VINCENZO BELLINI
NORMA
INHALT
S.
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DIE HANDLUNG S.
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ÜBER DIESES PROGRAMMBUCH S.
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MELODIEN, WIE SCHÖNER NICHT GETRÄUMT WERDEN KÖNNEN SEBASTIAN WERR S.
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ÜBER EINE MUSIK JENSEITS DES NOTENTEXTES MICHELE MARIOTTI S.
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BELLINI. EIN WORT ZU SEINER ZEIT RICHARD WAGNER S.
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EINE MUSIK, DIE AUS GESANG & DRAMA EIN EINZIGES GANZES MACHT UWE SCHWEIKERT
S.
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VELLEDA FRANÇOIS-RENÉ DE CHATEAUBRIAND S.
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ZUR NORMA FELICE ROMANIS & VINCENZO BELLINIS SERGIO MORABITO S.
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EINE KOLLEKTIVE HANDSCHRIFT DER REGISSEUR UND SEIN TEAM ÜBER IHRE ARBEIT AN NORMA S.
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NORMA DAS LIBRETTO VON FELICE ROMANI WÖRTLICH ÜBERSETZT VON SERGIO MORABITO
Welch Herz du verraten, welch Herz du verloren offenbare dir diese Schreckensstunde. NORMA, ZWEITER AKT, LETZTE SZENE
VINCENZO BELLINI
NORMA TRAGISCHE OPER in zwei Akten Text FELICE ROMANI
ORCHESTERBESETZUNG 2 Flöten (beide auch Piccolo) 2 Oboen 2 Klarinetten 2 Fagotte 4 Hörner 2 Trompeten (1 colle chiavi) 3 Posaunen Cimbasso Pauken/Schlagwerk Harfe Streicher BÜHNENMUSIK 3 Flöten 3 Klarinetten 3 Hörner 6 Trompeten 3 Posaunen Tuba Schlagwerk (kleine Trommel, große Trommel, Tam-Tam)
AUTOGRAPH
Historisches Verlagsarchiv Ricordi, Mailand URAUFFÜHRUNG 26. DEZEMBER 1831 Teatro alla Scala, Mailand WIENER ERSTAUFFÜHRUNG 11. MAI 1833 Hoftheater nächst dem Kärthnerthore SPIELDAUER
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INKL. 1 PAUSE
DIE HANDLUNG 1. AKT Oroveso, das Oberhaupt der Druiden, verpflichtet die Gallier, gegen die verhasste römische Fremdherrschaft ohne göttliche Zustimmung nichts zu unternehmen. Bei Aufgang des Mondes wird seine Tochter, die Priesterin Norma, den göttlichen Willen verkünden. Die Männer rufen Irminsul, den Gott des Krieges, an: Er möge das Zeichen zum Aufstand geben. Heimlich führt Pollione, der römische Prokonsul, mit Norma ein eheähnliches Verhältnis. Sie haben zwei Kinder. Aber nicht um seine Familie zu sehen, hat Pollione sich in den Tempel eingeschlichen, sondern um Adalgisa willen, einer jungen Priesterin, in die er sich verliebt hat. Norma tritt vor das Volk. Sie prophezeit den Untergang Roms: »Eines Tages wird es sterben; doch nicht durch euch. An den eigenen Lastern geht es zugrunde.« Ihre spirituelle Autorität zwingt die Gallier, in das Gebet an die Mondgöttin mit der Bitte um Frieden einzustimmen. Dann entlässt sie die Gemeinde. Einmal mehr hat sie Pollione und ihre Kinder vor der Gefährdung durch einen Aufstand bewahrt. Pollione eröffnet der von Liebe und Schuldgefühlen bedrängten Adalgisa, dass er nach Rom zurückkehren wird. Adalgisa entscheidet sich, ihm zu folgen. Norma offenbart ihrer Vertrauten Clotilde ihre Ängste angesichts der Entfremdung Polliones von ihr. Adalgisa bekennt Norma, dass sie sich verliebt hat. Zu ihrer Überraschung entbindet Norma sie von ihrem Gelübde. Doch als offenbar wird, dass ihr Geliebter der Vater von Normas Kindern ist, stößt Adalgisa Pollione als Lügner zurück. Norma verflucht ihn.
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DIE HANDLUNG
2. AKT Norma glaubt, ihre Kinder töten zu müssen: bei den Galliern sei ihnen der Tod sicher, bei den Römern die Sklaverei, »schlimmer noch als Tod«. Sie vermag es nicht. Nun fordert sie Adalgisa auf, Pollione zu heiraten und sich ihrer beiden Kinder als Stiefmutter anzunehmen. Doch Adalgisa gelingt es, der zum Selbstmord entschlossenen Norma wieder Hoffnung zu geben: Sie selbst will Pollione dazu bewegen, zu ihr und den Kindern zurückzukehren. Oroveso mahnt die Gallier, die das römische Lager überfallen wollen, zur Zurückhaltung, denn Pollione soll von einem wesentlich brutaleren Prokonsul abgelöst werden. Clotilde bringt Norma die Nachricht, dass Adalgisas Vermittlungsversuch gescheitert ist. Norma gibt das von den Galliern ersehnte Signal zum offenen Aufstand. Pollione wird gefangen hereingeschleppt: Er hatte versucht, die sich ihm verweigernde Adalgisa zu entführen. Norma macht Pollione unter vier Augen ein letztes Angebot: Wenn er bereit ist, von Adalgisa abzulassen, wird sie ihm die Flucht ermöglichen. Doch seinen zynischen Gleichmut vermag erst ihre Drohung zu erschüttern, Adalgisa vor seinen Augen hinrichten zu lassen. Norma ruft das Volk zurück. Sie habe den Landesverrat einer eidbrüchigen Priesterin anzuklagen. Doch statt Adalgisa zu denunzieren, antwortet sie auf die erregten Fragen nach deren Identität mit den Worten: »Ich bin es.« Angesichts ihres Selbstopfers bekennt sich Pollione wieder zu seiner Liebe zu ihr; doch seine Bitte, ihm zu verzeihen, lässt Norma unbeantwortet. Ihrem Vater Oroveso gesteht Norma, dass sie Mutter ist. Bevor sie den Scheiterhaufen besteigt, vermag sie dem Widerstrebenden das Versprechen abzuringen, ihre Kinder vor der Wut ihres Volkes zu schützen.
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ÜBER DIESES PROGRAMM- BUCH Unter einem Zitat Richard Wagners, der bei Bellini »Melodien, wie schöner nicht geträumt werden können« fand, skizziert der Musikwissenschaftler Sebastian Werr ab S. 9 den Werdegang des Komponisten, die Besonderheit seiner Ästhetik und die Faktoren, die Norma zum Hauptwerk des früh verstorbenen werden liessen. Wagner selbst kommt im Rahmen seiner Würdigung der Norma anlässlich eines eigenen Dirigats des Werks in Riga 1837 ausführlich zu Wort (S. 20). Der Dirigent der Wiener Neueinstudierung Michele Mariotti erläutert ab S. 16 die beglückenden Herausforderungen, vor die Bellini seine Interpreten stellt. Uwe Schweiktert gibt
ab S. 24 einen dramaturgischen und musikalischen Abriss der Partitur. Cyril Teste und sein Regieteam fächern ab S. 50 ihren Angang an die Wiener Neuproduktion auf. Eine Passage aus dem Roman Les Martyrs (1809) des französischen Romantikers René de Chateaubriand macht uns mit der literarischen Quelle für das wohl berühmteste Bild der Oper vertraut, die feierliche Mistelernte der Druidin (S. 36). Der Beitrag von Sergio Morabito durchleuchtet das großartige Finale der Oper. Ab S. 58 folgt dann seine Übersetzung von Felice Romanis Libretto, die Bellinis musikalische Redaktion genau widergibt.
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FEDERICA LOMBARDI als NORMA CHOR & STATISTERIE der Wiener Staatsoper
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SEBASTIAN WERR
MELODIEN, WIE SCHÖNER NICHT GETRÄUMT WERDEN KÖNNEN »In dieser Oper hat sich Bellini ent schieden auf die größte Höhe seines Talents geschwungen, und sie ist in diesen Tagen der romantischen Ex travaganzen und Ueberreitzungen in sogenannten pikanten musikalischen Genüssen jedenfalls eine Erscheinung, die gar nicht genug zu würdigen ist. [...] Wie gehalten, edel und großartig [...] das ganze Kolorit, wie einfach grandios der Styl.« Die hier in einer Rezension aus dem Jahre 1837 gewürdigte Oper ist Bellinis Norma, der Laudator kein Geringerer als Richard Wagner. Von den drei großen italienischen Opernkomponisten des frühen 19. Jahrhunderts – Gioachino Rossini, Gaetano Donizetti und Vincenzo Bellini – ist letzterer wohl der am wenigsten bekannte. Zwar gerieten seine Opern zumindest in Italien nie völlig in Vergessenheit. Ihre Popularität schwankte aber in dem Maße, wie sich geeignete Interpretinnen für stimmlich so anspruchsvolle Partien wie die der Norma fanden, die einst für eine der größten Sängerinnen ihrer Zeit geschaffen wurde: für Giuditta Pasta (1798–1865). Norma kam immer dann wieder auf die KS JUAN DIEGO FLÓREZ als POLLIONE VASILISA BERZHANSKAYA als ADALGISA
Bühne, wenn Sängerinnen vom Format einer Gina Cigna, Rosa Ponselle oder Zinka Milanov zur Verfügung standen. Für Maria Callas schließlich war die Druidenpriesterin die Rolle überhaupt, von ihren rund 500 Auftritten waren allein 90 dieser Partie gewidmet. Bellini wurde am 3. November 1801 als Kind einer Musikerfamilie in Cata nia geboren, wenngleich man dem blonden und blauäugigen Komponisten den Sizilianer kaum ansah. Nachdem er eine erste Musikausbildung in seiner Heimatstadt erhalten hatte, war nach einigen Jahren der Punkt erreicht, von dem an er in der Provinz nichts mehr lernen konnte. Mit einem kleinen Stipendium der Stadtverwaltung im Gepäck begann Bellini daher im Sommer 1819 das Studium am Konservatorium in Neapel, einem der angesehensten Italiens, das vor und nach Bellini zahlreiche namhafte Komponisten ausgebildet hat. Zu seinen Mitschülern gehörten unter anderem Luigi (1805– 1859) und Federico Ricci (1809–1877), die Autoren von Crispino e la Comare (1850), der populärsten Opera buffa der Verdi-Zeit; seine Studien dort soeben
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SEBASTIAN WERR
beendet hatte auch Saverio Mercadante (1795–1870), späterer Direktor des Konservatoriums und Komponist zahlloser Opern, von denen einige wie II giuramento (1837) gelegentlich noch heute gespielt werden. Als Siebzehnjähriger hatte Bellini das übliche Eintrittsalter in das Konservatorium zwar weit überschritten (üblicherweise begann man das dortige Studium als Kind), irgendwie aber gelang es ihm, die Regularien der Aufnahmeprüfung zu umgehen – anders als Giuseppe Verdi, dem 1832 die Aufnahme in das heute nach ihm benannte Mailänder Konservatorium verweigert wurde, weil er das Alterslimit um vier Jahre überschritten hatte. Das Leben in dem Musik-Internat war hart, militärisch durchorganisiert mit morgendlichem Tagesbeginn um 4.45 Uhr. Das Studium aber war ausgezeichnet, wenngleich die künstlerische Atmosphäre ausgesprochen konservativ war. Dies artikulierte sich unter anderem darin, dass der Stil Gioachino Rossinis, den so viele junge Komponisten dieser Jahre zu imitieren suchten, von Seiten des Lehrkörpers keineswegs auf ungeteilte Zustimmung stieß. Dies sollte auf die stilistische Ausrichtung Vincenzo Bellinis eine nachhaltige Wirkung ausüben. Im Konservatorium von Neapel wurde jedes Jahr eine kleine Oper von einem herausragenden Schüler aufgeführt, und 1825 gelang es Vincenzo Bellini, sich hierbei gegen seine Mitschüler durchzusetzen. Die für diesen Zweck entstandene Opera semiseria Adelson e Salvini, in der Tradition der neapolitanischen Dialektoper mit gesprochenen Dialogen statt Rezitativen, wurde zum Überraschungserfolg und eine Zeit lang jeden Sonntag im Theater des Konservatoriums aufgeführt. Angenehmes Re-
sultat dieses Erfolgs war für Bellini ein Auftrag des Teatro San Carlo, des angesehensten Opernhauses von Neapel. Bianca e Fernando (1826), bei der Uraufführung gespielt als Bianca e Gernando, um eine Namensübereinstimmung mit dem bourbonischen Thronanwärter Ferdinand zu vermeiden, führte wiederum zu einem Auftrag der Mailänder Scala, und mit Il pirata (1827) erlangte Bellini Popularität in ganz Italien. Die Oper um den zum Seeräuber gewordenen Grafen Gualtiero und seine tragische Liebe zu Imogene, der Frau seines ärgsten Widersachers, war auch das erste von Bellinis Bühnenwerken, das außerhalb Italiens gezeigt wurde, nämlich bereits 1828 in Wien. Weitere Opern folgten nun rasch aufeinander: La straniera und Zaira (beide 1829), I Capuleti e i Montecchi (1830) sowie La sonnambula und Norma (beide 1831). Nach dem Misserfolg von Beatrice di Tenda ( 1833) ging Bellini nach Paris, wo er für das Théâtre-Italien seine letzte Oper, I puritani, komponierte. In der französischen Metropole verstarb er am 23. September 1835 im Alter von nur 33 Jahren an einem Darmleiden. Der Text zu Norma, der zweifellos bekanntesten Oper Bellinis, stammt von Felice Romani (1788–1865), dem bedeutendsten italienischen Librettisten seiner Zeit. Von Il pirata (1827) bis Beatrice di Tenda (1833) verfasste er sieben Textbücher für Bellini, also für alle Opern mit Ausnahme der Jugendwerke sowie des letzten Bühnenwerks. Vorlage dieser Oper war die fünfaktige Vers-Tragödie Norma von Alexandre Soumet (1788–1845), die am 16. April 1831 im Pariser Odéon-Theater uraufgeführt worden war. Bereits ein Vierteljahr später stand fest, dass dies die Grundlage des neuen Werks werden
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»MELODIEN, WIE SCHÖNER NICHT GETRÄUMT WERDEN KÖNNEN«
solle, wie ein Brief Bellinis vom 23. Juli des Jahres zeigt: »Ich habe bereits den Stoff für meine neue Oper ausgewählt, es ist eine Tragödie mit dem Titel Norma ossia L’Infanticidio von Soumet, die jetzt unter lautem Beifall in Paris aufgeführt wird.« Um Libretto und Partitur fertigzustellen blieben Bellini und Romani nur wenige Monate, da die Oper bereits zur Eröffnung der Karnevalssaison, dem traditionellen Höhepunkt der Opernsaison, präsentiert werden sollte. Die äußeren Umstände waren nicht in allen Punkten gleichermaßen günstig. Doch die Befürchtung, dass wegen der Cholera die Theater geschlossen werden müssten, was die Uraufführung der neuen Oper gefährdet hätte, bewahrheitete sich nicht. Anfang Dezember 1831 konnte Bellini die Partitur fertigstellen. Neben Soumets Drama flossen auch andere Quellen in das Libretto von Norma ein: So bestehen zahlreiche Verbindungen zur Episode um die schöne und wilde Druidin Velleda aus dem Roman Les Martyrs (1809) von François-René de Chateaubriand, einem der wichtigsten Werke der französischen Romantik. Die düster-raue Landschaft von Europas Norden war als Schauplatz im frühen 19. Jahrhundert ausgesprochen beliebt (einen schroffen Gegensatz zu den davor üblichen der griechisch-römischen Antike herstellend). Zudem hatte Bellinis Librettist Romani zusammen mit dem in diesen Jahren sehr populären Giovanni Pacini die Oper La sacerdotessa d’Irminsul (1820) vorgestellt. Die Handlung weist wenige Gemeinsamkeiten mit der von Norma auf, doch beide weiblichen Hauptfiguren sind Priesterinnen des Gottes Irminsul und Konflikte zwischen Liebe und religiö-
ser Pflicht spielen eine zentrale Rolle. Französische Vorlagen wie Soumets Tragödie waren von eminenter Bedeutung für die italienische Oper: Von Rossinis Barbiere di Siviglia bis Puccinis Tosca basiert ein Großteil der italienischen Libretti auf zeitgenössischen Dramen und Romanen aus Frankreich, nicht zuletzt in Ermangelung von für diese Zwecke geeigneter italienischer Literatur. Paris war für Walter Benjamin bekanntlich die »Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts«. Der Soziologe Siegfried Kracauer charakterisierte die französische Metropole gar als das »Zentrum des Weltamüsements«, damit unterstreichend, welche Bedeutung den dort ansässigen Theatern, Verlagen und Künstlern im 19. Jahrhundert zukam. Die Vormachtstellung bestand vor allem auf dem Sektor der populären Kultur, an die in vielen Techniken und Produktionsmechanismen die heutige nordamerikanische Unterhaltungsindustrie anknüpft. Die Pariser Boulevardtheater – deren Bezeichnung auf den Boulevard du Temple verweist, an dem sie sich aneinanderreihten – waren das unbestrittene Zentrum des populären Theaters. Nicht ohne Grund trug der Boulevard du Temple auch den Spitznamen »Boulevard du crime«, denn die dort gespielten Stücke zeigten meist spektakuläre Handlungen, deren Drastik ganz bewusst an die Grenzen der Aufnahmefähigkeit des zeitgenössischen Zuschauers gingen. Trotz eines durchaus klassizistischen Grundtons reiht sich auch das Drama von Soumet in diesen Kontext ein, denn am Schluss verliert Norma den Verstand, ersticht einen ihrer Söhne und reißt den anderen mit in den Tod, als sie sich von einem Felsen stürzt. Doch in der Oper
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SEBASTIAN WERR
haben die Autoren das spektakuläre Ende stark verändert: Norma opfert sich selbst, um das Leben ihrer Rivalin zu schonen, bittet ihren Vater, sich ihrer Kinder anzunehmen, und steigt gefasst auf den Scheiterhaufen – zweifellos ein weitaus versöhnlicherer Schluss. Die Uraufführung von Vincenzo Bellinis Norma fand am 26. Dezember 1831 im Mailänder Teatro alla Scala statt. Trotz der herausragenden Besetzung mit Giuditta Pasta (Norma), Giulia Grisi (Adalgisa) und Domenico Donzelli (Pollione) – die allesamt zu den gefragtesten Interpreten der Zeit gehörten – blieb der Erfolg jedoch zunächst aus. »Ich komme von der Scala; erste Aufführung von Norma. Würdest Du es glauben? Fiasko!!! Fiasko!!! feierliches Fiasko!!!«, schrieb Bellini noch an diesem Tag verzweifelt an seinen Freund Francesco Florimo: »Ehrlich gesagt, das Publikum war grausam, es schien gekommen zu sein, um mich zu verurteilen, und in seiner Eile wollte es (wie ich glaube), dass die arme Norma das gleiche Schicksal erlitt wie die Druidin. Ich erkenne jene lieben Mailänder nicht wieder, die Il pirata, La straniera und La sonnambula mit beglückten Gesichtern und jauchzenden Herzen begrüßten; ich dachte, dass ich ihnen mit Norma eine würdige Schwester [der anderen Opern] präsentiert habe. Leider war das nicht der Fall; ich hatte Unrecht; meine Hauptdarsteller versagten, und meine Hoffnung wurde getäuscht.« Dass eine italienische Oper bei ihrer Premiere durchfiel, um anschließend doch noch zu reüssieren, kam allerdings häufiger vor, und so auch hier. Oft waren Uraufführungen wegen Zeitdruck schlecht vorbereitet, und insbesondere die Sängerleistungen ließen mitunter noch zu wünschen übrig: »Die Sänger waren
übermüdet, hatten am selben Morgen den ganzen zweiten Akt geprobt, und so gefiel er nicht«, notierte der Komponist an anderer Stelle über die Uraufführung. Bellinis Norma wurde in der ersten Saison vierunddreißig Mal an der Scala gegeben und in schneller Folge von allen bedeutenden Theatern Italiens nachgespielt, um seit damals nie wirklich in Vergessenheit zu geraten. Eine gewisse politische Bedeutung begleitete die Rezeption dabei auch: Zwar wird die italienische Einigungsbewegung – das Risorgimento – meist mit der Musik Giuseppe Verdis in Verbindung gebracht, wobei allerdings die neuere Forschung zeigen konnte, dass manches hiervon nur ein nach der Herstellung des Königreichs Italiens entstandener Mythos ist. Als eine Art von italienischer Marseillaise wurde aber (wenn auch wahrscheinlich ohne entsprechende Intentionen der Autoren) in den Jahren des Zweiten Unabhängigkeitskriegs 1859/60 der Chor »Guerra, guerra« aus Bellinis Norma begriffen, wie verschiedene zeitgenössischen Quellen belegen, die von ausgiebigen patriotischen Demonstrationen berichten, die die Aufführung dieser Nummer begleiteten. Wie sehr Bellini in den Jahren nach der italienischen Einigung zu einer Art von nationaler Ikone wurde, sieht man auch daran, dass seine Gebeine 1876 unter großer Anteilnahme der Bevölkerung von Paris in seine Heimatstadt Catania umgebettet wurden. Eine bemerkenswerte Verbreitung von Norma fand auch außerhalb Italiens statt. Bereits 1833 kam die Oper nach Wien und London, 1834 nach Madrid, Berlin, Brünn, Budapest, 1835 nach Prag, Lissabon, St. Petersburg; die Aufzählung ließe sich beliebig fortsetzen. Wenn Bellinis Opern dabei in Deutsch-
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land heute ein besseres Ansehen genießen als die Werke seines größten Konkurrenten Gaetano Donizetti, so begründet sich dies wohl durch die Wertschätzung von Richard Wagner, dessen Äußerungen den Komponisten gleichsam nobilitierten. Wagner kannte Bellinis Musik gut, denn als junger Kapellmeister in Magdeburg, Königsberg und Riga hatte er Aufführungen von I Capuleti e i Montecchi, La straniera sowie Norma dirigiert und für letztere Oper sogar eine Bass-Arie mit Männerchor für Oroveso hinzukomponiert. Wagners in diesen Jahren entstandene Äußerungen sind geradezu enthusiastisch, wenn er sich über »die klare Melodie« und »den edlen und schönen Gesang« entzückt. Seine Darstellung ist aber auch tendenziös, was das Bild des italienischen Komponisten verzerren sollte: »Das übrige was an diesem Bellini schlecht ist, kann ja jeder eurer Dorfschullehrer besser machen, das ist bekannt; es liegt demnach ganz außer der eigentlichen Sache, sich über diese Mängel lustig zu machen; wäre Bellini bei einem deutschen Dorfschullehrer in die Lehre gegangen, er hätte es wahrscheinlich besser machen lernen, ob er aber dabei nicht vielleicht seinen Gesang verlernt hätte, steht allerdings sehr zu befürchten.« Dass Bellini mangelhaft und einfallslos instrumentiert habe, ist eines der gängigen Klischees über den Komponisten. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich aber, dass Bellinis Auffassung von Instrumentation durch ältere ästhetische Anschauungen des italienischen Belcanto geprägt war (ohne dass seine Musik dabei im geringsten als veraltet gelten muss), die er während seines Studiums in Neapel vermittelt bekam. Zu Folgende Seiten SZENENBILD
den dort vertretenen Lehrmeinungen gehörte, dass – für uns heute vielleicht kaum mehr nachzuvollziehen – bereits beim Rossini-Stil der Gesang durch die üppige Instrumentation zu sehr eingeengt werde. Wie einer von Bellinis Lehrern, der Soprankastrat Girolamo Crescentini (1762–1846) schrieb, »besteht Musik heutzutage aus nichts weiter [...] als der Anhäufung von unzähligen übermäßig lauten Noten, was der Grund dafür ist, warum die armen Sänger [...] – eine Karriere darauf aufbauen müssen, laut zu schreien [...]. Ich hoffe, dass [...] wenn erst ein Ende des Cabaletta- und Crescendo-Stils erreicht ist, wir uns einem einfacheren, wahrhaftigeren Stil zuwenden werden, der der menschlichen Stimme gibt, was ihr zukommt und was sie verdient; dass diese das Gefühl für Singen und Deklamieren wiedererhält anstelle des lauten Gebrülls, das die Sänger heutzutage von sich geben.« Aus diesem Blickwinkel war es Aufgabe des Orchesters, die Singstimme, deren Melodien Träger des Ausdrucks waren, nur zu unterstützen; durch reiche Instrumentation hier weitere Ausdrucksbereiche hinzuzufügen, war nicht unbedingt erforderlich, vor allem nicht, wenn die Gefahr bestand, mit den Singstimmen in Konkurrenz zu treten oder sie gar zuzudecken. Die unbestrittenen Stärken von Bellinis Musik hat Wagner aber gleichzeitig, wie wir schon gesehen haben, auch erkannt. Und diese Wertschätzung behielt er bis ins hohe Alter bei, wie wir Cosima Wagners Tagebuch von 1872 entnehmen können: »Richard singt eine Kantilene aus den Puritanern, dabei bemerkend, dass Bellini solche Melodien gehabt, wie schöner nicht geträumt werden können.«
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MICHELE MARIOTTI
ÜBER EINE MUSIK JENSEITS DES NOTENTEXTES Mit Bellinis Musik müssen die Interpretinnen und Interpreten in einem gewissen Sinne ebenso behutsam umgehen wie mit einem alten Menschen. »Einem alten Menschen?« werden viele fragen. Was ich mit diesem sonderbar anmutenden Vergleich meine: Alles hängt von der richtigen Dosierung, der richtigen Balance ab. Das ungemein Herausfordernde besteht im punktgenauen Treffen des schmalen Grates zwischen auf keinen Fall zu viel und auf keinen Fall zu wenig, da sonst Musik und Geschichte auf der Strecke bleiben. Die Größe der Bellini’schen Partituren, ganz besonders jene der Norma, lebt aus der geglückten, stringenten Verbindung der einzigartigen melodie lunghe – der unendlichen Melodien – mit den vielfältigen Ausdrucksnuancen, die das Drama schlechthin, Emotionen wie Situationen, lebendig werden lassen. Das macht auch ihre Popularität aus. Tut der Dirigent oder die Sängerin zu wenig, zerfasert die Komposition, verflüchtigt sich die Essenz der Erzählung. Drückt man zu sehr auf die Tube, verläuft man sich erstens in Richtung eines Pseudo-Verdi und lässt zweitens den Eindruck entstehen, als ob die Musik unserer aktiven Hilfe bedürfe, um leben zu können – was Unsinn ist. Ihre Kraft rührt aus der Transparenz und Einfachheit der Melodien, deren Entfaltung wie von
selbst vonstattenzugehen scheint, und der musikalischen Durchdringung des Textes. Wie beim späten Rossini – etwa in der Arie der Mathilde in Guillaume Tell – zeigen die langen, berückend schönen Melodien in Norma nach außen keine große sichtbare Veränderung oder Entwicklung und erwecken den Anschein, als ob sie bis in alle Ewigkeit in derselben Form weiterlaufen könnten. Doch hinter dieser kunstvollen Leichtigkeit der Musik verbirgt sich die Tiefe des Dramas. Ich vergleiche Norma gerne mit einem Ozean bei angenehmem Wetter. Die Oberfläche scheint ruhig zu sein, doch darunter, in den Untiefen, herrscht Aufruhr, da brodeln all die uns bekannten widersprüchlichen menschlichen Gefühle. Um sie dem Publikum zu vermitteln, bedarf es der Wahl des richtigen Tempos, der richtigen Dynamik, der genauen Beobachtung der Agogik, der kleinsten Nuancen, Betonungen, Phrasierungen, die der kongenialen Dichtung Felice Romanis entsprechen müssen. Selbst eine Pause stellt ein wichtiges Gestaltungselement dar, das mit Leben auszufüllen ist. Grundsätzlich gilt, dass die Musik jenseits des Notentextes erfahrbar gemacht werden soll. Dasselbe hat auch das Orchester zu beachten: Die scheinbar simplen Arpeggi und Pizzicati sind keinesfalls bloße Begleitfiguren. Die Musikerinnen
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ÜBER EINE MUSIK JENSEITS DES NOTENTEXTES
und Musiker haben nicht einfach den Gesangsstimmen zu folgen, sondern müssen mit ihnen gemeinsam singend dem Drama dienen. Der Dirigent hat die Gesamtstruktur im Auge zu behalten. Es ist wie bei einem Gemälde: Die Details ergeben zusammen das Bild, doch wenn man sich zu sehr in bestimmten Details verliert, entsteht kein Ganzes. Das gilt nicht nur für die Arien, Duette, größeren Ensembles oder Chöre sondern ebenso für die Rezitative. Wie bei Christoph Willibald Gluck sind gerade sie pralles Theater, nicht von ungefähr haben wir viel Probenzeit aufgewandt, um ihnen gerecht zu werden. Selbst so kurze Einwürfe wie »L’amante! La madre de’ tuoi figli!« (»Die Geliebte! Die Mutter deiner Kinder!«), Flavios Vorwurf an Pollione, bedürfen der exakten Ausdeutung. An dieser Stelle muss das Entsetzen Flavios zum Ausdruck kommen, dass Pollione nicht nur seine Geliebte verrät, sondern seine gesamte Familie. So etwas kann nicht nebenher abschnurren, sondern muss mit der richtigen Bedeutung aufgeladen sein. Das Schwierige für Sängerinnen wie Dirigenten ist Bellinis Sparsamkeit in Bezug auf Interpretationshinweise. Denken wir an das erste Duett Norma/Adalgisa. Die Gefühlslage der beiden könnte nicht gegensätzlicher sein: Die eine gesteht aufgeregt, dass sie sich verliebt hat, die andere ist wie gelähmt und erinnert sich, ganz in Gedanken verloren, dass sie einst dasselbe durchleben durfte. Die Begleitung ist identisch. Griffe man nicht gestalterisch ein, würde keiner im Publikum begreifen, was für emotional unterschiedliche Welten hier beschrieben werden. Doch das Wie der Gestaltung hat Bellini dem
Interpreten überlassen. Vergleichbar, aber noch drastischer die Situation im Andante marcato des ersten Finales: Die verhängnisvolle Dreiecksbeziehung ist aufgedeckt, Pollione steht seiner früheren und seiner aktuellen Geliebten gegenüber. Und was passiert musikalisch? Ein und dieselbe barkaroleartige 9/8-Melodie wird von Sängerin zu Sänger weitergereicht. Oberflächlich gesehen besteht kein Unterschied und der Notentext vermittelt auch keinen. An uns Interpretierenden ist es, derselben Melodie durch die wutentbrannte Norma, der entsetzten Adalgisa und des in die Enge getriebenen Pollione eine entsprechende emotionale Färbung zu verleihen. Wer das nicht beachtet, versenkt die theatrale Besonderheit dieses Augenblicks. Und dass Bellini auf dieses Finale einen ganz speziellen Spot werfen wollte, zeigt schon die für die damalige Zeit moderne äußere Form: Traditionell stand an dieser Stelle einer Oper das gesamte Ensemble auf der Bühne – die Solisten samt Chor, eine große Menschenmenge also. Bellini bricht mit dieser Gepflogenheit und schafft etwas ganz Neues: Ein intimes Kammerstück der drei Hauptakteure in einer Ausnahmesituation – der Chor erklingt etwas später nur aus dem Off. Für mich ist dieses erste Finale eine dramaturgische Visitenkarte Bellinis und einer der Höhepunkte der Norma. Apropos Chor: Er hat in dieser Oper zwei Funktionen. Zum einen kommentiert er traditionell in den Concertati das Geschehen, zum anderen beteiligt er sich sehr wohl auch aktiv an der Handlung. Und das auf sehr unterschiedliche Weise. Am Beginn verbreitet er, gemeinsam mit Oroveso, eine dunkel-grundierte, elegante, sakrale Stim-
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mung. Dieser steht im zweiten Akt die martialische Guerra-Passage gegenüber, durch deren Dramatik Bellini die Ausdruckspalette einmal mehr über die damals üblichen Grenzen hinaus auslotet. Der Chor spielt bei Bellini eine deutlich größere Rolle, als dies noch beim früheren Rossini der Fall war. Ich würde sogar so weit gehen, den Chor in Norma als weitere Hauptrolle zu bezeichnen. Sein Talent als Komponist und Dramatiker zeigt Bellini übrigens schon gleich zu Beginn. Die Ouvertüre ist nichts weniger als ein bloß instrumentales Vorspiel. Vielmehr stellt sie antizipierend Normas Wesen, ihre zwei widerstreitenden Seelen vor: Die zu allem entschlossene verzweifelte Wut, die sogar bereit wäre die eigenen Kinder zu töten, und die über ihren Tod hinausreichende mütterliche Liebe. Abschließend möchte ich eine weitere musikdramaturgische Finesse
Bellinis im bereits erwähnten ersten Duett Norma/Adalgisa aufzeigen, die allerdings nur dann zufriedenstellend ausgeführt werden kann, wenn Adalgisa ebenfalls mit einer Sopranstimme besetzt und nicht tiefer transponiert wird – wie üblich, wenn ein Mezzo die Rolle übernimmt. An besagter Stelle zeigen die beiden Frauen zwar eine sehr unterschiedliche Emotionalität – aber die Tatsache, dass sie eben in Pollione denselben Mann lieben, soll durch die Ähnlichkeit der Stimmen zum Ausdruck gebracht werden. Ideal wäre, wenn die Stimmen hier zum Verwechseln ähnlich klingen (wie im Falle unserer Premierenserie) und die Unterscheidung nur durch die Verschiedenheit der Emotionalität herauszuhören ist. Nur ein kleines Detail, aber eines, das Bellinis musiktheatralisches Gespür vor Augen führt.
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KS JUAN DIEGO FLÓREZ als POLLIONE KINDER DER OPERNSCHULE
R IC H A R D WAG N E R
BELLINI. EIN WORT ZU SEINER ZEIT Die Bellinische Musik, d.i. der Bellinische Gesang, hat in dieser Zeit selbst im hochgelehrten Deutschland ein solches Aufsehen erregt und einen solchen Enthusiasmus entflammt, daß schon diese Erscheinung an und für sich wohl einer näheren Untersuchung wert wäre. Daß der Bellinische Gesang in Italien und Frankreich entzückt, ist einfach und natürlich, – denn in Italien und Frankreich hört man mit den Ohren, daher denn auch unsre Phrasen vom »Ohrenkitzel« u. dgl. – (vermutlich im Gegensatz zu dem »Augenjucken«, das uns z.B. die Lektüre so manche Partitur von neueren deutschen Opern verursacht); – daß aber selbst der deutsche Musikkenner die Brille von den strapazierten Augen wegnahm und sich einmal so ganz rücksichtslos der Freude eines schönen Gesanges hingab, das läßt uns zugleich tiefer in sein eigentliches Herz blicken, – und da gewahrt man denn eine so tiefe und inbrünstige Sehnsucht nach einem vollen und kräftigen Aufatmen, um sich’s mit einem Male leicht zu machen und all den Schwulst von Vorurteilen und üblen Gelehrtheiten von sich zu werfen, der ihn so lange zwang, ein deutscher Musikkenner zu sein, und statt dessen endlich einmal ein Mensch zu werden, froh, frei und begabt mit all den herrlichen Empfängnisorganen für jedes Schöne, möge es sich zeigen, in welcher Form es wolle. – Wie wenig sind
wir doch eigentlich von all dem närrischen Krame von Vorurteilen und Einbildungen wirklich überzeugt; wie oft mag es uns wohl passiert sein, daß wir bei der Anhörung einer italienischen oder französischen Oper entzückt wurden, und als wir das Theater verließen, mit einem mitleidigen Witz unsre Aufregung hinweg spotteten, und dann, in unsrem Hause angelangt, mit uns übereinkamen, daß man sich eigentlich vor Entzücken hüten müsse. Machen wir nun einmal diesen Witz nicht und treffen wir einmal diese Übereinkunft mit uns nicht, sondern halten wir das fest, was uns eben entzückt hatte, so werden wir inne werden, daß es zumal bei Bellini die klare Melodie, der einfach edle und schöne Gesang war, der uns entzückte; dies zu bewahren und daran zu glauben, ist doch wahrlich keine Sünde; es ist vielleicht selbst keine Sünde, wenn man vorm Schlafengehen noch ein Gebet zum Himmel schickte, daß den deutschen Komponisten doch endlich einmal solche Melodien und eine solche Art, den Gesang zu behandeln, einfallen möchten. – Gesang, Gesang und abermals Gesang, ihr Deutschen! Gesang ist nun einmal die Sprache, in der sich der Mensch musikalisch mitteilen soll, und wenn diese nicht ebenso selbständig gebildet und gehalten wird, wie jede andere kultivierte Sprache es sein soll, so wird man euch nicht verste-
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BELLINI. EIN WORT ZU SEINER ZEIT
hen. Das übrige, was an diesem Bellini schlecht ist, kann ja jeder eurer Dorfschulmeister besser machen, das ist bekannt; es liegt demnach ganz außer der eigentlichen Sache, sich über diese Mängel lustig zu machen; wäre Bellini bei einem deutschen Dorfschulmeister in die Lehre gegangen, er hätte es wahrscheinlich besser machen lernen, ob er aber dabei nicht vielleicht seinen Gesang verlernt hätte, steht allerdings sehr zu befürchten. – Lassen wir also diesem glücklichen Bellini den, allen Italienern einmal gebräuchlichen Zuschnitt seiner Musikstücke, seine regelmäßig dem Thema folgenden Crescendos, Tutti, Kadenzen und dergleichen stehende Manieren, über die wir uns so grimmig ärgern; es sind die stabilen Formen, die der Italiener einmal nicht anders kennt, und die in manchem Betracht gar nicht so verwerflich sind. Betrachten wir die grenzenlose Unordnung, den Wirrwarr der Formen, des Periodenbaues und der Modulationen so mancher neuer deutscher Opernkomponisten, durch die sie uns oft den Genuß vieler einzelner Schönheiten verkümmern, so möchten wir wohl oft wünschen, durch jene stabile italienische Form diesen krausen Knäuel in Ordnung gebracht zu sehen; und in der Tat wird die augenblickliche klare Erfassung einer ganzen Leidenschaft auf der Bühne bei weitem erleichtert werden, wenn sie eben ganz
mit allen Nebengefühlen und Nebenempfindungen mit einem festen Striche in eine klare, faßliche Melodie gebracht wird, als wenn sie durch hundert kleine Kommentationen, durch diese und jene harmonische Nuance, durch das Hineinreden dieses und jenes Instrumentes verbaut und endlich ganz hinweggeklügelt wird. Wie sehr aber den Italienern ihre, in der Ausartung gewiß einseitige und bloß floskelartige Form und Manier, zumal bei gewissen Opernsujets, dennoch zustatten kommt, davon liefert Bellini einen Beweis in seiner Norma, ohn streitig seiner gelungensten Komposition; hier, wo sich selbst die Dichtung zur tragischen Höhe der alten Griechen aufschwingt, erhöht diese Form, die Bellini dabei entschieden auch veredelt, nur den feierlichen und grandiosen Charakter des Ganzen; alle die Leidenschaften, die sein Gesang so eigentümlich verklärt, erhalten dadurch einen majestätischen Grund und Boden, auf dem sie nicht vague umherflattern, sondern sich zu einem großen und klaren Gemälde gestalten, das unwillkürlich an Glucks und Spontinis Schöpfungen erinnert. Mit dieser freien und unverkümmerten Hingebung aufgenommen, haben Bellinis Opern in Italien, Frankreich und Deutschland Beifall gefunden; warum sollten sie es nicht auch in Livland?
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DAV I D K I M B E L L
»DIE ROSSINISCHEN TAGE DES UNBESCHWERTEN MUSIZIERENS SIND VORBEI; DENN MIT BELLINI HAT EIN »PHILOSOPH« DAS OPERNHAUS BETRETEN, WIE SEINE ZEITGENOSSEN NICHT AUFHÖRTEN ZU VERSICHERN. ER IST EIN KOMPONIST, DER SICH NIEMALS EINEN BESTIMMTEN STIL ANEIGNET, NIE EINE MUSIKALISCHE IDEE AUFNIMMT, BEVOR ER NICHT DAVON ÜBERZEUGT IST, DASS DADURCH EINE DRAMATISCHE ODER POETISCHE WAHRHEIT ERHELLT WIRD.«
UWE SCHWEIKERT
EINE MUSIK, DIE AUS GESANG & DRAMA EIN EINZIGES GANZES MACHT Im dritten Buch seines Hauptwerks Die Welt als Wille und Vorstellung bestimmt Arthur Schopenhauer in dem der »Ästhetik der Dichtkunst« gewidmeten Kapitel das Trauerspiel als höchsten Ausdruck des Erhabenen: »Aufforderung zur Abwendung des Willens vom Leben bleibt die wahre Tendenz des Trauerspiels, der letzte Zweck der absichtlichen Darstellung der Leiden der Menschheit, und es ist mithin auch da, wo diese resignirte Erhebung des Geistes nicht am Helden selbst gezeigt, sondern bloß im Zuschauer angeregt wird, durch den Anblick großen, unverschuldeten, ja selbst verschuldeten Leidens.« Als höchste Verkörperung der tragischen Muse erscheinen dem deutschen Philosophen weder die antiken Tragiker noch Shakespeare, sondern Bellinis Oper Norma: »Hier sei erwähnt, daß selten die ächt tragische Wirkung der Katastrophe, also die durch sie herbeigeführte Resignation und Geisteserhebung der Helden, so rein motivirt und deutlich ausgesprochen hervor-
tritt, wie in der Oper NORMA, wo sie eintritt in dem Duett Qual cor tradisti, qual cor perdesti (Welch Herz du verraten, welch Herz du verloren), in welchem die Umwendung des Willens durch die plötzlich eintretende Ruhe der Musik deutlich bezeichnet wird. Ueberhaupt ist dieses Stück, – ganz abgesehen von seiner vortrefflichen Musik, wie auch andererseits von der Diktion, welche nur die eines Operntextes seyn darf, – allein schon seinen Motiven und seiner innern Oekonomie nach betrachtet, ein höchst vollkommenes Trauerspiel, ein wahres Muster tragischer Anlage der Motive, tragischer Fortschreitung der Handlung und tragischer Entwickelung, zusammt der über die Welt erhebenden Wirkung dieser auf die Gesinnung der Helden, welche dann auch auf den Zuschauer übergeht: ja, die hier erreichte Wirkung ist um so unverfänglicher und für das wahre Wesen des Trauerspiels bezeichnender, als keine Christen, noch christliche Gesinnungen darin vorkommen.«
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Schopenhauers Hochschätzung von Bellinis Kunst überrascht uns heute. Andere klangvolle Namen – nicht zuletzt der des lebenslangen Bellini-Verehrers Richard Wagner – ließen sich ihm zur Seite setzen. Schwärmten in den 1830er Jahren noch Chopin, Liszt oder Clara Schumann von dem blonden Sizilianer, so attestierte bereits wenige Jahrzehnte später der Wiener Kritikerpapst Eduard Hanslick seiner Musik »einen wahren Heiligenschein von Langeweile«. Im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts wurde Bellini – wie übrigens auch seine Zeitgenossen Rossini und Donizetti – zum Synonym einer selbstverliebten, sinnentleerten Virtuosenkunst. Aus dieser Ecke holte ihn erst wieder Maria Callas hervor. Sie demonstrierte, wie in Bellinis Musik das Drama unmittelbar aus dem Gesang und der Gesang wiederum unmittelbar aus den Worten entsteht. Ein Gutteil Verdienst an Bellinis musikalischer Dramaturgie kommt dem Librettisten Felice Romani zu, der für sieben seiner zehn Opern das Textbuch schrieb. Romani verfügte über alle Voraussetzungen, die ein Textdichter des 19. Jahrhunderts besitzen musste: Sinn für die Wirkung dramatischer Situationen auf dem Musiktheater sowie die Fähigkeit, elegante, abwechslungsreiche Verse zu schreiben, die sich gleichsam von selbst den Kantilenen des Gesangs anschmiegen. Bellini hat sich die Libretti seiner Opern nicht länger als Fertigprodukte aufzwängen lassen, sondern unmittelbaren Einfluss auf Genre, Stoff, Kolorit, den dramaturgischen Aufbau der Situationen wie auf die Verteilung der Verse genommen. Einem Freund gegenüber hat er 1828, nach der Überarbeitung von Bianca e Fernando,
gerühmt, wie wichtig Romanis »schöne Verse« für ihn seien: »... besonders für mich, da es mir sehr auf die Worte ankommt. Im Pirata kannst Du sehen, wie mich Verse und nicht die dramatischen Situationen inspiriert haben... und deshalb brauche ich Romani.« Wie ausschlaggebend die Worte für seine Vision eines neuen musikalischen Theaters waren, zeigt eine glaubhafte Anekdote. Während der Proben zum Piraten soll er dem Tenor Rubini, der mit der Partie des Gualtiero zunächst wenig anzufangen wusste, gesagt haben: »Meine Musik gefällt dir nicht, weil sie dir unbequem und ungewohnt ist; aber wenn ich mir nun vorgenommen habe, eine neue Art einzuführen, eine Musik, die aufs Genaueste die Worte ausdrückt und aus Gesang und Drama ein einziges Ganzes macht ...?« In keinem seiner Werke ist Bellini diesem Ziel einer musikalisch-dramatischen Kohärenz nähergekommen als in der am 26. Dezember 1831 an der Mailänder Scala uraufgeführten Norma, seiner achten Oper seit seinem Debüt im Jahre 1825. Wie in der italienischen Librettistik der Zeit üblich, griff Romani auf ein (übrigens aktuelles, brandneues) Stück des französischen Theaters zurück: die im April 1831 uraufgeführte fünfaktige Vers-Tragödie Norma ou l‘Infanticide (Norma oder Der Kindesmord) von Alexandre Soumet. Soumet galt zu seiner Zeit als einer der führenden Dramatiker Frankreichs. Seine Stücke gießen den romantischen Geist der von Chateaubriands Génie du christianisme erregten Generation in eine klassizistische Verskunst. Soumet erweist sich in seiner Norma als Eklektizist, der mit geschickter Hand die unterschiedlichsten literarischen Vorbilder und poetischen
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Zeitströmungen aufgreift. Seine Absichten werden aus den Worten deutlich, mit denen er Mademoiselle George, die Schauspielerin der Norma, beschrieben hat: »Nachdem sie der Reihe nach in den ersten vier Akten die Niobe der Griechen, Shakespeares Lady Macbeth, die Seherin Velleda aus Chateaubriands Martyrs gewesen war und so den Kreis aller Leidenschaften durchmessen hatte, die das weibliche Herz überhaupt in sich birgt, erhob sie sich mit der Wahnsinnsszene des letzten Aktes zu einer Höhe dramatischer Inspiration, die vielleicht nie wieder sich erreichen läßt.« Bei Soumet endet die Tragödie der Druidenpriesterin in einem Blutbad: Norma wird wahnsinnig und ersticht erst den einen ihrer Söhne, um dann den andern bei ihrem Sprung von einem Felsen mit in den Tod zu reißen. Romani rafft die Handlung, konzentriert die Charaktere und gibt dem Schluss eine gänzlich andere, ja, entgegengesetzte Wendung. Bei ihm bekennt Norma sich schuldig, gegen das Gebot ihres Standes wie ihres Volkes verstoßen zu haben, überantwortet ihre Kinder dem Schutz Orovesos und besteigt den Scheiterhaufen. Den versöhnlichen Schluss mit seiner Zurücknahme der krassen Effekte von Soumets Vorlage hat man meist mit der üblichen Praxis der italienischen Librettistik zu erklären versucht, die in der Tat nur allzu oft auf die Bedenken der Zensur wie auf den Geschmack des Publikums Rücksicht nehmen musste. Dieser Einwand trifft aber hier nicht zu. Zum einen, weil Romani und Bellini – man denke nur an die Schlusskatastrophen von Il pirata und La straniera, gar an das Blutbad in Zaira – auch sonst nicht zimperlich mit den Nerven der Zuschauer umgesprungen sind. Zum andern – und das
ist viel entscheidender –, weil Romanis Libretto und im Verein mit ihm Bellinis Musik dem neuen Schluss eine zwingende künstlerische Logik verleihen. Das unterstreichen auch die übrigen Änderungen, die Romani gegenüber seiner Vorlage, zum Teil mit bewusstem Rückgriff auf Soumets Quellen, vorgenommen hat. Er akzentuiert weniger den historische Konflikt mit dem politischen Gegensatz zwischen den Römern und Galliern als vielmehr den Druidenkult und macht aus dem Heerführer Oroveso das Oberhaupt der Druiden und den Vater Normas, aus der zum Christentum übergetretenen Adalgisa eine druidische Novizin. Ganz und gar Romanis Schöpfung aber ist die Figur Normas, wie sie uns in der Oper entgegentritt. Die Züge der antiken Medea, die bei Soumets Norma schließlich die Oberhand gewinnen, drängt er zurück und überformt sie durch das Bild der zu Beginn ihres ersten Auftretens wie in »Trance entrückten Seherin«, wie er sie in der Gestalt der Velleda in Chateaubriands ProsaEpos Les Martyrs (Die Märtyrer oder der Triumph der christlichen Religion) vorfand. Dort verliebt sich die durch ein Keuschheitsgelübde gebundene Druidenpriesterin Velleda in den jungen römischen Befehlshaber Eudore und gibt sich selbst den Tod. Dass auch die Oper Anregungen gab, sie schon Soumet mit Gaspare Spontinis zwischen Pflicht und Neigung hin- und hergerissener Vestalin Julia gegeben hatte, versteht sich bei einem Librettisten von selbst. Keinesfalls nur arabeske Zutat wie bei Soumet, sondern dramatisch konnotiert ist das romantisch-magische Ambiente des Druidenkults, die Verehrung des Irminsul, die Anrufung der Mondgöttin, die Zeremonie des Mistelschneidens, also
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die Orakelsprüche und Riten der Seherin. Nichts entspringt hier der Phantasie des Librettisten. Vielmehr steht alles, selbst die keltische Kultfigur des blutigen Kriegsgottes Irminsul, in einem schlüssigen mythologischen Kontext. Als Mitherausgeber eines mehrbändigen Lexikons der Mythologie und der Altertümer verfügte Romani über eine genaue Kenntnis der Quellen aus erster Hand. Sergio Morabito hat im programmatischen Essay zu der gemeinsam von Jossi Wieler und ihm verantworteten Stuttgarter Inszenierung der Norma gezeigt, dass hier der Schlüssel zum Verständnis von Bellinis Oper liegt. Diesem Ansatz sind meine Ausführungen auch dort verpflichtet, wo sie ihn nicht eigens zitieren. Wie weit Bellini an der Wahl des Stoffes aktiv beteiligt, wie weit er in die mythologischen Details des szenischen Entwurfs eingeweiht war, ja, wie weit sie seinen eigenen Intentionen entsprachen, muss offenbleiben, ist letzten Endes aber nicht entscheidend. Ausschlaggebend ist vielmehr, dass ihm Romani mit seinem Libretto eine affektgeladene, klar strukturierte Handlung mit einer zwischen unterschiedlichen Individuen aufgebauten Konfliktspannung, eine in jeder Hinsicht originelle, außerhalb der Konventionen stehende Titelfigur, romantische Schauplätze, eine geheimnisvoll-mystische Atmosphäre und – nicht zuletzt – jene komponierbaren Verse zur Verfügung stellte, die seine Phantasie erregten, seine melodische Erfindungskraft stimulierten und ihn in eine schöpferische Stimmung versetzten, sodass er die Partitur in weniger als drei Monaten vollendete. Noch über die Vorgaben des Librettos hinaus zielt Bellini dabei auf eine musikalisch-
dramatische Kohärenz, wie sie unter seinen Zeitgenossen beispiellos ist. Die wenigen solistischen Nummern stellt er fast stets in einen dialogischen Kontext, wodurch sich die Grenzen zwischen Arie und Ensemble verwischen. Der deklamatorische Gesang schmiegt sich den Stimmungsumbrüchen der Handlung und der Gemütslage der Figuren an; selbst die Melismen besitzen gestischen, sprechenden Ausdruck. Auf diese Weise entsteht in der Tat eine Musik, in der der Gesang nicht hedonistischer Selbstzweck bleibt, sondern dem Drama dient. Wovon – das sei nun in aller Direktheit gefragt – handelt Bellinis Oper wirklich? »Auch in Norma« – so die Bellini-Autorität Friedrich Lippmann – »schrieb Bellini eine Variation über sein Grundthema – das Grundthema der romantischen italienischen Oper überhaupt: die von Politik, von finsteren Mächten, von Verirrungen angefochtene Liebe«. Norma – so kann man es allenthalben im Opernführer lesen und üblicherweise auch auf der Bühne sehen – sei eine zwischen zwei Völkern, den Galliern und den Römern, eine zwischen zwei Leidenschaften, ihrer Pflicht als Priesterin und ihrer Liebe zu dem feindlichen Feldherrn, zerrissene Frau. Die erste Aussage trifft zwar auf Soumets Schauspiel, nicht aber auf Bellinis Oper, die zweite für Bellinis Oper nur bedingt zu. Die erste Aussage – die politische Camouflage betreffend – ist leicht zu widerlegen; die zweite Aussage – den seelischen Zwiespalt der Titelheldin betreffend – bedarf einer grundsätzlichen Revision, jedenfalls was die Gründe betrifft, denn bei Normas Selbstopfer handelt es sich keinesfalls um eine politische Manifestation.
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Die Römer – um mit dem Leichteren zu beginnen – sind in der Oper als Besatzungsmacht nicht einmal als Kulisse, nicht einmal atmosphärisch präsent. Ihr Prokonsul Pollione tritt uns nur als Privatperson entgegen – als der gewesene Liebhaber Normas, der jetzt der jungen Priesterin Adalgisa den Hof macht. Sein Vertrauter Flavio warnt ihn vor den todbringenden Gefahren des feindlichen Waldes. Polliones Sorgen in seiner Auftrittsarie – die Romani so kommentarlos wie genial zwischen die Druidenprozession und das Mistelritual Normas schiebt – gelten freilich nicht dem Ausbruch eines drohenden Gallieraufstandes, sondern dem Angsttraum, in dem Norma sich seiner Verbindung mit Adalgisa entgegenstellt und ihn selbst zugrunde richtet: hellsichtige Vorausdeutung des Endes. Omnipräsent ist dagegen die andere Seite, die der Druiden und gallischen Krieger. Selbst, wenn sie nicht die Szene bevölkern wie in den Aufmärschen, Ritualen und Chören beider Akte, bestimmen sie die Atmosphäre der Handlung. Die Aggressivität ihres Hasses entlädt sich nicht erst in der losgelassenen Wildheit ihrer Kriegshymne im zweiten Akt, sondern legt sich von Anbeginn, von Orovesos Kavatine und der Chorintroduktion, als umklammernde Drohung auf Norma, die ihrem Volk als Seherin im Auftrag des Himmels den Frieden gebietet – einen Frieden, zu dem sie auch ihre Liebe treibt. Die Druiden und Krieger ihrerseits erwarten von Norma nichts anderes, als dass sie im Auftrag des Gottes Irminsul endlich das Zeichen zum Losschlagen, zum Aufruhr, zum Kampf gegen die Römer gibt. An die Omnipräsenz der Banda und ihrer Marschmusik – selbst in der Cabaletta von Polliones Auftrittsarie hören
wir sie hinter der Szene erklingen – erinnern wir uns in erster Linie, wenn wir die bis auf Verdi und Wagner zurückgehenden Klagen über die Pauvretät des »armen Musikers« Bellinis lesen, der – so Wagner – »die Ressourcen der Musik gar nicht gekannt« habe. Selbst noch John Rosselli, dessen kleine, 1996 in der Musical Lives-Reihe der Cambridge University Press erschienene Monographie das Klügste und Beste ist, das es zu Bellini gibt, sieht in dem »Dorforchester« und seinen Märschen einen »Stolperstein«, der wie »ein Luftloch« wirke. Dramaturgisch freilich ist Bellini im Recht. Dass es sich um keine sublime Musik handelt, sollte man ihm nicht vorwerfen – so wenig, wie man Wagner die Banalität von Pilgermarsch und Pilgerchor des Tannhäuser oder des Brautmarsches im Lohengrin ankreiden kann. Allemal handelt es sich um szenische Musik, die sich einzig vor den Erfordernissen des Dramas, nicht vor den Richtstühlen der Schulgelehrsamkeit rechtfertigen muss. Hinter dem Gegensatz zwischen der im Hintergrund agierenden römischen Besatzungsmacht und den besiegten Galliern wollte man eine bewusste Anspielung auf die Situation des zeitgenössischen Italiens sehen, das im Süden unter der Herrschaft der spanischen Bourbonen, im Norden unter jener der österreichischen Habsburger stand. Es gibt – wie später bei Verdi – aber keinen Beweis dafür, dass Bellini seine Kunst in den Dienst des Risorgimento gestellt hätte, gar den angeblich politischen Gleichnischarakter der Handlung bewusst kaschiert habe. Gewiss, nach der Niederschlagung der bewaffneten Aufstände gegen die Habsburger in Mittelitalien im Frühjahr 1831 war die politische Atmosphäre auf der Halbinsel
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gespannt. Von einer »heroisch-kämpferischen Perspektive als Identifikationsangebot an ein durch den erneuten außenpolitischen Rückschlag desillusioniertes Publikum«, wie Fabian Stallknecht sie aus Norma herauslesen will, kann jedoch im Ernst keine Rede sein. Einzelne Eingriffe der Zensur in den Wortlaut von Romanis Libretto – etwa in Normas Auftrittsarie – zeugen durchaus für das Misstrauen und die Nervosität der österreichischen Behörden. Zu einer Art italienischen Marseillaise ist der frenetische Kriegschor der Gallier aber erst während der 1848er-Revolution und noch später, während des Krieges gegen Österreich 1859/60, geworden. Giuseppe Mazzini übrigens, der politisch-ideologische Vorkämpfer des Risorgimento und Begründer des republikanischen Geheimbunds Giovine Italia, hatte von Bellini keine hohe Meinung. In seiner 1836 erschienenen Filosofia della musica nennt er als Vorbilder eines musikalischen Dramas der Zukunft Rossini und Meyerbeer. Bellini dagegen spricht er den Rang eines fortschrittlichen Künstlers ab: »In der Tat enthält der letzte Akt von Norma, der im Geist Raffaels entworfen und ausgeführt ist, den ganzen Bellini ... Auch wenn seine Musik nicht der krankmachenden Süße von Metastasio folgt, so ähnelt sie doch der Poesie von Lamartine, einem Dichter, der das Unendliche beschwört und danach strebt, allerdings kniend und im Gebet: einer Poesie, die süß, verliebt und pathetisch, zugleich aber resignativ und unterwürfig ist und die im Endergebnis eher dazu neigt, die Kraft des menschlichen Geists zu schwächen, zu zerstören und unfruchtbar zu machen statt sie zu stärken, neu zu beleben und fruchtbarer zu machen.«
Als Beschreibung, nicht als Bewertung, trifft Mazzinis Urteil durchaus die Essenz von Bellinis Norma, dem Seelengemälde seiner Musik wie dem Psychodrama seiner Titelheldin. Der Zwiespalt ist freilich kein internalisierter zwischen Pflicht und Neigung, sondern ein gleichsam externalisierter zweier einander entgegengesetzter Lebens- und Liebeskonzepte, und dies gezeigt zu haben, macht die innovatorische Qualität der Stuttgarter Inszenierung von Jossi Wieler und Sergio Morabito aus. In Norma – ich zitiere hier Morabito – geht es um »die subversive Wiederherstellung der Frauenherrschaft. Die entmachtete, exorzierte ›Große Göttin‹ hat sich ihren Herrschaftsbereich wieder angeeignet, ist mitsamt den Kindern wieder in ihren alten Tempel eingezogen. Das ist die ganz große Leistung des Librettisten Romani: den Kult der ›keuschen Göttin‹ des Mondes etabliert zu haben, der mit dem Kult des Irminsul – des blutigen, patriarchalen Gottes des Krieges – nur scheinbar koexistiert, in Wirklichkeit diesen unterwandert und ausgehöhlt hat. Die Herrschaft des Friedens steht gegen die des Krieges.« Diesen Gegensatz zwischen Frieden und Krieg, diesen unpsychologischen Konflikt zwischen matrilinearer und patriarchalischer Geschlechterordnung drückt die große Szene und Kavatine Normas aus, mit der Bellini eben gerade keinen sinnentleerten, hedonistischen – Mazzini hätte gesagt: raffaelesken – Schöngesang zelebriert, sondern in und durch alle ja unbestreitbar gegebene musikalische Schönheit hindurch zum Sinn der kultischen Handlung und damit zum Kern des Dramas vordringt. Vergegenwärtigen wir uns den Vorgang, wie ihn Romanis Libretto
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in Anlehnung an Chateaubriand beschreibt. Norma besteigt, mit der goldenen Sichel bewaffnet, den Druidenstein und blickt um sich wie in Trance entrückt. In ihrem Rezitativ, an dessen Ende sie die Mistel schneidet, bezeichnet sie sich selbst als »Seherin«, als Orakel, das den Galliern aber gerade nicht die erwünschte Botschaft des »terribil Dio«, des blutigen Kriegsgottes, zum Losschlagen verkündet. Norma wendet sich im ersten Teil ihrer Cavatina, dem Cantabile, vielmehr in einem Gebet an die souveräne Mondgöttin, deren Kultus sie gleichsam subversiv wiederhergestellt hat, und bittet diese um Frieden. Über der weit ausschwingenden Schaukelbewegung der Violinen erklingt die Melodie zunächst in der Flöte, zu der später im Oktavabstand noch die Oboe hinzutritt – als übersetze die Musik gleichsam pantomimisch die sakrale Handlung der Priesterin. Die Melodie selbst ist ein Beispiel jener »melodie lunghe, lunghe, lunghe«, die noch der alte Verdi bewundert hat. Sie windet sich in spannungsvoller Verzögerung über mehrere Anläufe in fünfzehn Takten in einer Art motivischen Fortspinnungstechnik hinauf bis zum hohen b‘‘ und gipfelt schließlich in jenem ekstatischen Klangrausch, den Wagner bei Bellini gelernt hat. Anschließend wiederholt der Chor die Strophe in rein syllabischer Deklamation, wobei Normas arabeske Koloraturen für einen Ausdruck magischer Entgrenzung sorgen. Nach dem Ende der heiligen Handlung befällt Norma der Zweifel: Als Priesterin kann sie die Römer und damit Pollione bestrafen, als liebende Frau und Mutter will sie es nicht. Sie ist sich der Treue Polliones allerdings nicht mehr gewiss: »Ach, kehre zu mir zurück / im Glanz der alten Liebe, /
Notenbeispiel 1: »Casta diva«
und ich werde dich / vor dem Rest der Welt beschützen.« Die bewegtere, rhythmisch straffere vokale Deklamation fügt sich einerseits in die formale Vorgabe einer die Szene abschließenden Cabaletta, spiegelt andererseits aber auch die private Welt ihrer eigenen Emotionen wider – Norma singt sie darum, für eine Cabaletta ungewöhnlich, a parte, für sich. Ich finde übrigens nicht, dass die Cabaletta – wie oft zu lesen ist – gegenüber dem langsameren Gebet abfällt. Bellini hat hier – wie es seinerzeit noch durchaus üblich war – auf eine ältere Melodie aus seiner zweiten Oper Bianca e Fernando zurückgegriffen und das scheint für manche Kritiker als Stigma gegen ihre Qualität zu sprechen.
Notenbeispiel 2: »Ah! bello a me ritorna«
Nochmals: Die gesamte Auftrittsszene Normas zerbricht nicht in zwei antagonistische Teile – hier die Priesterin, dort die Liebende, hier die Pflicht, dort die Neigung. Als Priesterin wie als Frau und Mutter ist Norma von dem Bewusstsein, ja, Willen erfüllt, nicht dem Krieg und dem Tod, sondern dem Frieden und dem Leben zu dienen. Ihre
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Utopie gilt einer Harmonie des Daseins, mit der sie sich gegen den Gott Irminsul, gegen die Druiden, ja, gegen ihr Volk stellt. Diese Utopie zerbricht an der Untreue Polliones. Romani hat die Titelfigur im Libretto mit großer Konsequenz gezeichnet und Bellini folgt ihm in der Vertonung mit einer Radikalität, die ihn im Willen zu dramatischer Stringenz immer wieder zu Abweichungen von den standardisierten Konventionen führt. Der erste Akt schließt nicht, wie üblich, mit einem großen konzertierenden Ensemble, sondern mit einem Terzett; der zweite Akt nicht mit einer Aria di forza für die Primadonna, sondern mit einer mehrteiligen, in ihrem vorwärtstreibenden Elan fast schon durchkomponierten Szene, was mit zur frostigen Aufnahme am Premierenabend beigetragen haben dürfte. Der Anteil der Arien ist überdies stark zurückgedrängt und zudem – wie die Auftrittsszene Normas – stets in einen musikalischszenischen Ablauf integriert, an dem sowohl der Chor als auch die übrigen Figuren aktiv Anteil nehmen. Nur Norma und Pollione erhalten je eine Doppelarie zugebilligt. Die Rolle Orovesos beschränkt sich auf zwei einsätzige Arien, die beide in ein Chortableau eingebettet sind. Adalgisa gar muss gänzlich ohne förmliche Arie auskommen. Bellini hat allerdings auf höchst originelle Weise das Cantabile des ersten Duetts zwischen den beiden Frauen als Solo gestaltet. Wenn Adalgisa schildert, wie sie der Verführung durch einen Ungenannten unterlag, so fühlt Norma sich, gleichsam rezitativisch beiseite sprechend, an den Beginn ihrer Liebe zu Pollione erinnert. Voraussetzung dafür war, dass Adalgisa deutlich mehr
Text hat und Romani ihre Verse zu Strophen zusammenfasst, welche die geschlossene Vertonung herausfordern, während Norma in Endecasillabì, Elfsilblern, dem traditionellen Versmaß des Rezitativs, spricht.
Notenbeispiel 3: »Oh, rimembranza«
Als unschuldige Dritte im erotischen Dreieck sieht Adalgisa sich zwischen Pollione und Norma hin- und hergerissen und folglich konsequent in die Auseinandersetzung mit beiden gedrängt. Bellini hat sie nicht nur in ihrem ersten Duett mit Norma, sondern bereits im vorausgegangenen Duett mit Pollione gegen das Libretto musikalisch aufgewertet und als vollgültige Protagonistin umrissen – einmal, indem er ihrem ersten Auftreten ein langes Orchestervorspiel vorausgehen lässt, das in den Stakkato-Figuren der ersten Violinen ihre Unruhe und Nervosität, im langgezogenen Duett von erster Flöte und Klarinette ihre aufkeimende Liebe zu Pollione zum Ausdruck bringt. Zum anderen, indem er ihren letzten Rezitativvers »Deh! proteggimi, o Dio! perduta io son« (»Ach, beschütze mich, o Gott: ich bin verloren«) von den vorausgehenden Versen abtrennt und zu einem Arioso von be-
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schwörender Intensität ausweitet, als ahne sie bereits das Unheil. Auf ähnlich abrupt kontrastierende und zugleich geniale Weise, wie Romani zwischen die Introduktion und das sakrale Ritual kommentarlos die Kavatine Polliones schiebt, platziert er im ersten Akt zwischen die beiden zentralen Duette – das Adalgisas mit Pollione und das Adalgisas mit Norma – Normas Auftritt mit ihren Kindern. Gleichzeitig setzt sich – über die hier ja scheinbar noch getrennten Handlungsstränge hinweg – die innere Unruhe der beiden Frauen in einem erregten Allegro-agitato-Satz fort, in dem wieder die Streicher die dominierende Funktion übernehmen. Wie die antike Medea ist Norma, als sie an Polliones Liebe zweifelt, von widersprüchlichen Gefühlen erfüllt: »Amo in un punto ed odio / I figli miei!« (»Ich liebe und zugleich hasse ich meine Kinder!«) Auch diese im Libretto als Rezitativ eher beiläufig behandelte Szene beweist, dass Bellini sein Ziel eines musikalischen Dramas in keinem Moment aus den Augen verliert. Bewusst lassen Romani und Bellini mit dem Abgang Clotildes und der Kinder die Szene ohne Abschluss enden. Norma ahnt Polliones Liebesverrat. Gewissheit aber erhält sie erst durch Adalgisas Bekenntnis und Polliones überraschendes Auftreten, das zum Terzett-Finale des ersten Aktes führt. Erst zu Beginn des zweiten Aktes wird der Handlungsstrang mit den Kindern wiederaufgenommen. In einem düsteren rezitativischen Monolog, in dessen Verlauf die Musik immer wieder stockend innehält, ringt Norma, »bleich, vom Schmerz gezeichnet«, den Dolch in der Hand, mit sich vor dem Bett ihrer Kinder. Anders als Medea, die aus Hass auf Jason die Kinder tötet,
entscheidet Norma sich für deren Leben und ihren eigenen Tod. Die formal wieder ganz freie Gestaltung, zu der Bellini greift, ist von außerordentlicher musikdramatischer Wirkung: wuchtige Orchesterschläge, sprechende instrumentale Klangfarben wie die klagende Cello-Kantilene und eine zwischen rezitativischer Reflexion und ariosem Melos schwankende Figurenrede bringen Normas Psychodrama zum Ausdruck. Immer wieder stockt der Fortgang. Nicht nur die Musik, auch die szenische Dramaturgie ist von diskontinuierlichen Brüchen der Handlungsführung, von jener »explosiven Leere« erfüllt, die Luigi Nono – wie Strawinsky und Henze ein großer Verehrer des Komponisten – als ein Kennzeichen von Bellinis Stil hervorgehoben hat. Norma ist Priesterin, Liebende und Rächerin. Der maßlose Verrat Polliones treibt sie zur maßlosen Rache. Als sein Schicksal endlich ihr anheimgestellt ist, triumphiert sie: »In mia man
Notenbeispiel 4 »In mia man alfin tu sei«
alfin tu sei« (»Zuletzt bist du in meiner Hand; niemand kann deine Fesseln sprengen. Ich könnte es.«) Unter der plötzlich eintretenden, geradezu knisternden Ruhe, mit der sie ihren Triumph wieder in einer der für Bellini so charakteristischen langen und doch fast syllabisch streng den Sprachduktus nachzeichnenden Melodien äußert, verbirgt sich eine tragische Ironie, wie man sie in der Opernliteratur wohl kein zweites Mal findet. Als Pollione standhaft bleibt und seiner Liebe zu Adalgisa nicht abschwört –
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»No: sì vil non sono« (»Nein: so feige Normas Lebensgesetz, erfüllt sich die bin ich nicht«) –, droht Norma erneut durch sie verkörperte Restituierung des erst mit dem Mord an den Kindern, Mutterrechts. Bellini sucht keine metadann mit der Vernichtung der Römer physische Erlösung, sondern insistiert und schließlich mit dem Tod Adalgisas. auf einer explizit nicht-metaphysischen, Ihre innere Erregung entlädt sich in anti-psychologischen Lösung des KonHasskoloraturen, wobei sie mit ihren flikts. Bei ihm siegt nicht der Tod über Trillern – »con furore« lautet die Vor- das Leben, sondern behält das Leben tragsanweisung – den Namen Adalgi- die Oberhand über den Tod. Darum hat sas geradezu zerfetzt. Insgeheim war er sich gemeinsam mit Romani auch die Entscheidung aber schon gefallen, dem Ansinnen des Impresario widerals Norma vor dem rituellen Mord an setzt, den Scheiterhaufen auf der Bühne dem frevelhaft in den Tempelbezirk zu zeigen, weil dies – so überliefert es eingedrungenen Pollione zurückge- Romanis Witwe Emilia Branca in ihschreckt ist. Polliones Standhaftigkeit – rem Erinnerungsbuch – ein »banaler wie egoistisch sie auch immer grun- Effekt« sei. diert sein mag – weist ihrer eigenen Im Libretto wie in der Partitur ist die Entscheidung den Weg. Sie klagt nicht gesamte letzte Szene als »Scena ultima die schuldlose Adalgisa an, sondern ed aria finale« bezeichnet. Während bietet sich selbst als Opfer dar. Ihr letz- Bellini im Autograph keine Überschrift ter Gedanke gilt den Kindern, die im gemacht hat, spricht er brieflich von eiLicht der matrilinearen Geschlechter- nem Duett – der Szene Norma/Pollione ordnung Manifestationen ihrer gött- – und »einem Finale, das aus einem Enlichen Potenz sind. Zwar will sie auf semblestück und einer Stretta besteht«. dem Scheiterhaufen Irminsuls sterben, Komponiert aber hat er nichts von alleihm aber das Sühneopfer ihrer Kinder dem. Er fasst das musikalische Drama, entziehen. Sie fleht ihren Vater Oroveso das er hier gestaltet, vielmehr aus soan, sich der unehelich und zudem mit listischen, dialogischen und Ensembdem Landesfeind gezeugten Kinder leabschnitten von meist schmuckloser zu erbarmen und diese vor den »Bar- Einfachheit zu einem zusammenhänbaren«, der Rache ihres eigenen Volks genden Ganzen zusammen. Nachdem Norma sich selbst angeklagt hat, tritt also, zu schützen. Diesen Entschluss fasst Norma – »wie von einem Gedan- zunächst eine schreckliche Stille ein. ken ergriffen geht sie auf ihren Vater Dann wendet sie sich an Pollione: »Qual zu« – sowohl im Libretto Romanis als cor tradisti, qual cor perdesti / Quest’ora auch in Bellinis Vertonung noch bevor orrenda ti manifesti« (»Welch Herz du sie sich schuldig bekennt. Während sie verraten, welch Herz du verloren, offenschweigt, erklingt die Musik der ersten barte dir diese Schreckensstunde«). Es Kinderszene. Orovesos Versprechen – handelt sich um jene Stelle, in der Scho»Ha vinto amore« (»Die Liebe hat ge- penhauer die erhabene Wirkung eines siegt«) – lässt sie »glücklich«, und das vollkommenen Trauerspiels verwirkkann nur meinen: ohne Reue in einem licht sah. Bellini unterstreicht die präzis souveränen Akt des Selbstopfers, ster- die Worte deklamierende Melodie mit ben. In diesem Sieg der Liebe erfüllt sich wenigen, aber umso wirkungsvolleren
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instrumentalen Mitteln zur Begleitung eines unveränderten Rhythmus – den jeweils auf das dritte und fünfte Achtel gesetzten, ganz vorsichtigen (»appena appoggiare«) Akzenten in den wiegenden Violinfiguren sowie dem unheilvollen Rollen der Pauke auf der unbetonten Taktzeit.
Notenbeispiel 5 »Qual cor tradisti«
Ähnlich sprechend sind auch die instrumentalen Signale, die Normas herzzerreißende Bitte um das Leben ihrer Kinder begleiten: »Deh! non volerli vittima« (»Ach, lasse sie nicht meinem tödlich Irrtum zum Opfer fallen«). Bellini kontrastiert die eindrückliche, fast schmucklose Melodie durch zwei minimale und doch zugleich höchst wirkungsvolle Gesten: die rastlos wiederholte, seufzerartige Triolenfigur in den Violinen und den »a guisa di lamento« (»in der Art einer Klage«) gestoßenen Hornton – beide übrigens synkopisch gegen den ersten und dritten Schlag des Vierertakts
versetzt. Der Chor fällt erst ein, als die Musik von e-moll nach E-dur übergeht. Bellini führt das Ensemble in einer gewaltigen Intensivierung des Ausdrucks zu einem Höhepunkt, ehe sich die Verfluchung in einem heftigen, nach e-moll zurückkehrenden Allegro agitato assai auch musikalisch Bahn bricht. Bellini ordnet alle Elemente des musikalischen Dramas dem einen Ziel unter, das er in einem Brief an Carlo Pepoli, den Librettisten seiner letzten Oper I puritani, formuliert hat: »Im Musikdrama muss der Gesang zu Tränen, zum Schaudern, zum Sterben bringen.«
Notenbeispiel 6 »Deh! Non volerli vittime«
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FEDERICA LOMBARDI als NORMA KS ILDEBRANDO D’ARCANGELO als OROVESO
FRANÇOIS-RENÉ DE CHATEAUBRIAND
VELLEDA Plötzlich unterbrach ein Ereignis Untersuchungen, deren Resultate für mich so wichtig seyn sollten. Die Krieger hinterbrachten mir, daß seit einigen Tagen bei einbrechender Nacht ein Weib aus dem Wald komme, eine Barke allein besteige, über den See schiffe, am anderen Ufer lande, und dann verschwinde. lch wußte wohl, daß die Gallier ihren Weibern die wichtigsten Geheimnisse anvertrauten, daß sie einem Rathe ihrer Töchter und Weiber Unternehmungen überlassen, die sie unter sich nicht ausmachen konnten. Die Bewohner von Armorica hatten ihre alten Sitten bewahret, und trugen das Joch der Römer mit Ungeduld. Tapfer bis zur Verwegenheit, wie alle Gallier, zeichneten sie sich durch eine ihnen eigenthümliche Offenheit des Charakters aus, durch gewaltsamen Haß und Liebe, durch Eigensinn der Gefühle, den nichts ändern, nichts besiegen konnte. [...] Ich glaubte also, der Soldaten Nachricht nicht verachten zu dürfen; doch da ich die Rohheit dieser Menschen kannte, so beschloß ich, die Gallierinn selbst zu beobachten. Gegen Abend zog ich meine Waffen an, bedeckte sie mit einem Ueberrock, verließ geheim das Schloß, und eilte an das Seeufer an die mir von den Soldaten bezeichnete Stelle. Unter den Felsen verborgen, wartete ich eine Zeitlang. Nichts erschien. Plötzlich schlagen Töne an mein Ohr, hergeweht vom Winde aus der Mitte des Sees. Ich horche, und höre Laute einer menschlichen Stimme. Nun sehe ich hoch auf einer
Woge eine Barke schweben; itzt steigt sie wieder hinab und verschwindet zwischen zwo Wellen; dann zeigt sie sich wieder auf einer hohen Woge Gipfel: ein Weib lenket sie, sie singt im Kampfe gegen den Sturm, und scheint mit den Winden nur zu spielen; man hätte gesagt, sie stehen unter ihrer Macht, so keck schien sie ihnen zu trotzen. Ich sah sie von Zeit zu Zeit Stücke Leinwand, Lämmerfelle, Wachskuchen und kleine runde Plättchen von Silber und von Gold in den See als Opfer werfen. Bald landet sie am Gestade, sie springt ans Land, und bindet ihren Kahn an einen Weidenstamm, dann eilt sie in des Waldes Dickicht, und stützt sich auf einen Pappelzweig, den sie in der Hand führte. Ganz nah ging sie an mir vorüber, ohne mich zu gewahren. Ihr Wuchs war hoch; eine schwarze Tunica kurz und ohne Aermel verschleierte kaum ihre Blöße. Sie trug an ihrem Gürtel eine goldene Sichel, und war mit einem Eichenzweige bekränzt. Der Arme und des Gesichts Weiße, das Blau der Augen, die Rosenlippen, und langes blondes zerstreut umherflatterndes Haar, verkündete eine Tochter der Gallier, und widerstrebte durch sanftes Wesen dem stolzen und wilden Gang. Sie sang mit melodischer Stimme schreckliche Worte. Ich folgte ihr in einiger Entfernung. Sie ging anfänglich durch einen Kastanienwald, dessen Bäume, so alt wie die Zeit, alle am Gipfel verdorrt waren. Dann wanderten wir mehr als eine Stunde lang über Steppen mit
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VELLEDA
Moos und Farrenkraut bedeckt. An ihre Gränze stieß ein Gehölze, und in desselben Mitte eine andere Haide von mehreren Meilen im Umkreis. Nie war der Boden gebaut worden, und man hatte dort Steine gesäet, um ihn der Sichel und dem Pflug unzugänglich zu machen. Am Ende dieser Sandwüste stieg einer jener einsamen Felsen in die Höhe, welche die Gallier Dolmin nennen, und die das Grab eines Kriegers bezeichnen. Einst wird der Landmann in Mitte seiner Furchen die ungeformten Pyramiden schauen, staunend über des Denkmahls Größe schreibt er sie vielleicht unsichtbaren bösen Mächten zu, die nur das Zeugnis der Stärke und der Rohheit seiner Ahnen sind. Herabgestiegen war die Nacht. Nicht ferne vom Stein blieb das junge Mädchen stehn: sie klatschte dreimal in die Hände, und sprach mit lauter Stimme die geheimnißvollen Worte: »Au – gui – l’an – Neuf!«1 Jetzt glänzen im Dunkel des Waldes tausend Lichter; jede Eiche schien, so zu sagen, einen Gallier hervorzubringen; die Barbaren kommen in Schaaren aus ihren Schlupfwinkeln hervor; die einen ganz gewaffnet, die anderen mit einem Eichenzweig in der Rechten, und in der Linken eine Fackel. In meiner Verkleidung mische ich mich in ihren Haufen: auf der Versammlung erste Unordnung folgt bald Ordnung und Andacht; der feierliche Zug beginnt. Eubagen2 zogen voran mit zwei weißen Opferstieren: Barden folgten, und sangen zu einer Cither das Lob Teuts; dann kamen die Schüler, begleitet von einem Waffenherold im weißen Gewande, ein Hut mit zwei Flügeln deckte sein Haupt, die Rechte faßte einen Verbenazweig umwunden mit zwo Schlangen. Drei Senanis3 traten ihm nach, sie trugen, anstatt der Druiden, der eine
ein Brod, der andre ein Gefäß mit Wasser gefüllt, der dritte eine Hand aus Elfenbein4. Die Druidinn, ich hatte nun ihr Amt erkannt, schloß den Zug, ein Sprößling des Archidruiden, nahm sie seine Stelle ein. Man wollte zur dreißigjährigen Eiche hin, wo man die geheiligte Mistel entdeckt hatte. Am Fuße des Baums ward ein Altar von Rasen errichtet. Die Senanis verbrannten auf demselben ein wenig Brod, und gossen darauf einige Tropfen lauteren Weins. Dann bestieg ein Eubage weiß bekleidet die Eiche, nahm mit der Druidinn goldener Sichel die Mistel ab; ein weißes Gewand hingebreitet unter dem Baum empfing die heilige Pflanze, die anderen Eubagen schlachteten die Opferthiere, und die Mistel ward in gleichen Theilen unter die Versammlung vertheilt. Nach geendigter Zeremonie kehrte man zum Grabmahle zurück; man pflanzte ein Schwert auf, des Mallus oder Rathes Mitte zu bezeichnen. Am Fuße des Dolmins lehnten zwei andere Steine, die einen dritten stützten, der horizontal auf ihnen lag. Die Druidinn besteigt diese Tribüne. Gewaffnet umstehen sie die Gallier, die Senanis und Eubagen heben Fackeln empor; bei dieser Scene, dem Bild der alten Freiheit, ergriff die Herzen stille Rührung. Dicke Thränentropfen rollten einigen Kriegern mit silbergrauem Haar auf ihre Schilde herab. Alle vorwärts gelehnt, gestützt auf ihre Lanzen, schienen sie schon der Rede der Druidinn aufzuhorchen. Der Druidinn Blicke schweiften einige Augenblicke auf jenen Kriegern, den Stellvertretern eines Volkes umher, das zuerst das Wort den Menschen zu sagen wagte: »Wehe den Besiegten!« Ein Frevelwort, das nun zurück aufs eigene Haupt gefallen. Man las
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auf der Stirne der Druidinn die Gefühle, die dieses Beispiel von der Dinge Wechsel in ihr erweckten. Doch entriß sie sich bald diesen Träumen, und sprach: »Ihr treuen Kinder Teuts, die ihr mitten in der Sclaverei des Vaterlandes die Religion und die Gesetze eurer Väter bewahret! Euch kann ich nicht ansehen, ohne Thränen zu vergießen! Ist dies der Rest jener Nation, die der Welt Gesetze gab? Wo sind jene blühende Staaten Galliens, jener Weiberrath, dem sich der große Hannibal unterwarf? Wo sind jene Druiden, die in ihren geheiligten Pflanzschulen eine zahlreiche Jugend bildeten? Geächtet von Tyrannen, leben kaum Einige von ihnen mehr unbekannt in wilden Höhlen! Velleda, eine schwache Druidinn, ist allein euch noch übrig, eure Opfer zu vollbringen! O Insel Sayne5, ehrwürdige und geheiligte Insel! Von neun Jungfrauen, die euer Heiligthum bedienten, blieb ich allein übrig. Bald wird Teut noch Priester, noch Altäre haben. Doch warum sollten allen Hoffnungen wir entsagen? Ich soll euch einen mächtigen Bundsgenossen verkünden: bedarf es dann der Schilderung eurer Leiden, um in die Waffen euch zu treiben? Von Geburt aus Sclaven, durchlebt ihr kaum die Kindertage, so führen euch die Römer weg. Was wird aus euch? Ich weiß es nicht. Als Männer müßt ihr an der Grenze für die Vertheidigung eurer Tyrannen sterben, oder die Furche ziehen, die sie nährt! Zu den härtesten Arbeiten verdammt, fället ihr die eignen Wälder, und bauet mit unerhörter Mühe die Straßen, auf denen die Sclaverei bis in eures Landes Herz einfährt. Jetzt ist der Zugang offen, und Dienstbarkeit, und Unterdrückung, und Tod eilen mit Freudengeschrei herbei auf diesen Straßen. Und wenn ihr dann so viele Unbild
überlebet, dann führt man euch nach Rom, dort zwingt man euch in einem Amphitheater eingesperrt, euch wechselweis zu morden, mit dem Röcheln eures Todes einen blutgierigen Pöbel zu belustigen. Gallier! Ihr könnet Rom würdiger besuchen! Gedenket, daß euer Name: »Wanderer!«6 bedeutet. Erscheinet wie eure furchtbaren Ahnen und Vorfahren, plötzlich am Capitol. Man verlangt euch in Titus Amphitheater? Ziehet hin, gehorchet den erlauchten Zuschauern, die euch rufen! Lehret die Römer sterben, aber ganz auf eine andere Art, nicht euer Blut versprützend bei ihren Festen; ihr habet ihnen lange genug den Unterricht darinn gegeben, laßet ihn nun sie auch üben! Mein Vorschlag enthält nichts Unmögliches. Der Franken Stämme, die in Spanien sich angebaut, kehren itzt ins Vaterland zurück; ihre Flotte ist im Angesichte eurer Küsten; nur ein Signal erwarten sie, zur Hülfe euch zu kommen. Doch wenn der Himmel unsere Bestrebungen nicht krönt, wenn der Cäsaren Glück die Überhand noch einmal bekömmt, nun dann, so laßet uns mit den Franken einen Winkel auf der Erde suchen, wo Sclaverei unbekannt ist! Die fremden Völker mögen uns ein Vaterland gestatten oder weigern, nie wird es uns an Erde fehlen, uns dort zu nähren, oder dort zu sterben.« Die Wirkung dieser Rede zu schildern, vermag ich nicht, die bei Fackelschein auf einer Haide, bei einem Grabe, beim Blute schlechterwürgter Stiere, die ihr Todesbrüllen mit dem Gebraus des Sturmes vereinigten, gehalten ward. So schildert man der Höllengeister Zusammenkünfte, die Zauberinnen in wilden Gegenden zu Nachts versammeln. Entflammte Phantasie verwarf das Ansehn der Vernunft. Ohne viel
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zu berathen, beschloß man die Vereinigung mit den Franken. Dreimal versucht ein Krieger dagegen zu stimmen; dreimal zwang man ihn zum Schweigen; beim drittenmal schnitt ihm der Waffenherold ein Stück des Mantels ab. Das war nur erst das Vorspiel zu einer grauenvollen Scene. Die Menge fordert mit lautem Geschrei ein Menschenopfer, des Himmels Willen besser zu erkennen. Einst bewahrten die Druiden für solche Opfer einen durch die Gesetze zum Tode schon verurtheilten Missethäter. Die Druidinn mußte nun erklären, daß, da kein bestimmtes Opfer vorhanden sei, so heische die Religion einen Greis als Teuts angenehmstes Opfer. Sogleich bringt man ein Eisenbecken, auf dem Velleda den Greis ermorden soll, man setzt es vor ihr auf die Erde nieder. Sie war noch nicht von der Gräbertribüne, wo sie zum Volke gesprochen, herabgekommen; auf ein ehernes Dreieck setzte sie sich, mit zerrüttetem Gewand, mit wildfliegendem Haar, in der Hand einen Dolch, und unter ihrem Fuße einen Feuerbrand. Ich
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weiß nicht, wie diese Scene noch geendet hätte. Vielleicht, wenn ich versuchte, das Opfer zu unterbrechen, wäre ich gefallen unter dem Stahle der Barbaren; der Himmel endete in seiner Güte oder in seinem Zorne meine verwirrte Lage. Die Gestirne nahten sich dem Untergange. Die Gallier fürchteten vom Tageslicht überrascht zu werden. Das abscheuliche Opfer beschlossen sie zu verschieben, bis Dis7, der Schatten Vater, die nächste Nacht am Himmel heraufgeführt hätte. Die Menge zerstreute auf den Haiden sich, und die Fackeln verlöschten. Nur einige geschwungene Feuerbrände glänzten hie und da im tiefen Wald, und man hörte der Barden Chor von ferne, die scheidend in traurigen Tönen sangen: »Teut will Blut; er hat in der Druideneiche gesprochen. Mit der goldenen Sichel wurde geschnitten die heilige Mistel, am sechsten Tage des Mondes, am ersten Tage des Jahrhunderts. Teut will Blut, er hat in der Druideneiche gesprochen!«
Au gui, buchstäbl. zur Mistel! Ein Gewächs auf Eichen, Linden etc. Seher Gallier-Philosophen, der Druiden Nachfolger Die nachherige Schwörhand Vielleicht Jersey Gallen hieß wallen, wandern. Pluto
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FA BR IZIO DELL A SETA
»AUSGEHEND VON DER FESTLEGUNG BELLINIS ALS DEM ›LIRICO PURO‹ KONSTRUIERTE DIE IDEALISTISCHE MUSIKKRITIK EIN BILD DES KOMPONISTEN, DESSEN DRAMATURGIE SICH GÄNZLICH IM INNEREN VOLLZIEHT UND DER DIE BEDINGUNGEN DER THEATERPRAXIS IGNORIERT. BEI HEUTIGER BETRACHTUNG SEINER BIOGRAPHIE UND SEINER PERSÖNLICHKEIT SPRICHT JEDOCH ALLES FÜR DAS GEGENTEIL: BELLINI WAR IN JEDER BEZIEHUNG EIN ›MANN DES THEATERS‹.«
SERGIO MORABITO
ZUR NORMA FELICE ROMANIS & VINCENZO BELLINIS In bedeutenden Operninszenierungen durchdringen und potenzieren sich analytische Deutlichkeit in der Lektüre einer Vorlage und sinnliche Deutlichkeit im entfesselten Spiel der Theatermittel wechselseitig. Dabei spielt die von Theorie und Praxis gleichermaßen unterschätzte Bedeutung der LibrettoDichtungen eine entscheidende Rolle. Zu verweisen ist auf das Zeugnis der Opernkomponisten selbst: »Übrigens glaube ich, dass das Finden neuer Formen mehr vom Librettisten als vom Komponisten abhängt«, schreibt Bellinis zeitweiliger Rivale Giovanni Pacini in seinen Memoiren. Und brieflich überliefert ist Bellinis Äußerung: »Am allerschwierigsten ist es, Sujets zu finden, welche Neuheit und Interesse bieten. Doch da ich überzeugt bin, dass das Libretto das Fundament einer Oper darstellt, halte ich die für die Suche benötigte Zeit für gut genutzt.« Es beruhte auf dramaturgischer Einsicht, wenn Eduard Hanslick Eugène Scribe, den wirkungsmächtigsten und meistgespielten Theaterautor des 19. Jahrhunderts, auch als »Schöpfer der modernen Oper« bezeichnete: »Er hat nämlich […] das Genie für jene dramatischen Situationen besessen, welche der Musik neue Wege eröffnen.« Vorige Seiten KS JUAN DIEGO FLÓREZ als POLLIONE
Die diversifizierende Kraft der italienischen Libretto-Dichtungen, die einem Richard Wagner – bei aller Distanz – sehr bewusst war,* wird verkannt. Bellini selbst unterhielt ein privilegiertes Arbeitsverhältnis zum begehrtesten Librettisten seiner Epoche: Felice Romani, der aufgrund des meisterlichen Aufbaus und des sprachlichen Wohllauts seiner Szenarien berühmt war. Er schuf die Libretti zu sieben der zehn Opern Bellinis, unter anderem zu Il pirata (1827), La straniera (1829), La sonnambula (1831) und eben auch zu Norma (1831). Die Handlungszusammenfassung, die Friedrich Lippmann (dessen musikalischen Analysen die Bellini-Forschung entscheidende Einsichten verdankt), vom, wie er selbst sagt, »wohl besten aller in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts geschriebenen italienischen Opernlibretti« gibt, muss bedenklich stimmen. Normas Zurückschrecken vor dem Kindermord wird dort begründet mit: »Sie liebt Pollione noch immer«, was den Wortlaut ihres Monologs zu Beginn des zweiten Aktes eklatant ignoriert, denn vom Mord hält Norma einzig die Tatsache zurück, dass es eben auch ihre Kinder sind, nicht die des ihr nunmehr verhassten Pollione allein, wie sie sich einzureden versucht. Pollione,
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ZUR NORMA FELICE ROMANIS & VINCENZO BELLINIS
der beim Versuch gefasst wurde, Adalgisa aus dem Kreis der Novizinnen zu entführen, soll Lippmann zufolge »der Göttin der Druiden geopfert werden«. In Wahrheit hat Pollione, wie wir aus Orovesos und Normas Worten erfahren, »den Zorn Irminsuls« herausgefordert, seine angebliche Komplizin »den Gott der Ahnen beleidigt«; auch der Chor der Gallier bestätigt, dass es der »strenge Gott« ist, der hier Bestrafung fordert, nicht die von Norma im ersten Akt angerufene »keusche Göttin«. Selbst oder gerade einer so herausgehobenen Szene wie dem zweiten Aktfinale der Norma gegenüber wird die präzise narrative, szenisch-dramaturgische Dimension von Bellinis Opernschaffen ausgeblendet. Lippmanns Ausführungen stehen im Banne der tradierten Interpretation des Finales der Oper als »Liebestod« – eine Interpretation, die eine spätromantische Rückprojektion darstellt: Wagner hat, vor allem im Tristan, an Bellinis im Norma-Finale entwickelte Technik der chromatischsequenzierenden Kadenzverzögerung angeknüpft. Die harmonische Spannungs- und Steigerungstechnik wird seither mit dem Panerotismus Wagner’scher Willensmetaphysik assoziiert. Das hat dazu geführt, dass man den eigentlichen Vorgang, den diese Szene erzählt, nämlich, dass Norma ihren Vater auf Schutz und Pflege ihrer Kinder zu verpflichten sucht, überhaupt nicht mehr verstanden hat. Am Ende sei Norma mit Pollione »im Tode vereint«, so Lippmann. Sehen wir uns die Textstelle, die Lippmann paraphrasiert, im Kontext an, wird deutlich, dass Norma hier zu Pollione nicht als Liebende spricht: Die Macht, die beider Schicksal aneinanderkettet, ist nicht
die von Pollione in extremis wiederbeschworene Liebe, sondern die Fatalität. Norma verweigert Pollione die erflehte Absolution und bestätigt, dass er ihr Herz für immer verloren habe: »Ja, für immer.« Pollione beobachtet in der letzten Szene des Dramas zwar »erregt die Bewegungen von Norma und Oroveso«, es geht aber nicht um ihn, sondern um das Schicksal seiner Kinder. Dass Pollione nach der Zusicherung Orovesos, sich der Kinder zu erbarmen, mit Norma gemeinsam singt »Mehr verlange ich nicht, Ich bin glücklich, / zufrieden will ich den Scheiterhaufen besteigen«, impliziert nicht, dass Norma und Pollione den Scheiterhaufen Seite an Seite besteigen, wie von Lippmann und zahllosen weiteren Kommentatoren angenommen. Dass Pollione einen solchen gemeinsamen Tod verbal beschwört, steht auf einem anderen Blatt. Die in den Dialogen und Regieanweisungen dargestellte Objektivität des Geschehens kann er dadurch nicht beeinflussen. Die Aufforderung, den Scheiterhaufen zu besteigen, ergeht unmissverständlich einzig an sie: Die Verbrennung ist die Strafe, die der eidbrüchigen Priesterin vorbehalten ist. Normas einsamen Gang in den Tod bestätigt die Regieanweisung »den Weg beschreitend«, die ihrem Lebewohl an den Vater unterlegt ist. Und als hätte es einer weiteren Verdeutlichung noch bedurft, impliziert auch Polliones der sich entfernenden Norma hinterhergerufene Replik »Dein Scheiterhaufen, Norma, ist der meine!« sein verzweifeltes Wunschdenken, in Fortsetzung seines Flehens »Ach, lass uns gemeinsam sterben«: Die Worte stellen eine Beschwörung, den Versuch einer Sinngebung, eine letzte Entschuldigung dar, die er seiner für ihn räumlich wie seelisch unerreichbar
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SERGIO MORABITO
gewordenen Frau hinterherruft. Rein durch die sprachliche Logik wird signalisiert, dass der Replik keine objektive Wirklichkeit entspricht. Polliones letzte Worte »Dort beginnt eine heilige, eine ewige Liebe« treffen bei Norma auf keine Reaktion, geschweige denn eine Entsprechung. Sie hört ihm nicht einmal zu: Während Pollione spricht, sagt sie ihrem Vater Lebewohl. Ihr letzter Blick gilt nicht ihm, sondern ihrem Vater, ein Blick, der ihn mahnen soll, sein Versprechen an den Kindern zu halten: NORMA Vater, lebe wohl! Sie schreitet auf den Scheiterhaufen zu. POLLIONE Dein Scheiterhaufen ist auch der meine. Dort beginnt eine reinere, ewige Liebe. NORMA sich noch einmal umwendend Vater! Leb wohl! OROVESO sieht sie an Leb wohl! ... Den Blickkontakt zwischen Tochter und Vater vermögen Polliones Rufe nicht zu unterbrechen. Das Überleben der Kinder, dem die musikalische Apotheose der Oper gilt, wird von Lippmann mit keinem Wort erwähnt. »Die Liebe hat gesiegt« – die Liebe, die in diesem Finale siegt, ist nicht die von Pollione verratene, sondern jene, die fundamentalistische, gegen Unschuldige gerichtete, »barbarische« Gewaltreflexe zu überwinden vermag. In Norma haben die Autoren den Konflikt zwischen einer männlich oder weiblich definierten Werteordnung und Gesellschaft religionsgeschichtlich ver-
tieft. Die Akteure dieses Stückes tragen den Kampf aus zwischen der Mondgöttin, der die Priesterin Norma sich verpflichtet weiß, und Irminsul, dem Gott des Krieges, zu dessen Sprachrohr die gallischen Krieger sie degradieren wollen. Dieser Konflikt lässt sich durch das ganze Stück verfolgen. Das Stück endet in dem Augenblick, in dem die Gallier ihre eigentliche Gegnerin identifiziert haben und die aufgestaute Aggression sich gegen die Saboteurin des Kriegsgottes Irminsul entladen kann. Es ist die Leistung des Librettisten, in das Stück den Kult der »keuschen Göttin« implantiert zu haben, der mit dem Kult des Irminsul als patriarchaler Instanz nur scheinbar koexistiert, in Wirklichkeit diesen unterwandert und ausgehöhlt hat: Die entmachtete, exorzierte Große Göttin hat sich ihren Herrschaftsbereich wieder angeeignet und ist mitsamt den Kindern wieder in ihren alten Tempel eingezogen. Durch diese Setzung besitzt die Norma der Oper – im Unterschied zur traumatisierten, pathologisierten und kriminalisierten Norma der Schauspielvorlage des Alexandre Soumet – Statur und Würde einer Göttin. Die oft beobachteten Unterschiede der Oper zum Schauspiel sind durch diese Einführung eines Kults der Mondgöttin letztlich bedingt. Normas Gebet an die »casta diva« ist das dramaturgische Herzstück der Oper: in ihm wird die Priesterin zum »Abbild der ›keuschen Göttin‹, an die sie sich wendet« (Lippmann). Dieser Gesang ist nicht Ausdruck von Normas angeblich »zerrissener Seele«, sondern Manifestation ihrer spirituellen Aura und Integrität. Zum Aufschwung des Gebetes an die keusche Göttin steht Normas Beschwörung ihres ehelichen Vereins mit Pollione nicht im Wider-
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ZUR NORMA FELICE ROMANIS & VINCENZO BELLINIS
spruch. Die Keuschheit der Mondin ist keine fremdbestimmte, vom patriarchalen Besitzanspruch verhängte, sondern jene des mutterrechtlichen Matrimoniums. Für Norma bedeutet ihre zweimalige Mutterschaft die Erfüllung und nicht die Verleugnung ihres Priesterinnentums, wie es meist gesehen wird. Die Konfliktlinie in Norma verläuft also woanders, als sie traditionell von außen zwischen römischen Besatzern und gallischen Widerstandskämpfern gezogen wird. Vermutlich ist es für die Druidin gar kein Unterschied, ob gallische Krieger den Ton angeben oder ob das römische Eroberer tun. Mit ihrer Bereitschaft zum Selbstopfer wird Norma zur ethischen Instanz, die die Männer Pollione und Oroveso zu reuiger Konversion zwingt. Unter dem Eindruck ihrer Souveränität bekennt Pollione sein schnödes Versagen, und Oroveso, Soumets fundamentalistischer Hardliner, macht sich zum Komplizen des Verrats seiner Tochter an den Kriegsgesetzen der Gallier, indem er verspricht, Normas Sorge um das Überleben ihrer Kinder zu seiner eigenen zu machen. Es ist bedeutungsvoll, wenn Bellini und Romani auf den Topos der Wahnsinnsszene dort verzichten, wo die Stoffquelle ihn vorgibt. Norma ist der bemerkenswerte Fall einer Oper des Primo Ottocento, die eine solche Option bewusst und ausdrücklich zurück-
weist. Im fünften Akt von Soumets Tragödie bewirkt der Fundamentalismus von Normas Vater den Amoklauf seiner von Schuldgefühlen gepeinigten Tochter. Die mit sich selbst Zerfallene richtet sich selbst: Die verinnerlichten Schuldgefühle treiben sie in den Wahnsinn, zum Mord an ihren beiden Kindern und in den Selbstmord; daher der Untertitel der Tragödie: L’Infanticide, Der Kindermord. Wohingegen die Norma der Oper alles daransetzt, das Leben ihrer beiden Kinder auch für die Zeit nach ihrem Tod zu sichern. Letzteres ist natürlich keine isolierte Einzelentscheidung der Opernmacher, sondern steht im Zusammenhang der grundstürzenden Umarbeitung, der sie ihre Schauspielvorlage unterzogen haben. Aus der Kindsmörderin des Schauspiels hat ihre Oper die Partisanin einer matriarchalen Ordnung gemacht, der es vor der eigenen Hinrichtung noch gelingt, ihren Vater zur Sabotage am Patriarchat zu verführen: Oroveso macht sich zum Komplizen am Verbrechen der Tochter, indem er verspricht, sich ihrer mit einem Landesfeind gezeugten Kinder anzunehmen, statt sie der Wut seiner Landsleute auszuliefern. Im zweiten Finale dieser Oper geht es um keine Feier der zerstörten Liebe der Eltern, wie ein zählebiges Missverständnis es sich einbildet, sondern um Rettung der Kinder.
* »So schablonenartig die italienische Opernkompositions-Manier erscheint, habe ich doch immer noch gefunden, daß alles auch hier eine richtigere Wirkung macht, wenn der Text verstanden wird, als wenn dies nicht der Fall ist, da gerade die Kenntnis des Vorganges und der Seelenzustände der Wirkung der Monotonie des musikalischen Ausdrucks vorteilhaft zu wehren vermag.« (Über das Opern-Dichten und Komponieren im besonderen, 1879)
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FA BR IZIO DELL A SETA
»BELLINI VERKÖRPERT ALS ERSTER IN DER GESCHICHTE DER ITALIENISCHEN OPER DIE PERSONALUNION VON KOMPONIST UND DRAMATIKER UND NIMMT ZUGLEICH EINE UMFASSENDE VERANTWORTUNG IM SINNE DES GESAMTKUNSTWERKS WAHR.«
EINE KOLLEKTIVE HANDSCHRIFT DER REGISSEUR UND SEIN TEAM ÜBER IHRE ARBEIT AN NORMA cyril teste Norma erzählt eine häusliche Geschichte, die Geschichte einer sehr besonderen Familie. Und ein Thema, das in jeder Familie eine Rolle spielt, ist das Geheimnis. Norma ist in geheimer Liebe mit einem Landesfeind verbunden. Aus dieser Verbindung sind zwei Kinder geboren, deren Abstammung geheim gehalten werden muss. Im Mittelpunkt dieser spannenden Geschichte steht eine sehr starke Frau: Sie ist das spirituelle Oberhaupt, die Priesterin ihres Volkes, aber sie hat zugleich auch eine politische Funktion. Und zugleich ist sie Mutter und Geliebte. Viele Aspekte weiblicher Identität sind in ihrer Figur verbunden. Diese sehr, sehr starke, sehr komplexe Frauengestalt ist gleichzeitig einem extrem patriarchalen System ausgeliefert, gegen das sie sich behaupten muss. Sie ist auf der Suche nach der Freiheit – nach ihrer persönlichen Freiheit in einem patriarchalen Gefüge. Ganz zentral ist die Dimension des Heiligen und der Spiritualität. Wir leben heute in einem kapitalistischen Gesellschaftssystem, in dem die spirituelle Dimension mehr und mehr im Rückzug begriffen ist und zu verschwinden droht. Die Gestalt der Norma könnte uns eine Orientierung geben bei der Suche nach der Frage, welche Form der Spiritualität uns heute offensteht.
Sie hält einen Schlüssel bereit zur Spiritualität als auch zur Dimension des Geheimnisses. Das Thema des großen, zweiten Finales der Oper ist die Weitergabe des Geheimnisses: Norma vertraut ihre illegitimen, mit dem Landesfeind gezeugten Kinder ihrem Vater an, aber unter dem Mantel der Verschwiegenheit. Denn sie weiß, wird die Identität dieser beiden Kinder gelüftet, dann werden sie von ihren eigenen fanatisierten Landsleuten massakriert. Das wird es immer geben: dass sich zwei Gesellschaften, zwei Nationen bekriegen, aber zwei einzelne Wesen zueinander finden und gemeinsam eine Nachkommenschaft zeugen. Diese Kinder verkörpern die utopische Verbindung beider sich scheinbar ausschließenden Kulturen. Als entscheidend empfinde ich, dass für Norma die Suche nach Frieden die absolute Priorität darstellt. Das ist schön, weil sie selbst natürlich auch in einem inneren Kriegszustand befindlich ist – aber sich öffentlich einsetzt für den Erhalt oder die Wiedergewinnung des Friedens. Es macht für mich sehr viel Sinn, mich nach der Salome zum Anwalt einer anderen sehr starken, umstrittenen Frauenfigur zu machen, indem ich diese Oper hier in Wien inszeniere. valérie grall Ich bin Szenographin, ich komme von der Architektur und
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EINE KOLLEKTIVE HANDSCHRIFT
habe an der Akademie der schönen Künste in Paris studiert. Ich bin sehr früh mit einem Szenographen in Kontakt gekommen und daraus erwuchs meine Beziehung zum Theater, nämlich zur Arbeit von Peter Brook. Mein nächster Karriereschwerpunkt war dann die Szenographie für den Film, für das Kino. So kam es zur Begegnung mit Cyril Teste, mit dem ich schon seit einigen Jahren zusammenarbeite. Das kinematographische Interesse von Cyril Teste, der eine sehr besondere Form des Theaters konzipiert, hat uns zusammengeführt. Die Dimension des live produzierten Kamerabildes spielt in seinen Aufführungen eine wichtige Rolle. Es ist ein Balanceakt, in dem wir jetzt schon seit einigen Jahren gemeinsam unterwegs sind. Die Zeitlichkeit, die Materialität und die Ästhetik eines Kinobildes ist eine ganz andere als die des Theaters. Diesen schmalen Grat thematisieren wir in unserer gemeinsamen Arbeit. Das Ziel in der Verbindung dieser beiden Genres sind Bildfindungen, die magisch sind und eine hohe Poesie ausstrahlen. Deshalb müssen auch unsere beiden Bildgestalter hier erwähnt werden, Mehdi Toutain-Lopez und Nicolas Doremus, welche die Ästhetik der Videobilder und die Regie für die Livekamera entwickeln. Beides wird in Norma eine große Rolle spielen. Die Aufgabenstellung war die Suche nach einem Raum, der sowohl eine sakrale Dimension hat, als auch extrem konkret, extrem materiell ausformuliert ist. Wir wollten vermeiden, dass er chronologisch eindeutig in einem ganz bestimmten Jahr oder an einem bestimmten Ort lokalisiert werden kann, sondern gewissermaßen modellhaft ein Kriegsszenario darstellt, zum Bei-
spiel entweihte Kirchen oder Fabrikhallen, in denen eine Zivilbevölkerung, die einem Kriegsgeschehen ausgesetzt ist, Schutz sucht. Man macht die Beobachtung, dass die Natur von diesen aufgegebenen, umfunktionalisierten, verfallenden Räumen schnell wieder Besitz ergreift. Wir waren sehr erstaunt, festzustellen, dass beide Dimensionen, die für die Geschichte Normas entscheidend sind, in diesen Räumen vereint sind: Sowohl das Kriegsszenarium, die Zerstörung urbaner Räume und zugleich die Natur. ct Wir konnten in der Ukraine verfolgen, wie diese öffentlichen Räume auf einmal zu Zufluchtsorten geworden sind. Die Leute leben in U-BahnSchächten. Sie verstecken sich in Theatern, Bahnhöfen und eben auch in Sakralbauten. Obwohl es gar nicht der Glaube oder eine praktizierte Religion sein muss, die sie hinführen. Es ist das Bedürfnis nach Schutz. Was verloren geht, sind Privaträume; die Möglichkeit, sich ins Private zurückzuziehen. Im Grunde sind diese Räume bewohnt von Notgemeinschaften, Schicksalsgemeinschaften, die sich dort versammelt haben. Eine ähnliche Funktion und von vergleichbarer Relevanz sind auch die Wälder als Zufluchtsort. Es gibt zwei sehr gegensätzliche Glaubensrichtungen. Diese unterschiedlichen Religionen haben auch sehr unterschiedliche Raummodelle entwickelt, die beide im Bühnenbild präsent sind. Das Stück selbst spielt in vorchristlicher Zeit, zur Zeit des durch die Römer besetzten Galliens, also Frankreichs. Aber es sind zwei sehr unterschiedliche Glaubenskonzepte, die hier aufeinanderprallen. Es ist der Stein gewordene, Architektur gewordene Glaubensanspruch der römischen
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DER REGISSEUR UND SEIN TEAM ÜBER IHRE ARBEIT AN NORMA
Religion auf der einen Seite und andererseits die Naturreligion der Gallier. vg Ich mache auch auf Verbindungen aufmerksam. Die Tempelarchitektur basiert auf dem Konzept der Säule, und die Säule ist ein architektonisch nachempfundener Baumstamm. ct Valérie und ich fühlen uns in unserer Arbeit sehr dem russischen Cineasten Andrei Tarkowski verbunden. Wir integrieren das kinematographische Bild in den Bühnenraum. Es gibt die transparente Projektionsfläche und gleichzeitig können wir durch sie hindurch die Arbeit der Livekamera und die Entstehung der projizierten Bilder verfolgen. Sehr interessant sind die unterschiedlichen Größenordnungen. Das Bild der Kinder Normas wird über das gesamte Bühnenportal projiziert, Norma selbst erscheint in einem viel kleineren Maßstab dazu. Das ist eine Möglichkeit, die mentale Dimension zu zeigen, wie sehr also Normas Gedanken und Emotionen bei ihren Kindern sind. Die filmische Dimension ist für mich überwiegend mit den Kindern verknüpft. Es spielen aber auch noch andere mentale Bilder eine Rolle. In Norma werden zwei Gottheiten angerufen: Der Gott des Krieges, Irminsul, und die Mondgöttin, die Göttin des Friedens und der Fruchtbarkeit. Irminsul wird oft als Totem dargestellt oder als Baumstamm verehrt. Eine Eiche repräsentiert ihn, so ist es in den Regieanweisungen angegeben. Wir zitieren diesen Totempfahl, der Irminsul repräsentiert, über eine LED-Wand. Die berühmteste Arie dieses Stückes, »Casta Diva«, begleitet das Ritual des Mistelschneidens. Wir haben uns auch die Frage gestellt, wie man sich für solche Rituale kleidet.
marie la rocca Mein Arbeitsdialog mit Cyril läuft hauptsächlich über den Austausch von Bildern. Eines, das zum Ausgangspunkt der ganzen Konzeption wurde, ist ein Bild von Frauen, die mit sehr charakteristischen Kopftüchern tanzen. Ein zweiter Ausgangspunkt ist ein Bild aus dem spanischen Bürgerkrieg. Es sind Bilder, welche die Verbindung von Weiblichkeit und Kampfbereitschaft zeigen. Ich bin von weiblicher Privatkleidung ausgegangen, die aber ergänzt wird durch bestimmte Accessoires: Uniformteile, Ausrüstungsgegenstände, Waffen. Diese Verbindung ist auch Ausgangspunkt für das Kostüm der Norma. Sie trägt ein Damenkleid und darüber einen Trenchcoat. Das Kopftuch markiert ihre Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religionsgemeinschaft. Wir haben nach sehr, sehr konkreten Kostümen gesucht. Nicht die symbolisierende Überhöhung war uns wichtig, sondern die konkrete Lesbarkeit unserer Setzungen. Das einzige Element, das stilisiert ist, sind die überdimensionalen Foulards – Brusttücher, Kopftücher, wie auch immer wir sie nennen wollen, die für das Ritual der Anrufung der »Casta Diva« wichtig sind. Das ergibt ein relativ differenziertes Kostümbild, das auch unter anderem deshalb wichtig ist, weil sechsundsechzig Choristinnen und Choristen in dieser Oper mitwirken und man da ein visuelles Interesse herstellen muss. Unser Ziel war, etwas zu kreieren, das sich nicht dokumentarisch auf eine bestimmte Zeit oder einen bestimmten Ort bezieht. Aber wir bleiben im 20. Jahrhundert. Die Inspiration, die fotografischen Aufnahmen, die ich ver-
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EINE KOLLEKTIVE HANDSCHRIFT
wende, beziehen sich zu einem Großteil auf die 30er Jahre des 20. Jahrhunderts. Ich habe auch viel Vintage- und Secondhandkleidung ins Kostümbild integriert. Es ist aber sehr schwierig, Originalkleidung aus den 1930er-Jahren zu finden. Diese Vintage-Teile sind also eher aus der Nachkriegszeit. ct Die Kostüme, die Marie entwickelt, haben immer auch eine szenische Dimension und Implikation. Das Foto mit den tanzenden Frauen hat mich dazu geführt, eine Choreographin einzuladen – Magda Chowaniec, die auch den Tanz der Salome choreographiert hat. Den Impuls dazu gab dieses Foto. mlr Da uns auch die wunderbaren Werkstätten der Wiener Staatsoper zur Verfügung stehen, hatten wir zu entscheiden, wie genau diese Tücher gestaltet sein sollen. Es war keine Option für uns, sechsundsechzig Tücher einfach irgendwo im Angebot zu kaufen. Wir wollten auch nicht einfach ein bestimmtes folkloristisches Design, also zum Beispiel russische Kopftücher, kopieren oder adaptieren. Ich habe dann den Vorschlag gemacht, die Schultertücher als Landkarte zu gestalten, die Normas Territorium darstellt. Das geht zurück auf den Zweiten Weltkrieg, als Piloten solche Halstücher trugen. Im Falle eines überlebten Absturzes konnten sie sich anhand dieser Landkarte orientieren. Normas Territorium ist vor allem durch Wälder charakterisiert. Ich habe also vor allem kartographische Darstellungen von Waldlandschaften recherchiert. Bei der Recherche filtern sich dann bestimmte Farben und Aspekte heraus, die wichtig geworden sind. Ich habe dann Papiermuster vorbereitet, die an die Werkstätten hier in Wien weitergereicht wurden. Das Motiv ist auf allen Schals dasselbe, aber
in unterschiedlicher Skalierung. Die Gestaltung, die Grafik des Kopftuchdesigns habe ich in Paris entwickelt. Das wurde dann von einer Mitarbeiterin hier in Wien digital auf die verschiedenen angefragten Maße hochgerechnet. Tatsächlich gibt es nur in Deutschland einen Betrieb, der in der Lage ist, ein solches Tuch beidseitig zu bedrucken, ohne dass es zu Verschiebungen kommt. Die in Deutschland bedruckten Tücher sind anschließend zurück nach Wien gekommen und wurden dort mit Fransen versehen. Die Tücher bestehen aus einem Krepp-Polyester-Gewebe, das sehr an Seide erinnert. Dafür haben wir uns entschieden, weil Seide nur sehr schlecht und sehr teuer zu bedrucken ist. ct Marie hat nichts dem Zufall überlassen. Das betrifft alle Aspekte dieser Aufführung, die Szenographie, das Bühnenbild, das Videobild. Wir wollen nicht bei dem dekorativen Moment stehen bleiben, sondern sind auf der Suche nach einem Sinn dahinter. mlr Während dem Raum eine konkrete Geschichte von Zerstörung und Verfall eingeschrieben ist, haben wir bei den Kostümen bewusst darauf verzichtet, sie mit einer bestimmten Patina zu versehen. Der Raum ist wie ein Schrein, in dem die Kostüme farbliche Akzente setzen, die aber nicht naturalistisch, eins zu eins, eine Fortsetzung dieses »Schreins« darstellen. Auch Adalgisa trägt als Zeichen ihrer Zugehörigkeit zum Kult der Mondgöttin solch ein Kopftuch. Aber der Schnitt, die genaue Ausformung der Kleidung erzählt dann doch, dass Adalgisa eine jüngere Frau ist als Norma. Bei Pollione und Flavio, den Römern, ging es uns darum, eine imaginäre Uniform zu erfinden. Es sollte nicht das Erschei-
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EINE KOLLEKTIVE HANDSCHRIFT
nungsbild einer bestimmten historischen Armee zitiert werden, sondern ich habe Elemente aus ganz verschiedenen Kontexten zusammengeführt, um etwas gewissermaßen Generisches zu schaffen. Auch Oroveso ist ein spirituelles Oberhaupt, ein Druide, er ist der Vater von Norma. Damit hängt zusammen, dass sein Kostüm über die Farbigkeit und die verwendeten Materialien eine gewisse Kostbarkeit ausstrahlt, obwohl auch er sich gemeinsam mit allen anderen in einer Kriegssituation befindet. Der Herrenchor sind alles Gallier, denn von den Römern treten neben Pollione und Flavio nur zwei Gefangene auf. Die Gallier sind aufgeteilt in Druiden und Widerstandskämpfer. Im Damenchor finden sich Druidinnen, Kämpferinnen und Krankenschwestern. ct Die kollektive Entwicklung ist für dieses Projekt von enormer Bedeutung. Alle Handschriften, die in der Inszenierung zusammenfinden, die Handschriften von Marie, Valérie, Mehdi und Nicolas sowie meiner engen Regiemitarbeiterin Céline Gaudier gestalten und modellieren diese Aufführung ge-
meinsam. Die Vorstellung des allmächtigen, allwissenden Regisseurs, der die Entscheidungen antizipiert, lehne ich ab. Auch meine eigene Arbeit ist zutiefst durchdrungen und geprägt von der Mitarbeit und der Kreativität meines Teams. Es gibt übrigens auch eine olfaktorische Dimension; bei Salome gab es sie bereits. Ich arbeite mit dem Parfumeur Francis Kurkdijan zusammen, der schon seit vielen Jahren für mich immer wieder Düfte für bestimmte Inszenierungen entwickelt. Für spirituelle und religiöse Rituale ist der Einsatz von Duftstoffen von entscheidender Bedeutung. Auch die Dimension des Waldes wird olfaktorisch potenziert. In diesem Programmheft ist eine Duftkarte eingelegt, sodass der Duft Normas die Zuschauer auch nach der Vorstellung begleiten kann. Die Feuchtigkeit spielt für den Duft eine wichtige Rolle, große Nadelwälder, eine sehr erdige, pilzige Note. Eine Assoziation ist Urwald. Das ist ein sehr synästhetischer, durch alle Sinne vermittelter Zugang. Für mich ist das eine weitere wichtige Dimension eines Theatererlebnisses.
KS JUAN DIEGO FLÓREZ als POLLIONE HIROSHI AMAKO als FLAVIO
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Folgende Seiten SZENENBILD
FELICE ROMANI
NORMA WÖRTLICHE DEUTSCHE ÜBERSETZUNG VON SERGIO MORABITO
PERSONEN POLLIONE römischer Prokonsul in Gallien Tenor OROVESO Oberhaupt der Druiden Bass NORMA Druidin, Orovesos Tochter Sopran ADALGISA junge Priesterin im Tempel des Irminsul Sopran CLOTILDE Normas Vertraute Sopran FLAVIO Freund Polliones Tenor ZWEI KINDER NORMAS & POLLIONES stumm
CHÖRE UND KOMPARSEN DRUIDEN – BARDEN – SEHER – PRIESTERINNEN – GALLISCHE KRIEGER UND SOLDATEN Das Stück spielt in Gallien, im heiligen Wald und im Tempel des Irminsul
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ERSTER AKT NR. 1 – INTRODUKTION ERSTE SZENE Der heilige Wald der Druiden. In der Mitte die Eiche des Irminsul; der Druidenstein an ihrem Fuße dient als Altar. In der Ferne bewaldete Hügel. Es ist Nacht; durch die Bäume schimmern entfernte Feuer. Zu den Klängen eines religiösen Marsches ziehen die gallischen Krieger vorüber, gefolgt von der Prozession der Druiden; zuletzt Oroveso mit den Oberpriestern. OROVESO Besteigt den Hügel, o Druiden, besteigt ihn, um am Himmel zu erspähen, wann die Mondgöttin ihre Silberscheibe erneut enthüllt; das erste Lächeln ihres jungfräulichen Antlitzes verkünde dreimal der mystische Gong der Priester. DRUIDEN Die heilige Mistel zu schneiden wird Norma kommen? OROVESO Ja, Norma kommt, ja, sie kommt. DRUIDEN Sie kommt! Sie kommt! Erfülle sie mit deiner Seherkraft, schrecklicher Gott, errege in ihr, o Irminsul, Hass und Zorn gegen die Römer, Leidenschaften, die diesen Frieden brechen, der uns tödlich ist! OROVESO Ja, schrecklich wird er aus diesen alten Eichen sprechen, er wird die feindlichen Adler aus Gallien vertreiben, …
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NORMA
OROVESO und DRUIDEN Und der Klang seines Schildes wird, gleich Donnerschlägen, die Stadt der Cäsaren erschüttern. usw. Mond, eile zum Aufgang! An den Altar wird Norma kommen. Alle entfernen sich und verlieren sich im Wald; von Zeit zu Zeit hört man ihre Stimmen noch aus der Ferne. Hierauf treten Flavio und Pollione vorsichtig und in ihre Togen gehüllt von einer Seite auf.
NR. 2 – REZITATIV & KAVATINE DES POLLIONE ZWEITE SZENE Pollione und Flavio POLLIONE Die Stimmen sind verhallt und der Weg durch diesen fürchterlichen Wald ist frei. FLAVIO In diesem Wald wartet der Tod. Norma warnte dich. POLLIONE Du sprachst einen Namen aus, der mir das Herz erstarren lässt. FLAVIO Oh, was sagst du? Deine Geliebte, die Mutter deiner Kinder? POLLIONE Ich weiß, dass ich jeden Vorwurf verdiene. Aber in meinem Herzen ist die erste Flamme erloschen, und ein Gott hat sie gelöscht, ein Gott, der meiner Ruhe feindlich ist; zu meinen Füßen sehe ich den offenen Abgrund und stürze mich selbst hinein. FLAVIO Liebst du vielleicht eine andere? POLLIONE Sprich leise! Eine andere, ja... Adalgisa... Du sollst sie sehen... Blüte der Unschuld und Lächeln
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ERSTER AKT
der Reinheit und Liebe. Als Priesterin im Tempel dieses blutigen Gottes erscheint sie wie ein Stern am Gewitterhimmel. FLAVIO Unglücklicher Freund! Und wirst du wiedergeliebt? POLLIONE Ich darf es hoffen. FLAVIO Und den Zorn Normas fürchtest du nicht? POLLIONE Grausam und entsetzlich malt ihn mir mein schweres Schuldgefühl. Ein Traum... FLAVIO Erzähle! POLLIONE Noch die Erinnerung lässt mich zittern. Mit mir am Altar der Venus stand Adalgisa in Rom, geschmückt mit weißen Bändern und Blüten im Haar. Ich hörte die Hochzeitsgesänge, ich sah den Weihrauch steigen, meine Sinne waren hingerissen von Lust und Liebe. Plötzlich fällt zwischen uns ein schrecklicher Schatten; der weite Mantel der Druiden verdeckt ihn wie ein Dampf, ein Blitz trifft den Altar, ein Schleier verhüllt das Tageslicht, lautloser Grabesschrecken verbreitet sich ringsum. Ich finde die angebetete Jungfrau nicht mehr an meiner Seite, von ferne höre ich ihre Klage, vermischt mit dem Weinen der Kinder... und eine schreckliche Stimme hallt aus der Tiefe des Tempels: »So richtet Norma den untreuen Geliebten zugrunde...« Der heilige Gong ertönt.
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NORMA
FLAVIO Hörst du?... Um hier ihre Riten zu vollziehen kommt Norma aus dem Tempel. STIMMEN aus der Ferne Der Mond ist aufgegangen, o Druiden; ihr Ungeweihten, verlasst den Ort. FLAVIO Komm... POLLIONE Lass mich. FLAVIO Hör auf mich! POLLIONE Barbaren! FLAVIO Fliehen wir! POLLIONE Ich komme euch zuvor! FLAVIO Komm, lass uns fliehen... es kann dich jemand entdecken. POLLIONE Die Barbaren hecken Verschwörungen aus, doch ich komme ihnen zuvor. FLAVIO Komm, lass uns fliehen, es kann dich jemand überraschen. STIMMEN aus der Ferne Ihr Ungeweihten, verlasst den Ort. POLLIONE Mich beschützt, mich verteidigt eine höhere Macht als sie: der Gedanke an sie, die ich anbete, die Liebe, die mich entflammt. Die finsteren Wälder jenes Gottes, der mir diese himmlische Jungfrau streitig macht, brenne ich nieder, den frevlerischen Altar stürze ich um.
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ERSTER AKT
FLAVIO Komm... STIMMEN aus der Ferne Der Mond ist aufgegangen, o Druiden; ihr Ungeweihten, verlasst den Ort. POLLIONE Die Barbaren hecken eine Verschwörung aus... FLAVIO Es kann dich jemand entdecken... Komm, lass uns fliehen! POLLIONE Aber ich komme ihnen zuvor! Mich beschützt, mich verteidigt usw. Sie gehen eilig ab.
NR. 3 – CHOR DRITTE SZENE Aus dem Hintergrund kommen die Druiden, Priesterinnen, Krieger, Barden, Seher, Opferpriester und inmitten aller Oroveso. CHOR Norma kommt; ihre Haare umflochten von Eisenkraut, den Mysterien geweiht; in ihrer Hand strahlt die goldene Sichel wie die Sichel des Mondes. Sie kommt, und der Stern Roms verhüllt sich erschrocken mit einem Schleier; Irminsul durcheilt die Gefilde des Himmels wie ein Komet, der Schrecken verheißt.
NR. 4 – SZENE & KAVATINE DER NORMA VIERTE SZENE Norma inmitten ihrer Priesterinnen. Sie trägt die Haare offen, ihre Stirn ist mit einem Kranz von Eisenkraut umwunden, ihre Hand mit einer goldenen Sichel bewaffnet; Sie besteigt den Druidenstein und blickt um sich wie entrückt. Alles verstummt.
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NORMA
NORMA Stimmen der Rebellion, Stimmen des Krieges – wer wagt es, solche zu erheben am Altar des Gottes? Wer maßt sich an, Norma, der Seherin, Orakelsprüche zu diktieren und das geheime Schicksal Roms zu beschleunigen? Es steht nicht, nein, nicht steht es in menschlicher Gewalt. OROVESO Und wie lange willst du uns noch unterdrückt sehen? Die heimatlichen Wälder und die Tempel unserer Ahnen – wurden sie von den römischen Adlern nicht lang genug geschändet? Brennus’ Schwert kann nicht länger müßig bleiben. ALLE MÄNNER Es sei endlich gezückt. NORMA Und zerbreche! Es zerbricht, ja, wenn einer von euch sich anmaßt, es vor der Zeit zu ziehen. Noch sind die Tage unserer Rache nicht reif: Noch sind die römischen Lanzen stärker als die sicambrischen Äxte. ALLE MÄNNER Und was verkündet dir der Gott? Sprich: welches Los? NORMA Ich lese in den geheimen Büchern des Himmels: auf der Seite des Todes ist der Name des stolzen Rom verzeichnet... Eines Tages wird es sterben; doch nicht durch euch. Es stirbt an seinen Lastern, durch sie zugrunde gerichtet wird es sterben. Wartet die Stunde ab, die Schicksalsstunde, in der der große Ratschluss sich erfüllt. Ich gebiete euch Frieden... und schneide die heilige Mistel. Sie schneidet die Mistel; die Priesterinnen sammeln sie in Weidenkörben. Norma tritt vor und hebt die Arme zum Himmel. Der Mond leuchtet in all seinem Glanz. Alle knien nieder.
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ERSTER AKT
GEBET NORMA Keusche Göttin, die du diese heiligen alten Bäume in Silber tauchst, wende uns dein schönes Gesicht zu, ohne Wolke und ohne Schleier. ALLE Keusche Göttin, die du diese heiligen alten Bäume in Silber tauchst, wende uns dein schönes Gesicht zu, ohne Wolke und ohne Schleier. NORMA Mäßige du die feurigen Herzen, mäßige noch ihren kühnen Eifer, schenke der Erde jenen Frieden, den du am Himmel herrschen lässt. ALLE Göttin, schenke der Erde jenen Frieden, den du am Himmel herrschen lässt. NORMA Der Ritus ist beendet; und die Ungeweihten mögen den heiligen Wald verlassen. Wenn der zornige und finstere Gott das Blut der Römer fordern sollte, wird meine Stimme aus dem Heiligtum der Druiden schallen. ALLE Sie schalle; und kein einziger des schändlichen Volkes entkomme dem verdienten Untergang; und unter unseren Streichen falle der Prokonsul als erster. NORMA Er falle!... ich kann ihn bestrafen... (Doch mein Herz kann es nicht.) (Ach, kehre zu mir zurück, verschönt von treuer Liebe, und ich beschütze dich der Welt zum Trotz.
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NORMA
Ach, kehre zu mir zurück, strahlend und heiter, und ich finde an deiner Brust Leben, Vaterland und Himmel.) ALLE Du lässt auf dich warten, Tag der Rache; der zürnende Gott, der den Tiber gerichtet hat, beschleunige dein Erscheinen. NORMA (Ach, kehre zu mir zurück, verschönt von treuer Liebe, und ich beschütze dich der Welt zum Trotz. Ach, kehre zu mir zurück, strahlend und heiter, und ich finde an deiner Brust Leben, Vaterland und Himmel.) ALLE Doch der zürnende Gott, der den Tiber gerichtet hat, beschleunige dein Erscheinen. NORMA Ach, sei wieder der, der du warst, als ich dir mein Herz geschenkt… ALLE O Tag, der zürnende Gott, der den Tiber gerichtet hat, beschleunige dein Erscheinen. Norma geht ab und alle folgen ihr der Reihe nach.
NR. 5 – SZENE & DUETT ADALGISA – POLLIONE FÜNFTE SZENE ADALGISA allein Der heilige Wald ist wieder frei, der Ritus vollzogen. Unbeobachtet kann ich endlich seufzen, hier, wo mir
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ERSTER AKT
jener unheilvolle Römer zum ersten Mal erschien, der mich Tempel und Gott abspenstig macht... Wäre es zum letzten Mal! – Vergeblicher Wunsch! Eine unwiderstehliche Gewalt schleift mich her... an jenem lieben Anblick weidet sich mein Herz... und den Klang seiner lieben Stimme wiederholen die wehenden Lüfte. Sie wirft sich vor dem Stein des Irminsul nieder. Ach, schütze mich, o Gott: ich bin verloren. Großer Gott, erbarme dich, ich bin verloren. SECHSTE SZENE Pollione, Flavio und die Vorige POLLIONE zu Flavio (Da ist sie! Geh, lass mich, ich will nichts hören.) Flavio ab ADALGISA erschrickt Oh! Du hier! POLLIONE Was sehe ich!... Hast du geweint? ADALGISA Gebetet habe ich. – Ach, entferne dich, lass mich beten. POLLIONE Du betest zu einem grässlichen, grausamen Gott, der deiner Sehnsucht entgegensteht – und meiner. O meine Geliebte, der Gott, den du anrufen sollst, heißt Amor... ADALGISA Amor!... Ach, schweige… dass ich dich nicht mehr höre. Sie entfernt sich von ihm. POLLIONE Du willst vor mir fliehen? Und wohin könntest du fliehen, wohin ich dir nicht folgte? ADALGISA In den Tempel... zu den heiligen Altären, denen ich mich anverlobt.
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NORMA
POLLIONE Die Altäre!… Und unsere Liebe?… ADALGISA Ich habe sie vergessen. POLLIONE Geh, Grausame, und bringe dem gnadenlosen Gott mein Blut als Mitgift dar. Jeder Tropfen sei verschüttet, doch von dir kann ich nicht lassen; Dem Gott wurdest du versprochen, dein Herz aber hat sich mir geschenkt. Ach, du weißt nicht, was es mich kosten würde, auf dich jemals zu verzichten. ADALGISA Und du selbst, ach, du weißt nicht, was du mich an Schmerzen kostest! Zum Altar, den ich beleidigt habe, ging ich früher heiter und voll Unschuld... Meine Gedanken erhoben sich zum Himmel, meinen Gott sah ich im Himmel... Nun sind mir, der Meineidigen und Schuldigen, Himmel und Gott verhüllt. POLLIONE Einen reineren Himmel und bessere Götter biete ich dir in Rom, wohin ich mich begebe. ADALGISA betroffen Reist du etwa ab? POLLIONE Morgen früh… ADALGISA Du reist ab! Und ich? POLLIONE Du kommst mit mir. Die Liebe ist heiliger als deine Riten... Ergib dich ihr, ach, ergib dich mir. ADALGISA noch bewegter Ach, sag so etwas nicht... POLLIONE Ich werde es solange sagen, bis du mich erhörst. ADALGISA Ach, lass mich!
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ERSTER AKT
POLLIONE Ach, ergib dich! Ergib dich mir!... ADALGISA Ach, ich kann nicht... Beschütze mich, gerechter Himmel! POLLIONE Du könntest so mich verlassen! Adalgisa, Adalgisa! voll Zärtlichkeit Komm nach Rom, ach, komm, o Teure, dort sind Liebe, Lust und Leben; wir wollen uns gemeinsam berauschen an der Freude, zu der es uns lädt. Hörst du keine Stimme in deinem Herzen, die ewiges Glück verheißt?… Glaube den süßen Worten, umarme mich als deinen Gatten. ADALGISA (Himmel! So höre ich ihn reden, immer und überall, sogar im Tempel… Mit diesen Augen, diesen Zügen scheint mir sein Bild sogar dem Altar eingeprägt… Er triumphiert über meine Tränen und besiegt meinen Schmerz... Himmel, entziehe mich dem süßen Zauber und wenn nicht, verzeihe meine Schuld.) POLLIONE Ach, komm. ADALGISA Ach, hab Mitleid!… POLLIONE Ach, so komm, ach, komm, o Teure. ADALGISA Ach, niemals. POLLIONE Grausame! Du kannst mich verlassen? ADALGISA Ach, hab Mitleid und lass mich. POLLIONE Mich so vergessen? ADALGISA Ach, hab Mitleid und lass mich. POLLIONE Adalgisa!…
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NORMA
ADALGISA Dein Mitleid erspare mir größeres Leid... POLLIONE Adalgisa! Und du willst mich verlassen? ADALGISA Ich... Ach!… ich kann nicht... ich will dir folgen… POLLIONE Hierher, morgen, zur selben Stunde wirst du kommen? ADALGISA Ich verspreche es. POLLIONE Schwöre! ADALGISA Ich schwöre. POLLIONE O meine Freude! Vergiss es nicht... ADALGISA Ich vergesse es nicht… Meinen Gott werde ich verraten, doch dir werde ich treu sein. POLLIONE Deine Liebe beruhigt mich; und deinem Gott werde ich trotzen. beide ab
NR. 6 – SZENE & DUETT NORMA – ADALGISA SIEBTE SZENE Normas Wohnung. Norma und Clotilde, sie führen zwei Kinder an der Hand. NORMA zu Clotilde Geh, und verbirg sie beide. – Mehr als sonst zittere ich bei ihrer Umarmung... CLOTILDE Welche seltsame Furcht
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ERSTER AKT
verwirrt dich so, dass du deine Kinder zurückweist? NORMA Ich weiß nicht... widerstrebende Gefühle zerreißen diese Seele. – Ich liebe und hasse meine Kinder... Ich leide bei ihrem Anblick und leide, wenn ich sie nicht sehe. Mich erfüllt eine nie gefühlte Freude und Schmerz zugleich, ihre Mutter zu sein. CLOTILDE Und doch bist du es. NORMA Wär’ ich es nicht! CLOTILDE Welch schrecklicher Zwiespalt! NORMA Er ist unvorstellbar. O meine Clotilde!... An den Tiber ist Pollione zurückberufen. CLOTILDE Und nimmt dich mit sich? NORMA Er verschweigt seine Absicht. – Oh, wenn er zu fliehen versuchte... und mich hier zurückließe?... wenn er vergäße diese seine Kinder!... CLOTILDE Und glaubst du das? NORMA Ich wage es nicht. Zu qualvoll, zu grauenvoll wäre ein solcher Argwohn. – Jemand kommt. Geh, verbirg sie. Norma umarmt die beiden Kinder, Clotilde geht mit ihnen ab. ACHTE SZENE Adalgisa und Norma NORMA Adalgisa! ADALGISA von fern (Seele, sei standhaft.)
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NORMA
NORMA Tritt heran, junges Mädchen, – Tritt heran. – Warum zitterst du? – Man sagt, du wollest mir ein schweres Geheimnis anvertrauen. ADALGISA Es ist wahr. – Doch, ach, entkleide dich der himmlischen Strenge, die in deinen Augen leuchtet... Gib mir Mut, dir mein Herz ohne Rückhalt zu offenbaren. Sie kniet nieder. Norma hebt sie auf. NORMA Umarme mich und rede. – Was bekümmert dich? ADALGISA nach kurzem Zögern Die Liebe... Zürne nicht... ich habe lange gekämpft, sie zu ersticken... all meine Kraft hat sie besiegt… jeden Gewissensbiss. – Ach, du ahnst nicht, welchen Eid ich eben geschworen habe! Aus dem Tempel zu fliehen... den Altar, an den ich gebunden bin, zu verraten, das Vaterland zu verlassen... NORMA Wehe, Unglückliche! Die Heiterkeit deines junges Lebens ist schon getrübt?... Wie und wann erwachte diese Flamme in dir? ADALGISA Durch einen einzigen Blick, durch einen einzigen Seufzer, im heiligen Wald, am Fuße des Altars, wo ich zum Gott betete. Ich zitterte... auf meiner Lippe verstummte das Gebet: und ganz verloren in diesen schönen Anblick, glaubte ich einen neuen Himmel zu schauen, einen neuen Himmel. NORMA (O Erinnerung! abwesend Der bloße Anblick seines Gesichts riss mich genau so hin.)
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ERSTER AKT
ADALGISA Hörst du mich denn? NORMA Fahre fort... ich höre dir zu. ADALGISA Allein und heimlich wartete ich beim Tempel oft auf ihn; und jeden Tag loderte die Flamme heftiger. NORMA (Ich selbst entbrannte so.) ADALGISA Komm, sagte er, gestatte mir, dass ich mich dir zu Füßen werfe; NORMA (O Erinnerung!) ADALGISA Lass mich den Hauch atmen… NORMA (Ich wurde so verführt!) ADALGISA ... deiner süßen Seufzer, erlaube mir, die Locken deines schönen Haars zu küssen. NORMA (O süße Worte! So sprach er sie... so fand er den Weg zu meinem Herzen.) ADALGISA Sanft wie die Harmonien einer Harfe klangen mir seine Worte; in seinen Augen lächelte mir eine schönere Sonne. NORMA (Ihre Verzauberung war auch die meine.) ADALGISA Ich war verloren, und bin es noch; NORMA Ach, trockne die Tränen! ADALGISA Ich brauche deine Verzeihung.
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NORMA
NORMA Ich erbarme mich deiner. ADALGISA Ach, stütze und führe mich, ... NORMA Ach, trockne die Tränen! ADALGISA ... beruhige oder schelte mich, rette mich vor mir selbst, rette mich, rette mich vor meinem Herzen. NORMA Ach, trockne die Tränen: noch bindet dich kein ewiger Schwur an den Altar. ADALGISA Ach, wiederhole, o Himmel, wiederhole so tröstliche Worte! NORMA Ja, fasse Mut, umarme mich. Ich verzeihe dir und bemitleide dich. Ich spreche dich von deinem Gelübde los, zerbreche deine Ketten. Dem teuren Geliebten vereint sollst du noch glücklich leben. ADALGISA Ach, wiederhole, o Himmel, wiederhole so tröstliche Worte: durch dich, durch dich beruhigen sich meine langen Qualen. Du gibst mir das Leben zurück, wenn Liebe keine Schuld ist. NORMA Du sollst noch glücklich leben.
NR. 7 – SZENE & TERZETT NORMA, ADALGISA & POLLIONE – 1. FINALE NORMA Doch sag… wie nennen wir deinen geliebten Jüngling? ADALGISA Seine Wiege stand nicht in Gallien... Rom ist sein Vaterland...
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ERSTER AKT
NORMA Rom! Und es ist? Vollende... NEUNTE SZENE Pollione und die Vorigen ADALGISA Hier siehst du ihn. NORMA Er! Pollione! ADALGISA Warum dieser Zorn? NORMA Dieser da, dieser da, hast du gesagt? Habe ich recht verstanden? ADALGISA Ach, ja. POLLIONE kommt herein, zu Adalgisa Du Unselige! Was hast du getan? ADALGISA verwirrt Ich!... NORMA zu Pollione Zitterst du? Und um wen? Und um wen zitterst du? Wenige Augenblicke des Schweigens; Pollione ist bestürzt, Adalgisa verängstigt und Norma bebt vor Zorn. NORMA Oh, zittere nicht, zittere nicht, Treuloser, nein, zittere nicht um sie... Sie trifft keine Schuld, der Übeltäter bist du... zittere um dich, Verräter... um deine Kinder… um mich, Verräter, zittere um mich… ADALGISA zitternd Was höre ich! ... Ach! So rede… Du schweigst! Du weichst zurück?... O weh! Sie bedeckt ihr Gesicht mit den Händen. Norma packt sie am Arm und zwingt sie, Pollione anzusehen; dieser beobachtet sie.
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NORMA
NORMA Oh, welch grausamem und unheilvollem Betrug fielst du zum Opfer! Bevor du diesen kennenlerntest wärest du besser gestorben. Einen Quell ewiger Tränen hat er auch dir erschlossen, so, wie der Schändliche mein Herz betrog, verriet er auch dein Herz. ADALGISA Oh, was für ein schreckliches Geheimnis lassen deine Worte ahnen! Mein Herz schaudert davor zurück, zu fragen und die Wahrheit zu hören... Ich begreife, ich Unselige, mein ganzes Unglück... es ist grenzenlos, wenn er mich so betrog. POLLIONE Norma, spare dir deine Vorwürfe... NORMA Bevor du diesen kennenlerntest... POLLIONE … für einen anderen Zeitpunkt auf. NORMA ... wärest du besser gestorben. POLLIONE Ach, gestatte dieser bekümmerten Jungfrau, Atem zu schöpfen... NORMA Bevor du diesen kennenlerntest... POLLIONE Ein Schleier verhülle dieser unschuldigen Seele... NORMA ... wärest du besser gestorben. POLLIONE ... unsere Schande... NORMA Schändlicher, und das wagst du? POLLIONE Der Himmel allein möge urteilen, wer von uns beiden schwerer gefehlt.
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ERSTER AKT
NORMA Einen Quell ewiger Tränen hat er auch dir erschlossen, wie der Schändliche mein Herz betrog, verriet er auch dein Herz. ADALGISA Ich begreife, ich Unselige, mein ganzes Unglück... es ist grenzenlos, wenn er mich so betrog. POLLIONE Ach, lass diese Bekümmerte Atem schöpfen... der Himmel weiß, wer von uns gefehlt, wer von uns beiden schwerer gefehlt. NORMA Verräter! POLLIONE will gehen Jetzt reicht es. NORMA Bleib hier! POLLIONE packt Adalgisa Komm... ADALGISA macht sich von ihm los Lass mich, entferne dich… Du bist ein treuloser Gatte! POLLIONE Ich vergesse, was ich war... ADALGISA Lass mich, entferne dich... POLLIONE feurig Ich bin dein Geliebter. ADALGISA Geh, Verräter! POLLIONE Es ist mein Schicksal, dich zu lieben und diese zu verlassen. NORMA Nun gut. ihre Wut unterdrückend Erfülle es... und geh. zu Adalgisa Folge ihm...
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NORMA
ADALGISA flehentlich Ach, nein, niemals, nein, lieber sterben. NORMA die Beherrschung verlierend Geh, ja, verlass mich, Unwürdiger, vergiss deine Kinder, deine Versprechen, deine Ehre... Verflucht von meinem Zorn wirst du eine schuldige Liebe nicht genießen. Auf den Wellen und den Winden folgen dir die Flammen meiner Wut, meine Rache wird dich Tag und Nacht umtosen. POLLIONE verzweifelt Tobe nur, und wünsche in deiner Wut ewige Qual auf mich herab! Diese Liebe, die mich beherrscht, ist größer als du oder ich... Kein Gott könnte Qualen ersinnen, die sehrender wären als die meinen... Am Tag, an dem das Schicksal mich dir zeigte, war ich verflucht. ADALGISA flehentlich zu Norma Ach, ich darf deinem Herzen nicht so schreckliche Schmerzen kosten... Meere und Berge mögen mich auf ewig von dem Verräter trennen... Ich will meine Klagen ersticken und meine Qualen verschlucken. Dafür, dass der Grausame zu dir und den Kindern zurückkehrt, will ich sterben. Es ertönen die heiligen Gongs. Norma wird zu den Riten gerufen. CHOR von außen Norma, zum Altar! In wildem Donner ertönte die Stimme Irminsuls. NORMA Ach! Klang des Todes! Geh, er schwebt über dir!
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ERSTER AKT
ADALGISA Ach! Klang des Todes! Dein Todesurteil! Geh, er schwebt über dir! Fliehe! POLLIONE Ach, welcher Klang? Ja, ich verachte ihn, aber zuvor stürzt mir dein Gott zu Füßen. Norma stößt mit einem Arm Pollione zurück und gebietet ihm, zu gehen. Pollione entfernt sich wütend.
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ZWEITER AKT NR. 8 – INTRODUKTION ERSTE SZENE Innerer Raum von Normas Wohnung. Auf der einen Seite ein mit Bärenfellen bedecktes römisches Bett, in dem Normas Kinder schlafen. Norma erscheint, in den Händen eine Lampe und einen Dolch. Sie setzt sich und stellt die Lampe auf einen Tisch. Sie ist bleich, vom Schmerz gezeichnet. NORMA Sie schlafen beide… sie sehen die Hand nicht, die sie ereilt. – Bleibe hart, mein Herz; sie können nicht leben... Hier ist ihnen der Tod gewiss, und in Rom eine Schande, schlimmer als der Tod: Sklaven einer Stiefmutter. – Ach, nein! Niemals. Sie steht entschlossen auf. Sie sollen sterben, ja. Sie geht einen Schritt und bleibt wieder stehen. Ich kann mich ihnen nicht nähern: Ein Frost erfasst mich und meine Haare sträuben sich… Ich töte meine Kinder!... gerührt Die zarten, zarten Kinder... sie, die doch bisher meine Freude waren... sie, in deren Lächeln ich die Vergebung des Himmels zu erkennen glaubte!... Ich soll ihr Blut vergießen?... Was haben sie verbrochen? entschlossen Sie sind Polliones Kinder, das ist die Schuld. Für mich sind sie gestorben, sterben sollen sie auch für ihn; und keine Strafe komme der seinen gleich. Ich stoße zu!... Sie geht auf das Bett zu, erhebt den Dolch, stößt von Entsetzen gepackt einen Schrei aus. Ach, nein!... Es sind meine Kinder Der Schrei hat die Kinder geweckt, Norma umarmt sie, bitterlich weinend. Meine Kinder! Herbei! Clotilde!
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ZWEITER AKT
ZWEITE SZENE Clotilde und die Vorige NORMA Eile... Hole Adalgisa! CLOTILDE Sie irrt hier einsam umher, betend und weinend. NORMA Geh! Clotilde geht. NORMA Meine Schuld sei gebüßt... und dann... gestorben.
NR. 9 – REZITATIV & DUETT DRITTE SZENE Norma und Adalgisa ADALGISA furchtsam Mich rufst du, o Norma? erschrocken Welch’ schmerzliche Blässe bedeckt dein Gesicht? NORMA Die Todesblässe. Ich offenbare dir das ganze Ausmaß meiner Schmach. Eine einzige Bitte vernimm und erhöre, falls Mitleid verdienen meine jetzige Qual... und meine künftige. ADALGISA Alles, alles verspreche ich. NORMA Schwöre! ADALGISA Ich schwöre. NORMA Höre! – Diese Luft, die meine Gegenwart vergiftet, zu reinigen, hab’ ich beschlossen; doch diese Unglücklichen darf ich nicht mit mir nehmen... dir vertraue ich sie an... ADALGISA O Himmel! Mir vertraust du sie an?...
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NORMA
NORMA Führe sie in das römische Lager zu ihm... den ich nicht zu nennen wage. ADALGISA Oh, was verlangst du da? NORMA Er sei dir ein weniger grausamer Gatte. – Ich verzeihe ihm und sterbe. ADALGISA Gatte! Ach, niemals… NORMA Um seiner Kinder willen, um seiner Kinder willen flehe ich dich an. Ach, nimm sie zu dir, zu dir... Erhalte sie, schütze sie... Ich bitte dich nicht um Macht und Ehrenstellen, sie seien deinen Kindern vorbehalten; Ich bitte dich nur, gib meine der Verachtung der Sklaverei nicht preis... Es sei dir genug, dass ich verschmäht und verraten wurde um deinetwillen. Adalgisa, ach, lass dich bewegen von meinem so gequälten Herzen. ADALGISA Norma, ach, Norma, wieder Geliebte, wieder Mutter sollst du sein durch mich… Behalte deine Kinder. Ach, niemals werde ich dieses Land verlassen. NORMA Du hast geschworen… ADALGISA Ja, ich schwur… aber nur dein Wohl, dein Wohl allein. Ich gehe ins Lager, und bringe dem Ungetreuen alle deine Tränen. Das Mitleid, das du in mir erweckt hast, wird erhabene Worte sprechen… Hoffe, ach, hoffe… du wirst sehen, wie Liebe und Natur in ihm wieder erwachen… Ich vertraue auf sein Herz, Norma wird dort wieder herrschen.
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ZWEITER AKT
NORMA Ich ihn bitten?… Ach, nein! Niemals. ADALGISA Norma, gib nach. NORMA Nein, ich höre dir nicht mehr zu. Verlass mich… Geh… ADALGISA Ach, nein! Niemals. Schau, Norma, zu deinen Füßen diese deine lieblichen Kinder. Ach, sie mögen dich zum Mitleid rühren, wenn du mit dir selber keines hast. NORMA Ach, warum, warum willst du meine Standhaftigkeit mit weichen Gefühlen schwächen? Es gibt keine Illusionen, keine Hoffnungen mehr für ein Herz im Angesicht des Todes. ADALGISA Gib nach, ach, gib nach. NORMA Ach, lass mich… er liebt dich. ADALGISA Und bereut es schon. NORMA Und du? ADALGISA Ich liebte ihn... jetzt empfindet diese Seele nur noch Freundschaft. NORMA O Mädchen!... Und du willst? ADALGISA Dir deine Rechte wiedergeben, oder, so schwöre ich, mich mit dir auf ewig vor Gott und den Menschen verbergen. NORMA Ja... du hast gesiegt… Umarme mich. Ich habe noch eine Freundin gefunden. NORMA und ADALGISA Ja, bis zur Todesstunde
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NORMA
wirst du mich zur Gefährtin haben; die Erde ist weit genug für einen Ort, der uns beide aufnimmt. Mit dir werde ich den Schlägen des Schicksals standhaft die Stirn bieten, solange ich mein Herz an deinem Herzen schlagen fühle. ab
NR. 10 – CHOR & AUFTRITTSARIE DES OROVESO VIERTE SZENE Einsamer Ort in der Nähe des Druidenwaldes, umschlossen von Schluchten und Höhlen. Im Hintergrund ein See, über den eine Steinbrücke führt. Gallische Krieger I. CHOR geheimnisvoll Ist er nicht abgereist? I. und II. CHOR Noch ist er im Lager. Alles deutet darauf hin: Die wilden Gesänge, das Lärmen, der Klang der Waffen, das Flattern der Feldzeichen. Eine kurze Verzögerung soll uns nicht beunruhigen, nicht aufhalten; Wir warten. Wir warten. Eine kurze Verzögerung soll uns nicht beunruhigen, nicht aufhalten; und in der Stille bereite sich das Herz darauf vor, das große Werk zu vollbringen. Schweigend bereiten wir uns auf das große Werk vor. Eine kurze Verzögerung soll uns nicht beunruhigen, nicht aufhalten usw. FÜNFTE SZENE Oroveso und die Vorigen OROVESO Ihr Krieger! Ich hoffte, als Bote einer besseren Zukunft zu euch zu kommen. Ich hoffte, die edle Flamme, den Zorn, der euch im Busen kocht, zu schüren; doch der Gott hat es nicht gewollt.
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ZWEITER AKT
CHOR Wie? Soll denn der verhasste Prokonsul unsere Wälder nicht verlassen? Kehrt er an den Tiber nicht zurück? OROVESO Ein gefürchteterer und grausamerer römischer Heerführer folgt Pollione nach. CHOR Und Norma weiß es? Und rät immer noch zum Frieden? OROVESO Vergeblich versuchte ich, Normas Geist zu ergründen. CHOR Was schlägst du vor? OROVESO Uns dem Schicksal zu beugen und uns zu trennen, um jeden Verdacht des verfehlten Anschlags zu zerstreuen. CHOR Müssen wir ewig uns verstellen? OROVESO Grausame Notwendigkeit! Ich fühle mit euch. mit wildem Grimm Ach, auch ich schnaube unterm unwürdigen Joch des Tibers und sehne mich nach den Waffen. Doch der Himmel ist immer gegen uns und es ist besser, wenn wir uns verleugnen. CHOR Verstellen wir uns, wenn Verstellung hilft; doch sei im Herzen die Wut genährt. OROVESO Verschlucken wir den Zorn im Herzen, sodass Rom ihn erloschen glaubt: es kommt der Tag, an dem seine Flammen umso schrecklicher emporschlagen. CHOR Wehe dir, Rom, wenn der heilige Altar das Zeichen gibt, zu den Waffen zu greifen.
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NORMA
OROVESO Verstellen wir uns, es ist besser, wenn wir uns verleugnen. CHOR Verstellen wir uns, wenn Verstellung hilft; doch im Herzen sei die Wut genährt. OROVESO Es kommt der Tag, an dem ihre Flammen umso schrecklicher emporschlagen, doch verstellen wir uns, es ist besser, wenn wir uns verleugnen. CHOR Wehe dir, Rom, wenn der heilige Altar das Zeichen gibt, zu den Waffen zu greifen. Doch verstellen wir uns, es ist besser, wenn wir uns verleugnen. ab
NR. 11 – SZENE SECHSTE SZENE Tempel des Irminsul. Auf einer Seite der Altar. Norma, dann Clotilde NORMA Er kehrt zurück. Ja... ich vertraue auf Adalgisa; er kehrt reuig zurück, um Verzeihung bittend, voll Liebe. Oh, dieser Gedanke verscheucht die schwarze Wolke, die meine Stirn umlagerte, und die Sonne lächelt mir wie in den glücklichen Tagen der ersten Liebe. Clotilde kommt herein. NORMA Clotilde! CLOTILDE O Norma!… Jetzt musst du stark sein. NORMA Was sagst du? CLOTILDE Unglückliche!
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ZWEITER AKT
NORMA Berichte... sprich... CLOTILDE Vergeblich sprach und weinte Adalgisa. NORMA Und ich konnte ihr vertrauen? Mir zu entwischen und in ihrem Schmerz noch schöner sich dem Schändlichen darzubieten, war ihre Absicht. CLOTILDE Sie kehrt zum Tempel zurück. Traurig und schmerzerfüllt fleht sie, ihr Gelübde ablegen zu dürfen. NORMA Und er? CLOTILDE Und er schwört, noch vom Altar des Gottes sie zu rauben. NORMA Zuviel wagt der Verräter. Meine Rache kommt ihm zuvor – und Ströme von Blut... römischem Blut... sollen hier fließen. Norma eilt zum Altar und schlägt dreimal auf den Schild des Irminsul. CHOR von innen Der Schild des Gottes ertönt! SIEBTE SZENE Von verschieden Seiten eilen Oroveso, die Druiden, die Barden und Priesterinnen herbei. Nach und nach füllt sich der Tempel mit Kriegern. Norma steigt auf den Altar. OROVESO und CHOR Norma, was ist geschehen? Der Schild des Irminsul wurde geschlagen – was befiehlt er den Sterblichen? NORMA Krieg, Gemetzel, Vernichtung! OROVESO und CHOR Eben noch wurde uns durch deinen Mund Friede befohlen!
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NORMA
NORMA Und nun Zorn, Waffen, Wut und Mord. Stimmt den Kriegsgesang an, ihr Starken!
NR. 12 – CHOR / KRIEGSHYMNE ALLE mit wildem Nachdruck Krieg, Krieg! Die gallischen Wälder bringen ebenso viele Krieger wie Eichen hervor; wie hungrige Raubtiere über die Herde fallen sie über die Römer her. Blut, Blut! Die gallischen Äxte sind bis zum Schaft von ihm getränkt, in den Fluten der unreinen Loire ist sein schauriges Brodeln zu hören. Gemetzel, Gemetzel, Vernichtung, Rache hat begonnen, vollendet sich, naht: wie von der Sichel gemähtes Getreide liegen Roms Heere gestürzt. Mit verstümmelten Schwingen und Krallen liegt der Adler zerschmettert am Boden: Um den Sieg der Söhne zu sehen, erscheint auf einem Sonnenstrahl der Gott.
NR. 13 – SZENE, REZITATIV & DUETT NORMA – POLLIONE OROVESO Vollziehst du nicht den Ritus, o Norma? Und bestimmst nicht das Opfer? NORMA Es steht bereit. Noch nie hat es dem schrecklichen Altar an Opfern gefehlt. – Doch welch ein Aufruhr? ACHTE SZENE Clotilde eilt herbei, die Vorigen CLOTILDE Unseren Tempel hat ein Römer
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ZWEITER AKT
entweiht: im heiligen Bezirk der Novizinnen wurde er aufgegriffen. OROVESO und CHOR Ein Römer? NORMA (Was höre ich? Wenn er es wäre?) OROVESO und CHOR Er wird uns vorgeführt. NORMA (Er ist es!) NEUNTE SZENE Pollione zwischen Soldaten und die Vorigen OROVESO und CHOR Es ist Pollione! NORMA (Nun bin ich gerächt.) OROVESO sehr würdevoll Frevelnder Feind, wer trieb dich an, diese gefürchtete Schwelle zu entweihen und den Zorn des Irminsul herauszufordern? POLLIONE mit kühnem Gleichmut Töte mich! Aber stelle mir keine Fragen. NORMA tritt hervor / entschleiert sich Ich muss ihn töten. Macht Platz. POLLIONE Wen sehe ich? Norma! NORMA Ja, Norma. OROVESO und CHOR Ergreife den heiligen Dolch, räche den Gott! NORMA nimmt Oroveso das Opfermesser aus der Hand Ja, ich töte ihn... Sie hält inne. OROVESO und CHOR Du zitterst? NORMA (Ach, ich kann nicht.)
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NORMA
OROVESO und CHOR Was ist das? Warum hältst du inne? NORMA (Ich kann Mitleid fühlen!) OROVESO und CHOR Stoß zu! Pause NORMA Ich muss ihn verhören... herausfinden, wer die bedrohte oder mitverschworene Novizin ist, für die der Frevler die ungeheure Schuld auf sich lud. Entfernt euch eine Weile. OROVESO und CHOR sich entfernend (Was hat sie vor?) POLLIONE (Ich bebe.) Oroveso und der Chor ziehen sich zurück. ZEHNTE SZENE Norma und Pollione NORMA Zuletzt bist du in meiner Hand; niemand könnte deine Fesseln sprengen. Ich kann es. POLLIONE Das sollst du nicht. NORMA Ich will es. POLLIONE Und wie denn? NORMA Hör zu. Bei deinem Gott, bei deinen Kindern... musst du schwören, dass du von nun an Adalgisa meiden wirst und sie dem Altar nicht entführst... und ich schenke dir das Leben... und niemals sehe ich dich wieder. Schwöre. POLLIONE Nein; so feige bin ich nicht. NORMA mit unterdrückter Wut Schwöre, schwöre!
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ZWEITER AKT
POLLIONE Ach, eher sterbe ich. NORMA Weißt du nicht, dass meine Wut die deine übertrifft? POLLIONE Ich erwarte, dass sie sich entlädt. NORMA Weißt du nicht, dass ich ins Herz der Kinder diesen Stahl... POLLIONE mit einem Schrei O Gott! Was höre ich? NORMA gequält weinend Ja, ich habe seine Spitze gegen sie erhoben... Siehst du, siehst du, wie es um mich steht!... Ich habe nicht zugestoßen... aber bald... jetzt könnte ich das Ungeheuerliche vollenden... Ein Augenblick... und dass ich Mutter bin kann ich vergessen. POLLIONE Ach! Grausame, in die Brust des Vaters musst du den Dolch versenken. Gib ihn mir. NORMA Dir! POLLIONE Damit nur einer sterbe – ich! NORMA Nur einer!... Alle. Zu Hunderten seien die Römer niedergemäht und vernichtet... Und Adalgisa... POLLIONE O weh! NORMA ... die ihren Gelübden untreu ward... POLLIONE Was denn, Grausame? NORMA rasend Adalgisa sei bestraft: Sie wird in den Flammen sterben, ja, sterben. POLLIONE Ach! Nimm mein Leben, aber mit ihr, mit ihr habe Erbarmen.
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NORMA
NORMA Endlich bittest du? – Unwürdiger! Es ist zu spät. In ihrem Herzen will ich dich verwunden, ja, ich verwunde dich in ihrem Herzen. Schon weide ich mich an deinen Blicken, an deinem Schmerz, an ihrem Sterben. Endlich kann ich dich ebenso unglücklich machen, wie ich es bin. POLLIONE Ach! Meine Angst möge dir genügen, weinend liege ich dir zu Füßen, weinend liege ich dir zu Füßen... Stille deine Wut an mir, doch verschone eine Unschuldige: Es möge deine Rache stillen, dass ich mich vor deinen Augen töte. NORMA Ich treffe dich in ihrem Herzen. POLLIONE Ach! Meine Angst möge dir genügen... NORMA Nein, in ihrem Herzen treffe ich dich... POLLIONE Nein, Grausame! Lasse deine Wut an mir aus, doch verschone eine Unschuldige. NORMA Schon weide ich mich an deinen Blicken, an deinem Schmerz, an ihrem Sterben. Endlich kann ich dich ebenso unglücklich machen, wie ich es bin. POLLIONE Ach! Grausame! Mein Schmerz möge dir genügen, es möge deine Rache stillen, dass ich mich vor deinen Augen töte.
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ZWEITER AKT
FINALE II NR. 14 – REZITATIV / & TERZETT NORMA – POLLIONE – OROVESO / & FINALARIE POLLIONE Gib mir diesen Stahl. NORMA Was wagst du? Hinweg! POLLIONE Den Stahl, den Stahl! NORMA Heda, Gottesdiener, Priester, herbei! LETZTE SZENE Oroveso, die Druiden, Barden und Krieger kommen zurück. NORMA Eurem Zorn enthülle ich ein weiteres Opfer. Eine meineidige Priesterin hat die heiligen Gelübde gebrochen, das Vaterland verraten, den Gott der Väter beleidigt. OROVESO und CHOR O Verbrechen! OROVESO und MÄNNERCHOR O Wut! OROVESO und CHOR Nenne sie uns. NORMA Ja, bereitet den Scheiterhaufen. POLLIONE Oh, ich bitte dich noch... Norma, Erbarmen! OROVESO und CHOR Enthülle sie uns! NORMA Hört. (Ich Schuldige klage die Unschuldige der eigenen Verfehlung an?) OROVESO und CHOR Sprich, wer ist sie? POLLIONE Ach! Sag es nicht! NORMA Ich bin es. OROVESO und CHOR Du! Norma!
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NORMA
NORMA Ich selbst. Errichtet den Scheiterhaufen. OROVESO und CHOR (Ich erstarre vor Entsetzen.) POLLIONE (Mein Herz steht still.) OROVESO und CHOR Du – Verbrecherin! POLLIONE Glaubt ihr nicht! NORMA Norma lügt nicht. OROVESO Oh, meine Schmach! CHOR Oh, wie entsetzlich! NORMA Welch Herz du verraten, welch Herz du verloren offenbare dir diese Schreckensstunde. Von mir zu fliehen hast du umsonst versucht; grausamer Römer, du bist bei mir. Ein Gott, ein Schicksal, stärker als du, will uns vereint in Leben und Tod. Selbst auf dem Scheiterhaufen, der mich verzehrt, unter der Erde noch werde ich bei dir sein. POLLIONE Ach, zu spät erkenne ich dich... erhabene Frau, dich habe ich verloren... NORMA immer mit erstickter Stimme Welch Herz du verraten, welch Herz… POLLIONE Mit meinem Gewissen ist meine Liebe wieder erwacht, verzweifelt und rasend. Lass uns gemeinsam sterben, ach ja, lass uns sterben... NORMA Diese Schreckensstunde... POLLIONE Meine letzten Worte werden sein: »Ich liebe dich«. Doch du, verabscheue mich nicht im Tode, bevor du stirbst, verzeihe mir.
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ZWEITER AKT
OROVESO und CHOR ausdrucksvoll und sanft Oh, finde zu dir selbst zurück, versichere uns; ein ergrauter Vater beschwört dich: sag, dass du fantasierst, sag, dass du lügst, dass du törichte Worte sprachst. NORMA zu den Priestern Ich bin die Schuldige... POLLIONE sich Norma nähernd Verabscheue mich nicht. NORMA zu Pollione Welch Herz du verloren sage dir diese Schreckensstunde. POLLIONE Lass uns gemeinsam sterben, ach ja, lass uns sterben! OROVESO und CHOR Der strenge Gott, der dich hier sprechen hört, wenn er stumm bleibt, wenn er keine Blitze schleudert, ist dies das Zeichen, das ausdrückliche Zeichen dass er keine so ungeheure Schuld zu bestrafen hat. POLLIONE Ach, verzeihe! Ach, ich habe dich verloren! NORMA Ja, und für immer. POLLIONE Erhabene Frau! NORMA Dies sage dir diese Schreckensstunde. POLLIONE Verzeihe, verzeih! OROVESO und CHOR Ach nein, dass der Gott sie nicht zu strafen hat. NORMA Grausamer! POLLIONE Ich habe dich verloren! NORMA Für immer. POLLIONE Erhabene Frau! NORMA Ach, ja, Grausamer!
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NORMA
POLLIONE Was tat ich, o Götter. OROVESO und CHOR Norma!… Auf, Norma, rechtfertige dich! Du schweigst?... CHOR … hörst uns kaum zu? OROVESO … hörst mir kaum zu? NORMA mit einem Aufschrei zu sich kommend; Himmel! Und meine Kinder? Sie befindet sich nahe bei Pollione, der ihre Worte als Einziger hört. POLLIONE Ach, die Armen! O Schmerz! NORMA sich an Pollione wendend Unsere Kinder? POLLIONE O Schmerz! Wie von einem Gedanken ergriffen, geht sie auf ihren Vater zu. Pollione wird in dieser ganzen Szene das Verhalten Normas und Orovesos aufgeregt verfolgen. OROVESO und CHOR Norma, bist du schuldig? Sprich! NORMA Ja, über menschliche Vorstellungskraft hinaus. OROVESO und CHOR Frevlerin! NORMA zu Oroveso Höre du mich an… OROVESO Hinweg. NORMA zieht ihn mit Mühe abseits Ach! Ach, höre mich an! OROVESO O mein Schmerz! NORMA leise zu Oroveso Ich bin Mutter. OROVESO bestürzt Mutter!!!
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ZWEITER AKT
NORMA Beruhige dich!... Clotilde hat meine Kinder... nimm du sie auf... mit ihr zusammen rette sie vor den Barbaren... OROVESO Nein... niemals... geh!... Lass mich! NORMA Ach, Vater, ach Vater!... Eine letzte Bitte. Sie kniet nieder. POLLIONE und OROVESO O mein Schmerz! CHOR O welch Entsetzen! NORMA immer leise zu Oroveso Ach, mache sie nicht zu Opfern meines tödlichen Irrtums. Ach, breche dieses unschuldige Leben nicht in seiner Blüte ab. Bedenke, sie sind dein Blut... Erbarme dich ihrer, ach, Vater, erbarme dich ihrer... POLLIONE Er scheint bereits bewegt. NORMA Vater, du weinst? OROVESO Mit ist das Herz so schwer. NORMA Weine und verzeihe! POLLIONE O Himmel! OROVESO Die Liebe siegt, o Himmel! CHOR Sie weint!... Sie bittet!... Was mag sie hoffen? Hier wird jede Bitte abgewiesen. NORMA Ach, du verzeihst. – Das verraten diese Tränen. Mehr begehre ich nicht. – Ich bin glücklich. POLLIONE Ach ja! O Himmel!
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NORMA
OROVESO O Schmerz! Tochter... NORMA und POLLIONE Ach, mehr begehre ich nicht, – glücklich besteige ich den Scheiterhaufen. OROVESO Ach, ich werde mich niemals trösten. CHOR Man nehme ihr den Kranz vom Haar, sie sei von Finsternis bedeckt. POLLIONE Mehr begehre ich nicht, oh Himmel!... NORMA Vater, ach, Vater! OROVESO Halt ein, Unglückliche!... NORMA Du versprichst es mir? POLLIONE Ist das wahr?... OROVESO Ich verspreche es dir, ach ja! CHOR Ja, sie weint!... Was mag sie hoffen? Hier wird jede Bitte abgewiesen. NORMA Ach, du verzeihst. – Das verraten diese Tränen. Mehr begehre ich nicht. – Ich bin glücklich. POLLIONE Ach ja! O Himmel! OROVESO O Schmerz! Tochter... NORMA und POLLIONE Ach, mehr begehre ich nicht, – glücklich besteige ich den Scheiterhaufen. OROVESO Ach, ich werde mich niemals trösten. CHOR Man nehme ihr den Kranz vom Haar, sie sei von Finsternis bedeckt. Die Druiden verhüllen die Priesterin mit einem schwarzen Schleier.
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ZWEITER AKT
Besteige den Scheiterhaufen; und deine Hinrichtung reinige den Altar und säubere den Tempel, noch im Tod bist du verflucht! OROVESO Geh, Unglückliche... NORMA Vater, lebe wohl! Sie schreitet auf den Scheiterhaufen zu. POLLIONE Dein Scheiterhaufen ist auch der meine. Dort beginnt eine reinere, ewige Liebe. NORMA sich noch einmal umwendend Vater! Leb wohl! OROVESO sieht sie an Leb wohl!... Brecht hervor, ihr Tränen, einem Vater seid ihr gestattet. CHOR Noch im Tod bist du verflucht!
Der Vorhang fällt.
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IMPRESSUM VINCENZO BELLINI
NORMA SPIELZEIT 2024/25 Herausgeber WIENER STAATSOPER GMBH, Opernring 2, 1010 Wien Direktor DR. BOGDAN ROŠČIĆ Musikdirektor PHILIPPE JORDAN Kaufmännische Geschäftsführerin DR. PETRA BOHUSLAV Redaktion SERGIO MORABITO, ANDREAS LÁNG, OLIVER LÁNG, ADELE BERNHARD Gestaltung & Konzept EXEX Layout & Satz IRENE NEUBERT Lektorat MARTINA PAUL Druck PRINT ALLIANCE HAV PRODUKTIONS GMBH, BAD VÖSLAU TEXTNACHWEISE / ORIGINALBEITRÄGE Sergio Morabito, Die Handlung / Über dieses Programmheft / Zur ›Norma‹ Felice Romanis & Vincenzo Bellinis / Wörtliche Übersetzung des ›Norma‹-Librettos von Felice Romani – Michele Mariotti, Über eine Musik jenseits des Notentextes – Cyril Teste, Valérie Grall, Marie La Rocca, Eine kollektive Handschrift. Der Regisseur und sein Team über die Arbeit an ›Norma‹. ÜBERNAHMEN Sebastian Werr, »Melodien, wie schöner nicht geträumt werden können«, aus: Vincenzo Bellini, Norma, Programmheft der Staatsoper Stuttgart, Spielzeit 2001/02 – Richard Wagner, Bellini. Ein Wort zu seiner Zeit (Riga, 1837), nach: Musik-Konzepte 46, München 1985 – Uwe Schweikert, Eine Musik, die aus Gesang & Drama ein einziges Ganzes macht. Vortrag, gehalten am19. Februar 2003 am Theater Basel – François-René de Chateaubriand, Velleda, aus: Die Martyrer, oder der Triumph der christlichen Religion. Aus dem Französischen des Herrn Franz August von Chateaubriand übersetzt, und mit Noten erläutert von Dr. Ludwig Anton Hassler, Zweites Bändchen, Freiburg und Constanz 1811 – Zitat von David Kimbell aus: Italian Opera, Cambridge 1991 – Zitate von Fabrizio della Seta aus: Vincenzo Bellini, MGG Online. Kürzungen sind nicht gekennzeichnet. BILDNACHWEISE Coverbild: Petecia Le Fawnhawk / Bildkonzept Cover: Martin Conrads, Berlin / Szenenbilder: Michael Pöhn / Wiener Staatsoper GmbH Nachdruck nur mit Genehmigung der Wiener Staatsoper GmbH / Dramaturgie. Rechteinhaber, die nicht erreicht werden konnten, werden zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten. Die Produktion wird gefördert von Produziert nach den Richtlinien des Österreichischen Umweltzeichens, Print Alliance HAV Produktions GmbH, UW-NR 715
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Kultur bewegt uns alle. Die OMV und die Wiener Staatsoper verbindet eine jahrelange Partnerschaft. Unser Engagement geht dabei weit über die Bühne hinaus. Wir setzen uns aktiv für Jugend und Nachwuchsprojekte ein und ermöglichen den Zugang zu Kunst und Kultur für junge Menschen. Gemeinsam gestalten wir eine inspirierende Zukunft. Alle Partnerschaften finden Sie auf: omv.com/sponsoring
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