für ihr Leben ausdenken oder auch nicht, müsste sich politisch positionieren und sich klar darüber werden, woher sie kommt, geographisch und aus welcher sozialen Schicht, müsste sich Gedanken über Gesellschaftsklassen machen, generell über Minderheiten in der Gesellschaft, sie müsste entscheiden, auf welchem Kontinent sie leben will und warum, sich also mit den unterschiedlichsten von der Zivilisation erschaffenen politischen Illusionen unseres Daseins auseinandersetzen, und sich letztendlich die Frage nach »Freiheit« stellen, die sich wahrscheinlich jeder Mensch im Laufe seines Lebens aus unterschiedlicher Perspektive und aus den unterschiedlichsten Gründen stellt. Iolanta würde sich vielleicht fragen: War ich freier, als ich blind war, oder bin ich es sehend? Wie frei bin ich bei allem, was ich nun sehen kann, wirklich? Vielleicht würde sie sich entscheiden, Philosophie zu studieren und dabei auf Foucault stoßen, sich erschrecken, wenn sie bei der Lektüre seiner Theorie über die Dispositive, in denen wir alle leben, begreifen würde, dass sie das

57


IOLANTAS OPTIONEN

nun alles sehen kann, an ihrer eigenen Haut spüren, dass sie das alles erlebt, seit sie weiß, dass sie eine Frau ist, seit sie klar sehend versucht, ein unabhängiges Leben als Frau zu leben, ohne König und Ritter und dienende Freundinnen. Vielleicht würde sie begreifen, dass alle Babys (mit Sehbehinderung oder ohne) in eine Welt geboren werden, in der jegliche Art von Ungerechtigkeit schon stattgefunden hat, in eine Geschichte, die schon passiert ist samt der größten Katastrophen, die man sich vorstellen kann. Vielleicht würde sie sich auseinandersetzen müssen mit der Tatsache, dass die Chance auf Freiheit von vielen Faktoren abhängig ist und die Idee von Freiheit von viel Illusion umgeben. Je nachdem, wozu sie sich dann entscheidet – in das gewohnte Gefühl von »Blindheit« zurückkehren oder die Realität nüchtern zu betrachten – würde sie in meinem realistischen Märchen versuchen, eine aktuelle, auf allen historischen Erfahrungen beruhende, sich aber dennoch von ihnen lösende Theorie von »realer Freiheit für Frauen« zu entwi-

ckeln, so illusionslos und klar, wie das nur möglich oder eben unmöglich ist. In jedem Fall würde sie sich auf einen langen Reflexionsweg begeben müssen, wenn sie von außen als denkende Frau und nicht nur als Frau gesehen werden möchte. In meinem Märchen würde ich sie dafür mit einem dritten und vielleicht auch einem vierten Auge ausstatten. Mit den zwei von Natur aus gegebenen nun sehenden Augen könnte sie dann die Oberfläche von Situationen, in die sie hineingerät, erkennen, mit dem dritten Auge den eigentlichen Inhalt der Ereignisse, darunter die Intentionen aller Beteiligten, und mit dem vierten Auge könnte sie einen Sicherheitsultraschall durchführen, der offenlegt, was die jeweilige Situation für sie als Frau bedeuten könnte und wie sie sich schützen oder auch vertrauend fallen lassen könnte. Die Illusion von einem guten Ende, also einer Iolanta, die ganz ohne Vater und Ehemann nüchtern sehen und denken kann, möchte ich auch meinem realistischen Märchen nicht nehmen.

58

DMYTRO POPOV als GRAF VAUDÉMONT SONYA YONCHEVA als IOLANTA IVO STANCHEV als KÖNIG RENÉ


KOPFZEILE

59


PLATON

TIMAIOS Die Sehkraft ist nach meiner Ansicht die Urheberin des größten Nutzens für uns geworden, weil von unsern gegenwärtigen Erörterungen über das All wohl keine einzige wäre gegeben worden, wenn wir weder Sterne noch Sonne noch Weltgebäude sähen. Nun aber nehmen wir Tag und Nacht und auch die Monate und die Jahresumläufe wahr, und haben so durch dies alles die Zahlenverhältnisse sowie den Begriff der Zeit empfangen und sind zur Untersuchung über die Natur des All angeregt worden, und dadurch sind wir zur Philosophie vorgedrungen, welche das größte Gut ist, was dem sterblichen Geschlechte als eine Gabe der Götter zuteilwurde und jemals zuteilwerden wird. So führe ich denn nur dies, als das größte unter den Gütern an, welche von den Augen herstammen, denn wozu brauchten wir noch alle übrigen, die von geringerer Art sind, anzuführen, die ja jedermann kennt und deren Verlust durch Erblindung doch nur der Nichtphilosoph mit eitler Klage beweint! Vielmehr müssen wir jenen obersten Zweck nach dem Obigen dergestalt als die wahre Ursache hinstellen, dass der Gott die Sehkraft für uns erfunden und uns verliehen hat, damit wir die Bewegungen im Weltgebäude betrachten und sie auf die Kreisläufe unseres eigenen Nachdenkens anwenden könnten, welche jenen verwandt sind, soweit es das Durchschütterte mit dem Unerschütterlichen sein kann, und damit wir nach ihrer genauen Durchforschung und nachdem uns die Berechnung ihres richtigen Ganges, wie er ihrem Wesen entspricht, gelungen, in Nachahmung der von allem Irrsal freien Umläufe den in uns selber stattfindenden einen festen Halt geben.

60

SONYA YONCHEVA als IOLANTA CHOR der WIENER STAATSOPER


61


NIKOLAUS STENITZER

ZEIT, ORT & SICHT

WO IOLANTA VERSTECKT WIRD – UND WARUM

Iolanta? König Renés Tochter Iolanta soll die Bewohnerin des zauberhaften Gartens sein? Der Waffenträger Almerik kann nicht glauben, was ihm der Wächter Bertrand da erzählt. Alle Welt wisse doch, dass Iolanta in Spanien lebe, im Kloster der Mutter Santa Clara! Von wegen, belehrt ihn Bertrand. Seit ihrer Geburt lebe Iolanta bereits an dem verborgenen Ort, betreut von ihrer Amme Marta, seiner Frau. Der König hat falsche Fährten gelegt, Unwahrheiten verbreitet, um sicher sein zu können, dass niemand Iolanta findet, ehe er entschieden hat, dass sie gefunden werden soll. Die Erzählung, die er verbreiten hat lassen, verortet Iolanta außer Reichweite. Aber auch das Versteck, das er ausgewählt hat, soll ihr Verborgenbleiben sicherstellen: Das Refugium befindet sich in den Ardennen, einem Gebirge im äußersten Osten des heutigen Frankreich, an der Grenze zur Schweiz und zum Breisgau.

HERZOG, GRAF & KÖNIG Wir befinden uns im Libretto zu Piotr Tschaikowskis Oper Iolanta, das heißt: Das Versteck hat Modest Tschaikowski ausgesucht, des Komponisten Bruder und Librettist. In der Vorlage zur Oper, Henrik Hertz’ Drama Kong Renés Dottir

(König Renés Tochter, 1845), wird der Handlungsort ebenfalls genau benannt, und er befindet sich anderswo als bei Tschaikowski, nämlich »in einem Tal der Vaucluse in der Provence«, also in der Gegend um Avignon. Das erscheint schlüssiger, möchte man meinen, immerhin ist König René, wie Henrik Hertz im Personenverzeichnis angibt, »Herzog von Provence«. Bei Modest Tschaikowski finden wir auch hier eine Abweichung: Als »König der Provence« wird René dort ausgewiesen, was eine von mehreren Anpassungen, Vereinfachungen und Veränderungen darstellt, die Modest sich für die Librettofassung leistet, und die Iolanta noch ein wenig weiter von der ohnehin schon vagen historischen Grundlage entfernt, auf der sich Kong Renés Dottir bewegt. Henrik Hertz nämlich bediente sich für sein Schauspiel einer historischen Personenkonstellation und Konfliktlage, die für die Dramaturgie des Schauspiels tatsächlich von Bedeutung ist. In der Nachbemerkung zum Drama, die auch allen erhaltenen deutschsprachigen Druckausgaben nachgestellt ist, geht es Hertz vor allem um die Rechtfertigung seines freien Umgangs mit der Geschichte. Er liefert dabei auch nebenher die Konfliktlage, die seine Dramenhandlung in Gang setzt:

62


ZEIT, ORT & SICHT

»Die historische Grundlage, auf welcher dies Drama basiert, beschränkt sich darauf, dass König René, Graf der Provence, nach langwierigen Streitigkeiten mit Graf Anton von Vaudémont, das Herzogtum Lothringen betreffend, einen Vergleich durch Hülfe des Herzogs von Burgund zu Stande brachte, nach welchem seine Tochter Jolanthe einem Sohne des Grafen Anton von Vaudémont vermählt werden sollte. Diese Ehe wurde später vollzogen, und ein Sohn der Jolanthe wurde Stammvater der nachfolgenden Herzöge von Lothringen. Aber soviel die Geschichte über Renés eine Tochter, Margarethe von Anjou, Gemahlin des Königs von England, Heinrichs VI., berichtet hat, so sparsam sind die Nachrichten über Jolanthe. Wenn daher ein Verfasser sich zur Benutzung derselben in einem Drama seiner freien Phantasie überließ, so geschah dadurch der Geschichte durchaus keine große Gewalt. Im Übrigen wird man es leicht sehen, dass die Handlung in diesem Drama dem König René und seiner Umgebung aus rein poetischem Grunde untergeschoben ist. Einzelne Züge, wie z. B. des Königs bekannte Liebhaberei für die Gartenkunst, wird der kundige Leser bald als Ausschmückung für die Scenen erkennen.« In der Tat geschah der Geschichte keine grobe Gewalt; vielmehr könnte man sagen, dass Henrik Hertz der Geschichte um die historischen Kontrahenten René d’Anjou und Antoine de Vaudémont gewissermaßen eine Zwischenepisode eingefügt hat, die mit dem weiteren Verlauf der Geschichte harmonisiert, ja, sogar die für die Geschichtsschreibung verdunkelte Zwischenzeit durch eine dramatische Episode aufhellt. Gedacht hat Henrik Hertz aber womöglich andersherum; denn tatsächlich ver-

wendet er die historischen Ereignisse als Rahmung für die Überlegungen zu Licht und Schatten, die ihn und in der Folge auch die Tschaikowskis interessierten. Nichtsdestoweniger ist die Geschichte ein taugliches dramatisches Vehikel, um zu erklären, wie Iolanta in ihr entlegenes Refugium gerät. René und Antoine einigten sich im Jahr 1433 unter Vermittlung Philipps des Guten von Burgund auf einen Ehevertrag zwischen ihren beiden Kindern Jolande (*1429) und Friedrich (*1417). Auf diese Weise sollte, wie ja auch Henrik Hertz beschreibt, die lange umstrittene Erbfolge in Lothringen geregelt werden. Der Konflikt war von äußerster Brisanz und hatte zwei Jahre vor dem Vertragsschluss noch zur Schlacht von Bulgneville geführt, in deren Zuge Antoines Truppen René sogar gefangengenommen hatten. Mit diesem Hintergrund wird in Henrik Hertz’ Stück erklärt, warum René seine erblindete Tochter versteckt hält: Er fürchtet, dass Antoine sich durch die Blindheit der Schwiegertochter betrogen fühlen und der Konflikt wieder aufflammen würde. Marta erläutert Almerik diesen Hintergrund in der zweiten Szene des Dramas ganz umstandslos: »Die alte Fehde um Lothringen wird neu zum Kampf erwachen, denn nimmer wird der stolze Vaudémont mit einer Blinden seinen Sohn vermählen. Nur heftiger wird er den Kampf erneuern, weil er leicht glauben mag, er sei betrogen, und längst vor dem Vertrage sei Jolanthe erblindet schon!«

VERSTECKT IM EIGENEN LAND Iolantas Blindheit gefährdet den Frieden: Sie darf auf keinen Fall entdeckt werden. Der König versteckt sie also –

63


NIKOLAUS STENITZER

wo? Im Hinterland, einem Tal, zwischen Bergen. Nicht in Spanien, obwohl diese falsche Fährte auch nicht im luftleeren Raum entstanden ist. Immerhin ist René d’Anjou der Sohn Yolanthes von Aragón, die ihm auch ihre Ansprüche auf die Krone vermachen sollte – die er allerdings niemals durchsetzen konnte. Das spanische Versteck hätte, gerade, wenn wir uns einigermaßen an den historischen Daten orientieren, außerhalb von Renés unmittelbarem Herrschaftsbereich gelegen. Und die Dichter, mit denen wir es zu tun haben, Henrik Hertz und Modest Tschaikowski, denken bei Iolantas Refugium die Herrscherfigur mit: Der König will die Tochter außer Sichtweite – und sie dabei selbst immer im Blick haben. Ihr Rosengarten muss sich also innerhalb seines Reiches befinden. Der historische René beherrschte im Lauf seines Lebens verschiedene Territorien; der Königstitel stammt von der Herrschaft über das Königreich Neapel, die er von 1435 bis 1442 ausübte. Graf von Provence war er zwischen 1434 und 1480 – Modest Tschaikowski vereinfachte dann die beiden Titel zum »König von Provence«. Innerhalb der Grafschaft Provence verortet Henrik Hertz das Versteck Iolantas bzw. Jolanthes. Die Ardennen wiederum, wo Modest Tschaikowski Iolanta leben lässt, sind weit von der Provence entfernt. Sie gehören allerdings zum Herzogtum Bar, das ab 1419 zu Renés Herrschaftsbereich gehört (und später mit Lothringen vereinigt wird). Das heißt: Iolanta lebt in jeder der beiden Fassungen zwar verborgen, aber auf dem Gebiet ihres Vaters. Das entspricht nicht nur der Königsfigur, die Besorgtheit und Beschützerinstinkt mit Gefangennahme gleichsetzt, sondern erinnert auch selt-

sam an einen spezifischen Aspekt des Prinzips der Verbannung: Seit der Antike – berühmt etwa die Verbannung des Dichters Ovid aus nicht restlos geklärten Gründen an die Schwarzmeerküste – existiert diese Strafe, deren Perfidie sich mitunter darin ausdrückt, dass nicht nur ein bestimmter Aufenthaltsort verboten, sondern auch der künftige vorgeschrieben wird. Der Grund ist leicht nachzuvollziehen: Die betroffene Person spürt den Einfluss der strafenden Instanz umso stärker, durch den Befehl, aber womöglich auch durch den Ort selbst, seine Einsamkeit, Abgelegenheit, Unwirtlichkeit. All das trifft auf Iolantas Garten vordergründig nicht zu. Ihr werden alle Annehmlichkeiten geboten, sie ist ständig umsorgt, ist sie doch, wie Marta gleich zu Beginn bemerkt, »die Herrin«, sie, Marta, und die anderen Frauen dagegen »Dienerinnen« (natürlich widerspricht Iolanta energisch, das Verhältnis sei eines zwischen »Freundinnen«). Überhaupt scheint es widersinnig, Iolantas Aufenthalt und Leben unter dem Gesichtspunkt einer wie immer gearteten Strafe zu betrachten: Sie wird nicht nur mit Liebe umsorgt, für ihren Zustand vor allem bedauert. Und schließlich könnte der wichtigste Aspekt einer Strafe bei ihr gar nicht verfangen: So, wie sie das Augenlicht nicht kennt, kennt sie auch keinen anderen Ort als den, an dem sie immer schon lebt. Eine Strafe, die nicht als solche empfunden wird, ist keine Strafe. Was dagegen stark an den Verbannungstopos gerade der Neuzeit erinnert, ist der Aufenthalt an einem entlegenen, unzugänglichen Ort, der sich im Herrschaftsbereich jener Instanz befindet, die die Verbannung ausspricht: Eine Dezentralisierung, eine Verschiebung

64


ZEIT, ORT & SICHT

an die Peripherie und in die potenzielle Vergessenheit, wie die Verbannung des italienischen Dichters Carlo Levi nach Lukanien, über die er den Roman Cristo si è fermato a Eboli schrieb (Christus kam nur bis Eboli, 1945): außer Sichtweite, abgeschnitten von der Gesellschaft – aber immer noch im Hoheitsgebiet des verbannenden Regimes, in diesem Fall des faschistischen Italien. Iolanta befindet sich an einem Ort, der für den König jederzeit zugänglich und erreichbar ist und von seinen Truppen geschützt wird. Und zugleich an einem Ort, an dem sie auch der Vergessenheit anheimfallen kann, falls die Heilung misslingen sollte.

INNERES LEUCHTEN, ÄUSSERES LICHT Die historische Jolande hatte einen Verbleib im Dunkel der Geschichte nicht zu befürchten; über eine Erblindung oder eine Wunderheilung und eine mit beidem zusammenhängende Außersichtstellung der Königstochter ist nichts bekannt, all das ist der »freien Phantasie« des Dichters Hertz entsprungen. Dabei bilden aber eben diese Aspekte das zentrale philosophische Projekt, für das sich Hertz und in der Folge die Tschaikowskis interessierten. Iolanta ist ein Drama über das Sehen und Nichtsehen im allerweitesten Sinn: Es geht um nicht weniger als den Wettstreit der Wahrnehmungen als Basis von Erkenntnis, Letzteres wiederum im Sinn einer Möglichkeit einer Annäherung an Gott. Dass dem tatsächlich so ist und Iolantas Blindheit nicht durch ein anderes, die Heiratsfähigkeit minderndes Gebrechen hätte ausgetauscht werden können, deutet sich schon in der ersten Schilderung von Iolantas Situation an.

»Sie weiß nicht, was Licht ist«, erklärt Marta, die Amme, dem Waffenträger Almerik. Und auch der König erklärt gegenüber dem Arzt Ibn-Hakia: »Ich gebe alles darum, dass sie das Licht erblickt.« Das Licht, das Iolanta nicht kennt, wird ihr schließlich nachdrücklich von Gottfried Vaudémont nahegebracht; auf ihre Frage »Ritter, was ist Licht?«, antwortet er »mit Feuer« (so die Regieanweisung): »Das erste Wunder der Schöpfung, das erste Geschenk des Schöpfers an seine Kreatur, die Sichtbarwerdung der Herrlichkeit Gottes, die schönste Perle in seiner Krone.« In dieser Charakterisierung wird das Sehen in die Nähe der Möglichkeit einer Gotteserkenntnis gerückt – von der Iolanta in der Folge ausgeschlossen ist. Die Musikwissenschaftlerin Susanne Dammann verweist in ihrem Aufsatz Weg zur Kunst. Szenen aus Peter Iljitsch Tschaikowskys Iolanta (Musik & Ästhetik 62/2012) in diesem Zusammenhang auf Henrik Hertz’ Rezeption des deutschen Philosophen Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, konkreter von dessen Überlegungen zum Wesen der Kunst. Schelling beschreibt in seinem Studium generale (1803) die Kunst als »eine Verkündigerin göttlicher Geheimnisse, die Enthüllerin der Ideen« – im idealistischen Verständnis also des Wesens der Dinge. Mit dem Sehen ist diese Wesensschau nicht vollzogen, vielmehr ist die sinnliche Wahrnehmung die Voraussetzung dafür, wahrzunehmen, was im Fall der wirklichen Kunst nach Schelling »aus dem Absoluten unmittelbar ausfließt«. Wie sich dieser Zusammenhang herstellt, setzt Schelling in seiner Philosophie der Kunst (1802–1805) auseinander. Die Schönheit, die für den Idealisten Schelling natürlich nicht Geschmackssache,

65


NIKOLAUS STENITZER

sondern objektiv in der Idee gesetzt ist, fällt mit der Wahrheit (die Gegenstand der Philosophie ist) in eins, indem beide das Subjektive und das Objektive in sich vereinen, also in der Lage sind, das Urbild, die Idee zu vermitteln. Die Philosophie vermag das »vorbildlich«, die Kunst aber »gegenbildlich«, vorsichtig könnte man sagen: In ihr spiegeln sich die Ideen. Die Ideen aber, die Urbilder, sind göttlichen Ursprungs – und so wird vielleicht nachvollziehbar, wie drastisch eine Gemeinschaft, die dieser Lehre anhängt, das Nichtsehen Iolantas nimmt. Auch das überwältigend komponierte Gotteslob am Ende von Tschaikowskis Oper erschließt sich unter diesem Gesichtspunkt besser. Bleibt man bei der Lesart, in der die »unvollkommene« Iolanta vor der Welt versteckt wird, so könnte man diese vervollständigen als den Ausschluss derjenigen, die sich dem Wesen Gottes nicht öffnen kann – einer Unbelehrten. Dazu fügt sich auch die Integration des Denkens Baruch de Spinozas in die Handlung, das im Monolog Ibn-Hakias zum Ausdruck kommt: Die Verbundenheit von Seele und Geist zu einer Gesamtheit, die die Ethik Spinozas lehrt, führt dort zur Vollkommenheit, zum »Sehen des Lichts«. Dass die selbstbewusste Iolanta der ganz offensichtlich dominanten Erzählung eine eigene entgegensetzt, macht die Figur und die Geschichte interessanter und fügt auch eine zusätzliche philosophische Option hinzu: Ihre Wahrnehmung, erklärt sie dem Ritter Vaudémont im Duett, sei ebenso vollwertig und gottesnah wie das Licht, von dem er so schwärme: »Nein, um Gott ewig zu loben, bedarf es des Lichtes nicht, mein Ritter. Unendlich ist Gottes Gegenwart, sie kennt keine Grenzen. In der Wärme des

Tages, im kühlen Balsam der Nacht, in den Tönen, in mir selber spiegeln sich alle Formen eines unsichtbaren und gütigen Gottes. Siehst du das Zwitschern der Vögel im Rosengesträuch? Oder das sanfte Murmeln des schnellen Bächleins im Sand? Siehst du das Grollen des Donners, den Nachtigallengesang, den Duft der Blume, deine Stimme und deine Worte? Nein, Ritter, um Gott ewig zu loben, bedarf es des Lichtes nicht!« Iolanta verweigert sich damit der seit Platon vorherrschenden Hierarchisierung der Wahrnehmungen. Sie steht eher in der Tradition eines Plutarch, der vom Gedächtnis als dem »Gesicht für blinde Dinge« schreibt, in dem Sinn, dass Menschen ohne Gesichtswahrnehmung andere Sinneseindrücke stärker und besser wahrnehmen. Vaudémont kann sie damit nicht nur überzeugen, er geht sogar – im selben Duett – einen Schritt weiter: »Du hast recht«, antwortet er, »in dir selber leuchtet das Licht der Wahrheit, vor dem das Licht unserer Welt nur ein flüchtiges ist«. Iolanta ist für ihn, der ja schon von ihrer schlafenden Präsenz restlos überwältigt war, nun auch in ihrer Blindheit zur idealen Figur geworden. Nicht nur gesteht er ihr zu, dass ihr Wahrnehmen dem der anderen, Sehenden gleichwertig ist; er überhöht es sogar noch deutlich. Iolanta wird hier kurzfristig und ohne weitere Begründung zu einer »hellsichtigen« Blinden, deren Wahrheitswahrnehmung analog zur Sinneseinschränkung erweitert erscheint, wie sie in der abendländischen Literatur in der Nachfolge von Teireisias, der Ideal- und Urfigur des blinden Sehers, gelegentlich auftauchen. Welcher Art das »Licht der Wahrheit« ist, das Vaudémont in Iolanta leuchten sieht, wird bei Hertz und Tschaikowski nicht mehr

66


ZEIT, ORT & SICHT

näher spezifiziert; die Notwendigkeit, die Blindheit umzudeuten, verläuft sich, indem der Prozess der Heilung in Gang gesetzt wird, und Vaudémonts Versprechen, auch eine blinde Iolanta heiraten zu wollen, muss in der Folge weder auf die Probe gestellt noch erläutert werden. »Iolanta sieht das Licht!«, lautet die triumphierende Nachricht, die vor dem Schlusschor durch den Rosengarten schallt. Die Gefahr, dass Iolanta dauer-

haft aus der Gesellschaft ausgeschlossen bleiben muss, ist damit ebenso abgewandt wie die, dass ihre eigene »Sicht« auf die Dinge mit der bisher vorherrschenden Wahrnehmungshierarchie in den Ideenwettbewerb treten muss. Ab nun gehört sie offiziell zu denjenigen, die »das Licht« sehen können. Wie nebenher ist damit auch der Weg hinaus aus dem Einflussbereich ihres Vaters frei, und vielleicht auch der zur selbstständigen Inbesitznahme der Wahrheit.

67



DENIS DIDEROT

BRIEF ÜBER DIE BLINDEN, ZUM GEBRAUCH FÜR DIE SEHENDEN Er [der Blinde] beurteilt Schönheit durch den Tastsinn; das ist verständlich. Doch wie er auch die Aussprache und den Klang der Stimme zu Maßstäben seines Urteils über Schönheit machen kann, ist nicht so leicht zu begreifen. Es ist Aufgabe der Anatomen, uns darüber zu belehren, ob irgendeine Beziehung zwischen den Mund- und Gaumenteilen und der äußeren Form des Gesichts besteht. Er macht kleine Arbeiten auf der Drehbank und mit der Nadel, nivelliert mit dem Winkelmaß, montiert und demontiert gewöhnliche Maschinen, versteht genug von Musik, um ein Stück zu spielen, wenn man ihm die Noten und ihre Werte angibt. Er schätzt viel genauer als wir die Zeitdauer nach der Aufeinanderfolge der Handlungen und Gedanken. Die Schönheit der Haut, die Fülle des Körpers, die Festigkeit des Fleisches, die Vorzüge der Gestalt, der Wohlgeruch des Atems, der Zauber der Stimme, der Reiz der Aussprache sind Eigenschaften, die er bei anderen Menschen sehr zu schätzen weiß. Er hat geheiratet, um Augen zu haben, die ihm gehören. Vorher hatte er die Absicht, sich mit einem Tauben zusammenzutun, der ihm Augen leihen sollte und dem er als Gegenleistung Ohren bieten wollte. Nichts hat mein Erstaunen dermaßen erregt wie seine eigentümliche Begabung für sehr viele Dinge; doch als wir ihm unsere Überraschung bezeugten, sagte er: »Ich bemerke wohl, meine Herren, dass Sie nicht blind sind. Sie sind erstaunt über das, was ich tue. Und warum staunen Sie nicht darüber, dass ich sprechen kann?« In dieser Antwort, so glaube ich, liegt mehr Philosophie, als er selbst hineinlegen wollte. MONIKA BOHINEC als MARTA SONYA YONCHEVA als IOLANTA DANIEL JENZ als ALMERIK ATTILA MOKUS als IBN-HAKIA

69


ANDREAS LÁNG

DIE FUSS- SPUREN EINES ROLLSESSELS IOLANTA IM HAUS AM RING VOR 2025 Einer der ersten künstlerischen Entscheidungen Gustav Mahlers als frischgebackener Direktor der Wiener Hofoper war, dem Publikum Piotr I. Tschaikowski vorzustellen. Das Repertoire wurde bereits wenige Wochen, nachdem Mahler seinen Posten bezogen hatte, durch die Erstaufführung des Eugen Onegin an dieser Bühne um einen später auch hier unentbehrlichen Komponisten erweitert. Unter Mahlers persönlicher Leitung und mit großem Erfolg natürlich. Dieser Schritt kam freilich nicht ganz überraschend, hatte Mahler doch schon als Kapellmeister in Hamburg wichtige Werke des russischen Kollegen kennengelernt, schätzen gelernt und wiederholt aufgeführt. Wenn man so will, handelte es sich um einen von der Begeisterung Mahlers getragenen Komponisten-Import in die Donaumetropole. Das war 1897. Schon drei Jahre später folgte mit der Iolanta-Premiere das nächste für Wien neue Tschaikowski-Opus. Auch dieses hatte Mahler in Hamburg bereits erfolgreich erprobt (als erste Produktion dieses Werkes außerhalb Russlands und nur wenige Wochen nach der Uraufführung) und wollte es nun mit großem Enthusiasmus ebenfalls im Haus am Ring verankern. Dieser Wunsch Mahlers wurde nach seinem Abgang jedoch rasch

fallengelassen – so nachdrücklich, dass das Werk knapp 125 Jahre lang (bis zur Premiere der aktuellen Produktion am 24. März 2025) auf dieser Bühne nicht mehr gegeben wurde. Wollte man nach 1901 Iolanta in Wien hören, gab es aber immerhin gelegentliche – szenische wie konzertante – Angebote anderer Bühnen der Stadt. Um die Tschaikowski-Vorreiterrolle Mahlers noch abzurunden: 1902 brachte er an der Hofoper auch noch Pique Dame zur Wiener Erstaufführung. (Auf die heute berühmten TschaikowskiBallette musste man hier noch länger warten: der Schwanensee kam 1909 als Gastspiel aus St. Petersburg und als Eigenproduktion erst 1964, Dornröschen ein Jahr vorher und der Nussknacker überhaupt erst 1973). Zurück zur Iolanta. Die Vorlage – Henrik Hertz’ Schauspiel König Renés Tochter –, das sich in Europa eine Zeitlang gewisser Popularität erfreute, tauchte immer wieder auch auf Bühnen des heutigen Österreichs auf. Nicht zuletzt am alten Wiener Burgtheater, an dem das Stück zwischen 1847 und 1879 regelmäßig zu erleben war. Und im Kärntnertortheater gab es 1849 sogar eine erste Iolanta-Oper des heute vergessenen österreichischen Kompo-

70


DIE FUSSSPUREN EINES ROLLSESSELS

Partiturseite aus IOLANTA mit GUSTAV MAHLERS handschriftlichen Anmerkungen zur Transponierung der Tonhöhe

71


ANDREAS LÁNG

nisten Johannes Hager. Für die um die Jahrhundertwende ältere Generation war der Stoff also nicht unbekannt. Nachdem Gustav Mahler, wie damals üblich, die Tschaikowski’sche Version bei der Zensurstelle eingereicht hatte, äußerte diese jedenfalls keine Einwände und gab die Oper nach kurzer Begutachtungszeit für Aufführungen an der Hofoper frei. Da damals viel kurzfristiger disponiert werden konnte als heute, las man in diversen Zeitungen nur wenig später erste Ankündigungen über angedachte Premierentermine. Februar 1899 wurde beispielsweise als fix angenommen, daraus wurde dann März/April 1899 und schließlich und endgültig März 1900. Auch in puncto Besetzung der Titelpartie gab es schon bald erste Bekanntmachungen. Die beliebte Marie Renard (die Uraufführungssängerin der Charlotte in Werther) als Iolanta galt etwa – obwohl Mezzosopranistin mit Ausflügen ins Altfach – als gesetzt. Doch ihre Liebschaft (und spätere Heirat) mit dem Grafen Kinsky führte zum frühzeitigen Abgang aus der Hofoper, sodass Mahler daraufhin die gefeierte Sopranistin (und seine Kurzzeitgeliebte) Selma Kurz mit der Rolle betraute. Schlussendlich hielt nicht einmal der von der Hofoper veröffentlichte endgültige Premierentermin, der 19. März 1900, da Tenor Franz Naval, der Interpret des Vaudémont, vorübergehend erkrankte. Man spielte daraufhin Viktor Nesslers gerade im Repertoire befindliche Oper Der Trompeter von Säkkingen und verschob die mit Spannung erwartete erste Iolanta-Aufführung um drei Tage auf den 22. März 1900. Offenbar wären noch ein paar Tage mehr für die endgültige Gesundung nötig gewesen, denn Naval verlor am Premierenabend im essenziellen Duett mit der Titelheldin vollstän-

dig die Stimme, sodass Franz Pacal, der Sänger der kleineren Rolle des Almerik, kurzfristig auf die Bühne musste, um dem Vaudémont die Stimme zu leihen. Das sah dann konkret folgendermaßen aus: Der stumme Franz Naval führte die vorgesehenen Gesten aus und der unmittelbar hinter ihm stehende Pacal lieferte, diesem gewissermaßen über die Schulter schauend, den vokalen Teil der Darbietung. Zum großen Gaudium des Publikums übrigens. In der im Ganzen wohlwollenden Besprechung des Illustrirten Wiener Extrablattes las sich die zynische Beschreibung dieser Episode dann folgendermaßen: »Don Juan und Leporello mit dem Ständchen vor dem Fenster der Donna Elvira! Musste denn durchaus gestern die Premiere stattfinden?« Dass die Schlussszene aus dem nämlichen Grund am Premierenabend gänzlich gestrichen werden musste, fiel kaum noch ins Gewicht. Wie sich Gustav Mahler im Orchestergraben gefühlt haben musste? Interessant ist in diesem Zusammenhang eine andere Anekdote: Der Kritikergott Eduard Hanslick, der sich durch seine hervorragend formulierten Fehlurteile (nicht nur in Bezug auf die Werke Richard Wagners) einen bleibenden Platz in der Musikgeschichte erschrieben hat, verlor über diese Tenormisere in seiner ausführlichen Rezension in der Neuen Freien Presse kein einziges Wort. Hanslick spendete Selma Kurz großes Lob und den übrigen Beteiligten immerhin Anerkennung. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt und gar vermutet, Hanslick hätte die Kritik schon im Voraus verfasst und die Vorstellung gar nicht besucht oder diese zumindest vorzeitig verlassen… Da die Aufführung den Usancen der damaligen Praxis entsprechend auf

72


DIE FUSSSPUREN EINES ROLLSESSELS

Deutsch über die Bühne ging (der Titel der Oper lautete entsprechend Jolanthe), stachen Diskrepanzen zwischen der Regie, die eine sehr buchstäbliche Umsetzung des Inhalts verfolgte, und dem Text ins Auge. Und so überrascht es wahrscheinlich nicht, dass das oben erwähnte Illustrirte Wiener Extrablatt auch noch eine Aufforderung zur Textänderung (nicht eine der Regie wohlgemerkt) empfahl, da es dem Kritiker seltsam anmutete, wenn Graf Vaudémont »die Fußspuren Jolanthes vom Garten ins Gartenhaus zu verfolgen imstande ist, trotzdem die schlafende Prinzessin diesen Weg in einem Rollsessel zurückgelegt hat«. Dabei hatte Mahler gerade auf inszenatorische Details großen Wert gelegt: So musste Selma Kurz beispielsweise während der Probenarbeit die Partie mit verbundenen Augen singen, um dann, bei den Aufführungen, glaubwürdig eine Blinde mimen zu können. Was natürlich keinem der Rezensenten mangels genauerer Kenntnis der Partitur auffiel, waren die Eingriffe Mahlers in den Notentext: Hier eine Änderung bei den dynamischen Vortragszeichen, dort eine in der Agogik und immer wieder auch in der Orchestration – allen voran die Bläser erhielten gelegentlich ein paar zusätzliche Takte, wenn es darum ging, eine Singstimme im Gesamtklang des Orchesters zu unterstützen. Interpretationsbezogene Detailfragen, möchte man sagen. Gravierender waren dann schon die zum Teil über mehrere Seiten gehenden

Striche (Sprünge) – man bedenke in diesem Zusammenhang die Leistungen Mahlers, Richard Wagners Opern erstmals in Wien strichlos aufgeführt zu haben –, und der Umstand, dass er ganze Passagen tiefer transponieren ließ. Vor allem einige der Iolanta, aber auch den stimmlichen Fähigkeiten des René-Interpreten Wilhelm Hesch kam Mahler auf diese etwas plumpe Weise entgegen. So gesehen hätte sich die Partitur auch für die ursprünglich vorgesehene Iolanta-Sängerin, die Mezzosopranistin Marie Renard, brauchbar arrangieren lassen. Ein Jahr lang respektive in neun Vorstellungen konnte man diese Produktion erleben. Und bis auf die letzte Aufführung stand sogar jedes Mal der Hausherr persönlich am Dirigentenpult. Warum aber diese doch sehr überschaubare Präsenz des Stücks an der Hofoper? Nun, Mahler verfolgte offenbar eine ganz spezielle Spielplanpolitik: Immer nur ein Tschaikowski auf einmal, lautete die Devise. Mit der Premiere von Iolanta verschwand Eugen Onegin, und Iolanta musste wiederum Pique Dame weichen. Wohl möglich, dass Mahler für später eine zyklische Aufführung aller drei Stücke angedacht hatte – seine entsprechenden zyklischen Musteraufführungen Mozart’scher Werke lassen diesen Gedanken naheliegend erscheinen –, doch selbst wenn, sein Abgang als Hofoperndirektor verhinderte ein derartiges Vorhaben. Und so verschwand die Partitur zusammen mit Mahlers Eintragungen im Notenarchiv.

73

Nächste Seiten: SONYA YONCHEVA als IOLANTA DARIA SUSHKOVA als LAURA MONIKA BOHINEC als MARTA MARIA NAZAROVA als BRIGITTA CHOR & STATISTERIE der WIENER STAATSOPER




THEA VON HARBOU

IN EWIGEN GÄRTEN Dem »Klub der Söhne« gehörte vielleicht das schönste Haus von Metropolis, und das war nicht verwunderlich. Denn Väter, für die jede Umdrehung eines Maschinenrades Gold bedeutete, hatten ihren Söhnen dieses Haus geschenkt. Es war weit mehr ein Stadtteil als ein Haus. Es umfasste Theater und Filmpaläste, Hörsäle und eine Bibliothek, in der jedes Buch zu finden war, das in fünf Erdteilen gedruckt wurde, Rennbahnen und Stadion und die berühmten »Ewigen Gärten«. Es enthielt sehr ausgedehnte Wohnungen für die jungen Söhne vorsorglicher Väter, und es enthielt die Wohnungen untadelhafter Diener und schöner, wohlerzogener Dienerinnen, zu deren Ausbildung mehr Zeit erforderlich war als zur Züchtung neuer Orchideen. Ihre oberste Aufgabe bestand in nichts anderem, als zu allen Stunden erquicklich anzusehen und launenlos heiter zu sein und in ihrer verwirrenden Tracht, den bemalten Gesichtchen und Augenmasken, übertürmt von schneeweißen Perücken und duftend wie Blumen, glichen sie zärtlichen Puppen aus Porzellan und Brokat, von einer Künstlerhand entworfen, nicht käuflich, doch hübsche Geschenke.

Freder war nur ein seltener Gast im »Klub der Söhne«. Er zog seine Werkstatt vor und die Kapelle der Sterne, wo seine Orgel stand. Aber wenn es ihn einmal gelüstete, sich in die strahlende Fröhlichkeit der Stadion-Wettspiele zu werfen, so war er von allen der Strahlendste und der Fröhlichste, und er spielte von Sieg zu Sieg mit dem Lachen eines jungen Gottes. Auch an jenem Tage ... Noch durchströmt von der eisigen Kühle stürzenden Wassers, jeder Muskel noch zuckend in der Berauschung des Sieges lag er, schlank hingestreckt, ausatmend, lächelnd, trunken, ganz aufgelöst, fast töricht vor Glück. Die milchfarbene Glasdecke über den »Ewigen Gärten« war ein Opal im Licht, das ihn badete. Die kleinen, zärtlichen Frauen bedienten ihn, schalkhaft und eifersüchtig wartend, aus wessen Händen, aus wessen zierlichen Fingerspitzen er die Früchte naschen würde, nach denen er verlangte. Eine stand abseits und mischte ihm einen Trank. Von Hüften zu Knien bauschte sich sprühend Brokat. Die schmalen, nackten Beine adlig geschlossen, stand sie wie Elfenbein in purpurnen Schnabelschuhen. Zart aus den Hüften hob sich der helle Leib, der –

76


IN EWIGEN GÄRTEN

und das wusste sie nicht – im selben Rhythmus bebte, der im ausstürmenden Atem die Brust des Mannes hob. Sorglich bewachte das kleine, gemalte Gesicht unter der Augenmaske das Werk ihrer sorglichen Hände. Ungeschminkt war ihr Mund und war doch granatapfelrot. Und er lächelte auf den Trank so selbstvergessen hinab, dass es die anderen Mädchen hell lachen machte. Angesteckt begann auch Freder zu lachen. Aber der Jubel der Mädchen schwoll zum Sturm an, als der Trankmischerin, die nicht wusste, warum sie lachten, die Röte der Verwirrtheit vom granatapfelfarbenen Mund bis zu den hellen Hüften niederfloß. Das hohe Gelächter lockte die Freunde an, die grundlos, nur weil sie jung und ohne Kummer waren, in den heiteren Lärm einstimmten. Wie ein herzselig klingender Regenbogen wölbte sich Lachen um Lachen bunt über den jungen Menschen. Doch plötzlich wandte Freder den Kopf. Seine Hände, die an den Hüften der Trankmischerin lagen, ließen sie los und fielen ihm nieder wie tot. Das Gelächter verstummte. Es rührte sich keiner der Freunde. Keine der kleinen, brokatenen, nacktgliedrigen Frauen regte Hand oder Fuß. Sie standen und schauten.

Die Tür der »Ewigen Gärten« hatte sich aufgetan, und von der Tür her kam ein Zug von Kindern. Sie hatten sich alle bei der Hand gefasst. Sie hatten graue, uralte Zwergengesichter. Sie waren kleine, gespenstische Totengerippe, die in gebleichten Lumpen und Kitteln hingen. Sie hatten farbloses Haar und farblose Augen. Sie gingen auf abgezehrten bloßen Füßen. Lautlos folgten sie ihrer Führerin. Ihre Führerin aber war ein Mädchen. Das herbe Antlitz der Jungfrau. Das süße Antlitz der Mutter. Sie hielt in jeder Hand eines Kindes magere Hand. Sie stand nun still und blickte die jungen Männer und Frauen nacheinander an mit der tödlichen Strenge der Reinheit. Sie war ganz Magd und Herrin; Unantastbarkeit – und war auch ganz und gar Holdseligkeit: die schöne Stirn im Diadem der Güte; die Stimme Mitleid; jedes Wort ein Lied. Sie ließ die Kinder los und streckte die Hand aus und sprach, auf die Freunde deutend, zu den Kindern: »Seht, das sind eure Brüder!« Sie wartete. Sie stand still, und ihr Blick ruhte auf Freder. Dann kamen die Diener, die Pförtner kamen. Inmitten dieser Mauern aus Marmor und Glas, unter der opalenen

77


IN EWIGEN GÄRTEN

Kuppel der »Ewigen Gärten« war für kurze Zeit ein nie erlebter Wirrwarr von Lärm, Entrüstung und Verlegenheit. Das Mädchen schien noch immer zu warten. Auch wagte es niemand, sie anzurühren, obgleich sie so wehrlos unter den grauen Kinder-Gespenstern stand. Unablässig ruhten ihre Augen auf Freder. Dann nahm sie ihre Augen von ihm fort, bückte sich ein wenig und fasste die Kinderhände wieder, wandte sich um und führte den Zug hinaus. Die Tür fiel hinter ihr zu; die Diener verschwanden mit vielen Entschuldigungen, dass sie den Vorfall nicht hätten verhindern können. Alles war Leere und Stummheit. Hätte nicht jeder und jede, vor denen das Mädchen mit seinem grauen Kinderzug erschienen war, so zahlreiche Zeugen des eigenen Erlebens gehabt – sie wären versucht gewesen, an Sinnestäuschung zu glauben. Neben Freder, auf dem leuchtenden Mosaik des Bodens, kauerte die Trankmischerin und schluchzte fassungslos.

Mit einer trägen Gebärde neigte sich Freder zu ihr und zögerte, wie ein Mensch, der auf etwas horcht, – und nahm ihr plötzlich mit einem heftigen Ruck die Maske, die schmale schwarze Maske von den Augen. Die Trankmischerin schrie auf, wie in letzter Nacktheit überrascht. Ihre Hände flogen greifend hoch und blieben erstarrt in der Luft hängen. Ein kleines bemaltes Gesicht starrte erschreckt zu dem Mann auf. Die Augen, entkleidet, waren ganz töricht, ganz leer. Ganz geheimnislos war dieses kleine Gesicht, dem man den Maskenreiz genommen hatte. Freder ließ das schwarze Stoffstück fallen. Die Trankmischerin griff hastig zu, barg ihr Gesicht. Freder sah sich um. Die »Ewigen Gärten« strahlten. Die schönen Menschen in ihnen, wenn jetzt auch flüchtig verstört, strahlten in ihrer Gepflegtheit, dem sauberen Sattsein. Der Duft der Frische, der über allen war, glich dem Atem eines betauten Gartens.

78

SONYA YONCHEVA als IOLANTA


79


IMPRESSUM PIOTR I. TSCHAIKOWSKI

IOLANTA SPIELZEIT 2024/25 PREMIERE DER PRODUKTION: 24. MÄRZ 2025 Herausgeber WIENER STAATSOPER GMBH, Opernring 2, 1010 Wien Direktor DR. BOGDAN ROŠČIĆ Musikdirektor PHILIPPE JORDAN Kaufmännische Geschäftsführerin DR. PETRA BOHUSLAV Redaktion NIKOLAUS STENITZER Mitarbeit ANNA VUKOVITS Gestaltung & Konzept EXEX Layout & Satz ROBERT KAINZMAYER Lektorat MARTINA PAUL Druck PRINT ALLIANCE HAV PRODUKTIONS GMBH, BAD VÖSLAU TEXTNACHWEISE ORIGINALBEITRÄGE Nikolaus Stenitzer: Die Handlung – Nikolaus Stenitzer: Über dieses Programmbuch – Nikolaus Stenitzer im Gespräch mit Evgeny Titov: »Was bedeutet das wirklich?« – Tugan Sokhiev: Spinozas Ethik & Tschaikowskis Musik – Julya Rabinowich: Sound & vision. Iolanta und die unerträgliche Unbeständigkeit des Seins – Kadja Grönke: Ich fühle, dass ich aus »König Renés Tochter« ein Meisterwerk machen kann – Marina Frenk: Iolantas Optionen – Nikolaus Stenitzer: Zeit, Ort und Sicht. Wo Iolanta versteckt wird – und warum – Andreas Láng: Die Fußspuren eines Rollsessels. Iolanta im Haus am Ring vor 2025. TEXTNACHWEISE ÜBERNAHMEN Cormac McCarthy: Die Bösen, aus: Cormac McCarthy: Die Straße, Deutsch von Nikolaus Stingl © 2007, Rowohlt Verlag, Hamburg – Dietmar Dath: Einen Mann töten, aus: Dietmar Dath: Die Abschaffung der Arten. © 2010, Suhrkamp Verlag AG, Berlin. Alle Rechte vorbehalten – Piotr I. Tschaikowskis Briefe werden zitiert nach: Modest Tschaikowsky: Das Leben Peter Iljitsch Tschaikowskys, Band 2, hg. von Alexander Erhard und Thomas Kohlhase, Neuausgabe des Erstdrucks Moskau – Leipzig bei P. Jurgenson 1900– 1903, aus dem Russischen übersetzt von Paul Juon, Mainz: Schott 2011 – Platon: Timaios – Thea von Harbou: In ewigen Gärten, aus: Thea von Harbou: Metropolis. Berlin: Scherl 1926. BILDNACHWEISE Coverbild: Brooke DiDonato: Untitled, 2017. Bildkonzept Cover: Martin Conrads, Berlin – Bild S. 41: AKG Images – Szenenbilder: Michael Pöhn/ Wiener Staatsoper GmbH. Nachdruck nur mit Genehmigung der Wiener Staatsoper GmbH / Dramaturgie. Rechteinhaber, die nicht erreicht werden konnten, werden zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten. Kürzungen sind nicht gekennzeichnet.

Produziert gemäß Richtlinie des Österreichischen Umweltzeichens, Print Alliance HAV Produktions GmbH, UW-Nr. 715


BEI UNS TANZEN KEINE SCHWÄNE. SONDERN KRÄNE. STRABAG: Stolze Unterstützerin der Wiener Staatsoper

NIKO, BAUTECHNIKER


HIER SITZEN SIE IMMER AUF DEN BESTEN PLÄTZEN DER VOLLELEKTRISCHE LEXUS RZ Bühne frei für Emotionen: Unser Premium-SUV bietet Ihnen mehr als nur Mobilität. Es bietet Ihnen ein Erlebnis für die Sinne. Das dynamische Fahrgefühl elektrisiert, das intuitiv bedienbare Cockpit begeistert. Vom Einsteigen bis zum Ankommen genießen Sie so ein Erlebnis der Extraklasse. Erfahren Sie das LexusGefühl im vollelektrischen Lexus RZ. Vereinbaren Sie jetzt eine Probefahrt in Ihrem Lexus Forum.

LEXUS GRAZ | DENZEL | Wetzelsdorfer Straße 35 | 8052 Graz LEXUS INNSBRUCK | BACHER GMBH | Haller Straße 233 | 6020 Innsbruck LEXUS LINZ | DIT MITTERBAUER GMBH | Gewerbepark Wagram 1 | 4061 Pasching LEXUS WIEN NORD | KEUSCH | DAS AUTOHAUS | Lorenz-Müller-Gasse 7–11 | 1200 Wien Stromverbrauch Lexus RZ 300e mit Elektromotor 150 kW (204 PS), kombiniert: 14,9 kWh/100 km, CO2Emissionen kombiniert: 0 g/km; CO2-Klasse A; elektrische Reichweite (EAER): 479 km, elektrische Reichweite innerorts (EAER City): 669 km. Werte gemäß WLTP-Prüfverfahren. Abbildung zeigt Symbolfoto.


Kultur bewegt uns alle. Die OMV und die Wiener Staatsoper verbindet eine jahrelange Partnerschaft. Unser Engagement geht dabei weit über die Bühne hinaus. Wir setzen uns aktiv für Jugend und Nachwuchsprojekte ein und ermöglichen den Zugang zu Kunst und Kultur für junge Menschen. Gemeinsam gestalten wir eine inspirierende Zukunft. Alle Partnerschaften finden Sie auf: omv.com/sponsoring





Spotify-App öffnen, Code scannen und Iolanta-Playlist hören

WIENER- STAATSOPER.AT


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.