Programmheft »Rossini Mania 2022«

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ROSSINI MANIA 2022


INHALT

Über dieses Programmbuch

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La cenerentola – Die Handlung

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La cenerentola – Synopsis in English

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Il turco in Italia – Die Handlung

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Il turco in Italia – Synopsis in English

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Wien im Rossini-Fieber

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Ein künstlerischer Austausch → S.D. Fürst Albert II.

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Das war Rossini – das ist der Mythos → Sergio Ragni

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Musik als Mission → Cecilia Bartoli im Gespräch

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Ein neues Rossini-Erlebnis → Gianluca Capuano im Gespräch

50

Rossini, der Vater Pirandellos → Jean-Louis Grinda im Gespräch

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Ihr Gesang strotzt in Perlen → Andreas Láng

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Vom Fiasko zum Triumph → Claire Delamarche

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Mit historischen Augen und Ohren → Arnold Jacobshagen

78

Fast eine europäische Erfindung → Norbert Abels

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Selbstermächtigung im Korsett → Judith Belfkih

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Rossini und seine Sänger → Hilary Poriss

104

Wie kann man Humor in Musik setzen? → Livio Marcaletti

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Der Witz als Knobelaufgabe → Anne Sophie Meincke im Gespräch

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La cenerentola in Wien → Michael Jahn

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Vom Publikum geliebt → Oliver Láng

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» Koloraturen sind niemals Beiwerk, sie sind ein grundlegendes Mittel, um einen Text zu illustrieren, ihn hervorzuheben, zu färben und zu intensivieren. Eine Art Subtext, dessen Sinn man beim Studium der Partitur erkennen muss. « Cecilia Bartoli


→ wiener-staatsoper.at Spotify-App öffnen, Code scannen und Rossini Mania-Playlist hören


ROSSINI MANIA 2022 La cenerentola 28. Juni 2022 Il turco in Italia 3./5. & 7. Juli 2022 Rossini-Gala 8. Juli 2022

→ Gastspiel der Opéra de Monte-Carlo


Cecilia Bartoli als Donna Fiorilla in Il turco in Italia



LA CENERENTOLA OSSIA LA BONTÀ IN TRIONFO → Dramma giocoso in zwei Akten Musik Gioachino Rossini Text Jacopo Ferretti Orchesterbesetzung 2 Flöten, (auch Picc.), 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotte, 2 Hörner, 2 Trompeten, 1 Posaune, Violine I, Violine II, Viola, Violoncello, Kontrabass, Hammerklavier Spieldauer 2 Stunden 45 Minuten (inkl. 1 Pause) Uraufführung 25. Jänner 1817, Teatro Valle, Rom Wiener Erstaufführung 29. August 1820, Theater an der Wien Erstaufführung an der Wiener Hofoper 2. Mai 1881

Semiszenische Aufführung Musikalische Leitung Gianluca Capuano Szenische Einrichtung Claudia Blersch Angelina Cecilia Bartoli Don Ramiro Edgardo Rocha Dandini Nicola Alaimo

Don Magnifico Pietro Spagnoli Alidoro José Coca Loza Tisbe Rosa Bove Clorinda Rebeca Olvera Les Musiciens du Prince – Monaco Choeur de l’Opéra de Monte-Carlo


IL TURCO IN ITALIA → Dramma buffo in zwei Akten Musik Gioachino Rossini Text Felice Romani Orchesterbesetzung 2 Flöten (auch Picc.), 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotte, 2 Hörner, 2 Trompeten, 1 Posaune, Schlagwerk, Violine I, Violine II, Viola, Violoncello, Kontrabass, Hammerklavier Spieldauer 3 Stunden (inkl. 1 Pause) Uraufführung 14. August 1814, Teatro alla Scala, Mailand Wiener Erstaufführung 7. März 1820 Erstaufführung an der Wiener Staatsoper 5. April 1962

Musikalische Leitung Gianluca Capuano Inszenierung Jean-Louis Grinda Bühne Rudy Sabounghi Kostüme Jorge Jara Licht Laurent Castaingt Selim Ildebrando D’Arcangelo Donna Fiorilla Cecilia Bartoli Don Geronio Nicola Alaimo

Don Narciso Barry Banks Prosdocimo Giovanni Romeo Zaida José Maria Lo Monaco Albazar David Astorga Les Musiciens du Prince – Monaco Choeur de l’Opéra de Monte-Carlo


ROSSINI-GALA

Ouverture aus Il barbiere di Siviglia »Largo al Factotum« aus Il barbiere di Siviglia Nicola Alaimo

»Tutto è deserto ... Un soave non so che« Levy Segkapane, aus La cenerentola Cecilia Bartoli »Miei rampolli femminini« aus La cenerentola Alessandro Corbelli »Eccomi al fin ... Ah quel giorno ognor rammento« aus Semiramide

Varduhi Abrahamyan

»La calunnia« aus Il barbiere di Siviglia

Ildebrando d’Arcangelo

»A la faveur de cette nuit obscure« aus Le Comte Ory

Rebeca Olvera, Edgardo Rocha, Cecilia Bartoli

Gewittermusik aus La cenerentola

»Per piacere alla signora« Nicola Alaimo, aus Il turco in Italia Cecilia Bartoli »Nella testa un campanello« Rebeca Olvera, aus Lʼitaliana in Algeri Varduhi Abrahamyan, Rosa Bove, Cecilia Bartoli, Edgardo Rocha, Levy Segkapane, Nicola Alaimo, Alessandro Corbelli, Ildebrando D’Arcangelo, Philharmonia Chor Wien Pause


»Oh! Patria! … Di tanti palpiti« Rosa Bove aus Tancredi »Ah dov’è, dov’è il cimento?« aus Semiramide

Levy Segkapane

»Vivere io non potrò« Varduhi Abrahamyan, aus La donna del lago Cecilia Bartoli Ouverture aus La cenerentola »Assisa a piè d’un salice« aus Otello

Cecilia Bartoli

»O notte che mi riedi sul ciglio ... Non arrestar« aus Otello

Rolando Villazón, Cecilia Bartoli

Si, ritrovarla io giuro aus La cenerentola

Edgardo Rocha, Philharmonia Chor Wien

»Ai capricci della sorte« aus L’italiana in Algeri Gewittermusik aus Il barbiere di Siviglia

Alessandro Corbelli, Cecilia Bartoli

»Dunque io son« Plácido Domingo, aus Il barbiere di Siviglia Cecilia Bartoli »Mi par di essere…« Rebeca Olvera, aus Il barbiere di Siviglia Varduhi Abrahamyan, Rosa Bove, Cecilia Bartoli, Edgardo Rocha, Levy Segkapane, Rolando Villazón, Nicola Alaimo, Alessandro Corbelli, Ildebrando D’Arcangelo, Philharmonia Chor Wien Musikalische Leitung Gianluca Capuano / Les Musiciens du Prince – Monaco Benefiz-Gala zu Gunsten von AMADE (Association Mondiale des Amis de l’Enfance) unter der Schirmherrschaft und Präsidentschaft von I.K.H. Prinzessin Caroline von Hannover. → amade.org Programmänderungen vorbehalten


ÜBER DIESES PROGRAMMBUCH

ROSSINI MANIA feiert den 200. Geburtstag des Wiener Rossini-Fiebers anno 1822, als der Komponist in Wien weilte, seine Opern hier verstärkt auf den Spielplänen standen und allgemeine Euphorie um sich griff. Im Rahmen des Gastspiels der Opéra de Monte-Carlo werden zwei Werke – La cenerentola semiszenisch und Il turco in Italia szenisch – sowie eine Rossini-Gala gegeben. In einem Interview ab Seite 38 spricht Cecilia Bartoli – die ihr Operndebüt an der Wiener Staatsoper gibt – über Rossini-Gesang, italienische versus deutsche Romantik und die Kunst der Koloratur. Der Dirigent der Aufführungen, Gianluca Capuano, erzählt ab Seite 50 über seinen musikalischen wie wissenschaftlichen Zugang zu den gegebenen Werken, Jean-Louis Grinda leuchtet Aspekte seiner Turco-Inszenierung aus (ab Seite 58). Die Entstehungsgeschichte von La cenerentola beschreibt Andreas Láng ab Seite 62, der Wiener Rezeptionsgeschichte von La cenerentola und Il turco in Italia widmen sich Michael Jahn (ab Seite 123) bzw. Oliver Láng (ab Seite 130). Eine Würdigung des Komponisten erfolgt durch den großen Rossini-Aficionado Sergio Ragni (ab Seite 30), Claire Delamarche behandelt ab Seite 66 Entstehung, Wirkung und Besonderheiten von Il turco in Italia. Hilary Poriss analysiert ab Seite 104 den Status und Einfluss der Sängerinnen und Sänger zu Rossinis Zeit, Arnold Jacobshagen wirft Schlaglichter auf den damaligen Opernbetrieb (ab Seite 78), Judith Belfkih beleuchtet ab Seite 98 Opern-Geschlechterklischees, Norbert Abels beschäftigt sich ab Seite 84 mit der westlichen Sicht auf den Orient. Auch das Thema »Humor« wird beleuchtet: Die Philosophin Anne Sophie Meincke widmet sich ab Seite 116 der Frage, was er überhaupt sei, während Livio Marcaletti ab Seite 111 Strategien seiner Vertonung beschreibt. Ü BER DIE SE S PROGR A M MBUCH

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Stendhal

Das erste Merkmal von Rossinis Musik ist eine gewisse Schnelligkeit, die alle düsteren Gemütsbewegungen aus unserer Seele vertreibt.



← Edgardo Rocha als Don Ramiro und Cecilia Bartoli als Angelina in La cenerentola


DIE HANDLUNG La cenerentola

1. Akt Don Magnifico, seine beiden Töchter Clorinda und Tisbe sowie seine Stieftochter Angelina (genannt Cenerentola) leben gemeinsam in einem heruntergewirtschafteten Haushalt. Während die beiden Töchter nichts anderes als Kleider und Unterhaltung im Kopf haben, muss sich Cenerentola um die Hausarbeit kümmern und wird von ihren Halbschwestern tyrannisiert. Selbst ihr Lied vom Königssohn, der von drei Brautanwärterinnen jene wählt, die ein gutes Herz hat, wird von Clorinda und Tisbe unterbrochen. Alidoro, der als Bettler verkleidete Erzieher des Prinzen, erscheint und bittet um Almosen. Nur Cenerentola erbarmt sich seiner. Da verkünden Höflinge die Nachricht vom Erscheinen des auf Brautschau befindlichen Prinzen Ramiro. Für Clorinda und Tisbe gibt es nun kein Halten mehr: Aufgeregt hetzten sie Cenerentola hin und her, um sich rasch herausputzen zu können. Durch den allgemeinen Trubel wird Don Magnifico aus einem wundersamen Traum geweckt, der ihm künftiges Glück zu verheißen scheint: Als fliegender Esel habe er, auf einer Kirchturmspitze sitzend, feierliches Glockengeläut vernommen. Inmitten der Vorbereitungen erscheint inkognito Prinz Ramiro, der mit seinem Diener Dandini die Rollen getauscht hat, um den wahren Charakter der Heiratskandidatinnen zu erkunden. Der Prinz und Cenerentola verlieben sich augenblicklich ineinander, während Dandini von Clorinda und Tisbe umschwärmt wird. Obwohl Don Magnifico Cenerentola unter Gewaltandrohung verbietet, der allgemeinen Einladung aufs Schloss zu folgen, gelingt es ihr mit Hilfe Alidoros dennoch, das Fest in eleganter Balltoilette zu besuchen – von den anderen Gästen wird die elegante Dame trotz ihrer frappierenden Ähnlichkeit mit Angelina nicht als diese erkannt. DIE H A N DLU NG

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2. Akt Don Magnifico, Clorinda und Tisbe halten Familienrat: Das Erscheinen der Konkurrentin hat den Vater beunruhigt. Was, wenn sich herausstellte, dass er das Erbe seiner Stieftochter vergeudet hat? Ramiro belauscht, wie Cenerentola Dandini gesteht, seinen »Diener« zu lieben. Als er ihr beglückt einen Antrag macht, stellt sie eine Bedingung: Zunächst soll er erfahren, wer sie wirklich ist. Sie gibt ihm einen ihrer beiden Armreifen und weist ihn an, nach ihr zu suchen. An dem anderen Armreifen, den sie in ihrer gewohnten Umgebung tragen wird, soll er sie wiedererkennen. Wenn er sie dann noch liebt, wird sie ihn heiraten. Sofort gibt Ramiro den Befehl, die davongeeilte Geliebte zu suchen. Das Verkleidungsspiel wird beendet, Dandini ist nun wieder Kammerdiener und Don Magnifico, dem von Dandini vieles zugesagt wurde, beklagt heftig den Sturz aus seinem Traum von sozialem Aufstieg und finanzieller Sanierung. Vom Fest heimgekehrt, träumt Cenerentola wieder vom Königssohn, der seine Frau nach der Neigung seines Herzens wählt. Da zieht ein Gewitter auf und bringt gerade vor Don Magnificos Haus das Fahrzeug Ramiros zum Stehen. Dank des Armreifes erkennt der Prinz seine Geliebte wieder, die nun ihrerseits über seine wahre Identität aufgeklärt wird. Das Glück der beiden ist perfekt. Und auch als Fürstin verliert Cenerentola ihre Herzensgüte nicht und verzeiht ihren Verwandten.

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SYNOPSIS La cenerentola

Act 1 Don Magnifico, his two daughters Clorinda and Thisbe, and his stepdaughter Angelina (known as Cenerentola) live together in their run-down home. While all the two daughters can think about is clothes and entertainment, Cenerentola must attend to the household chores and is bullied by her half-sisters. Even her song about the King’s son choosing as his bride the one of three candidates who has a good heart is interrupted by Clorinda and Thisbe. Alidoro, the Prince’s counsellor, enters disguised as a beggar and asks for alms. Only Cenerentola takes pity on him. Courtiers then announce the arrival of Prince Ramiro, who is looking for a bride. Now there is no stopping Clorinda and Thisbe. In a frenzy, they chivvy Cenerentola to and fro to help them get dressed quickly. The general hustle and bustle awakens Don Magnifico from a wonderful dream that seems to promise him future happiness: as a flying donkey, while perched on a church tower he heard a solemn bell ringing. In the midst of the preparations, Prince Ramiro enters incognito; he has switched roles with his servant Dandini to determine the true character of the marriage candidates. He and Cenerentola immediately fall in love. However, threatening her with violence, Don Magnifico forbids her to accept the general invitation to the ball at the castle. With the help of Alidoro, Angelina nevertheless manages to attend, beautifully dressed for the ball. Despite her striking resemblance to Angelina, the other guests do not recognize that the elegant lady is indeed Angelina. SY NOPSIS

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Act 2 Don Magnifico, Clorinda and Thisbe gather to discuss the situation. The appearance of a competitor has unsettled the father. What if it comes to light that he has squandered his stepdaughters’ inheritance? Ramiro listens as Cenerentola admits to Dandini that she loves his »valet«. When he joyfully proposes marriage to her, she makes one condition: he must first know who she really is. She gives him one of her two bracelets and tells him to look for her. He will recognize her by the other bracelet which she will wear in her everyday life. If he then still loves her, she will marry him. Ramiro immediately gives the order to search for his beloved, who has rushed away. The costume game is over, Dandini is now once again a valet, and Don Magnifico complains vehemently about being wrenched from his dream of social advancement and financial recovery. Back at home after the party, Cenerentola again dreams of the King’s son who chooses his bride following the dictates of his heart. A thunderstorm rages outside, causing Ramiro’s carriage to halt right in front of Don Magnifico’s house. Thanks to the bracelet, the prince recognizes his beloved again, who in turn realizes his true identity. The couple’s happiness is complete. And even as a princess, Cenerentola does not lose her kind-heartedness and forgives her relatives.

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DIE HANDLUNG Il turco in Italia

1. Akt In ihrem Lager in der Umgebung von Neapel bleibt die Romni Zaida abseits des Gelächters und der Gesänge, trotz der Aufforderungen ihres Freundes Albazar: sie beweint ihre verlorene Liebe. Plötzlich erscheint der Dichter Prosdocimo, auf der Suche nach dem idealen Thema für sein dramma buffo. Er ist es leid, die Launen der schönen Fiorilla zu beobachten und freut sich, diese pittoreske Versammlung zu entdecken, bei der er gewiss eine authentischere Inspiration finden wird (Nr. 1: Introduktion »Nostra patria è il mondo intero«). Don Geronio kommt ins Lager: der unglückliche Ehemann von Fiorilla, die sich einen Liebhaber nach dem anderen nimmt, möchte sich die Zukunft voraussagen lassen, aber die Romnija machen ihn lächerlich, und er flieht vor ihren Spötteleien (Nr. 2: Kavatine des Geronio »Vado in traccia d’una zingara«). Prosdocimo nähert sich Zaida und erkundigt sich, was sie so unglücklich macht. Also erzählt sie ihre Geschichte: Als Favoritin des türkischen Fürsten Selim wurde sie von ihren Gefährtinnen im Serail ungerechtfertigterweise verleumdet, weil diese eifersüchtig auf ihre Privilegien waren. Von Selim zum Tode verurteilt konnte sie ihr Leben nur durch das Eingreifen von Albazar retten, dank dem sie nun verborgen als Romni in Sicherheit lebt. Der Dichter erzählt ihr, dass bald ein türkischer Fürst in Neapel anlegen wird; bestimmt wird dieser für sie bei Selim ein gutes Wort einlegen können. Fiorilla geht am Strand mit ihren Freundinnen spazieren und vertraut ihnen an, wie sehr sie sich langweilen würde, wenn sie ihrem alten Mann DIE H A N DLU NG

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treu bliebe (Nr. 3a: Kavatine der Fiorilla »Non si dà follia maggiore«). Das Schiff des türkischen Fürsten geht vor Anker, und die Reisenden setzen mit einem Boot an Land über. (Nr. 3b: Chor »Voga, voga, a terra, a terra«). Es stellt sich heraus, dass es der geheimnisvolle Fürst Selim ist, der sich darüber freut, italienischen Boden zu betreten. Selim verfällt auf den ersten Blick Fiorillas Charme. Diese lässt sich nicht lange bitten und erwidert seine Annäherungsversuche. Sie gehen Arm in Arm weg (Nr. 3c: Kavatinetta »Bella Italia, alfin ti miro« und Duettino »Chel bel turco / Serva! – Servo«). Prosdocimo beobachtet interessiert die Wendung, die die Ereignisse nehmen, als Narciso, Fiorillas aktueller Liebhaber, dazustößt und sich über den vor kurzem festgestellten Mangel an Leidenschaft bei seiner Geliebten beklagt. Er begreift schnell den Grund für diese Lauheit, als Geronio ganz außer sich erscheint: dieser hat gerade seine Frau in seinem eigenen Haus mit einem Türken gesehen. Er verrät den Namen dieses Fürsten: Selim, Zaidas ehemalige Liebe. Prosdocimo, der befürchtet hatte, dass die Handlung seines Dramas ins Stocken gerät, ist im siebten Himmel bei der Ankündigung eines so schönen Durcheinanders (Nr. 4: Terzett »Un marito scimunito!«). Bei sich zuhause lässt Fiorilla dem vor Liebe schmachtenden Selim Kaffee servieren. Er vertraut ihr an, dass er bereits geliebt hat und dass ihm das Herz gebrochen wurde. Ihre traute Zweisamkeit wird von Geronio unterbrochen, und Fiorilla verhindert, dass die beiden Männer sich gegenseitig an die Gurgel gehen, indem sie ihren Ehemann zwingt, Selims Mantel als Zeichen des Respekts zu küssen. Aber die Situation eskaliert ein weiteres Mal, als Narciso dazukommt. Vor den wutentbrannten Augen ihres Ehemanns und ihres Liebhabers gelingt es Fiorilla, Selim zu versichern, dass sie nur ihn liebt; er verabredet sich mit ihr für denselben Abend am Meeresufer (Nr. 5: Quartett »Siete turchi, non vi credo«). Der Dichter rät Geronio, mehr Bestimmtheit gegenüber seiner Frau zu zeigen, als diese gerade erscheint. Geronio setzt seine guten Vorsätze in die Tat um und maßregelt Fiorilla. Aber sie dreht ein weiteres Mal die Lage um: Sie flüstert ihrem verdutzten Ehemann die süßesten Worte ins Ohr und verspricht ihm gar, tausend Geliebte zu nehmen, weil er ja so grausam ist. Sie verscheucht den armen Geronio, der nur mehr feststellen kann, wie unkontrollierbar seine junge Ehefrau ist (Nr. 6: Duett »Per piacere alla signora«). Prosdocimo freut sich, dass sein Drama nunmehr fast unter Dach und Fach ist, aber er wird nachdenklich: ein Akt, das ist viel zu wenig. Sollte er es nicht in zwei Abschnitte aufteilen? Seine Figuren reißen ihn los von der Grübelei. Am Meeresufer, in der Nähe des Romalagers, wartet Selim auf Fiorilla. Unweigerlich läuft er zunächst Zaida über den Weg. Selim begreift, dass seine Eifersucht völlig ungerechtfertigt war, und zwischen den beiden flammt sofort wieder die Liebe auf. Nun kommen die verschleierte Fiorilla, Narciso, der davon träumt, sie wiederzuerobern und schließlich Geronio, der sie beschattet. Ein Streit bricht zwischen Zaida und Fiorilla aus, die nun zu 17

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Rivalinnen geworden sind. Der Dichter ergötzt sich an dieser unerwarteten Wendung, und die anderen Personen, die versuchen, ins Geschehen einzugreifen, geben schließlich auf (Nr. 7: Finale I »Gran maraviglie«).

2. Akt In einem Gasthaus sitzt der Dichter mit Geronio an einem Tisch. Der immer noch in Fiorilla verliebte Selim tritt ein. Nachdem Geronio ihm anvertraut, dass er seiner Ehe überdrüssig ist, schlägt ihm der Fürst vor, nach türkischem Brauch seine Ehefrau von ihm loszukaufen. Geronio antwortet ihm empört, dass in einem derartigem Fall der italienische Brauch vorsieht, dass der Ehemann den Liebhaber verprügelt… (Nr. 8: Duett »D’un bell’uso di Turchia«). Fiorilla besingt mit ihren Kameradinnen die Freuden der Liebe und ist fest entschlossen, sich an Zaida zu rächen (Nr. 9: Chor und Kavatine »Non v’è piacer perfetto / Se il zefiro si posa«). Fiorilla richtet es so ein, dass sie Selim in Gegenwart von Zaida begegnet und fordert den Fürsten auf, sich zwischen seinen beiden Geliebten zu entscheiden. Wegen seiner Zaghaftigkeit geht Zaida. Nach einem langen Wortgefecht versöhnen sich Selim und Fiorilla (Nr. 10: Duett »Credete alle femmine«). Prosdocimo erfährt, dass Selim vorhat, Fiorilla anlässlich eines Maskenballs zu entführen, um sie in die Türkei mitzunehmen. Er berichtet Geronio davon und veranlasst ihn dazu, sich als Selim zu verkleiden, um seine Frau zu täuschen. Narciso hört das Gespräch mit an und beschließt ebenfalls, sich zu kostümieren in der Hoffnung, so Fiorilla für sich entführen zu können (Nr. 11: Accompagnato-Rezitativ und Arie des Narciso »Intesi, ah! tutto intesi / Tu seconda il mio disegno«). Prosdocimo klagt über Geronios Dummheit, die das Drama noch ruinieren könnte. Albazar trifft ein, den Prosdocimo beauftragt hat, eine Verkleidung für Zaida zu finden, und beim Gedanken an die Romni lässt er sich zu zärtlichen Gefühlen ihr gegenüber hinreißen, allerdings in dem Bewusstsein, dass er sie nie für sich gewinnen wird können (Nr. 12: Arie des Albazar »Ah, sarebbe troppo dolce«). Der Maskenball beginnt zu den Klängen eines Chors zur Ehre der Liebe (Nr. 13: Chor »Amor la danza mova«). Die Verkleidungen und Masken geben Anlass zu allen möglichen Verwechslungen: Fiorilla bricht mit Narciso auf, weil sie glaubt, es handle sich um Selim, und Selim mit Zaida, die er für Fiorilla hält. Geronio weiß nicht mehr, wohin er seinen Kopf drehen soll bei diesen beiden Frauen, von denen er nicht weiß, welche seine ist; er verflucht den Türken, der dieses Durcheinander verursacht hat, während die beiden Paare ihn wie einen Verrückten behandeln und jeweils ihrer Wege gehen und ihn allein und verzweifelt zurücklassen (Nr. 14: Quintett »Oh, guardate che accidente!«). Prosdocimo und Geronio erfahren, dass Selim und Zaida sich DIE H A N DLU NG

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versöhnt haben und im Begriff sind, in die Türkei aufzubrechen. Der Dichter gibt daher dem alten Ehemann den Rat, ein falsches Scheidungsverfahren zu beginnen, um Fiorilla unter Druck zu setzen. Die Taktik erweist sich als wirkungsvoll: Als Fiorilla den Brief erhält, in dem sie gebeten wird, endgültig zu ihren Eltern nach Sorrent zurückzukehren, wird sie sich dessen bewusst, dass ihr Verhalten sie alles verlieren hat lassen: Vermögen, Komfort, Freunde, aber vor allem den Ehemann, Ruhe und Ehre. Da sie ihr unwürdiges Benehmen bereut, zieht Fiorilla ihr schlichtestes Gewand an und bereitet sich auf die Abreise vor, tief erschüttert über den Kummer, den die Nachricht ihren Eltern bereiten wird (Nr. 15: Accompagnato-Rezitativ und Arie der Fiorilla »I vostri cenci vi mando / Squallida veste e bruna«). Wie es ihm der Dichter geraten hat, wartet Geronio, bis er sicher sein kann, dass ihre Reue echt ist und begibt sich dann zu ihr. Ehemann und Ehefrau fallen einander in die Arme. In Begleitung des Dichters, der endlich den Ausgang seiner Handlung hat, und Narcisos, der ebenfalls Geronio um Verzeihung bittet, sind sie bei der Abreise von Selim und Zaida in die Türkei zugegen (Nr. 16: Finale II »Son la vite sul campo appassita / Rida a voi sereno il Cielo«).

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SYNOPSIS Il turco in Italia

Act 1 Inside the roma camp on the outskirts of Naples, and despite encouragement from her friend Albazar, the Turk Zaida keeps her distance from the merriment and singing. She is mourning her lost love. The poet Prosdocimo appears; he is looking for the ideal material for his dramma buffo. Bored by the beautiful Fiorilla’s capricious behaviour he is delighted to discover this colourful assembly where he will undoubtedly find more authentic inspiration (no. 1: Introduzione »Nostra patria è il mondo intero«). Don Geronio, the unhappy husband of Fiorilla who has multiple lovers, arrives at the camp. He is seeking a fortune teller to read his palm, but the roma tease him and their mockery forces him to flee (no. 2: Geronioʼs cavatina »Vado in traccia dʼuna zingara«). Prosdocimo approaches Zaida and asks her why she is so unhappy. She tells him her story: she had been the favourite of the Turkish Prince Selim but was unfairly slandered by her harem companions who were jealous of her privileges. Sentenced to death by Selim, her life was spared thanks to Albazar who intervened on her behalf and found her a safe hiding place in the roma camp disguised as a SY NOPSIS

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rom. The Poet informs her that a Turkish prince will shortly be sailing into Naples and that he could certainly intercede for her with Selim. Fiorilla is walking on the beach with her friends telling them how boring it would be if she remained faithful to her elderly husband (no. 3a: cavatina by Fiorilla »Non si dà follia maggiore«). The Turkish prince’s ship has anchored and its occupants disembark from a small boat (no. 3b: chorus »Voga, voga, a terra, a terra«). The mysterious prince is none other than Selim who rejoices at landing on Italian soil. Selim falls under Fiorillaʼs charm at first sight. In turn Fiorilla immediately succumbs to his advances. They leave arm in arm (no. 3c: cavatinetta »Bella Italia, alfin ti miro« and duettino Selim/Fiorilla »Che bel turco / Serva! – Servo«). Prosdocimo is observing this turn of events with great interest when he is joined by Narciso, Fiorillaʼs latest lover, who laments her sudden lack of passion for him. Narciso soon understands the reason for her change of heart when a furious Geronio arrives: he has just seen his wife in his own home with a Turkish prince. He reveals the prince’s name to them: Selim, Zaidaʼs former lover. Prosdocimo, who had despaired of finding the plot for his comedy, is over the moon at this wonderful imbroglio (no. 4: trio »Un marito scimunito!«). At home, Fiorilla has coffee served to a besotted Selim. He confides to her that he loved someone before, but that she broke his heart. Their intimate conversation is interrupted by Geronio. Fiorilla prevents the two men from going at each other’s throat by persuading her husband to kiss Selimʼs cloak as a sign of respect. But the situation degenerates even further when Narciso arrives. Under the nose of both her husband and lover, who are furious, Fiorilla manages to reassure Selim that he is her only true love. Selim arranges an assignation with her that same evening on the beach (no. 5: quartet »Siete turchi, non vi credo«) . The Poet advises Geronio to be harsher with his wife who just at that moment appears. Geronio follows the advice and chastises Fiorilla. But once more she turns the tables by whispering sweet words to her bewildered husband, even promising to take a thousand lovers as he is so cruel to her. She chases poor Geronio away who can no longer ignore how uncontrollable his young wife has become (no. 6: duet »Per piacere alla signora«). Prosdocimo is overjoyed that his play is now almost finished, but asks himself: one act is too short. Shouldn’t it be divided in two? His reflections are interrupted by his characters. On the beach, close to the roma camp, Selim is waiting for Fiorilla. Inevitably he first runs into Zaida. He realises that his jealousy was totally unjustified and their love for each other is immediately rekindled. Fiorilla arrives wearing a veil, followed by Narciso who dreams of winning her back, and lastly Geronio who is watching her. A quarrel breaks out between Zaida and Fiorilla, who are now rivals. The Poet revels in this new and unexpected development while the other characters, who are trying to interfere, end up capitulating (no. 7: finale I »Gran maraviglie«). 21

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Act 2 The Poet is sitting at a table at an inn with Geronio. Selim enters; he is still in love with Fiorilla. When Geronio admits to him that he is tired of his marriage the Prince offers to buy his wife, in keeping with Turkish traditions. Geronio is indignant and replies that in such situations the Italian tradition stipulates that the husband should punch the lover on the nose... (no. 8: duet, »Dʼun bellʼuso di Turchia«). Fiorilla is singing about the joys of love with her companions. She is determined to take revenge on Zaida (no. 9: chorus and cavatina »Non vʼè piacer perfetto / Se il zefiro si posa«). Fiorilla arranges to meet Selim in the presence of Zaida and order the Prince to choose between his two lovers. In the event he is indecisive and Zaida leaves in disgust. Finally, after a long argument Selim and Fiorilla reconcile (no. 10: duet »Credete alle femmine«). Prosdocimo finds out that Selim is planning to seize the opportunity of a masked ball to abduct Fiorilla and flee to Turkey. Prosdocimo informs Geronio of the plan and tells him to disguise himself as Selim in order to lure his wife away. Narciso overhears their conversation and decides to disguise himself as Selim also, thus hoping to lure Fiorilla away for himself (no. 11: accompanied recitative and Narcisoʼs aria »Intesi, ah! tutto intesi / Tu seconda il mio disegno«). Prosdocimo complains about Geronioʼs stupidity which could ruin his play. Albazar arrives and Prosdocimo instructs him to find a disguise for Zaida. Albazar indulges in tender thoughts about Zaida, but he realises he could never win her over (no. 12: Albazarʼs aria «Ah, sarebbe troppo dolce«). The masked ball begins to the sound of a chorus singing the glory of love (no. 13: chorus »Amor la danza mova«). The disguises and masks cause all kinds of misunderstandings: Fiorilla leaves with Narciso thinking that he is in fact Selim, and Selim does the same with Zaida, believing she is Fiorilla. Geronio is utterly confused, unable to tell which of the two women is his wife. He curses the Turk who is the cause of all this confusion, while both couples call him crazy. The couples go their separate ways, leaving Geronio alone and in despair (no. 14: quintet »Oh, guardate che accidente!«). Prosdocimo and Geronio find out that Selirn and Zaida have reconciled and are preparing to leave for Turkey. The Poet advises the elderly husband to call Fiorilla’s bluff and begin false divorce proceedings against her. The strategy is a success. When Fiorilla receives the letter ordering her to return permanently to her parents in Sorrente, she realises that her behaviour has cost her everything: fortune, comfort, friends, but above all her husband, her tranquillity and her honour. Admitting the error of her ways, she puts on her simplest attire and prepares to leave, devastated by the pain the news will cause her parents (no. 15: accormpanied recitative and Fiorilla’s aria »I vostri cenci vi mando / Squallida veste e bruna«). Following the Poetʼs advice, Geronio waits until he is sure that Fiorillaʼs SY NOPSIS

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confession is sincere before meeting with her. Husband and wife fall into each otherʼs arms. Accompanied by the Poet, who has at last found the outcome of his plot, and Narciso who also asks for Geronioʼs forgiveness, they attend Selimʼs and Zaidaʼs departure for Turkey (no. 6: finale 11 »Son la vite sul campo appassita / Rida a voi sereno il Cielo«).

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WIEN IM ROSSINIFIEBER

So etwas gab es nie zuvor. Ein Komponist kommt mit seiner Gattin, einer Sängerin, in eine Stadt, in der beide sehr bekannt, aber noch nie live aufgetreten sind. Und augenblicklich geht ein Rasen durch die Straßen, das jeden befällt, der nur in die Nähe eines Opernhauses kommt. Komponistenkollegen speien Gift, doch nichts hilft: Die Musik ist raumergreifend, beherrscht den Spielplan, man hört sie im Hofoperntheater, man pfeift sie in den Gassen, man macht mit Notenverkäufen gute Geschäfte. »Es ist eine wirkliche Epidemie, gegen die noch kein Arzt ein Mittel entdeckt hat«, notiert ein Kritiker. Und ein Philosoph – Hegel – schreibt später an seine Frau: »Ich werde in Wien bleiben, solange ich Geld für die italienische Oper und meine Rückfahrkarte habe.« Wir sprechen von Rossini und Isabella Colbran: beide übrigens erst seit wenigen Wochen verheiratet, eigentlich auf Hochzeitsreise. Sie sind in aller Munde, Paris ruft, London ruft, auch Wien! Hier ist das Terrain gut vorbereitet, seit Jahren stehen seine Opern auf dem Spielplan, insgesamt siebzehn sind bereits erklungen, man weiß also, worauf man sich freut. Doch so geballt hörte man sie noch nie: Von Mitte April bis Mitte Juli 1822 spielt die Hofoper geblockt W IEN IM ROS SIN I-FIEBER

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gleich mehrere seiner Werke, aufgeführt von Sängerinnen und Sängern des Teatro San Carlo in Neapel. Praktisch jeder Abend wird zum Ereignis: »Als ob die ganze Versammlung von der Tarantel gestochen wäre, glich die ganze Vorstellung einer Vergötterung: das Lärmen, Jubeln, Jauchzen, viva- und forza-Brüllen nahm gar kein Ende«, heißt es zum Beispiel nach einer Aufführung von Matilde di Shabran in der Allgemeinen musikalischen Zeitung. Und nicht genug damit: Man reicht den Komponisten durch die Gesellschaft, die Politik greift nach ihm, Metternich lädt zum Diner und lässt 3.500 Dukaten auf einem silbernen Tablett überreichen, die der Komponist – kein Freund des Staatsmanns – gerne annimmt. Wenn auch mit schlechtem Gewissen, denn darbt nicht in ebendieser Stadt Beethoven dahin, den er kürzlich besuchte und der ihm riet, mehr Opern à la Barbiere zu schreiben? Auch nach drei Monaten ist die Begeisterung ungestillt. Am Abschiedsabend kann das Publikum nicht genug bekommen, feiert Rossini und Colbran vor ihrem Haus. Spontan wird ein Konzert bei offenem Fenster organisiert, in dessen Rahmen Rossini treffend den allgegenwärtigen Barbier besingt: »Figaro qua, Figaro là.« Die Zuhörer toben und wollen bis zum Morgengrauen nicht gehen, immerhin schenkt der Komponist der Stadt das Lied »Addio ai viennesi« als musikalischen Abschiedsgruß. Das Fieber aber hält an, in ganz Europa wirkt die Verführungskraft der zündenden Melodien, Rhythmen, Ensembles, Arien, des atemberaubenden Crescendos und der vokalen Bravour. Selbst wütende Konkurrenten müssen das am eigenen Leib erfahren, wie etwa Carl Maria von Weber, der wenig später mit den Worten »Ich gehe lieber, sonst fange ich noch an, das Zeug gern zu haben« eine Cenerentola-Vorstellung blitzartig verlässt.

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S.D. Fürst Albert II. von Monaco

Ein künstlerischer Austausch Das Leben meines Ururgroßvaters Fürst Albert I. dauerte ungefähr so lang wie die Regierungszeit Franz Josephs in Österreich. Der monegassische Herrscher wird 1848 geboren, im Jahr der Thronbesteigung des Kaisers, und verstirbt 1922, sechs Jahre nach dem alten Monarchen und einige Monate nach Kaiser Karl I. Albert I. unterhält sein gesamtes Leben lang Beziehungen mit dem österreichischen Kaisertum, seiner Aristokratie und seiner wissenschaftlichen Gesellschaft. Besuche an den europäischen Höfen gehören zu seiner Ausbildung. In Wien wird er 1882 das erste Mal von Franz Joseph empfangen und nimmt an einem großen Ball teil, wo er die Kaiserin Elisabeth trifft. In den 1890er Jahren trifft der nunmehrige Herrscher gelegentlich das Kaiserpaar wieder, wenn dieses an der französischen Riviera am Cap-Martin weilt. Ebenso finden gesellige Zusammentreffen mit den Erzherzögen Rudolf, Rainer oder Franz Salvator statt. Gewisse Beziehungen reichen noch länger zurück: 1863 entstehen durch die Hochzeit der Tante des Fürsten, Florestine, mit Friedrich Wilhelm von Württemberg, dem späteren Herzog von Urach, Brücken zwischen dem kleinen Mittelmeerstaat und der deutschsprachigen Welt. Albert I. wird ein enger Freund von Herzog Carl Theodor in Bayern, dem Bruder von Sisi. Dessen Tochter Amélie heiratet 1892 Wilhelm von Urach, den Cousin von Albert I. Ab 1894 lädt Carl Theodor den Fürsten regelmäßig zur Gamsjagd nach Ringberg ein, dem Sitz der Wittelsbacher nahe Kreuth, ganz in der Nähe zur österreichischen Grenze. Albert begegnet dort den Erzherzoginnen Maria Annunziata oder Elisabeth. Albert I. nimmt auch an mehreren Jagdexpeditionen in Österreich teil, insbesondere in Kärnten Mitte der 1890er Jahre. 1910 kehrt er zurück zur Gamsjagd im Klostertal. Als Gelehrter knüpft Fürst Albert I. ab 1890 Kontakte mit der Akademie der Wissenschaften in Wien. Als Verfechter des Friedens steht er der österreichischen Freifrau Bertha von Suttner nahe, der ersten Frau, die – 1905 – den Friedensnobelpreis erhält. Die Beziehungen Alberts I. mit dem Kaisertum erreichen 1912 einen Höhepunkt, als der Fürst auf Einladung der k.k. geographischen Gesellschaft nach Wien kommt. Er hält dort in Anwesenheit mehrerer Mitglieder der kaiserlichen Familie einen Vortrag und wird Ehrenmitglied. Nach einer Einladung zum Abendessen in Schönbrunn notiert er in seinem Tagebuch: »Das Aussehen dieses Hofs vermittelt den Eindruck einer früheren majestätischen Größe, die rund um einen Mann bewahrt wird, der die Erinnerung an die Vergangenheit einfach, aber vornehm personifiziert.« Ich bin sehr froh, dass in diesem Gedenkjahr des 100. Todestages von Albert I. die Oper von Monte-Carlo Gast der Wiener Oper ist und dass dieser Austausch so ein wenig die Zeit des kaiserlichen Fests weiterführt.

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S.D. F Ü RST A LBERT II. VON MONACO




Sergio Ragni

DAS WAR ROSSINI – DAS IST DER MYTHOS

»Depuis la mort de Napoléon, il s’est trouvé un autre homme du duquel on parle tous les jours à Moscou comme à Naples, à Londres comme à Vienne, à Paris comme à Calcutta«. – »Nach Napoleons Tod hat sich ein weiterer Mann gefunden, über den man täglich in Moskau wie in Neapel, in London wie in Wien, in Paris wie in Kalkutta spricht.« SERGIO R AGN I

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Mit diesen Worten beginnt Stendhal seine Ende 1823 veröffentlichte Publikation Vie de Rossini. Rossini war zu jener Zeit kaum älter als 31 Jahre und befand sich in der Blüte seines Schaffens. Einige Monate zuvor hatte er mit der Uraufführung der Semiramide am Teatro la Fenice in Venedig zwar seine Karriere in Italien beendet, doch nun stand er unmittelbar vor seiner Pariser Schaffensperiode. In Paris wurde zunächst Il viaggio a Reims am Théâtre Italien uraufgeführt, bevor unmittelbar danach die vier großen Meisterwerke Le Siège de Corinthe, Moïse, Le Comte Ory und Guillaume Tell an der Académie Royale de Musique uraufgeführt wurden. Kurzum, als Stendhal seine Biografie über Gioachino Rossini schrieb, hatte dieser noch einige Höhepunkte seiner Karriere vor sich, bevor er im Jahr 1829 schließlich seinen »philosophischen Entschluss« traf, die Theaterszene für immer hinter sich zu lassen. Rossini hatte dieses Vorhaben bereits zuvor immer wieder öffentlich verlautbart, möglicherweise verfasste Stendhal seine Biografie deshalb schon zu einem derart frühen Zeitpunkt. Für gewöhnlich sollte eine Biografie eine umfassende Darstellung des Lebens und Werks einer Person rekonstruieren, Rossinis Ansehen und seine mehr als umfangreiche Sammlung an komponierten Werken boten jedoch schon zu jener Zeit reichlich Material. Gioachino Rossini war eine außergewöhnliche Person. Seine Berufung zur Musik und seine vielseitigen musikalischen Begabungen ließen ihn bereits als Kind und jungen Heranwachsenden als Sänger, Geiger, Cellist, Hornist, Cembalist und Dirigent auftreten, bevor er sich schließlich gänzlich der Komposition widmete. Und auch in seiner schlussendlichen Haupttätigkeit bediente Rossini schon in den ersten Jahren seiner Karriere eine Vielzahl an musikalischen Gattungen: von Kirchen- bis hin zu Instrumentalmusik, von Arietten bis hin zu Kantaten. Seine Neugier und sein präzises Streben nach den höchsten Zielen ermöglichten es ihm schon bald, eine maßgebliche Stellung in der italienischen Musikszene zu erlangen. Das energiegeladene Klangbild seiner Musik setzte sich schnell gegen jegliche Konkurrenz durch. Von Beginn an zeigte sich seine überaus selbstbewusste Künstlerpersönlichkeit in ihrer ganzen Bandbreite. Ein Kritiker des zwanzigsten Jahrhunderts, der die Geschwindigkeit seines Erfolgs und den sofortigen Wiedererkennungswert Rossinis hervorheben wollte schrieb: »Er hatte keine künstlerische Kindheit, er war sofort er selbst.« Innerhalb weniger Jahre wurden Rossinis Opern zu den begehrtesten, meistgespielten und beliebtesten auf allen europäischen Bühnen. Schon als Jugendlicher hatte Rossini sehr genau vor Augen, welchen Weg er einschlagen wollte. Seine ersten Schritte als Komponist unternahm er in Lugo, einer Kleinstadt in der Emilia-Romagna, dem Geburtsort seines Vaters Giuseppe, unter der Führung der Domherren und Komponisten Giuseppe und Luigi Malerbi. Die Familie Malerbi besaß eine umfangreiche Bibliothek, in der unter anderem die gesammelten Werke von Haydn, Mozart, Händel, DAS WA R ROS SIN I – DAS IST DER MY T HOS


Bach und Gluck zu finden waren Musiker, die der junge Gioachino zu lieben begann, noch bevor er sich den Meistern der italienischen Schule zuwandte. Nach seiner Lehrzeit in Lugo wechselte Gioachino in das reguläre Gymnasium in Bologna, welches zu jener Zeit von Stanislaso Mattei geleitet wurde, dem Lieblingsschüler Giovanni Battista Martinis, der – nur um das festzuhalten – Mozart bei seiner Aufnahme in die prestigeträchtige Accademia Filarmonica geholfen hatte. Dies waren die schulischen Grundlagen des »Tedeschino«, wie der gute Mattei seinen Schüler aufgrund seines Interesses und seiner Liebe zu den großen Wiener Klassikern nannte. Eine Liebe, die über den Unterricht hinausreichte, denn Rossini ging oft aus eigenem Antrieb in die Bibliothek des Instituts, um die Quartette und Symphonien von Haydn und Mozart zu studieren. Nach seinem Schulabschluss hatte Rossini allerdings keine andere Wahl, als sich hauptsächlich der Komposition von Opern zu widmen, dem einzigen Genre, welches einem Komponisten im Italien der damaligen Zeit das Überleben sichern konnte. Auch in der Oper wollte sich Rossini weiterhin sowohl mit den großen Meistern der Vergangenheit als auch mit seinen noch lebenden Kollegen messen und vergleichen, wobei er die unterschiedlichsten Themen aufgriff: von der brillanten Farce bis zur Tragödie, von der romantischen bis zur fantastischen Oper. Hierbei ließ er sich unter anderem von den Werken Voltaires, Walter Scotts, Torquato Tassos, William Shakespeares und anderen inspirieren. Rossini war sich seines eigenen Genies bewusst und versuchte es in vollem Umfang zu entfalten, indem er sich selbst immer wieder mit neuen Herausforderungen auf die Probe stellte. Der Erfolg seiner Musik verblüffte den jungen Maestro oftmals selbst, am Tag nach der Uraufführung einer seiner Opern schrieb er an seine Mutter: »Bin wirklich ich der Autor einer derart klassischen Oper?« Was war der Grund für diesen enthusiastischen Erfolg, der innerhalb weniger Jahre den europäischen Musikgeschmack dermaßen stark prägte? Lag der Schlüssel vielleicht in der italienischen Neuinterpretation der Musik von Haydn und Mozart? Einen Höhepunkt seiner Popularität erreichte Rossini 1822 in Wien. Der Grundstein von Rossinis Aufenthalt in Österreich wurde auf einer Reise Kaiser Franz I. gelegt, welche diesen 1819 in Begleitung des Fürsten Metternich nach Neapel führte. Die illustren Gäste waren von der Pracht des großen Saals des Teatro di San Carlo regelrecht geblendet und von der Schönheit der Musik – natürlich von Rossini – hingerissen. Der Fürst beschloss, dass in Wien Ähnliches vollbracht werden müsse: Wenn schon nicht der prachtvolle Saal des Teatro San Carlo nach Wien gebracht werden konnte, dann zumindest das Ensemble und der Komponist dieser himmlischen Musik. Gesagt, getan: Barbaja, der gefeierte Impresario des neapolitanischen Theaters, war zu allem bereit. Er selbst übernahm die Leitung des KärntnertorSERGIO R AGN I

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theaters und versetzte Maestro Rossini und das gesamte, aus hervorragenden Sängerinnen und Sängern bestehende Ensemble nach Wien. Vor der Abreise aus Neapel fand am Teatro San Carlo noch die Uraufführung der Oper Zelmira statt, die Rossini eigens für die bevorstehende Reise komponiert hatte. Nach einigen Aufführungen, die sozusagen als Generalproben fungierten, verabschiedet sich der alte Kaiser Franz, welcher den Vorstellungen beigewohnt hatte, von Rossini und den Mitwirkenden und kehrt in die Hauptstadt des Habsburgerreichs zurück. Auf der Reise von Neapel nach Wien macht Rossini in Castenaso, einem Ort wenige Kilometer von Bologna entfernt, Halt, um seine Muse Isabella Colbran, die Primadonna Assoluta der königlichen neapolitanischen Theater, zu heiraten. In Wien zählte man bereits die Tage bis zu Rossinis Ankunft. Dem Wiener Publikum war die Musik Rossinis schon vor dessen Besuch sehr vertraut. Vor Rossinis Ankunft waren bereits mindestens 16 seiner Opern in den beiden wichtigsten Theatern der Stadt erfolgreich aufgeführt worden. Die Neugierde, den Komponisten dieser bezaubernden Melodien persönlich kennenzulernen, vereinte die Musikliebhaber. Die Ankunft des Ehepaars Rossini und des italienischen Ensembles wurde am 27. März in der Wiener Zeitung angekündigt. Gemeinsam mit den Belcanto-Virtuosen Giovanni David, Andrea Nozzari und Antonio Ambrosi bezogen die Frischvermählten das zentral gelegene Hotel »Zum Goldenen Ochsen« in der Seilergasse Nummer 14. Während seiner Spaziergänge durch Wien wurde Rossini von Passanten auf der Straße verfolgt und angehalten; die Menschen drängten sich auf die Balkone, um den »sehr höflichen jungen Mann mit sympathischer Figur«, wie ihn die Zeitungen der damaligen Zeit beschrieben, zu bewundern. Am 8. Juli, dem Namenstag der Signora Rossini, erreichte der Jubel schließlich seinen Höhepunkt. Die Menge versammelte sich in Erwartung einer außergewöhnlichen musikalischen Darbietung vor Rossinis Hotel. Rossini, der seine Bewunderer nicht enttäuschen wollte, beschloss zu improvisieren: »Und er öffnet das Klavier und beginnt den Refrain einer Arie aus Elisabetta, welchen seine Isabella fantastisch vorträgt.« Von der Straße ertönten Beifallsrufe: »Viva, viva! Seid gesegnet! Nochmal, nochmal!« Nach Isabella Colbran sangen Fanny Eckerlin, Giovanni David und Andrea Nozzari, bevor schließlich Isabella Colbran und Gioachino Rossini gemeinsam das emblematische »Cara, per te quest’anima« anstimmten. »Die Begeisterung des Publikums ist grenzenlos, während die Straße immer voller wird.« Die Menge verlangte nach dem Maestro, und als dieser »am Fenster erscheint und sich verbeugt, wird der Beifall noch lauter: ›Viva, viva! Singen! Singen!‹ Der Maestro kommt der Aufforderung lächelnd noch einmal nach und singt die Arie des Barbiere: ›Figaro qua, Figaro là‹, wie nur er es vermag. Danach entlässt er das Publikum mit einem definitiven ›buona notte‹.« Das Publikum versuchte das Konzert weiter zu verlängern, woraufhin Rossini keine andere Wahl hatte, als sich 33

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von seinen Freunden zu verabschieden und die Lichter auszulöschen. Zunächst ging ein Raunen durch die Straßen, dann kam es zu Tumulten und Beleidigungen, bis letztendlich Ordnungskräfte eingreifen mussten, um die Menge zu zerstreuen. Der Aufenthalt in Wien ermöglichte es Rossini, einige seiner großen Kollegen kennenzulernen. Weber hörte er beispielsweise dessen Freischütz dirigieren, oder Antonio Salieri, mit dem er sich häufig traf, um gemeinsam mit seiner Gattin und einigen anderen italienischen Sängern die Kanons des alten und mittlerweile fast erblindeten Maestros zu singen. In bereits fortgeschrittenem Alter erzählte Rossini einem Freund, dass er eines Abends nach dem x-ten Kanon die Dreistigkeit besessen habe, Salieri zu fragen, ob es denn wahr sei, dass er Mozart vergiftet habe. Rossini erinnerte sich: »Er stellte sich direkt vor mich hin und sagte: ›Schauen Sie mir gut ins Gesicht: Schaue ich wie ein Mörder aus?‹« Die »Wiener« Bekanntschaft, die Rossini jedoch am meisten am Herzen lag, war – und das versteht sich fast von selbst – Ludwig van Beethoven. Rossini liebte seine Musik und stellte ihn schon damals über all seine Zeitgenossen. Er kannte viele seiner Werke und konnte sogar einige seiner Sonaten auswendig auf dem Klavier spielen. So sehr manche Autoren auch versuchen, das Treffen der beiden zu leugnen, der Bericht Eduard Hanslicks erscheint unumstößlich. Um Beethoven zu erreichen, nutzte Rossini die Hilfe Giuseppe Carpanis, der sich gerade in Wien befand. Der Autor der Haydine und künftiger Verfasser der Rossiniane ossia Lettere Musico-Teatrali hatte mit Rossini bereits in Zusammenhang der gerade in Wien aufgeführten Zelmira zusammengearbeitet, indem er die Verse einer neu hinzugefügten Arie geschrieben hatte. Von Carpani begleitet, konnte Rossini schließlich dem Bonner Genie die Ehre erweisen. Der späte Rossini wird den Namen Beethoven zu einem idealen Dreigestirn an Komponisten zählen, welches seiner Meinung nach einen Kontrast zum aktuellen Zeitgeist darstellte, in welchem er sich selbst nicht wiedererkannte: »Diejenigen, die wie ich mit den Werken von Mozart, Beethoven und Haydn aufgewachsen sind, lassen sich nur schwer durch andere berühren und dominieren.« Rossinis ausgefeilte Linienführung, die auf eine überragende Intelligenz schließen lässt, trug dazu bei, den ihn umgebenden Mythos zu erschaffen. Auch als seine Musik etwas von den Bühnen verschwand, blieb seine Bedeutung für seine Zeitgenossen konstant. Seine unangefochtene Popularität erfreute Rossini sein Leben lang, von Zeit zu Zeit aber überforderte sie ihn auch, was ihm Ausrufe wie »meine Berühmtheit geht mir auf die Nerven« entlockte. Diese kurzzeitigen Verstimmungen wichen aber schnell wieder Rossinis fröhlichem Naturell, dem Jupiter des Olymps, wie ihn Meyerbeer nannte, dem Richter über die Schicksale der Musiker in Paris. Im Atrium der Académie Royal de la Musique konnte SERGIO R AGN I

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er einer zu seinen Ehren errichteten, lebensgroßen Statue gegenüberstehen. Anlässlich seines zweiundsiebzigsten Geburtstags gab die französische Regierung eine Medaille in Auftrag, welche Rossini – wie einst den viele Jahrhunderte früher lebenden Dante – mit einem Lorbeerkranz geschmückt abbildet. Rossini lebt und ist in die Unsterblichkeit übergegangen.

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MUSIK ALS MISSION Andreas Láng & Oliver Láng im Gespräch mit Cecilia Bartoli

Schon als junges Mädchen verlor sie, so erzählt die unvergleichliche Cecilia Bartoli, bei einer Aufführung von Il barbiere di Siviglia ihr Herz an Gioachino Rossini. »Seine rasante Musik mit den verrückten Koloraturen, das berühmte Crescendo Rossiniano, das aus dem Nichts zu mächtigen Fortissimo-Stürmen anwächst, um sich dann wieder im Nichts zu verlieren« – all das zog sie magisch in seinen Bann. Ihr Herz hat sie – glücklicherweise – nicht wiedergewonnen, doch führte diese Liebe zu Rossini zu einer der ganz großen Weltkarrieren der Gegenwart. Bartoli ist eine der wichtigsten Interpretinnen gerade auch des Rossini-Fachs, sie fasziniert immer wieder rund stets aufs Neue. Die unnachahmliche InterpretaA N DR EAS & OLI V ER LÁ NG IM GE SPR ÄCH MIT CECILI A BA RTOLI

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tionskunst, die geradezu magnetische Bühnenpräsenz, das Voranstellen höchster fachlicher Seriosität, das Brennen für die Sache und nicht zuletzt eine gleichermaßen stupende Musikalität und Technik lösen Begeisterung aus, wo immer sie die Bühne betritt. Anlässlich von »Rossini Mania« erzählt sie im ausführlichen Gespräch über Interpretationsfreiheiten bei Rossini, die innere Ausdruckskraft der Koloraturen und den historischen Wandel der Stimmfächer. Eine Ihrer großen musikwissenschaftlichen Interessen ist der gefeierte Belcanto-Star des 19. Jahrhunderts: Maria Malibran. Inwieweit war sie für Sie ausschlaggebend, sich intensiver mit Belcanto und Rossini zu beschäftigen? Es lief umgekehrt ab, es war Rossini, der mich zum Belcanto und zur Malibran brachte! Seine Musik und der Belcanto standen am Anfang meiner musikalischen Laufbahn, gefolgt von Mozart, Haydn und später den großen Meistern der Barockmusik. Wie die meisten jungen italienischen Mezzosoprane gab ich mein Bühnendebüt als Rosina in Il barbiere di Siviglia – in Rom, im Alter von 19 Jahren. Mein Vater sang damals übrigens, im letzten Jahr vor seiner Pensionierung, als Mitglied des Chors des Teatro dellʼOpera di Roma. Und wenn man sich mit Rossini beschäftigt, stolpert man bald über die legendäre Familie García mit den unglaublich begabten Töchtern: Maria Malibran und Pauline Viardot, die gemeinsam mit ihrem Vater, Manuel García, zweifellos zu den größten Rossini-Sängern aller Zeiten gehören. Oder, wie Rossini in einem Brief schreibt, der sich in meiner Autografen- und Musikmanuskripten-Sammlung des Komponisten befindet: » Es freut mich zu bekennen, dass ich, wenn ich Ihrem Vater viel, seinen Töchtern noch mehr verdanke, und dass meine Dankbarkeit für dieses himmlische Triumvirat meiner Bewunderung gleichkommt.« C. BARTOLI

Nach welchen Kriterien haben Sie die einzelnen Rossini-Werke in Ihr Repertoire aufgenommen? Näherten Sie sich ihnen zunächst über einzelne Arien an? Oder haben Sie sich jeweils gleich auf ein gesamtes Werk konzentriert? In den ersten Jahren meiner Karriere war die Rosina jene Rolle, die mir die Türen vieler internationaler Opernhäuser öffnete, wie auch der Barbier meine erste Studioaufnahme war. Bald darauf folgten Cenerentola und eine Einspielung von Il turco in Italia. Die Veröffentlichung eines Rossini-Arien-Albums und eines weiteren mit neunzehn seiner wenig bekannten Lieder verpassten meiner Karriere einen echten Schub, zunächst in den USA, dann in Europa. Im weiteren Verlauf begann ich weitere seiner Opern zu studieren wie auch das Repertoire von Maria Malibran, Giuditta Pasta, Isabel Colbran (Rossinis Ehefrau), Pauline Viardot und anderer. C. BARTOLI

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Und immer ist es ein anderer Aspekt, der zuerst die Aufmerksamkeit auf sich lenkt: die Handlung, die Rolle, die vokale Gestaltung, die Gesamtstruktur des Stücks. Für Ihr Wien-Gastspiel haben Sie La cenerentola und Il turco in Italia ausgewählt: Zwei eher frühe Opern Rossinis, beide im Wesentlichen dem Buffo-Genre zuzuordnen, beide gehören zu den bekannteren Werken des Komponisten. Wie kam es zu dieser Auswahl? Als Bogdan Roščić mich fragte, ob ich Interesse hätte, 2022 eine Art Carte blanche an der Staatsoper anzunehmen, verband ich diese ehrenvolle Einladung sofort mit dem »Rossini-Fieber«, das Wien 1822 überkam – und die Idee war geboren, ein wenig an diesen musikalischen Erdrutsch zu erinnern, der Wien mitriss, als Rossini in dieser Stadt ankam und seine besten Werke präsentierte. Die Wahl der beiden Operntitel und des Galakonzerts sind also weniger mit einem musikwissenschaftlichen Leitmotiv verbunden als dass sie einfach dazu dienen sollen, Rossini und das Rossini-Fieber vor 200 Jahren zu feiern. La cenerentola war lange Zeit nicht sehr populär, aber jetzt ist sie es. Für mich ist das Werk definitiv eine von Rossinis schönsten Opern und eine der zum Singen und Spielen befriedigendsten. Sie ist sehr unterhaltsam, bietet aber auch melancholische und poetische Seiten – daher würde ich La cenerentola nicht unbedingt als »typische« Buffo-Oper betrachten. Dennoch wurde sie an der Wiener Staatsoper seit 1930 kaum 130mal gespielt, wenig, im Vergleich zu Barbier, den die Staatsoper seit 1876 über 800mal gegeben hat. Obwohl zuletzt häufiger gespielt, würde ich im Falle von Il turco in Italia sagen, dass es sich dabei um kein Repertoirestück handelt. An der Wiener Staatsoper gab es überhaupt nur drei Vorstellungen – im Jahr 1962! Seine Schönheiten sind weit weniger offensichtlich und die Art und Weise, wie sich die Geschichte vor uns entfaltet – sie wird von einem Dichter erzählt, der die Handlung in Echtzeit laufend anpasst –, ist ausgesprochen ungewöhnlich und modern. Die Oper erfordert einen exzellenten Regisseur, um sie überzeugend zu zeigen, abgesehen davon sind die Partien für die Sängerinnen und Sänger enorm herausfordernd. C. BARTOLI

Weder La cenerentola noch Il turco in Italia waren anfangs ein durchschlagender Erfolg. Was hat das Publikum von Rossini erwartet, was er nicht erfüllen wollte? Im Fall von Turco: War es die zu illusionslose Sicht auf Beziehungen? Wahrscheinlich dachten die Menschen – wie so oft – in Schubladen: Sie waren von Rossini Farcen, Komödien oder heroische Opern gewohnt. Aber plötzlich begann er die einzelnen Genres zu mischen, im Turco stärker als in der Cenerentola. Und vielleicht war die HandC. BARTOLI

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lung vom Turco in Italia, in der es um Flirt, Betrug und Scheidung geht, nicht das, was ein traditionelles Opernpublikum zu sehen gewohnt war, und viele Zuschauer haben das wohl nicht geschätzt. Heute sind es aber genau diese Merkmale, die unser Interesse wecken. Man könnte noch darauf hinweisen, dass Rossini Il turco in Italia ein »dramma buffo« nannte, während Werke wie La cenerentola oder L’italiana in Algeri als »dramma giocoso« bezeichnet werden: Es ging ihm also eindeutig um einen Unterschied in Genre und Stil. Welche Innovationen gehen vom Belcanto aus, die für die weitere Entwicklung der Gattung Oper wesentlich waren? Und an welche Traditionen knüpfte Rossini an, welche Aspekte der Klassik hat er bewusst nicht fortgeführt, wo beschritt er neue Wege? Vielleicht ist Belcanto im Zusammenhang mit Ihrer Frage der falsche Begriff: Im Italienischen bezeichnet er einen bestimmten Gesangsstil. Rossini und noch stärker Donizetti und Bellini gehören zur Epoche der – italienischen – Romantik, die in den nördlichen Ländern oft vergessen wird, weil man den Begriff eher mit Komponisten wie Weber, Schumann, Schubert, Marschner oder sogar dem frühen Wagner verbindet. Wenn ich das Wort Romantik höre, denke ich eher an eine spezifische Thematik und Handlungsstruktur, an die wilden und verlassenen Schauplätze und an einen neuen Charaktertypus, der sehr weit von jenen der klassischen Periode entfernt liegt. Rossini und andere Komponisten seiner Zeit waren in vielerlei Hinsicht Dreh- und Angelpunkt zwischen klassischen Modellen und romantischen Experimenten. Natürlich ist eine Kategorisierung stets problematisch, weil sich in Wirklichkeit alles überlappt. Es ist zum Beispiel bekannt, wie sehr Wagner Bellinis Norma bewunderte, man kann eine Partitur in seiner Bibliothek in Wahnfried sehen. Und in Zürich kann man eine Norma-Partitur mit Eintragungen sehen, die Wagner vornahm, als er diese Oper am dortigen Theater dirigierte. C. BARTOLI

Lässt sich eine direkte Linie von Rossini über Bellini und Donizetti zu Verdi ziehen? Oder muss Rossini in gewissem Sinne als Solitär innerhalb der Operngeschichte gesehen werden? Rossini war ein Kind seiner Zeit. Er hatte das Glück eines langen Lebens, wusste aber genau, wann es für ihn an der Zeit war, sich zurückzuziehen. Wohlgemerkt: Vom Schreiben von Opern, wohingegen er bis zu seinem Tod 1868 eine der einflussreichsten Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens blieb. Und das, obwohl er 39 Jahre lang keine Oper mehr herausgebracht hatte! Man stelle sich vor: Rossini starb in dem Jahr, in dem Wagner seine Meistersinger fertigstellte, Tschaikowskijs 1. Symphonie und Griegs Klavierkonzert uraufgeführt wurden; gleichzeitig hatte Rossini C. BARTOLI

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in seiner Jugend noch einige der berühmtesten Kastraten erlebt. Seine Musik bildet einen großen Teil seines Lebens ab, aber sie spiegelt bei Weitem nicht die kulturgeschichtliche Bedeutung dieses erstaunlichen Mannes in all seiner Konsequenz wider. Wie unterscheidet sich Rossini in seinen italienischen Opern von Bellini und Donizetti? Eine Besonderheit Rossinis sind seine berühmten Crescendi, die sich über ungewöhnlich lange Zeiträume erstrecken. Man muss sehr darauf achten, sie so leise wie möglich zu beginnen und ihre Lautstärke langsam, stetig und mit Bedacht zu steigern. Und natürlich der Überschwang seiner Koloraturen, sein Brio und, bis zu einem gewissen Grad, auch ein mechanisches Element, das sehr herausfordernd ist, wenn man es überzeugend und spannend gestalten will. Rossini ist auf eine einzigartige Weise schwindelerregend. Und er ist wahrscheinlich einer der umfassendsten Meister des Komischen und vielleicht derjenige mit der größten Selbstironie: Zum Beispiel macht er sich in manchem Finale über dieses Schwindelerregende lustig und lässt die Sängerinnen und Sänger feststellen, dass ihre Köpfe explodieren, während er dies mit Schlägen und Glockenklängen im Orchester nachahmt. C. BARTOLI

Inwiefern hat Rossini einen neuen Gesangsstil etabliert? Oder beeinflusste er den bestehenden Stil und lenkte ihn in eine neue Richtung? Erst als ich anfing, die Kunst der Kastraten genau zu studieren, verstand ich, dass das, was Rossini am meisten bewunderte, die Art war, wie Kastraten sangen. Stimmlich und stilistisch. Über diese – seine – Meinung macht er sich amüsanter Weise in Il barbiere di Siviglia lustig, indem er Bartolo behaupten lässt, dass früher alles besser gewesen wäre – und dieser den berühmten Kastraten Caffarelli imitiert: ein Beispiel für die Selbstironie Rossinis. Es gibt auch weitere bekannte Geschichten, wie etwa jene, dass Rossini einen Tenor bat, bevor er in seinen Salon einträte, das hohe C an der Garderobe abzugeben, denn dieser Sänger hatte eine Mode initiiert, für das hohe C das Brustregister statt das gemischte oder Kopfregister, wie bisher üblich, zu verwenden. C. BARTOLI

Kommen wir zu den bereits angesprochenen Koloraturen. Für Rossini waren sie kein Beiwerk, sondern letztlich die reinste, ideale Form der Kunst: absoluter, vollkommener Ausdruck, keine Nachahmung der Wirklichkeit, sondern deren Interpretation. C. BARTOLI

Koloraturen sind niemals Beiwerk, sie sind ein grundlegendes Mittel, um einen Text zu illustrieren, ihn hervorzuheben, zu färben A N DR EAS LÁ NG & OLI V ER LÁ NG IM GE SPR ÄCH MIT CECILI A BA RTOLI

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und zu intensivieren. Ich denke, dass sie als eine Art Subtext gesehen werden sollen, dessen Sinn man beim Studium der Partitur erkennen muss. Spricht man also von Ausschmückung oder Verzierung, so sind das irreführende Begriffe, denn es geht ja nicht darum, eine Phrase zu verschönern oder, was noch schlimmer wäre, die eigene Gesangstechnik beeindruckender erscheinen zu lassen. Worin unterscheiden sich die barocken Koloraturen von jenen der Belcanto-Zeit? In der Blütezeit der Opera seria dienten sie natürlich auch dazu, die Außerordentlichkeit einer bestimmten Sängerin oder eines Sängers hervorzuheben. Da die Künstlerinnen und Künstler ihre Verzierungen damals weitgehend improvisierten, waren sie auch ein wichtiges Mittel, um die musikalische Fantasie des Künstlers zu zeigen. Zu Rossinis Zeiten begann man zu spüren, dass dies aus dem Ruder lief und die Komponisten versuchten, die Kontrolle über ihre Musik zurückzugewinnen. Also begannen sie, ihre Verzierungen sehr detailliert niederzuschreiben. Ein gutes Beispiel dafür ist der Anfang von »Naqui allʼaffanno«, Angelinas Rondo am Ende von La cenerentola: Es klingt vollkommen frei und leicht, wobei jede dieser kleinen Noten von Rossini vorgeschrieben wurde. Die selbe Entwicklung kann man übrigens auch in der Instrumentalmusik beobachten: Die Komponisten begannen, die Kadenzen in den Konzerten vorzuschreiben, während man früher von den Solistinnen und Solisten freie Improvisationen erwartet hatte. C. BARTOLI

Bedeutet das auf der anderen Seite, dass er den Sängerinnen und Sängern die Freiheit des Ausdrucks genommen hat? Oder betrachten Sie Rossinis Ausschreibungen nur als ein Angebot? Rossini war ein sehr praktischer Mensch und Oper war damals – zumindest in Italien und Frankreich – ein Geschäft. Als Komponist hatte er offensichtlich keinerlei Skrupel, seine Musik immer wieder zu recyceln, Szenen zu ändern, Arien hinzuzufügen, um sie einem bestimmten Sänger oder einer Sängerin anzupassen und so weiter. Obwohl er so viele seiner Koloraturen ausgeschrieben hat, erwartete er von talentierten Sängerinnen und Sängern wie zum Beispiel Colbran, Malibran, García, dass sie weiter improvisierten. Er war sich im Klaren darüber, dass, wenn es ihnen gelang, ihr Können unter Beweis zu stellen und einen Erfolg zu erzielen, dies auf seine eigene Musik zurückfiel und ihre Chance auf Wiederaufführung erhöhte – was wiederum zu höheren Einnahmen führte. C. BARTOLI

Rossini wiederholte den Da-Capo-Teil oft ohne Variation, was im Belcanto ungewöhnlich war. War dies seiner Bequemlichkeit geschuldet, oder muss man ihm hier folgen? 43

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Genau das ist es: In dem Da-Capo-Teil wird die Sängerin oder der Sänger aufgefordert, etwas Eigenes aus der Partitur zu machen und durch Improvisation ihre oder seine interpretatorischen Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. C. BARTOLI

Viele Ihrer Kolleginnen weisen darauf hin, dass Rossini besonders gut für Sängerinnen geschrieben hat, zum Beispiel in Bezug auf die Phrasierung. Teilen Sie diese Meinung? Nun, wir wissen, dass Rossini ein Händchen für Frauen hatte. (lacht) Und natürlich hat er viele Opern für Sängerinnen geschrieben, die er sehr gut kannte, insbesondere für seine erste Frau Isabella Colbran. Aber er schrieb auch Partien für Manuel García, die genau zu dessen besonderer Tenorstimme passten. Glücklicherweise haben wir heute eine junge Generation von außergewöhnlich begabten Rossini-Tenören, und ich hatte das Glück, mit vielen von ihnen zu arbeiten. Und bisher habe ich noch nicht gehört, dass sich einer von ihnen beschwert! C. BARTOLI

Die Gesangstechnik hat sich seit der Belcanto-Ära immens verändert, so haben etwa die späteren Werke Verdis ganz neue Anforderungen an Sängerinnen und Sänger gestellt. Versuchen Sie, bei Rossini zur älteren Gesangstechnik zurückzukehren, also als eine Art historisch informierte Aufführung, oder setzen Sie die moderne Technik mit dem Wissen der Vergangenheit ein? Wenn ich barocke, klassische oder frühromantische Musik gestalte, versuche ich jene Dinge zu vermeiden, die wir als Kinder zu hören gewohnt waren, die aber historisch falsch sind. Also: Kein Verismo, kein dramatischer Aufschrei, keine Derbheiten, keine Portamenti. Wir müssen Rossini basierend auf der Musik des Barock und der Klassik sehen und nicht im Rückblick von Mascagni und Puccini. Rossini erfordert Sauberkeit und Präzision. Und wenn Sie mit dem geforderten Tempo mithalten wollen, dürfen Sie die Stimme weder verdunkeln noch künstlich schwerer machen, um Kraft oder Volumen zu gewinnen. Leichtigkeit und Flexibilität: Das braucht man für diese Art des Repertoires. C. BARTOLI

Nikolaus Harnoncourt vertrat die Ansicht, dass Schubert als Opernkomponist in Wien nur gescheitert sei, weil Rossinis Stil Wien erobert habe und Schuberts Stil plötzlich altmodisch geworden sei. Ist diese »Sünde« Rossinis verzeihlich? C. BARTOLI

Nun, ich kann nicht glauben, dass Nikolaus Harnoncourt meinte, dass es Rossinis »Schuld« gewesen wäre, nach Wien A N DR EAS LÁ NG & OLI V ER LÁ NG IM GE SPR ÄCH MIT CECILI A BA RTOLI

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eingeladen worden zu sein und Erfolg zu haben. Ich persönlich denke, dass wir vergessen haben, dass die Kultur in jenen Tagen dem sehr ähnlich geworden war, was sie – in mancher Hinsicht bedauerlicherweise – heute ist: Nach Jahrhunderten relativer Stabilität aufgrund einer vollkommenen Abhängigkeit von einem System des Mäzenatentums hatte sie sich in ein kommerzialisiertes freies Geschäft verwandelt, in dem jede und jeder heftig ums Überleben kämpfte. Rossini war ein kluger Geschäftsmann, sehr erfahren und gut vernetzt. Er sprach Englisch, Französisch und verstand wahrscheinlich auch Spanisch. Außerdem war er weltgewandt, liebenswürdig und hilfsbereit. Wir wissen, dass Schubert Rossinis Musik (insbesondere den Otello) absolut bewunderte und sogar eine Ouvertüre in einer Art italienischem oder Rossini-Stil schrieb, um Rossini zu ehren. Ich denke eher, dass Schuberts Zeit als erfolgreicher Opernkomponist noch nicht gekommen war, da er in jungen Jahren starb. Und was seinen Misserfolg im Musiktheater betrifft, so dürfte dies wohl mit den eher schwachen und konfusen Libretti zusammenhängen, die er zu komponieren hatte – und nicht so sehr mit Rossinis Erfolg in Wien. Mozart unterschied nicht zwischen Sopran und Mezzosopran. Wie verhält es sich mit Rossini? Immerhin sind einige seiner Opern – zum Beispiel Cenerentola, Barbiere, Italiana – speziell für Mezzo-Stimmen geschrieben. Hatte er einen ebenso wesentlichen Einfluss auf die Entwicklung eines Mezzosopran-Typs wie Verdi auf die des »Kavalierbaritons«? Im Allgemeinen wurde diese Unterscheidung erst weit im 19. Jahrhundert getroffen. In der sogenannten Belcanto-Zeit wurden die Rollen in Italien nicht durch das beschrieben, was im Deutschen »Stimmfach« genannt wird, sondern durch die Position der Sängerin oder des Sängers im Theater, was sich direkt auf den Vertrag und die Gage auswirkte: prima donna di prima sfera, seconda donna usw. Dies wiederum wurde aus Marketinggründen auf den Spielplänen abgedruckt, sodass auch hier der kommerzielle Charakter des damaligen Opernbetriebs deutlich wird. In der Originalpartitur von Norma heißt es: Norma – Sopranistin, Adalgisa – Sopranistin, Clotilde – Sopranistin! Im 20. Jahrhundert glaubte man, dass Norma von einem Sopran und Adalgisa von einem Mezzosopran gesungen werden müsse. Das lag aber nur daran, dass die Soprane zu dieser Zeit bereits die Position dessen, was im 19. Jahrhundert »prima donna di prima sfera« genannt worden war, erobert hatten. In Bellinis Zeiten wurde die Norma zum Beispiel von Pasta oder Malibran gesungen, deren Timbres eher dem entsprachen, was wir einem Mezzosopran entsprechend erachten, während Adalgisa von Giulia Grisi uraufgeführt wurde, einer Sängerin mit heller Sopranstimme, für die Donizetti die Rolle der Norina in Don Pasquale geschrieben hatte. C. BARTOLI

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Rossini hat immer wieder Anleihen bei seinen eigenen Werken genommen. Zum Beispiel hat er die zweite Tenorarie des Barbiere als Schlussarie der Cenerentola eingesetzt. Ist dieses Wiederverwerten dem Musikbusiness seiner Zeit geschuldet? Dieser Aspekt entspringt in der Tat den Bedürfnissen der schweren Produktionsbedingungen des kommerzialisierten Opernmarkts seiner Zeit. Man musste unglaublich viele »Waren« produzieren, um die Nachfrage zu befriedigen und überleben zu können – da blieb einem oft nichts anderes übrig, als auf Recycling zurückzugreifen. Ich glaube aber auch, dass es eine Folge der Verwurzelung dieser Musik in der barocken und klassischen Tradition ist: In gewisser Weise ist sie tatsächlich »neutraler«, oder sagen wir, weniger klar vordefiniert, weil es die Aufgabe der Interpretin oder des Interpreten war, sie mit dem richtigen Ausdruck, dem richtigen Gefühl zu füllen. Aus diesem Grund finden sich in den Partituren des Barock und der Klassik viel weniger Hinweise zur Ausführung als in späteren Epochen, in denen die Komponisten versuchten, jedes Detail vorherzusehen und in die Partitur einzutragen. In vielerlei Hinsicht bedeutete dies eine gewisse Verschiebung in unserem Beruf – von der Interpretin zur Ausführenden. C. BARTOLI

Rossini hat Strukturelemente der Opera seria in der Opera buffa verwendet: Ist das für Sie nur eine kompositorische Frage oder bedingt das auch Rückschlüsse auf die Werke und die Interpretation, im Sinne von: Man kann die komische Oper nicht (mehr) als rein komisch ansehen? Eine Mischung aus beidem. Als Interpretinnen und Interpreten müssen wir in der Lage sein, diese Musik auf eine solche Weise aufzuführen, die das Publikum ihren emotionalen Gehalt in einem bestimmten Moment verstehen lässt. Gleichzeitig handelte es sich in der Tat um eine Epoche, in der die Grenzen zwischen den Genres durchlässiger wurden, vor allem in den Werken, über die wir hier sprechen. Man darf aber nicht vergessen, dass diese Entwicklung bereits in Mozarts Da Ponte- oder seinen deutschen Opern zu erkennen ist, wie auch in der semiseria-Gattung – deren Bezeichnung ja genau das besagt. C. BARTOLI

Rossini hat in vielen Kommentaren darauf hingewiesen, dass für ihn der Text nur der Diener der Musik war. Und Stendhal sagte in Vie de Rossini, dass der Erfolg der italienischen Oper darin bestehe, dass es genüge, den Text einer Arie ungefähr zu kennen – die Musik würde den Rest erledigen. Wo beginnt Ihre Interpretation? Mit der Musik oder mit dem Text? A N DR EAS LÁ NG & OLI V ER LÁ NG IM GE SPR ÄCH MIT CECILI A BA RTOLI

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Ich glaube nicht, dass man beides trennen kann, vor allem nicht bei dieser Art von Musik. Der Text gibt Hinweise darauf, wie man die Musik interpretieren muss. Und eine Oper, bei der man den Text nicht versteht, ist kein Theater, sondern nur eine Ansammlung von Klängen. C. BARTOLI

Mit einem zum Teil eher unbekannten Repertoire erreichen Sie ein großes Publikum, das weit über die üblichen Opernliebhaber hinausgeht. Sehen Sie sich als eine Art Musik-Missionarin? Ja, das Leben hat mich mit einer solchen Position beschenkt. Obwohl ich, wenn ich auf meine Ausgangslage zurückblicke, mich durchaus auch in einer viel bescheideneren Lage hätte wiederfinden können. Jedenfalls hätte ich nie erwartet, in eine so internationale und glamouröse Stellung hineingetragen zu werden! Aber ich bin dem Schicksal, das mich hierher führte, sehr dankbar. Vor allem aber mache ich das, was ich mache, weil es mir so viel Freude bereitet und weil es noch viel schöner ist, wenn man es mit jemandem teilen kann. Und ich glaube an eine Mission der Musik, der Musikerinnen und Musiker. C. BARTOLI

Das Ensemble Les Musiciens du Prince-Monaco wurde auf Ihre Ini­ tiative hin gegründet. Könnte man dieses Ensemble – neben Ihrer Stimme – als Ihr zweites »Instrument« bezeichnen? Man könnte es tatsächlich so nennen. Wenn ich ein bestimmtes Repertoire oder ein neues Programm vorbereite, studiere ich niemals einfach nur meinen eigenen Part ein, ohne mich um das zu kümmern, was rings um mich herum passiert. Für mich besteht der spannendste Teil der Arbeit darin, herauszufinden, wie die Gesangslinie mit dem Orchester interagiert und wie sie sich gegenseitig beeinflussen. Außerdem achte ich bei einer Opernproduktion auf alle Aspekte der Inszenierung und wie sie mit der Musik zusammenwirken. Diese Wechselwirkungen sind vielleicht das wichtigste Element einer erfolgreichen musikalischen Aufführung. Daher bin ich sehr glücklich, dass ich die Chance bekommen habe, dies mit einem eigenen Ensemble zu tun, denn das garantiert eine besondere Kontinuität. Wir entwickeln uns laufend weiter anstatt jedes Mal bei null anfangen zu müssen. In der relativ kurzen Zeit seit der Gründung von Les Musiciens du Prince haben wir gemeinsam schon einen beachtlichen stilistischen und künstlerischen Weg zurückgelegt – und das sehr erfolgreich! C. BARTOLI

Wie die Malibran beschränken Sie sich nicht nur auf das Singen: Sie sind die künstlerische Leiterin der Salzburger Pfingstfestspiele, Sie sind die künstlerische Leiterin des Ensembles Les Musiciens du Prince-Monaco, und ab 2023 werden Sie als erste Frau in der Ge 47

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schichte die künstlerische Leiterin der Opéra de Monte-Carlo sein: Sie machen das nicht, weil Sie sich langweilen? Ich bin nie gelangweilt! Es gibt noch so viel Musik zu entdecken und dem Publikum zu präsentieren! Es geht mir mehr darum, kreativ zu sein, meine Erfahrung und meine Position in der Branche zu nutzen, um jungen Musikerinnen und Musikern zu helfen, neues Repertoire zu entdecken oder sich mit bestimmten Aufführungstraditionen auseinanderzusetzen und sie zu überdenken. Natürlich, die Wiener Staatsoper ist vielleicht das berühmteste und bedeutendste Opernhaus der Welt, aber Direktorin eines der schönsten Opernhäuser der Welt mit einem atemberaubenden Meerblick und einer bedeutenden Geschichte zu sein, macht mich sehr glücklich, und die Entscheidung, diese neue Herausforderung anzunehmen, war eine leichte. Ich hoffe, Sie alle bald in Monaco zu sehen und dass dies nur der Beginn einer Partnerschaft zwischen dem wichtigsten und dem schönsten Opernhaus der Welt sein wird. C. BARTOLI

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Laura Holder Stendhal → Letzter Versuch

Ich entdecke in Rossinis Musik eine Frische, die bei jedem Takt vor Wohlgefallen lächeln lässt.


EIN NEUES ROSSINIERLEBNIS Gespräch mit Gianluca Capuano, dem Dirigenten des Rossini Mania-Gastspiels

Sie sind ein namhafter Dirigent und ein ebenso leidenschaftlicher Musikwissenschaftler, man trifft Sie seit jeher genauso häufig am Dirigentenpult wie in diversen alten Archiven, Bibliotheken, Klöstern, in denen Sie alte Handschriften wälzen. Hand aufs Herz: Was macht Ihnen mehr Spaß? (lacht) Beides gleichermaßen – ehrlich! Ich liebe es, einerseits Autografen zu studieren, mich in diese alten Zeichen auf den vergilbten Notenblättern zu vertiefen und damit zu den Wurzeln zurückzukehren, und andererseits ebendiese alten Zeichen im Konzertsaal, in der Oper zum Leben zu erwecken und zum Klingen zu bringen. Schon deshalb ist für mich die Zusammenarbeit mit Cecilia Bartoli und Musiciens du Prince-Monaco mit so großer Freude verbunden, weil wir lauter Gleichgesinnte sind, die gewissermaßen dieselbe musikalische Sprache sprechen und sowohl für das Erforschen der Handschriften wie für das Musizieren von einer vergleichbaren Leidenschaft angetrieben werden. So mancher im Publikum wird daher das, was wir jetzt an der Wiener Staatsoper anbieten, wohl als ein ganz neues G. CAPUANO

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Rossini-Erlebnis wahrnehmen: Aufführungen, gespeist aus der Kenntnis der Tradition – und das auch noch auf den Originalinstrumenten der Entstehungszeit respektive auf Kopien derselben. Ein Klangerlebnis also, wie es Rossini seinerzeit gehört haben mag. Definitiv. Auch ich habe als Kind all diese Werke mit den modernen, großen Orchestern kennengelernt – der Unterschied ist augenfällig: Der Klang mit den ursprünglichen Instrumenten ist trockener, etwas härter, was uns zum Beispiel ermöglicht, die von Rossini geforderten Akzente deutlicher herauszuarbeiten. Die Absicht der Komponisten bis hinein ins 19. Jahrhundert war ja, die Artikulation der menschlichen Sprache nachzuahmen. Und das können wir mit den alten Instrumenten optimal umsetzen. Außerdem ist die Transparenz viel größer, sodass die Sängerinnen und Sänger zum einen auch einmal pp singen dürfen, ohne Gefahr zu laufen, vom Orchester zugedeckt zu werden und sie sich zum anderen viel intensiver der Textausdeutung hingeben können. Gerade für Cecilia Bartoli, die jede textliche wie musikalische Nuance durch tausende Farbschattierungen, Koloraturen und Rubati herausarbeitet, ist dies besonders wichtig. Ganz grundsätzlich wird das Orchester aus der bloßen Begleitfunktion, zu der es im Belcanto nach und nach irrtümlicherweise degradiert wurde, zum aktiven und gestaltenden Dialogpartner der Sängerinnen und Sänger. GC

Nun sind Sie nicht nur Belcanto-Spezialist, sondern auch ein ausgewiesener Experte der sogenannten Alten Musik. Barockmusik und der Belcanto des 19. Jahrhunderts bilden freilich zwei unterschiedliche Paar Schuhe, aber in puncto Auszierung des Gesanges gibt es wohl Gemeinsamkeiten? Es handelt sich in diesem Punkt sogar um eine ganz nahe Verwandtschaft! Und so kann ich das, was ich in der Alten Musik gelernt habe, im Belcanto einsetzen, etwa hinsichtlich der Phrasierung und der Artikulation. Im Grunde ist alles durchgehend miteinander verbunden: In Rossinis Stil fühlt man noch die Wurzeln bei Mozart und Gluck, Mozart ist seinerseits von der vorausgegangenen Generation stark beeinflusst, und alles fußt im Letzten auf den Werken des Barock. GC

Gibt es so etwas wie einen typischen Rossini’schen Humor, eine typische Rossini’sche Komik in seinen Buffo-Opern? Ja, natürlich – und die werden offenbar, wenn man sich anschaut, was andere Komponisten dieser Zeit in Italien geschrieben haben. Domenico Cimarosas ungemein erfolgreicher Matrimonio segreto war etwa lanGC

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ge Zeit hindurch das erklärte große Vorbild auf dem Gebiet der Buffo-Oper. Das Neue bei Rossini in der Darstellung der Komik waren die Betonung der Rhythmik, die bekannten ausufernden Crescendi und die Syllabismen-Virtuosität, die allerdings nur einige Sänger der Rossini-Zeit wirklich perfekt beherrschten. Nicht umsonst standen Rossini immer wieder die berühmtesten Interpretinnen und Interpreten zur Verfügung – im Falle von Turco in Italia waren es etwa Giovanni David als Narciso und Filippo Galli als Selim. Darüber hinaus besaß Rossini ein untrügliches Gefühl für das Theater, er wusste, wie man Pointen setzt, wie man Text und Musik aufeinander bezieht, wie man mit Modulationen und kleinen Melodiefragmenten Wirkung erzielt, um einen Buffo-Charakter möglichst effektiv zu modellieren. In der Cenerentola erinnern etwa einige melodische Figuren an Tierlaute – zum Beispiel an einen Esel, im Turco unterstreicht eine Cornuto-Figur bei Geronio die Untreue seiner Frau Fiorilla usw. Ich werde in meinen Interpretationen solche Details immer besonders hervorheben, da sie doch auch einen wichtigen ironischen Subtext bieten. Dieser Buffo-Apparat, den Rossini entwickelt hat, erinnert mich übrigens ein wenig an die italienische Filmtradition der 1950er und 1960er Jahre – zum Beispiel an den Komiker Totò: der könnte in jeder Rossini-Buffo-Oper mitwirken! Neu für das italienische Melodramma waren auch noch seine harmonischen Experimente, die Rossini von österreichischen und deutschen Komponisten übernommen hatte – nicht von ungefähr wurde er seit seiner Jugend »il tedeschino« (»der kleine Deutsche«) genannt. La cenerentola und Il turco in Italia sind innerhalb eines Zeitraums von nur zweieinhalb Jahren entstanden. Wo liegen die Unterschiede? Auch wenn Rossini natürlich bestimmte von ihm eingeführte Buffo-Elemente in beiden Werken verwendet hat, unterscheiden sich die zwei Opern in einigen wichtigen Aspekten sehr deutlich von­ einander. Selbst wenn in der Cenerentola musikalisch immer wieder durchaus auch sentimental-pathetische, ja sogar tragische Farben in den Vordergrund treten – denken wir beispielsweise nur an den allerersten Auftritt der Titelfigur, in dem ihre traurige Ausgangssituation von einer getragenen Moll-Grundierung zum Ausdruck gebracht wird –, so entspricht hier der Grundduktus der Erzählung und viele Details dem, was man damals von einer italienischen komischen Oper erwartet hat. In Turco in Italia wird, unter anderem in der großen Reue-Arie der Fiorilla gegen Ende der Oper, zwar ebenfalls ein vergleichbarer pathetisch-sentimentaler Ton angeschlagen, aber aufgrund der Dramaturgie, des Personals und des Inhalts geht es dann zusätzlich noch in eine ganz eigene Richtung: So wird einmal mit Fiorilla eine Frau gezeigt, die neben ihrem schwächlichen Gatten nicht nur ständig einen außerehelichen Verehrer um sich hat, sondern auch noch zusätzlich eine feurige Liebschaft mit einem wildfremden, gerade angereisten Mann eingeht – noch dazu einem GC

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Nichtitaliener: dem Türken Selim. Eine für die damalige Zeit sehr herausfordernde Ausbuchtung der Moralvorstellungen, die der gewohnten typischen Buffo-Atmosphäre doch ein wenig entgegenstand. Und die Figur des Dichters, durch die hier eine Art Pirandello’sches Metatheater entsteht, musste das italienische Publikum des frühen 19. Jahrhunderts zumindest überrascht haben. Auch wenn dieser Kunstgriff damals schon nicht ganz neu war und vom Turco-Librettisten Felice Romani einfach aus der benutzten, fast dreißig Jahre älteren, gleichnamigen Opern-Vorlage von Franz Joseph Seydelmann und Caterino Tommaso Mazzolà übernommen worden ist. Und dass ebendieser Poeta, obwohl Motor der Handlung, keine eigene große Arie aufweist, entsprach auch nicht unbedingt dem Mainstream der damaligen Handlungsaufbauten. Turco in Italia ist also etwas ganz Eigenes, Besonderes innerhalb des Buffo-Schaffens Rossinis. Ist Turco in Italia darum vorerst nicht so erfolgreich gewesen? Es ist im Nachhinein oft schwer zu klären, woran es lag, dass ein Werk bei der Uraufführung nicht gut ankam. Meistens sind mehrere Faktoren ausschlaggebend und nicht immer sind die überlieferten Berichte – ob Erfolg oder Misserfolg – hundertprozentig zuverlässig. Die damaligen Kritiken legen jedenfalls nahe, dass es zwei Punkte gab, die dem Publikum übel aufstießen: Die schon erwähnte »lockere Moral« der weiblichen Hauptfigur und dann der doch recht hohe Anteil an Musiknummern, der nicht original für den Turco komponiert wurde beziehungsweise zum Teil gar nicht von Rossini selbst stammt. Rossini war bekanntlich immer ein guter Wiederverwerter von bereits früher Geschaffenem, aber hier überstieg dieses Musik-Recycling sogar das bei ihm Übliche deutlich. Es stellt sich nur die Frage nach dem Warum? Denn zur Entstehungszeit war Rossini ausnahmsweise nicht so sehr unter Zeitdruck wie sonst, er hätte also Muße gehabt eine gänzlich neue Partitur vorzulegen. Dass er die Rezitative von jemand anderem hat machen lassen, war gewissermaßen Usus – selbst Mozart ließ sich diesbezüglich bei der Clemenza von Süßmayr helfen. Aber warum mehrere »echte« Musiknummern von einem weniger begabten Kollegen beigesteuert wurden, ist bis heute nicht restlos geklärt. Wir haben somit auf musikalischer Seite zumindest zwei Autoren und ein entsprechendes Qualitätsgefälle: Die tollen Ensembles, die schon erwähnte große Fiorilla-Arie sind beispielsweise Rossini’sche Meisterwerke par excellence, die Kavatine des Geronio, das Finale secondo oder eine Aria di sorbetto des Albazar, die in jede beliebige andere Oper ebenso hineinpassen würde, sind hingegen konventionelle Meterware und Fremdkörper. Ein Rezensent der Uraufführung sprach daher erbost von einem stilistischen Potpourri. Für Reprisen auf anderen Bühnen hat Rossini nicht umsonst einige Änderungen vorgenommen – unter anderem übernahm er für den Narciso eine Arie aus der erfolgreicheren Italiana in Algeri. GC

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Was werden wir hier in Wien hören? GC Ich verwende die von Margaret Bent erstellte kritische Edition der Rossini-Ausgabe von Pesaro. Allerdings – und sicher im Sinne Rossinis – mit kleinen Strichen und Veränderungen.

Zum Beispiel? Rossini hat spaßhalber einige schöne Zitate in die Partitur hineinverwoben. Der »Voga, Voga«-Chor im ersten Akt ist zum Beispiel eine direkte Übernahme aus Mozarts Don Giovanni und dokumentiert überdies wohl Rossinis Verehrung für den älteren Kollegen. Ich werde zu den bereits vorhandenen noch einige zusätzliche Zitate in die Rezitative einbauen und auch schon vorhandene musikalische »Türkerien« durch das Schlagwerk unterstreichen beziehungsweise verstärken, auch wenn das so nicht in der Handschrift steht. Aber das sind Dinge, die der damaligen Praxis entsprechen und absolut legitim, ja, eigentlich obligat sind. GC

Solche »Türkerien« waren zu Rossinis Lebzeiten offenbar beliebt. Sie waren, vor allem im 18. Jahrhundert, ein Nachklang der im Letzten erfolgreichen und endgültigen Abwehr der jahrhundertelangen osmanischen Angriffe, gewissermaßen die Verarbeitung des erleichterten Aufatmens. Höhepunkte dieser Tradition sind sicherlich Mozarts Entführung aus dem Serail oder der letzte Satz seiner berühmten A-Dur Klaviersonate. Von der Seydelmann’schen Turco in Italia-Oper sprachen wir schon, aber auch Rossinis L’italiana in Algeri gehört natürlich hierher. Der unheimliche, bedrohliche Türke, vor dem man Angst hatte, wird vor allem in der italienischen Buffo-Oper aufgelöst in einen ungefährlichen Charakter, über den man lachen kann. Zusätzlich hat der Komponist die Möglichkeit, mit exotischen Klängen zu experimentieren, die beim Publikum gut ankamen. Klar, dass Rossini auf diesen Zug aufsprang. GC

Sie sprachen vorhin vom Don Giovanni-Zitat in einem Chor des ersten Aktes in Turco in Italia. Es ist doch bemerkenswert, dass man nördlich der Alpen – etwa bei Mozart – viel früher gemischte Chöre auf die Bühne stellen konnte, aber südlich der Alpen noch in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts nur reine Männerchöre zu hören bekam: So etwa in Rossinis Barbiere oder seiner Cenerentola. GC

Da spielen vor allem die damaligen Bedingungen der italienischen Theaterpraxis mit: Die Buffo-Tradition in Italien war unter GE SPR ÄCH MIT GI A N LUCA CA PUA NO

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anderem stark beeinflusst von den einaktigen Farsen in Venedig, die aus Kostengründen gar keinen Chor aufwiesen. Außerdem gab es in dieser Zeit immer wieder sangesfreudige Männer, die sich zu Musikliebhaber-Chören zusammenschlossen – den sogenannten Società corali maschili – und als solche in den Theatern wirkten. Zudem verlangten die Libretti meistens Männergruppen, wie Soldaten, Türken, Algerier. Diese Ausgangslage hatte natürlich nachhaltigen Einfluss auf die Komponisten und deren Werke: Auch Rossini hat in seiner ersten Zeit einerseits Farsen für Theater in Venedig geschrieben und andererseits in seinen ersten Opern nur die vorhandenen Männerchöre eingebaut. Allerdings gibt es vereinzelt auch in den frühen Rossini-Opern gelegentlich gemischte Chöre – etwa gerade im Turco (»Coro delle zingare«). Wir wissen auch, dass er den Frauenchor der Mailänder Scala in seinem Aureliano in Palmira (1813) eingesetzt hat. Auf jeden Fall setzte er nach und nach immer stärker auf die Präsenz von weiblichen Stimmen, den Höhepunkt bildeten dann die gemischten Chöre in Guillaume Tell. Bellini und Donizetti verkörpern die italienische romantische Oper. Ist Rossini auch schon ein Romantiker? Historisch gesehen: nein, da Rossini einer anderen Epoche entstammt. Aber in seinen letzten, französischen Opern Comte Ory und Guillaume Tell, ist er eigentlich in der Romantik angekommen, und wenn er mit dem Komponieren nicht aufgehört hätte, wären wohl noch einige wichtige Beispiele entstanden. Ganz klar ist aber sein Einfluss auf die beiden Romantiker Bellini und Donizetti. Die vorhin im Zusammenhang mit der Cenerentola erwähnte Beimischung des Sentimentalen in die Buffo-Oper finden wir zum Beispiel eins zu eins im Liebestrank Donizettis wieder. Ich würde also sagen: Rossini war auch ein Früh-Romantiker und auf jeden Fall aber ein Wegbereiter für die italienische Romantik. GC

Das Gespräch führte Andreas Láng.

→ Folgende Seiten: Szenenbild Il turco in Italia

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ROSSINI, DER VATER PIRANDELLOS Regisseur Jean-Louis Grinda im Gespräch

Die Handlung von Il turco in Italia ist einigermaßen kompliziert. Versuchen Sie als Regisseur dieses Dickicht zu entwirren oder gehört das Verwirrende zum Konzept? GRINDA

Ja, das Sujet des Türken ist sehr verwickelt und genau das macht seinen Reiz aus. Die Verwirrung ist ganz offensichtlich gewollt. GE SPR ÄCH MIT J EA N-LOU IS GR IN DA

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Wir befinden uns in einer Theatervorstellung, in der alles »live« kreiert wird, doch immer wieder entzieht sich diese Kreation der Kontrolle ihres Autors. Pirandello wurde hier um ein ganzes Jahrhundert vorweggenommen. Zu Rossinis Zeit gab es Werke, die Klischeebilder des Fremden einsetzten. In diesem Falle mit den Roma und Selim gleich doppelt. Wie geht man heute mit solchen Bildern um? Meine Intuition sagt mir, dass man das Klischee vor allem nicht ausklammern darf, sondern es im Gegenteil akzentuieren muss, um seine Lächerlichkeit aufzuzeigen. Die raffinierte Mechanik dieser brillanten Komödie verlangt meiner Meinung nach, dass man sich all ihren Schwierigkeiten stellt, ohne versuchen, klüger zu sein als das Stück. GRINDA

In welcher Zeit, an welchem Ort spielt bei Ihnen die Oper? Wir befinden uns auf der Bühne eines Theaters der 1950/60er Jahre. Die Bühne ist leer, man muss sie also durch Ideen füllen! Darin liegt die Herausforderung für Prosdomico… und für den Regisseur! GRINDA

Inwiefern sind die Figuren, die wir erleben, der Tradition der Commedia dell’arte entnommen? Ich denke nicht, dass unsere Figuren Archetypen der Commedia dell’arte darstellen. Stattdessen gibt es im 2. Akt einen sehr interessanten Moment, wo wir mitten hinein in den neapolitanischen Karneval geraten. Die Verkleidung und die Verwechslung und Täuschung durch die Ähnlichkeit der Kostüme führt zu einem großartigen Moment des Wahns, in dem niemand der Identität der anderen und damit auch der eigenen mehr sicher ist. GRINDA

Sind die Figuren wohlbekannte »Typen« wie der ältliche, eifersüchtige Ehemann, oder haben sie ein besonderes Eigenleben? Da es sich um Figuren handelt, die der Imagination unseres Dichters entsprungen sind, sind es notwendig Archetypen, deren Verhaltensweisen ziemlich vorhersehbar sind. Unser Dichter ist kein allzu großes Talent… interessant ist, dass sich seine eigenen Figuren von ihm emanzipieren, indem sie sich eine unabhängige Existenz erfinden, ohne dabei den engen Rahmen zu verlassen. GRINDA

Ist ein Aspekt, der Sie interessiert, auch das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Kulturen? 59

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Dieser »Clash der Kulturen« ist deswegen spannend, weil er die Liebesroutine Fiorillas aufbrechen wird. Der Türke bringt seine eigene kulturelle Praxis mit, doch im Grunde sind diese von nur sekundärer Bedeutung für das Stück. Der eigentliche Motor ist die Frage, wie eine gute Geschichte herzustellen ist, die das Publikum interessieren könnte. GRINDA

Wer ist Prosdocimo? Rossini selbst? Oder Sie? Ich denke, Rossini ist sehr viel intelligenter als Prosdocimo. Der Dichter könnte auch ich sein, wie ich Künstlern gegenüberstehe, die alles nach ihrem eigenen Kopf machen wollen!!! GRINDA

Wie ernst meint es Fiorilla mit Selim? Oder ist es nur die Sehnsucht, aus dem Alltag auszubrechen? Wie ist das wahre Verhältnis zwischen Fiorilla und Geronio? Fiorilla will jagen! Sie ist nicht verliebt, aber eitel. Sie braucht ihre Beute. Dafür setzt sie alles in Bewegung. Außerdem spielt sie mit Don Narciso wie die Katze mit einem Wollknäuel. Geronio hingegen ist ihr Ehemann, der ihr ein elegantes Leben ermöglicht. Wenn er sie vor die Tür des ehelichen Domizils setzt, ist das für sie ein persönliches Drama und die Arie, die sie singt, ist von großer tragischer Schönheit, die man keinesfalls versuchen sollte, durch Einfälle zu kaschieren. GRINDA

Ist Zaida jene, die wirklich liebt? Das ist richtig. Doch der Dichter braucht sie nur, um die Geschichte vorankommen zu lassen. Sie hat im Grunde nur die Funktion eines Werkzeugs. GRINDA

Wie ist das »moralische« Ende zu beurteilen? Wie wird es mit den Figuren weitergehen? Das Ende klingt wie das von Don Giovanni. Es ist eine Moral, bei der ziemlich gleichgültig ist, was aus den Figuren wird, da sie nur die Frucht der Imagination eines einzigen Schöpfers sind. Alles, was sie im Chor erhoffen, ist, dass die Oper dem Publikum gefallen hat. GRINDA

In welchem Maße ist die Musik der Oper für Sie Inspiration? Wird der musikalische Ausdruck einzelner Momente in das szenische Geschehen übersetzt? GRINDA

Die Musik des Türken ist absolut großartig und eine große Quelle GE SPR ÄCH MIT J EA N-LOU IS GR IN DA

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der Inspiration, vor allem auch, um an gewissen Schlüsselmomenten die vielen offenen Verwandlungen zu rhythmisieren. Die Kavatine von Narciso erinnert durch ihr unbegründetes ironisches Brio an die Music Hall. Der Kummer und die Verlorenheit Fiorillas erregen in ihrer Tragik unser Mitleid. Was ist Turco in Italia genau? Eine reine Komödie? Er ist mehr als nur eine gelungene Komödie. Ich halte ihn für ein, wenn auch unterschätztes, echtes Meisterwerk. Seine Fantasie, seine Heiterkeit, sein geniales Libretto beweisen, dass Rossini und seine Komplizen die Erfinder des Metatheaters sind! GRINDA

Gibt es für Sie den oder die Sympathieträger(in)? Wer ist am ehrlichsten? Ganz eindeutig bevorzuge ich den Autor, Prosdocimo. Er kämpft gegen unzählige Widrigkeiten und kann nur auf sich selbst oder seinen Assistenten zählen. GRINDA

Und was soll das Publikum aus diesem Abend mitnehmen? Ich wünsche mir, dass das Publikum die Vorstellung mit der Überzeugung verlässt, dass Rossini der intelligenteste Komponist seines Jahrhunderts war! GRINDA

Die Fragen stellte Oliver Láng.

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Andreas Láng

IHR GESANG STROTZT IN PERLEN

Die Entstehung von Rossinis La cenerentola


Genau an seinem 24. Geburtstag, am 29. Februar 1816, unterschrieb Gioachino Rossini den Vertrag zur Komposition einer neuen Oper. Ein knappes Jahr später gelangte dann das betreffende Werk – La cenerentola – in Rom am Teatro Valle zur Uraufführung. Wie schon beim Barbier einige Monate zuvor setzte der Publikumserfolg zwar nicht sogleich bei der Premiere, sondern etwas verzögert, dafür aber dauerhaft, ein. Und bis heute besticht diese auf dem bekannten Aschenbrödel-Märchen basierende Buffo-Oper durch ihre perfekte Ausgewogenheit an musikalischer Genremalerei, Personencharakteristik, vollkommenen Kantilenen, Melodienreichtum, wirkungsvollen Ensembles und buffonesken Situationen. Im Mittelpunkt der Handlung steht bei Rossini und Ferretti die zu Unrecht als Magd gehaltene Angelina, um die herum eine durch Rollentausch inszenierte Komödie zur Ausführung gelangt, wobei die wesentlichen und allgemein bekannten Aspekte der Geschichte – Prinz heiratet die erniedrigte Außenseiterin und böse Stiefschwestern gehen leer aus – erhalten bleiben. Entgegen der überlieferten Versionen des Märchens (vor allem nach Charles Perrault) finden sich in der Rossini’schen Opernhandlung aber keinerlei Übernatürlichkeiten – der Librettist Jacopo Ferretti schrieb in diesem Zusammenhang in seiner Vorrede, dass dieses Weglassen jeglicher Zaubereien den Umständen der Bühnen des Teatro Valle geschuldet war. In Wahrheit verabscheute Rossini derartiges in den Libretti und so musste Cenerentola bei ihm ohne die berühmte herbeigezauberte, von Mäusen gezogene Kürbiskutsche auskommen, was das römische Publikum der Uraufführung auch nicht weiter verstörte. Enttäuschend für manche Besucher – so etwa für Théophile Gautier im Zuge einer Aufführung in Paris – war hingegen der Umstand, dass Ferretti den bekannten Aspekt der Schuhprobe einfach wegließ und stattdessen einen Armreif als Wiederkennungsobjekt einsetzte (vermutlich, weil die Zensur einen für eine Schuhprobe notgedrungenerweise sichtbaren bloßen Frauenfuß auf der Bühne aus Schicklichkeitsgründen niemals geduldet hätte). Heute dürften solche Abweichungen vom »üblichen« Plot kaum noch jemanden irritieren. Eher der Charakter der Angelina, die, allen Träumerein zum Trotz, praktisch nie wirklich aufbegehrt, ja, sich mit ihrer Rolle als Cenerentola fast schon identifiziert. Nicht umsonst vergleicht sie Albert Gier mit der schon krankhaft sich unterordnenden Griselda in Boccaccios Decamerone. Dass Angelina in der Oper als plastisches Wesen und nicht nur als Schablone vor den Hörer tritt, verdankt sie ausschließlich der Musik und nicht der Darstellung im Textbuch. Wie meistens, komponierte Rossini auch diese Oper unter enormem Zeitdruck, vielleicht sogar unter noch größerem Druck als gewöhnlich: Am 26. Dezember 1816 hätte die Uraufführung stattfinden sollen – drei Tage davor wurde erst das Sujet entschieden. Jacopo Ferretti verfasste das Textbuch daher in einer Nacht-und-Nebel-Aktion, unter Vertilgung vieler Tassen »guten Mokkas«, Rossini schrieb, kaum dass die Tinte auf den Librettoseiten 63

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getrocknet war daraufhin in Windeseile seine Musik. Da er einsah, dass die Arbeit auf diese Weise zu langsam voranging, wandte er sich an den, vor allem als Passionen- und Oratorienschreiber renommierten, inzwischen vergessenen römischen Komponisten Luca Agolini, der ihm die Seccorezitative und einige unwesentliche Passagen schrieb. Außerdem übernahm Rossini einige Teile, wie die Ouvertüre, aus früher von ihm selbst verfassten Opern. Und auch Ferretti dürfte von einem bereits existierenden Aschenbrödel-Libretto mehr als nur inspiriert worden sein: Felice Romanis Textbuch zu Pavesis Agatina weist derartig viele Ähnlichkeiten auf (unter anderem in den auftretenden Charakteren – Dandini und Alidoro sind reine Erfindungen Romanis gewesen und von Ferretti einfach übernommen worden), dass Ferrettis Version sogar mit dem Vorwurf des Plagiats verunglimpft wurde. Die Annahme, dass Rossini und alle Beteiligten wohl einiges an Lampenfieber durchlitten haben dürften, liegt nahe, zumal manches erst im allerletzten Moment fertig wurde. Das Duett von Dandini und Magnifico »Un segreto d’importanza« beispielsweise entstand rund 24 Stunden vor der Uraufführung und wurde erst am Tag der Premiere einstudiert und geprobt. Schließlich kam es mit einem Monat Verspätung am 25. Jänner 1817 zur Uraufführung. Laut Ferretti tropfte den Sängern bei dieser ersten Cenerentola-Aufführung der »Todesschweiß von der blassen Stirn« und so manche Musiknummer wurde von Publikum gnadenlos ausgepfiffen. Der ursprüngliche, von Ferretti angedachte Titel sowie der Name der Titelfigur musste musste übrigens auf Druck der Zensur von Angiolina auf Angelina geändert werden, da zur damaligen Zeit eine stadtbekannte Angiolina mit einer Reihe von aufsehenerregenden Verführungen auf sich aufmerksam machte und eine Oper gleichen Namens als Anspielung missverstanden hätte werden können. Trotz des mangelnden Erfolges bei der Uraufführung war La cenerentola bald, wie Rossini es mit den Worten »Bevor der Karneval vorbei ist, wird man Cenerentola lieben« von Anfang an prophezeite, ein enorm populäres Stück, das im wahrsten Sinn des Wortes weltweit gespielt wurde: 1818 in Barcelona, 1820 in Wien und London, 1822 in Paris, 1825 in Berlin und Moskau, 1826 in Buenos Aires und New York, 1844 sogar in Australien. Abschließend sei noch ein Ausspruch des strengen Kritikerpapstes Eduard Hanslick erwähnt, da dieses Dictum sehr schön die Qualität von Cenerentola in einem Satz zusammenfasst: »Dieses italienische Aschenbrödel ist es in der Tat nur ihrem Kleide nach; ihr Gesang strotzt in Perlen, Samt und Seide.«

→ Nicola Alaimo als Don Geronio in Il turco in Italia

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Claire Delamarche

VOM FIASKO ZUM TRIUMPH

»Ah! Turcaccio maledetto!« »Ah! Verfluchter Türke!«, schimpft Don Geronio in Il turco in Italia (Quintett im zweiten Akt). Gioachino Rossini lag es gewiss nicht fern, dasselbe zu denken, als seine dreizehnte Oper an der Mailänder Scala mit Pfiffen aufgenommen wurde. Dieses Fiasko verwundert den Musikliebhaber des 21. Jahrhunderts immer noch. Seit der Dirigent Gianandrea Gavazzeni diese Opera buffa 1950 aus der Versenkung holte, mit der jungen Maria Callas in der Rolle der Fiorilla als Ass im Ärmel, zweifelt niemand mehr an deren Vorzügen. Wie kam es bei Rossini, der am Anfang seiner Karriere nur Triumphe feierte, zu diesem Missgeschick? Betrachten wir den Sachverhalt näher. Im Oktober 1813 schreibt der 21-jährige Rossini stolz an seine Eltern: »Ich bin das Idol von Mailand.« Und in dieser Zeit bedeutet die Anerkennung in Mailand, dass man der führende Komponist Italiens ist – auch wenn die CLA IR E DELA M A RCHE

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Halbinsel sich noch aus Staaten, Herzogtümern und Königreichen zusammensetzt. Ein Jahr zuvor, am 26. September 1812, stellte die Uraufführung von La pietra del paragone an der Scala das Mailänder Debüt des Komponisten dar, der bis dahin in Ferrara, Bologna, Rom und vor allem Venedig Beifall geerntet hatte. Mit 53 Wiederaufführungen in einer einzigen Karnevalssaison war Pietra ein Triumph. Die beiden folgenden Opern erzielten in Venedig einen ähnlichen Erfolg: Tancredi im Teatro La Fenice and L’italiana in Algeri im Teatro di San Benedetto. Mailand möchte am Ruhm des aufstrebenden Künstlers teilhaben. Der Impresario der Scala, Benedetto Ricci, gibt daher bei Rossini zwei neue Werke in Auftrag, wohingegen das bescheidenere Teatro Re sich für seine Eröffnung die Mailänder Aufführung zweier venezianischer Werke sichert. Und so stehen im Dezember 1813 am Beginn der Karnevalssaison zwei Opern von Rossini auf dem Spielplan der lombardischen Hauptstadt: an der Scala wird eine neue Opera seria aufgeführt, Aureliano in Palmira, während das Teatro Re seine Türen zum Klang von Tancredi öffnet. In einem Alter, in dem andere noch am Konservatorium sind, beginnt Rossini, beachtliche Gagen zu erhalten und verspricht seiner Mutter den Kauf eines kleinen Landhauses für die Familie. Aber Aureliano in Palmira wird mit großer Zurückhaltung aufgenommen, trotz der Mitwirkung des berühmten Kastraten Giovanni Battista Velluti. Für den zweiten Auftrag wählen Rossini und sein Librettist Felice Romani den sicheren Weg. Sie überarbeiten ein von Caterino Mazzolà 1788 geschriebenes Libretto, Il turco in Italia, und fügen eine Tenorstimme (Narciso) und eine Maskenballszene hinzu. Turco übernimmt das Rezept – heiteres Werk gewürzt mit einer Prise Exotik –, das den Erfolg von L’italiana in Algeri in Venedig und dann bei der Wiederaufnahme am Teatro Re im April 1814 ausgemacht hatte. Die Uraufführung von Turco am 14. August 1814 wird von Alessandro Rolla dirigiert, dem Soloviolinisten der Scala und ehemaligem Lehrer von Nicolò Paganini. Auf der Bühne sind einige der damaligen Stars versammelt: Filippo Galli (ein Getreuer Rossinis) als Selim, Francesca Festa-Maffei als Fiorilla, Luigi Pacini (der Vater des Komponisten Giovanni Pacini) als Geronio, Giovanni David als Narciso. Il turco in Italia wird noch frostiger aufgenommen als Aureliano. Die Zeitungen berichten, dass bei der Uraufführung ein Teil des Publikums das Theater schon in der Pause verlassen hat. Zunächst gibt man die Schuld dem gewagten Inhalt: nicht zufrieden damit, bereits einen Ehemann und einen Geliebten zu haben, bezirzt Fiorilla auch den Pascha Selim; und wenn sie am Ende des Werks brav zu ihrem alten Ehemann zurückzukehren scheint, ahnt man doch, dass der schöne Narciso nicht gänzlich von der Bildfläche verschwinden wird. Dann bringt Stendhal unter den Kritikern die Idee auf, dass Rossini das Mailänder Publikum reingelegt hat, indem er ein dem der Italiana so ähnliches Thema aufgreift. Er fasst die Angelegenheit in seinem Buch Vie de Rossini folgendermaßen zusammen: »Der Nationalstolz war verletzt. Sie gaben vor, 67

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dass Rossini sich selbst kopiert hatte. Man konnte sich diese Freiheit für Theater kleiner Städte nehmen; aber für die Scala, das führende Theater der Welt, wiederholten die guten Mailänder mit Nachdruck, musste man sich die Mühe machen, etwas Neues zu schaffen.« Wir wissen heute, dass L’italiana und Il turco trotz der oberflächlichen Ähnlichkeit ihrer Inhalte Werke von höchst unterschiedlicher Art sind. »Vier Jahre später«, schwächt Stendhal ab, »wurde Il turco in Italia wieder in Mailand aufgeführt und mit Begeisterung aufgenommen.« Der Misserfolg von Il turco in Italia bringt Rossini dazu, einer tiefgreifenden Veränderung in seinem Leben zuzustimmen: dem Umzug nach Neapel, um infolge einer Einladung des genialen Impresarios Domenico Barbaja das Teatro di San Carlo zu leiten. In Neapel – der im Turco noch imaginären Kulisse – wird Rossini seine Werke für Rom und sehr viele italienische und französische Theater schreiben, bis er sich 1823 endgültig in Paris niederlässt. Die Geschichte des Turco endet hier noch lange nicht. Während Rossini seine erste neapolitanische Oper Elisabetta regina d’Inghilterra vorbereitet (die am 4. Oktober 1815 im Teatro di San Carlo uraufgeführt wird) und L’inganno felice sowie L’italiana in Algeri auf einer anderen parthenopäischen Bühne, dem Teatro dei Fiorentini, wieder zeigt, wird Il turco im Teatro Valle in Rom am 7. Oktober 1815 aufgeführt, diesmal erfolgreich. Für diese Gelegenheit nimmt Rossini mehrere wichtige Änderungen vor. Er komponiert nicht zuletzt eine alternative Kavatine (Eingangsarie) für Fiorilla, »Presto amiche« (die er, kaum abgeändert, in La gazzetta wieder verwendet, die in Neapel 1816 uraufgeführt wird). Die päpstliche Zensur setzt einige Nachbearbeitungen durch und ändert den Titel in La capricciosa corretta – was nebenbei die ungünstigen Vergleiche mit L’italiana beendet. Turco erreicht anschließend weitere italienische und europäische Bühnen, in mehr oder weniger verstümmelten Fassungen. Am 18. Mai 1820 erscheint die am Théâtre Italien in Paris aufgeführte Partitur eher wie ein pasticcio nach barocker Mode; einige noch erhaltene originale Passagen sind erweitert durch eine Arie aus L’italiana in Algeri, einer weiteren aus Ciro in Babilonia sowie Stücken aus La cenerentola sowie einer vom römischen Komponisten Valentino Fioravanti ausgeborgten Arie. Das Werk stellt 1821 an der Scala seinen guten Ruf wieder her und wird bis Februar 1858 sporadisch in Rom aufgeführt, bevor es allgemein in Vergessenheit gerät.

Zeitgenössische Geschichte Ein Artikel von Gina Guandalini in der Zeitschrift L’ape musicale erwähnt eine Reihe von Aufführungen in den Vereinigten Staaten 1948, auf Betreiben des Musikwissenschaftlers Boris Goldovsky. Aber es handelt sich um englische Übersetzungen, deren Wirkung begrenzt bleibt. Die echte Wiedergeburt von Il CLA IR E DELA M A RCHE

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turco in Italia findet 1950 statt – dank dem Dirigenten Gianandrea Gavazzeni und dem Musikwissenschaftler Guido Maggiorino Gatti, dem Präsidenten des Anfiparnaso: während ihres einjährigem Bestehens gelang es dieser kurzlebigen Musikgesellschaft, zu deren Mitgliedern der Filmemacher Luchino Visconti und der Komponist Goffredo Petrassi gehörten, eine erstklassige Opernsaison im kleinen Teatro Eliseo in Rom zu organisieren, während der mehrere zeitgenössische Opern gezeigt wurden und am 30. Oktober 1950 Job, una sacra rappresentazione von Luigi Dallapiccola uraufgeführt wurde. So feiert am 19. Oktober 1950, nach einem Jahrhundert »Pause«, Il turco in Italia eine triumphale Rückkehr in der nunmehrigen Hauptstadt Italiens. Zwischen zwei Vorstellungen von Aida im Teatro Costanzi, dem römischen Opernhaus, geht die junge 27-jährige Maria Callas (die auch an einer Konzertversion des Parsifal im Auditorium des RAI mitwirkt) die Via Nazionale hinunter, um im Eliseo Fiorilla zu verkörpern. An ihrer Seite genießt man Mariano Stabile (Toscaninis Falstaff ), Cesare Valletti und Franco Calabrese. Gianandrea Gavazzeni dirigiert das Ganze in Kulissen, die ebenso wie die Kostüme vom Maler und Graveur Mino Maccari geschaffen wurden. Der Erfolg dieser Wiederaufnahme bringt Gavazzeni dazu, das Werk auf der Bühne aufzuführen, für die es geschrieben wurde, der Scala, diesmal mit Nicola Rossi-Lemeni und Nicolai Gedda an der Seite von Callas, Valletti und Stabile. Der Dirigent organisiert zunächst eine Tonaufnahme im Sommer 1954, dann folgt die szenische Wiederaufführung im Frühling 1955 unter der Regie sowie mit Kulissen und Kostümen von Franco Zeffirelli. Fünf Jahre nach den vier Aufführungen in Rom präsentiert die Callas (die zwei Monate später, auch an der Scala, die legendäre Traviata von Carlo Maria Giulini sein sollte) eine außergewöhnlich verfeinerte Silhouette nach einer drakonischen Abmagerungskur. Für seine Diva entwirft Zeffirelli prächtige Gewänder; das erste wurde aus dem roten Damastsatin angefertigt, das die Logen der Scala ziert und von dem noch Stoffmuster der Nachkriegsrestaurierung erhalten waren. Die Vorstellung ist ein Triumph, für die Darsteller wie für die Autoren: Rossini und Romani gelten von da an als Erfinder eines brillanten modernen Musiktheaters, das Pirandello und sein Stück Sechs Personen suchen einen Autor (1921) erahnen lässt. Turco setzt 1957 zum Höhenflug beim Edinburgh Festival an und kommt im folgenden Jahr wieder nach Mailand zurück, an die Piccola Scala, mit Eugenia Ratti als Fiorilla, Sesto Bruscantini als Selim und Luigi Alva als Narciso. Il turco in Italia wird, gemeinsam mit Il barbiere di Siviglia, der einzige Abstecher der Tragödiendarstellerin Maria Callas ins Repertoire der Opera buffa sein. In Rom zeigt das Teatro Costanzi Il turco in Italia zwei weitere Male, im Jänner 1969 (mit Graziella Sciutti, Alberto Rinaldi und Paolo Montarsolo) sowie im März 1983. Aber es sollten vierzig Jahre vergehen, bevor das Werk wieder an der Scala aufgeführt wird: im März 1987 auf Betreiben von Riccardo Chailly. Im darauffolgenden Jahr zeichnet Decca diese Produktion auf. Auf der 69

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Schallplatte überlässt Mariella Devia ihren Platz der Interpretin, die gerade ihr aufsehenerregendes Debüt in der Opernwelt im Allgemeinen und beim Belcanto Rossinis im Besonderen gegeben hat: Cecilia Bartoli. Diese Wiederaufführung an der Scala ist umso bedeutender, als sie einhergeht mit der ersten kritischen Ausgabe von Turco. Diese wurde der Britin Margaret Bent anvertraut und nimmt ihren Platz in der von der Rossini-Stiftung in Pesaro in Zusammenarbeit mit der Casa Ricordi, dem wichtigsten Mailänder Musikverlag, veröffentlichten Reihe von kritischen Ausgaben ein.

Das Libretto »Vorbei ist‘s mit den Ränken, mein Schauspiel hat ein glückliches Ende. Und so zufrieden wie ich wird vielleicht auch das Publikum sein! Bleibt zufrieden: Lebt glücklich und lehrt alle, dass ein Fehler unbedeutend ist, wenn daraus die Liebe umso schöner ersteht.« So endet das Libretto von Il turco in Italia, mit den Worten des Dichters Prosdocimo und den Personen, die er herangezogen hat, um seine Opera buffa ausgehend vom Auf und Ab ihrer Leben zu entwickeln. Das Thema ist nicht neu. Türkische Motive sind seit mehr als einem Jahrhundert in Mode – denken wir neben L’italiana in Algeri auch an Der Bürger als Edelmann von Molière und Lully aus dem Jahr 1670 oder, damals aktueller, Mozarts Die Entführung aus dem Serail von 1782. Überdies greift Felice Romani weitgehend ein Libretto aus dem späten 18. Jahrhundert auf, von dem er den Titel und die Namen der meisten Personen beibehält: Il turco in Italia, geschrieben vom Hofdichter Caterino Mazzolà und vertont von Franz Seydelmann, wurde 1788 an der Dresdener Hofoper uraufgeführt und 1794 in Prag wieder gezeigt, mit einer neuen Partitur von Franz Xaver Süßmayr (dem Mozartschüler, der dessen Requiem vollendet hatte). Mit 25 Jahren steht Felice Romani noch am Anfang seiner Karriere; aber er sollte bald der wichtigste Librettist seiner Generation werden. Er hinterlässt neunzig Libretti, von denen die meisten von mehreren Komponisten vertont wurden. Man findet darunter sieben der zehn Opern Bellinis (nicht zuletzt Norma) sowie L’elisir d’amore, Anna Bolena oder Lucrezia Borgia von Donizetti. Rossini und Romani arbeiten Hand in Hand bei der Modernisierung von Mazzolàs Libretto: die Aufeinanderfolge der Rezitative und Arien, aus der sich eine ständig unterbrochene Handlung ergibt, weicht einer flüssigeren Anordnung, in der die Ensembles einen entscheidenden Platz einnehmen. Die Personen werden so nicht mehr nur durch ihre eigenen Leidenschaften charakterisiert, sondern durch ihre Interaktionen innerhalb der Gruppe. Der einzige Charakter, für den die Arien eine echte dramaturgische Rolle spielen, ist die Hauptfigur Fiorilla mit drei Soli, von denen das letzte (das Accompagnato-Rezitativ und die Arie »I vostri cenci vi mando / Squallida veste e CLA IR E DELA M A RCHE

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bruna« am Ende des zweiten Akts) monumental ist. Die Rezitative haben eine lobenswerte Prägnanz, und gewisse besser ausgearbeitete Szenen stellen wahre Komik unter Beweis – besonders jene, in der Fiorilla Selim einlädt, bei ihr Kaffee zu trinken: zwischen der verliebten Verzückung, die bei Selim durch die einfache Frage »Haben Sie genug Zucker?« ausgelöst wird, und dem plötzlichen Auftauchen des gehörnten Ehemanns, den Fiorilla letzten Endes dazu zwingt, vor dem Rivalen untertänig zu katzbuckeln, sind alle Zutaten für eine gute Posse vorhanden. Dennoch betrachtet der Zuseher, dem Beispiel des Dichters folgend, die Figuren mit einer gewissen Distanz. Die so launenhafte und unbeständige Fiorilla zieht nicht unsere Bewunderung auf sich, wie es die tugendhafte Isabella (L’italiana in Algeri) konnte noch unsere Sympathie, wie es die durchtriebene Rosina (Il barbiere di Siviglia) oder die unglückliche Angelina (La cenerentola) vermochten. Keine der männlichen Figuren hat das stattliche Auftreten oder die Findigkeit eines Figaro (Il barbiere di Siviglia), und Geronio ist ziemlich harmlos verglichen mit Mustafà (L’italiana in Algeri), Bartolo (Il barbiere di Siviglia) oder Don Magnifico (La cenerentola). Im Aufbau der Opera buffa des Dichters erscheinen die Protagonisten eher wie Archetypen – der Türke, die Kokette, der lächerliche alte Ehemann, der Galan – denn als Personen aus Fleisch und Blut. Das ständige Hin und Her zwischen Realität und Fiktion macht den Charme von Turco aus, aber es hält den Zuseher auch davon ab, sich völlig in den Bann des Dramas ziehen zu lassen.

Die Partitur Eine der Hauptaufgaben von Margaret Bent bei der Erstellung der kritischen Ausgabe war es, zu unterscheiden, was wirklich von Rossini stammt. Im eigenhändig verfassten Manuskript der Mailänder Originalversion, die noch in den Archiven der Casa Ricordi erhalten ist, merkt man, dass mehrere Stücke von einer anderen Hand geschrieben wurden: alle Secco-Rezitative (d.h. jene, die lediglich von einem Generalbass begleitet werden, ohne Orchester), die Kavatine von Don Geronio (»Vado in traccia d’una zingara«), die »Aria di sorbetto« (Arie einer Nebenfigur, ohne Einfluss auf die Handlung, während der die Zuschauer Getränke und Eis zu sich nehmen konnten, ohne etwas zu verpassen) von Albazar im zweiten Akt (»Ah! sarebbe troppo dolce«) und das gesamte Finale des zweiten Akts (»Son la vite sul campo appassita«). Dieselbe Hand komponierte die Rezitative einer anderen an der Scala uraufgeführten Oper von Rossini, La gazza ladra (1817), was den Verdacht auf Vincenzo Lavigna lenkt, maestro al cembalo (Cembalist) der Scala zu dieser Zeit und zukünftiger Lehrer von Giuseppe Verdi. Die Vorgehensweise war damals relativ üblich, besonders bei einem Komponisten, der in einem so beständigen Tempo wie Rossini schrieb. Gewiss war der Komponist durch 71

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die Geschwindigkeit ausgelastet: Obwohl er bereits in den vorangegangenen Jahren in einem entfesselten Rhythmus eine Oper nach der anderen verfasst hatte, schienen ihm die fünf Monate von April bis August 1814, die er zum Schreiben der Musik zur Verfügung hatte, nicht zu reichen. Der Stil dieser »fremden« Stücke unterscheidet sich in mehreren Gesichtspunkten von Rossinis. Dennoch dürfte dieser damit zufrieden gewesen sein, da er sie bei weiteren Wiederaufführungen nicht ersetzt hat. Die leichte Abweichung im Stil erklärt nicht, warum Il turco in Italia fast ein Jahrhundert lang von der Bildfläche verschwunden ist. Eine ungerechtfertigte Abwesenheit, da das Werk eine vielversprechende Wende im Schaffen Rossinis darstellt, weil es mit den Stereotypen der Opera buffa bricht: mehr Ensembles, Zynismus, Helldunkel; die Komik weniger zügellos, ein nicht so wilder Rhythmus, sondern hier und dort Sätze von erlesener Lyrik und Sanftheit. Kurz gesagt, eine köstlich bittersüße Mischung in der Art der gemeinsamen Werke von Mozart und Da Ponte (Die Hochzeit des Figaro, Don Giovanni, Così fan tutte). Gewiss ist es diese Mischung der Genres, die ihm die Geringschätzung der Zuseher einbrachte. Denn dadurch, dass Abstand von der Komödie gewollt war, fehlt Turco die unwiderstehliche Komik der drei Stücke, in deren Schatten es steht und die nie lange aus dem Repertoire genommen wurden: L’italiana in Algeri und vor allem die beiden für Rom verfassten Meisterwerke Il barbiere di Siviglia (Teatro Argentina, 1816) und La cenerentola (Teatro Valle, 1817). Il turco in Italia beginnt mit einer belebenden Ouvertüre, die zu den berühmtesten von Rossini zählt. Sie besteht aus zwei Sätzen. Im ersten, langsamen (adagio) hält sich das Horn für eine prima donna mit einer weiten, ausgeschmückten Melodie. Der zweite, lebendige (allegro) Satz beruht auf abgehackten, in die Höhe schnellenden Takten, deren Energie sich ansammelt bei den charakteristischen »rossinischen Crescendos«. Der türkische Stil, der die Ouvertüre von Italiana so angenehm verfeinerte, beschränkt sich hier auf kräftige Schläge auf die Pauke und Becken. Ab der Kavatine von Don Geronio (»Vado in traccia d’una zingara«) wird die Originalität von Turco offenbar. Es beginnt als traditionelle Buffa-Arie für den Bass, mit Silbengesang und recto tono (Gesang, bei dem eine Note konstant gehalten wird), aber als Zaida und die Romnija beginnen, ihm die Zukunft vorauszusagen, verwandelt sich die Arie in ein Duett mit Chor. Geronios Stottern (»tutto, tutto, tutto«) geht im Lachen der Romnija unter, in einem brillanten Kontrapunkt. Gewisse Passagen dieses Stücks sind so typisch für Rossini und deuten bereits (wenn auch noch bescheiden) auf die Arie »La calunnia è un venticello« aus Il barbiere di Siviglia hin, dass man das Recht hat, sich zu fragen, inwieweit die anonyme Hand, die diese Arie schrieb, nicht doch vom maestro ferngesteuert wurde. Das nächste Stück ist nicht weniger originell, da vier verschiedene Stimmen sich ohne den Einsatz von Rezitativen ineinanderfügen. Es beginnt mit CLA IR E DELA M A RCHE

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Fiorillas Kavatine »Non si dà follia maggiore«, einer formgerechten Da-Capo-Arie (d.h. in drei Abschnitten, von denen der dritte die Reprise des ersten darstellt). Aber diese akrobatische Arie der prima donna mündet in einer suggestiven Note, wenn Fiorilla, auf den sanften Wogen des Orchesters, das Boot mit den Türken näherkommen sieht. Dieser Chor (»Voga, voga, a terra, a terra«) geht nahtlos über in Selims »Kavatinetta« (kleine Kavatine) »Bella Italia, alfin ti miro«, welche ganz allmählich hinübergleitet in das Duett, während dem Fiorilla und Selim einander kennenlernen und bezaubern. Die Musik folgt allen Stationen ihrer Liebe auf den ersten Blick, bevor sie in unsinnigen Koloraturen schwelgt (»Che bel turco / Serva! – Servo!«). Im ersten Akt werden dann in der Folge Arien vermieden, da die letzten vier Passagen Ensemblestücke sind: es folgen aufeinander das Terzett »Un marito scimunito!« mit ständigem Stimmungswechsel und geschicktem Aufbau (das Anfangsmotiv aus vier langen Noten, das oft dem Finale von Mozarts »Jupiter«-Sinfonie nahekommt, tritt sowohl als Thema als auch als begleitender Bass auf ), das beeindruckende Quartett »Siete turchi, non vi credo«, das Duett »Per piacere alla signora«, wo die faszinierende Fiorilla fleht, sich ziert, schimpft und schließlich den armen Geronio verschaukelt sowie abschließend das Finale »Gran maraviglie«, ein Stück von noch nie dagewesenem Ausmaß, das entlang vieler Wendungen fortschreitet bis hin zur mächtigen Schluss-Stretta. Das Gleichgewicht kehrt sich im zweiten Akt um, in dem die Arien die Vorrangstellung einnehmen. Es handelt sich aber doch um ein Duett, das nach dem Aufgehen des Vorhangs zu hören ist. So wie jenes von Fiorilla und Geronio stimmgewaltig war, mit der Überfülle an vom Sopran entfesselten Koloraturen, so ist dieses theatralisch. Zum ersten Mal seit seiner Ankunft hört Selim auf, den noblen Bass zu gebrauchen und kippt, angesteckt vom lächerlichen Geronio, in die Rolle des Narren. Blind vor Wut, die durch einen absurden Vorwand ausgelöst wurde (Selims Vorschlag, Geronio Fiorilla abzukaufen), wetteifern die beiden Männer in einem immer wilder werdenden Strudel. Das Stück übernimmt nun die üblichen Methoden des Opera-buffaStils: die Worte scheinen wie aus der Maschinenpistole geschossen zu kommen, mit syllabischer Textverteilung (eine Note pro Silbe) und staccato (von einander losgelöste Noten), oft wiederholten einsilbigen Wörtern (»No, no, no, no«), einem recto tono Gesang (auf derselben Höhe), brutalen Akzenten, und um dem Ganzen Schwung zu geben, Rossinis berühmte Crescendos, bei denen das Orchester zwischen zwei wechselnden Akkorden hin und her steigt wie bei einer Feder, die man spannt und so eine Energie aufbaut, die sich schlussendlich entlädt. Dieses Duett fand die Bewunderung Stendhals, der in seinem Vie de Rossini nicht ohne Chauvinismus kommentiert: »Nie haben Mozart und Cimarosa etwas so Lebendiges und so Leichtes wie das Duett »D’un bell’uso di Turchia« aus Il turco in Italia geschaffen. Dies ist französisch in seinem schönsten Ausdruck.« 73

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Fälschlich als »Chor und Kavatine« bezeichnet, obwohl es nicht Fiorillas erste Arie ist, hat »Non v’è piacer perfetto / Se il zefiro si posa« kaum eine andere Bedeutung als die einer netten Einlage. Im Grunde genommen entwickelt sich die gesamte Abfolge der Stücke bis »Amor la danza mova« in diesem dekorativen Charme, ohne größere Aussagekraft oder dramaturgische Wichtigkeit (die Handlung wird von den Rezitativen übernommen). Mit Ausnahme des Duetts von Selim und Fiorilla, »Credete alle femmine«, einem virtuosen verbalen und vokalen Schlagabtausch, handelt es sich um Arien, von denen man annimmt, dass sie wegen der geltenden Theaterkonventionen erforderlich waren (d.h. die Anzahl von Arien und Ensemblestücken, die den Figuren aufgrund ihrer stimmlichen Hierarchie zustanden), über die sich Donizetti in seiner Opera buffa Le convenienze ed inconvenienze teatrali (1827) so herrlich lustig gemacht hatte. Man weiß, dass Narcisos Arie »Tu seconda il mio disegno« nicht Teil von Rossinis ursprünglichem Konzept war und anlässlich einer der ersten Aufführungen an der Scala hinzugefügt wurde, um dem Tenor Giovanni David einen Gefallen zu tun. Das Quintett der Maskierten, das auf diese lange Reihe von Arien und Duetten folgt, stellt einen der Höhepunkte des Werks dar, durch seinen Umfang und seine musikalische Qualität. Der erste Abschnitt besteht größtenteils aus einem schönen a cappella-Quintett, bei dem Rossini brillant die fünf Hauptfiguren charakterisiert: die zwei Liebespaare, das eine schrill – Fiorilla und Narciso, das andere ernst – Zaida und Selim und ihnen gegenübergestellt der arme Geronio. Wenn Letzterer hier zu einem recto tono und staccato Gesang übergeht, dann auch, um seine Ratlosigkeit zum Ausdruck zu bringen und nicht nur für die komische Wirkung. Im Quintett wird Geronio nicht mehr von Rossini vorgeführt: wenn die Szene auch Anlass zum Lachen gibt, weckt die Figur doch das Mitgefühl des Zusehers. Das Tempo nimmt zu, während die Handlung sich immer mehr verwickelt, das vielstimmige Gewebe sich mit der Rückkehr des Orchesters verdichtet und dann dem Einstimmen des Chors und Geronios sich schrittweise von der Verunsicherung zur Wut steigert, so dass er schließlich den »verdammten Türken« anprangert, der den Ursprung dieses Chaos darstellt. Ab dem imitierten allegro »Questo vecchio maledetto« lassen die beschwingte Ausarbeitung der Stimmen, in Staccato-Noten, und die Kunstfertigkeit des Kontrapunkts das außergewöhnliche Finale im Park von Windsor aus Verdis Falstaff (1893) erahnen: eine weitere nächtliche Maskeradenszene, die reich an Verwechslungen ist. Die nun folgende Arie von Fiorilla ist viel mehr als nur eine weitere Perle auf der schönen Arien-Kette im zweiten Akt. Es handelt sich um eines der erstaunlichsten und bemerkenswertesten Stücke der Partitur. Vom Lesen des Briefs bis zum Schlussakkord steht die prima donna fast zehn Minuten lang im Vordergrund der Szene, in denen die Aufmerksamkeit nie nachlässt. Es beginnt mit einem Accompagnato-Rezitativ, also vom Orchester begleitet. Dann entfaltet sich die Arie, gegliedert durch die Einsätze des Chors und CLA IR E DELA M A RCHE

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Prosdocimos, in drei großen Abschnitten in einer immer überschwänglicher werdenden Vokalität bis hin zum finalen Feuerwerk. Der bel canto erreicht hier seinen Höhepunkt in einer großartigen Ausarbeitung, die gleichzeitig das samtige Timbre, die elegante Phrasierung und die wirkungsvollste Virtuosität gegenseitig in ihrer Wirkung verstärkt. Nach diesen beiden grandiosen Stücken stellt das Finale des zweiten Akts einen Rückschritt dar. Es stammt, wie wir wissen, nicht von Rossini, als ob der Autor, nachdem er einen Weg in die Zukunft des lyrischen Dramas sowie mit dem Quintett und Fiorillas Arie in die ernste Richtung eröffnet hatte, nicht wusste, was er mit dem lieto fine, dem unumgänglichen Happy End des Opera-buffa-Genres anfangen sollte. Dieses schön aufgebaute Stück neigt dazu, in Richtung Mozart zu blicken. Es ist kurz im Gegensatz zum breit ausgeführten Finale des ersten Akts (und Rossini kürzte es dann noch mehr für Rom): Auf das Terzett der (vom Dichter beobachteten) Versöhnung zwischen Fiorilla und Geronio folgt eine kurze Szene, die den Chor und die verschiedenen Protagonisten versammelt, um das Werk mit wiedererlangter Freude, Moral und Frieden abzuschließen. Der Eindruck, der nach dem Senken des Vorhangs bleibt, ist gänzlich anders als bei Italiana. Im Turco findet sich nicht dieser Wahnwitz, den Stendhal bei jeder Abweichung von seinem angeblichen Vorbild feststellte. Im Übrigen sind die türkischen Elemente nur ein vager Vorwand: außer bei Selims Namen und seinem Aufzug ist die Exotik weder in der Geschichte noch in der Musik präsent, während Italiana davon durchdrungen war. Turco ähnelt eher einem bürgerlichen Drama in der Art, wie es Il barbiere di Siviglia sein wird. Aber es hinterlässt einen bittereren Nachgeschmack. In Italiana läuft die ganze Handlung auf das Wiedersehen zwischen Lindoro und Isabella hinaus, genauso wie der Aufbau von Barbiere derart gestaltet ist, dass am Ende, trotz zahlreicher Hindernisse, der Graf und Rosina heiraten können. Im Turco finden die beiden Paare wieder zueinander, aber wie lange? Narciso zieht sich zurück, Fiorilla bereut, aber wird die Langeweile sie nicht bald wieder ergreifen neben diesem alten Ehemann, mit dem sie nicht sehr viel gemeinsam hat? Zaida und Selim kehren zusammen in die Türkei zurück, aber werden Selims schwacher Charakter und die Wankelmütigkeit, die er das gesamte Werk hindurch an den Tag gelegt hat, ihm nicht noch gefühlsmäßig übel mitspielen? Im Lauf der Partitur wurde der Zuseher oft davon abgehalten, lauthals zu lachen. Das lieto fine verschafft ihm auch keine eindeutige Erleichterung. Und es wird keinen Turco 2, die Rückkehr geben, um uns, so wie es Beaumarchais (und nach ihm Mozart) in Die Hochzeit des Figaro in Bezug auf Barbier von Sevilla gemacht hat, zu erzählen, was aus den Figuren geworden ist. → Folgende Seiten: Giovanni Romeo als Prosdocimo in Il turco in Italia

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Arnold Jacobshagen

MIT HISTO­RI­SCHEN AUGEN UND OHREN

Was erwartete man zur Rossini-Zeit von einer Opernvorstellung?


Wer heute eine Oper besucht, weiß, was ihn erwartet: Das Publikum wird fast immer ein Werk zu hören und zu sehen bekommen, das zwischen hundert und dreihundert Jahre alt ist. Und die allermeisten Opern, die heute gespielt werden, zählen zu einem überschaubaren Kanon von einigen Dutzend sogenannter Meisterwerke, die das feste Repertoire auf der ganzen Welt bilden. In Italien sah dies im frühen 19. Jahrhundert völlig anders aus. Ein stabiles Repertoire gab es noch nicht. Bestenfalls befand sich ein solches soeben erst im Prozess des Entstehens. Tatsächlich ist Gioachino Rossinis 1816 in Rom uraufgeführter Barbier von Sevilla die erste Oper überhaupt, die sich seit ihrer Uraufführung bis in die Gegenwart in Italien ununterbrochen auf den Spielplänen behaupten konnte. Mit Rossini beginnt somit ein neuer, bis heute anhaltender Abschnitt der Operngeschichte: die Geschichte des Repertoire-Theaters. Rossinis Auftreten wurde in der damaligen Opernwelt als Zäsur empfunden, wie schon den ersten Zeilen von Stendhals 1824 erschienener Biografie (Vie de Rossini) zu entnehmen ist: »Seit Napoleons Tod gibt es einen anderen Mann, dessen Name jeden Tag in Moskau wie in Neapel, in London wie in Wien, in Paris wie in Kalkutta in aller Munde ist. Der Ruhm dieses Mannes kennt keine anderen Grenzen als die der zivilisierten Welt.« Will man sich eine Vorstellung über konkrete Opernaufführungen und ihre materiellen Voraussetzungen im frühen 19. Jahrhundert machen, kann man sehr unterschiedliche Quellen zu Rate ziehen: Zeitungsberichte und Kritiken, musikalisch-poetische Traktate, theatergeschichtliche Abhandlungen, persönliche Berichte von Zeitzeugen, Verträge von Theaterunternehmern oder Sängern und vieles mehr. Nicht wenige Merkmale der italienischen Oper beruhten zugleich auf Konventionen und Erfahrungen, die für das damalige Publikum so selbstverständlich waren, dass sie selten oder gar nicht schriftlich festgehalten wurden. Das historische Phänomen des damaligen »Rossini-Fiebers« lässt sich besser verstehen, wenn man das Ausmaß des Erfolges anhand der Aufführungszahlen ermittelt und mit denen anderer Komponisten seiner Zeit in Beziehung setzt. Eine besonders aufschlussreiche Quelle zur Spielplanstatistik der italienischen Oper bildet der zwischen 1764 und 1823 jährlich erschienene Indice de’ teatrali spettacoli, ein umfassender Theateralmanach, der sich an die professionellen Theaterschaffenden richtete und die Opernaufführungen im ganzen Land dokumentierte. Die Auswertung der Jahrgänge 1819 bis 1823 ergibt, dass unter den zwölf damals meistgespielten Opern allein neun von Rossini stammten. Die Reihenfolge der Beliebtheit entsprach bereits weitgehend den heutigen Vorlieben: An der Spitze steht Il barbiere di Siviglia, gefolgt von La cenerentola, La gazza ladra, Il turco in Italia und L’italiana in Algeri. Bei diesen Werken handelt es sich ausschließlich um komische Opern. Sie waren schon damals deutlich beliebter als Rossinis Opere serie, von denen mit Eduardo e Cristina, Torvaldo e Dorliska, Matilde di Shabran und La donna del lago immerhin vier auf den weiteren Plätzen folgen. 79

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Das Koordinatensystem des italienischen Opernbetriebs orientierte sich lange Zeit an den Antagonismen ernster und komischer Genres, die umgangssprachlich mit den beiden Bereichen der Opera seria und der Opera buffa identifiziert wurden. Diese Bezeichnungen treten indes in »offiziellen« Texten, z.B. Librettodrucken oder Werken der Musiktheorie erst relativ spät in Erscheinung. Als offizieller Gattungsterminus der ernsten Oper herrscht »Dramma per musica« bis ins frühe 19. Jahrhundert vor, ehe sich allgemein die Bezeichnung »Melodramma« durchzusetzen begann. Komische Opern wurden in den Quellen zumeist als »Dramma giocoso per musica« oder »Commedia per musica« bezeichnet. Pietro Lichtenthals Dizionario e Bibliografia della musica (1826) zufolge befasst sich die Opera seria ausschließlich »mit erhabenen Charakteren, großartigen Handlungen, starken Leidenschaften und bevorzugt historische Themen, z.B. aus dem antiken Griechenland, dem alten Rom, den Zeiten der Ritter und der Helden des Nordens. Die interessantesten Situationen sind den Gesangsnummern vorbehalten. Der Chor ist ein wichtiger Teil und trägt stark und kraftvoll zum Ganzen bei.« Demgegenüber wird für die Opera buffa eine einfachere musikalische Faktur und zugleich eine größere Freiheit in der Wahl der Mittel postuliert: »Obwohl der Zweck der komischen Oper darin besteht, zu unterhalten und bisweilen zum Lachen zu bewegen, schickt es sich nicht, die Prinzipien des guten Geschmacks zu vernachlässigen; es ist auch notwendig, die Grenzen des sogenannten edlen Buffostils vom mittleren Charakter und der groben Karikatur zu unterscheiden. Die komische Oper gewährt eine größere Freiheit in der Wahl der Gesangsmelodien; die Harmonik ist weniger kompliziert als in der Opera seria, und die Instrumentierung ist ziemlich brillant. Eine solche Komposition erfordert auch leichte, populäre, klare, fröhliche und scherzhafte Melodien.« Die unterschiedlichen Stilhöhen von Opera seria und Opera buffa schlugen sich auch in den Anforderungen an die personelle und materielle Ausstattung einher, worauf in theaterrechtlichen Abhandlungen wie den Cenni teorico-pratici sulle aziende teatrali (1823) von Giovanni Valle sehr ausführlich eingegangen wird: »Da die Opera seria an der Spitze der Hierarchie der Theateraufführungen steht, erfordert sie Darsteller von herausragenden Fähigkeiten und den Namen eines gefeierten Komponisten; ein Libretto, das die für ein ernstes Thema gewünschten Qualitäten vereinigt […]; eine Anzahl von Chören, die ihr Metier und ihre Szenen kennen, so dass sie den Höhepunkt des Dramas nicht ins Lächerliche ziehen; eine Ausstattung, die die dramatische Wahrhaftigkeit in den Kostümen und dem historischen Ambiente der Handlung nicht verfehlt.« Gattungsunterschiede dienten zugleich der sozialen Distinktion. Der Opernbesuch galt nicht ausschließlich dem Genuss eines einzelnen musikdramatischen Kunstwerks, sondern erfüllte unterschiedliche gesellschaftliche Funktionen. Das Theater bildete einen Treffpunkt der Eliten und wurde mit A R NOLD JACOBSH AGEN

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bestimmten Erwartungen aufgesucht. Für die Durchführung der Opernspielzeiten schlossen die Theaterträger (z.B. Kommunen, Fürsten, Adelsgesellschaften, Privatpersonen) Verträge mit einzelnen Opernunternehmern, den sogenannten Impresari. Vertraglich wurde beispielsweise festgelegt, ob es sich um eine Seria- oder eine Buffa-Saison handeln sollte, denn hierfür waren unterschiedliche Sängerbesetzungen und Ausstattungsmerkmale erforderlich. In größeren Zentren blieben noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts einzelne besonders bedeutende Theater – etwa das Teatro Regio in Turin, das Fenice in Venedig und das San Carlo in Neapel – ausschließlich der Opera seria vorbehalten. Generell besaß gewöhnlich nur ein Opernhaus je Stadt das Privileg zur Aufführung ernster Opern. Darüber hinaus wurden Festlegungen hinsichtlich der Ausstattung der einzelnen Produktionen getroffen, die ebenfalls signifikante Gattungsunterschiede enthalten. An den führenden Theatern musste die Seria-Saison mit einer Uraufführung eröffnet werden, für die jeweils Komponisten, Librettisten und Sänger ersten Ranges (»di cartello«) zu verpflichten waren. Insbesondere zur Eröffnung der Karnevalssaison war eine größtmögliche Pracht der Inszenierung vorgeschrieben und wurde in konkreten Leistungsanforderungen vertraglich fixiert. Dies bedeutete, dass eine festgelegte Mindestanzahl wechselnder Dekorationen nicht unterschritten werden durfte, dass alle Dekorationen und Kostüme neu herzustellen waren, und dass die Gewänder der Handelnden aus Samt und Seide gefertigt sein mussten. Außerdem gehörten zu einer Seria-Produktion im frühen 19. Jahrhundert stets die Beteiligung eines Chores (üblicherweise aus mindestens sechzehn Sängern) sowie eines Balletts, das in der Regel im Anschluss an die Oper aufgeführt wurde. Oper wurde in Neapel generell nach dem Stagionesystem produziert (nur in Neapel gab es ein ganzjährig beschäftigtes künstlerisches Personal). Diese Spielzeiten waren auf einige Wochen bis etwa zwei Monate befristet. Die wichtigste Spielzeit eines Jahres war an fast allen großen Theatern die Karnevalsstagione. Sie dauerte gewöhnlich vom 26. Dezember bis zum Faschingsdienstag. Auch während des übrigen Jahres wurden an bestimmten Orten kürzere Opernspielzeiten abgehalten. Besonders verbreitet waren die Frühlingsstagione (Primavera) und die Herbststagione (Autunno). Mancherorts gab es auch Spielzeiten vor dem Advent (Avvento) und zu Pfingsten (Ascensione). Dass diese kurzen Saisonen an verschiedenen Orten zeitlich versetzt stattfanden, gehörte ebenfalls zu den Strukturmerkmalen des italienischen Produktionssystems und eröffnete den reisenden Sängerinnen und Sängern beinahe ganzjährige Auftrittsmöglichkeiten. Spielfreie bzw. nur eingeschränkt zur Disposition stehende Zeiten waren nur die Fastenzeit (Quaresima, zwischen Aschermittwoch und Ostern) sowie die heißen Sommermonate Juli und August. Gattungsspezifische Unterschiede gab es auch für die Dauer der musikalischen Einstudierung. So hatten die Sänger in einer Opera seria nach den 81

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Angaben von Giovanni Valle vom Erhalt der Noten fünfzehn Tage Zeit, ihre Partie zu studieren, bei einer Opera buffa hingegen nur zwölf Tage, bei einer Farsa gar nur acht Tage. Auch hier zeigt sich, dass die theaterrechtlich relevante Gattungshierarchie in erster Linie eine Prestigefrage war. Sowohl unter den Sängern als auch unter den Komponisten herrschte eine klare Hierarchie. Die Impresari der führenden Theater waren vertraglich verpflichtet, ausschließlich Opern der renommiertesten Komponisten zur Aufführung zu bringen. Junge Komponisten hatten es dagegen äußerst schwer, vergleichbare Aufträge zu erhalten, wie Giovanni Pacini in seinen Memoiren beklagte: Trotz der großen Erfolge seiner frühen Bühnenwerke war es ihm lange Zeit nicht gelungen, an einem der vier bedeutendsten Opernhäuser Italiens (Neapel, Mailand, Venedig, Turin) unter Vertrag zu kommen. Als »erstrangige Meister« galten an der Mailänder Scala im Jahre 1814 außer Rossini nur drei weitere Komponisten: Giovanni Simone Mayr, Ferdinando Paër und Joseph Weigl. Hinter ihnen rangierten vier »Meister der zweiten Klasse«, die zwar niedrigere Gagen erhielten, aber ebenfalls für Premieren engagiert werden konnten: Carlo Coccia, Vincenzo Federici, Pietro Generali und Stefano Pavesi. Alle anderen Komponisten gingen leer aus – und abgesehen von Rossini haben die Opern keiner seiner italienischen Zeitgenossen bis in die Gegenwart überdauert. Die Erwartungen des Publikums konzentrierten sich vor allem auf die Leistungen der Sängerinnen und Sänger. Daher war in der Oper des frühen 19. Jahrhunderts noch immer die Arie die vorherrschende musikalische Form, ehe das Übergewicht der Ensembles (insbesondere der Duette sowie der Introduktions- und Finalszenen), die immer größere Ausdehnung der Musiknummern und die fortschreitende Tendenz zur Durchkomposition die Bedeutung der vokalen Solonummern allmählich reduzierte. Zugleich kam es hierbei zu einer allmählichen Auflösung des Gegensatzes zwischen den geschlossenen musikalischen Nummern (Arie, Ensemble, Chor) und dem diese verbindenden Rezitativ. In Lichtenthals bereits erwähntem Musiklexikon (Dizionario e Bibliografia della musica, 1826) wird grundsätzlich zwischen den alten, zumeist einsätzigen Arienformen und der zwei- bis dreisätzigen »Aria moderna« unterschieden: »Eingeleitet von einem Rezitativ hatten sie fast immer ein Ritornell, nicht nur um den Hauptcharakter der Arie anzukündigen, sondern auch um die Aufmerksamkeit der Zuhörer zu wecken und den Darsteller etwas ausruhen zu lassen; dieses Ritornell entfiel aber, wenn die Leidenschaft so groß war, dass sie sich unmittelbar entladen musste; dann begann der Komponist mit einem Allegro vivo, das er mit immer neuen Mitteln zur Entfaltung brachte. Ganz anders ist die Form der modernen Arie. Eingeleitet von einem Secco- oder Accompagnato-Rezitativ oder auch allen beiden, besteht sie aus zwei oder auch aus drei Tempi, angefangen mit einem mehr oder weniger langsamen Satz und entsprechendem Ritornell, gefolgt von einem schnelleren A R NOLD JACOBSH AGEN

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Tempo, bisweilen auch mit Chor; abschließend mit der sogenannten Cabaletta, die sich – zumeist ebenfalls von Choreinlagen unterbrochen – mindestens zweimal vernehmen lässt.« Die Wiederholung der Cabaletta in der »Aria moderna« diente – hierin dem Da capo im 18. Jahrhundert vergleichbar – in erster Linie der Darstellung gesanglicher Virtuosität durch die Gelegenheit zur Verzierung und Improvisation. In dem Maße, wie die dramaturgische Akzeptanz solcher sängerischer Bravour als bloßer Selbstzweck im Laufe des 19. Jahrhunderts abnahm, wurde die schematische Anlage der Cabaletta als Problem empfunden, sodass zunächst ihre Wiederholung entfiel, ehe sie im letzten Jahrhundertdrittel ganz aus der Oper verschwand. Zur Zeit Rossinis – und damit auf dem Höhepunkt der Belcanto-Ära – waren die Cabaletta sowie ihre Wiederholung indes noch eine selbstverständliche Praxis. Auch sie diente der Prägung künstlerischer Hierarchien: Nur die Sängerinnen und Sänger ersten Ranges erhielten Arien dieses Typus und konnten sich in dieser exponierten Weise präsentieren. Und nur ihnen galt die ungeteilte Aufmerksamkeit eines Publikums, das mit dem Opernbesuch mannigfache musikalische, inszenatorische und gesellschaftliche Erwartungen verband.

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Norbert Abels

FAST EINE EURO­PÄISCHE ERFINDUNG

Vom Orient im Okzident oder Rossinis Demontage eines Topos


»Das ist der Orient, wie ihn der französische Dichter sah! Das ist der Orient der Bücher, von denen pro Minute eine Million gedruckt werden! Doch es gab weder gestern, noch gibt es heute so einen Orient und es wird ihn auch morgen nicht geben!« Nâzım Hikmet

»Kultur ist schlechthin etwas orientalisches«

»Nichts Bessers weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen Als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei, Wenn hinten, weit, in der Türkei, Die Völker aufeinander schlagen. Man steht am Fenster, trinkt sein Gläschen aus Und sieht den Fluss hinab die bunten Schiffe gleiten; Dann kehrt man abends froh nach Haus Und segnet Fried und Friedenszeiten.«

Rudolf Pannwitz

Goethe, Faust I.

I. Im Abseits Ganz unten, so hieß ein Mitte der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts veröffentlichtes, zutiefst berührendes Buch des Schriftstellers und investigativen Journalisten Günter Wallraff. Als türkischer Gastarbeiter namens Ali Sinirlioğlu stieg er für zwei Jahre herab »ins Abseits«, in den industriellen Hades der menschenverachtenden Ausbeutungsszenarien des Spätkapitalismus. Sein Bericht ging um die Welt. Unterlassungsklagen mehrerer Betriebe gegen ihn scheiterten. Vor allem aber hatte er die Finger auf eine Wunde gelegt, die seit Jahrhunderten niemals vernarbt war. Gemeint ist die Geschichte eines bereits vor der Neuzeit einsetzenden Verständigungsdefizits zwischen Orient und Okzident. Die Geschichte eines kulturellen Vexierbilds, das das Besondere zugunsten des vermeintlichen Ganzen ignoriert. Eines Ganzen, das keineswegs das Wahre ist. Die südanatolische Autorin Aysel Özakın sah bei allem Respekt für die sozialkritische Grundintention Wallraffs indessen auch in seinem Buch den eindimensionalen Blick des westlichen auf den östlichen Menschen. Den zum Wahrnehmungsraster mutierten Blick eines Europa auf ein obskures Kollektiv-Asien. Jenen europäischen Blick also, dem noch im engagierten Interesse für die Ausgebeuteten die Frage nach deren eigenem Selbstverständnis zu entgleiten drohte. Die Frage nach Menschen, die – so Aysel Özakın – nicht in den Westen gekommen sind, um dort zu lernen, »was Zivilisation 85

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ist«. Die sich jedoch auf den Status der schutzbedürftigen Angehörigen einer Minderheit reduziert erfahren, als bemitleidenswerte Objekte. Ein anderes Beispiel. Als nach den Fluchtbewegungen 2015, nach Formulierungen wie »Wir schaffen das«, »Der Islam gehört zu Deutschland« oder – dagegen haltend – »Deutschland schafft sich ab« Intendanten großer Opernhäuser beschlossen, just Mozarts deutsches Singspiel Entführung aus dem Serail, die Türkenoper par excellence mit dem Libretto von Johann Gottlieb Stephanie dem Jüngeren, auf den Spielplan zu setzen und mit türkischen Übertiteln zu versehen, mussten sie erfahren, dass ihr Unternehmen von türkischer Seite – auch türkisch übertitelt und anmoderiert – keine Resonanz erfuhr. Ein Werk, das immerhin im Auftrag von Kaiser Joseph II. angefertigt wurde zum Anlass des 100jährigen Jubiläums der Belagerung Wiens durch das in der Entsatzschlacht am Kahlenberg geschlagene Heer des Großwesirs und Oberbefehlshabers des Osmanischen Reiches Kara Mustafa Pascha, der zur Strafe für seine Niederlage mit einer Seidenschnur erdrosselt und dessen Haupt dem in Ostthrakien weilenden und dort zur Jagd gehenden Sultan zugesandt wurde. Man empörte sich von türkischer Seite zu Recht gegen den darin enthaltenen ethnischen Topos vom »Mohrenland«, gegen eine obskure Exotik des türkischen Harems. Ebenso auch gegen des »Muselmanns« Osmin Hasstiraden auf zu verbrennende Christenhunde. Und am wenigsten verschlug ein Muslim Bassa, der wieder zu einem wirklich von Herzen liebenden Fast-Christen-Menschen geriet. Solchem zwischen Idiosynkrasie und Idealisierung hin- und her oszillierendem Vexierbild vom Orient korrelierte in signifikanter Gleichzeitigkeit das Bild nomadisierender Gitanos, Zingari, Gitans oder Zigeuner, um diese aus gutem Grunde überholte Codierung ethnischer Herkunft hier nochmals und letztmalig zu erinnern. Des irischen Autors Colum McCanns tief bewegender Roman Zoli erzählt den Lebensweg einer außergewöhnlichen Romni aus Bratislava, einer starken und selbstbewussten Frau, eine Überlebende der nationalsozialistischen Verfolgung ihres Volkes. Eine Frau, die als Poetin, Sängerin und Sammlerin deren Musik verkörpert und damit in einer alten und vielfarbigen Tradition steht. »Die Entscheidung, etwas zu vergessen, kann das Überleben sichern, aber in diesem Augenblick wusste ich, dass ich für mein Überleben wieder singen musste… ich konnte die alten Lieder singen, die ich schon als Kind gelernt hatte.« Solche Affinität einer jahrhundertelang sowohl diskriminierten als auch mythisierten Gemeinschaft mit der musikalischen Sphäre artikulierte sich nicht zuletzt in der europäischen Operngeschichte des neunzehnten Jahrhunderts. Sie wurde unter nicht selten panoptischem und ressentimentgeladenen Blickwinkel nachgerade zu einem Topos der Ambiguität. Es handelt sich um Darstellungen exotisch anmutender Menschen, polarisiert angelegten Figuren zwischen Faszination und Verachtung, Zivilisationsresistenz und Picturesque, Pariaexistenz und Stammesdünkel, Laszivität und NOR BERT A BELS

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rassischem Eros und dergleichen mehr. Victor Hugos Esmeralda und Quasimodo erscheinen hierfür geradezu als prototypische Repräsentanzgestalten. Alteritätszuweisungen in berühmten Werken von Giuseppe Verdi, Georges Bizet oder Johann Strauß sind dafür weitere prominente Beispiele. Antiziganismus ist so alt wie Antisemitismus und Muslimfeindlichkeit und diesen Idiosynkrasien in vielerlei Hinsicht vergleichbar.

II. Vergessnes Bild 1814 wurde das reiche Milano wieder Österreich zugeschlagen, gehörte fast für ein halbes Jahrhundert bis zur verlustreichen Schlacht von Solferino nunmehr zum Lombardisch-Venezianischem Königreich. Zur gleichen Zeit tobte nach einem arabischen Aufstand der osmanisch-saudische Krieg unter Mahmud II. Zu dessen nicht ohne Härte durchgeführten Reformen gehörte auch die Auflösung der Janitscharen. Deren martialische Musik, von westlichen Tonsetzern wie dem Salzburger Mozart »kurz und lustig« gerne, aber äußerst frei adaptiert, war weiterhin beliebt. In den Musiktheatern erklang sie, wenn es in den sogenannten Türkenopern darum ging, den Orient zu charakterisieren. Beethovens nicht lange zuvor komponierter, mit rasantem vivace zu spielender Marcia alla turca erfreute sich so großer Beliebtheit wie der Kaffee, eine weitere Hinterlassenschaft der einstigen osmanischen Belagerung, vor dessen übermäßigem Genuss bereits auch musikalisch gewarnt wurde und der auch in Rossinis Türkenoper – »Olà, tosto il caffè« – eine gewisse Rolle spielt. Gesungen und gepfiffen wurde ein Schlager mit den Noten »C.a.f.f.e.e«. Franz Werfel sann dem hundert Jahre später noch nach: »Tschibuktürke auf dem Ladenschild, / Was verbeugt sich dein vergessnes Bild? / [...] Dieser Turban, der dich einst gerührt,/ Wird von dir unendlich fortgeführt....«. Am 14. August 1814 wurde am Teatro della Scala in der lombardischen Hauptstadt Milano Rossinis zweiaktige Opera buffa, bisweilen auch dramma buffo untertitelte Oper Il turco in Italia uraufgeführt. Wiederum, wie im Falle des etwas mehr als ein Jahr zuvor in Venedig uraufgeführten melodramma giocoso der so erfolgreichen L’Italiana in Algeri, ein Werk, das gleichfalls den inzwischen längst gängigen orientalisierenden Exotismus, die Lust am stilisierten Fremden, offenbart hatte. Die Uraufführung des später so bejubelten Stücks stieß auf deutliche Ablehnung. Die Intention des in all seinen Irrungen und Wirrungen verzwickten, aber mit kaum zu übersehender satirischer Grundierung versehenen Textbuchs Felice Romanis wurde schlechtweg nicht verstanden. Ein Grund dafür? Romani versetzte hier, auf die alte Shakespeare-Technik des Theater-im-Theater-Spiels zurückgreifend, dem bereits zur Mode gewordenem Orientgenre einen durchaus juvenalischen Hieb. Dieses Fremde freilich präsentierte sich in der neuen Buffooper aus einem gänzlich 87

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ungewohnten Blickwinkel. Romani bewies wie über ein Jahrhundert später wieder Luigi Pirandello in seinem antiillusionistischen, Realität und Fiktion durcheinanderwirbelndem Stück Sei personaggi in cercad’autore großen Mut. Um das bereits zum Stereotyp geworden Orientbild ironisierend zu brechen, ja zu persiflieren, griff er zum alten elisabethanischen Trick des Metatheaters. Ein Poet schreibt eine Oper, deren Handlung noch nicht feststeht, dessen Figuren aber bereits fixiert sind. Für etwas Neues wartet er auf eine Inspiration: »Ich muss ein komisches Stück schreiben und finde keinen Stoff? [...] Poeten jedweder Art haben längst Stücke geschrieben über einen einfältigen Ehemann und ein närrisches Weib...«. Als das Schiff des reichen bel turco im Hafen ankert und er abendländischen Boden betritt, gerät die Dramaturgie in Bewegung, und die Kontur des Ganzen taucht auf. Ein Rondell der Begehrlichkeiten. Die Wahrsagerin Zaida begehrt den Türken, der Fiorilla, die kokette Ehefrau Don Geronios begehrt, welche nicht zuletzt auch von ihrem Liebhaber Don Narciso – »uomo geloso e sentimentale« – weiterhin begehrt wird. Wer, so lautet die alte Frage auch in diesem Spiel-im-Spiel bekommt am Ende schließlich wen? Sowohl die an flamencoartigen Halbtonintervallen nicht sparende Arie der einstigen Sklavin und hernach zur Romni gewordenen Zaida wie auch die äolische, im dunklen e-Moll einsetzende Auftrittsmusik des in Neapel ankommenden türkischen Prinzen Selim greifen, hier aber schalkhaft gefiltert, zu den eingeschliffenen Topoi des Exotischen. Romani seziert mit beißendem Humor die kollektive Abwertung ethnisch oder rassistisch definierter Herkunft durch die öffentliche Meinung bzw. die kompakte Majorität und Rossinis Musik flankiert dies ebenso sarkastisch. Genau diesen dekuvrierten Opernorient übersah der von ihm so bewunderte Carl Maria von Weber, als er den Maestro mit den Worten kritisierte; »Heißa, Juheißa dududeldey da geht’s ja toll her; bin nicht dabey. Ist das eine Art Componisten? Seid ihr Türken, seid ihr noch Melodisten? Treibt man so mit der Tonkunst Spott?« Der von Romani als cleverer Kunstschaffender angelegte Poet spielt bewusst auf der Klaviatur der Vorurteile: »Come, zingari! per Bacco!«, ruft er und assoziiert dabei sofort das hedonistische Klischee: »Spaß, Gesang, Essen! Oh, was für eine schöne Einleitung könnte man daraus machen!«. Noch breitgetretener gerät dies in den Worten der lüsternen Ehefrau, wenn es ums Osmanische geht und erotische Haremsfantasien mit ihr durchgehen: »Ihr seid Türken [...] Ihr habt hundert Frauen um euch, ihr kauft sie und verkauft sie, wenn eure Glut erlischt.« In Joseph Roths hundertfünfundzwanzig Jahre nach der Uraufführung von Rossinis gewitzter Türkenoper post mortem erschienenem Roman Die Geschichte von der 1002. Nacht wird solches Orientklischee nochmals aufgerufen, um dann aber aufs Feinsinnigste gekontert zu werden durch das Okzidentbild eines orientalischen Herrschers. Im Redoutensaal des österreichischen NOR BERT A BELS

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Kaisers Franz Joseph himmeln die Damen den übers Meer angereisten und dann mit der Eisenbahn nach Wien beförderten Schah-in-Schah an. »Sie erschauerten leicht. Sie liebten den Schah, ohne es zu wissen. Sie liebten seine schwarze Pelerine, seine rote, silberbestickte Mütze, seinen krummen Säbel, seinen Großwesir, seinen Harem, alle seine dreihundertfünfundsechzig Frauen, seinen Obereunuchen sogar und ganz Persien: den ganzen Orient liebten sie. Der Herr von Persien aber liebte in dieser Stunde ganz Wien, ganz Österreich, ganz Europa, die ganze christliche Welt. [...] Wie unergründlich musste die Liebeskunst der Abendländer sein! Welch vertrackte Raffiniertheit, die Gesichter der Frauen nicht zu verhüllen! Was gab es in der Welt, das geheimer und entblößter zugleich sein konnte als das Antlitz einer Frau! Ihre halbgesenkten Augenlider verrieten und verbargen, versprachen und verwehrten, enthüllten und verweigerten.« Diesem liebenswerten Ausgleich längst verschlissener Topoi folgen im Roman wie in Rossinis Oper die skurrilsten Verwechslungs- und Vertauschungsszenen. Eine letzte, im französischen Exil entstandene Welt der Begegnung von Orient und Okzident. Eine Begegnung aber, die dennoch sowohl zurück- wie auch vorausweist auf eine mehr als tausendundein jährige Geschichte gegenseitiger Verkennung.

III. Europäische Erfindung Der Orient. Immerfort wurde er weniger als Orientierungs- denn als Vorstellungs- und Fantasieraum betrachtet: als unerschöpflicher Bildfundus, als das dem Okzident schlechterdings gegenübergestellte Fremde mit opak geschlossener Ideenwelt und zugleich unlimitiertem Illusionsreservoir. Um mit Edward W. Said zu sprechen: Der Orient also als »fast eine europäische Erfindung«, die – etwa bei Aischylos – bereits in der Antike zum hochstilisierten »Märchenland voller exotischer Wesen« das Andere repräsentierte. Dergleichen Projektionen lassen sich noch in den wissenschaftlichen Ergründungen der seit dem Ende des Aufklärungszeitalters aufkommenden und hernach sich verästelnden Orientalistik nachweisen; zweifellos auch in den seitdem aufblühenden Verzweigungen, darunter die Ägyptologie, die Osmanistik und die Turkologie. Eher selten geriet jene Vorstellung eines originären Consensus ins Blickfeld, die Goethe, eine prominente Sure erinnernd, im West-östlichen Divan in die Abbreviatur eines Vierzeilers gerückt hat: »Gottes ist der Orient!/ Gottes ist der Okzident!/ Nord- und südliches Gelände / Ruht im Frieden seiner Hände.« Ganz ähnlich umfasste Hugo von Hofmannsthal die Einheit des vermeintlich Auseinanderliegenden im Begriff der Komplettheit: Sie sei »das letzte Wort der Kultur, in der wir wurzeln: hier ist weder Okzident allein noch Orient allein; und wir gehören beiden Welten an.« 89

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A Sol oriens ist der genius loci der aufgehenden Sonne und Orientieren heißt, wörtlich übersetzt nach Osten ausrichten. Auf die von Herder ausgelöste Frage, wo denn der Orient liege, antwortete der junge Novalis kurz und bündig: »im fernen Morgenland / Von Wien ein wenig linker Hand«. Und Hugo von Hofmannsthal noch nannte Wien die »alte porta Orientis für Europa«. Skeptisch mag betrachtet werden, wie zählebig ein bizarrer Genrebegriff wie der der sogenannten Türkenoper sich bis in die Gegenwart aufrechterhalten konnte. Die viel seltener gebrauchten Pendants turkish opera, opéra turc oder opera turca stehen ihm an Vieldeutigkeit nicht nach. Gemeint ist in beiden Kategorisierungen ein nicht-türkisches Musiktheaterwerk mit türkischem bzw. orientalischem Sujet. Die Ambiguität solcher Etikettierung war von Anfang an dem an Vagheit kaum zu übertreffenden und dem inzwischen verstaubten Genrebegriff der Türkenoper eigentümlich. Sie wurde zum Sammelsurium kaum zu überblickender geopsychologischer Zuweisungen; zur alles und nichts bedeutenden Plattitüde – ebenso wie zuvor schon das Vexierbild des Türken zum Synonym des Morgenländischen – oftmals mit aggressivem Unterton. »Unsere Vorfahren zogen fleißig wider den Türken; und das sollten wir noch tun, wenn wir ehrliche Kerls, und gute Christen wären«, rät dementsprechend in Lessings Minna von Barnhelm der draufgängerische Wachtmeister Werner. Oder, um nochmals bei Lessing zu bleiben, mit hedonistischem Klischee: »Die Türken haben schöne Töchter, / Und diese scharfe Keuschheitswächter;/ Wer will, kann mehr als Eine freyn: / Ich möchte schon ein Türke sein. Wie wollte ich mich der Liebe ergeben! / Wie wollte ich liebend ruhig leben, / Und – – Doch sie trinken keinen Wein; / Nein, nein, ich mag kein Türke sein.« Unter dem Topos Alla turca konnte man bereits seit dem Barock das Verschiedenste inventarisieren und Mozarts dementsprechend annotiertes und zum Schlager gewordenes a-Moll Allegretto in Rondoform hat hierzu nicht unwesentlich beigetragen. Im Österreich des 18. Jahrhunderts klang die Kriegsmusik der Janitscharen, jene aus christlichen Kindern rekrutierte Elitetruppe des Osmanenreichs, aus den Zeiten des Großen Türkenkriegs zwischen Habsburger und Osmanischem Reich noch lange nach. Ebenso das eingeschliffene, ins kollektive Gedächtnis und die Alteritätsdiskurse eingesenkte Angstbild der sogenannten Türkengefahr, einst heraufbeschworen vom Kardinal Enea Silvio Piccolomini. Die ethnische Zuweisung Türke verschmolz mit der religiösen Zuweisung Muslim. Der Wahrnehmung des Orients unter diesem Vorzeichen wurde gleichwohl eine neue Sicht gegenübergestellt, die die diffusen Angstvorstellungen durch ebenso diffuse Wunschvorstellungen ersetzte. Der janusköpfige Orient avancierte hier unter ungebrochen patriarchalen Vorzeichen zum Projektionskosmos einer Welt der Lustversprechungen, der Haremsträume NOR BERT A BELS

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und aller möglichen Paradiese des Rausches. Ebenso zum Ort auch für eine vom Abendland wiederzufindende Mystik und Spiritualität. Nicht zuletzt als statuarisches Gegenbild zum westlichen Fortschrittsdynamismus. Als die die französische Schriftstellerin Louise Colet 1869 bei der festlichen Eröffnung des Suezkanals in Ägypten erlebte, dass die italienische Oper mit Verdis Aida nun auch in dieser Wunschprojektionswelt ihren Einzug gehalten hatte, zeigte sie sich maßlos enttäuscht. Der Orient, den sie erwartete, sah, so beschrieb es der Islamwissenschaftler Felix Konrad, ganz anders aus: »säbelbewehrte Orientalen in wehenden Gewändern, Kaftan, Pelz und Pantoffeln, die auf Perserteppichen und reich bestickten Kissen sitzen, Pfeife rauchen und sich bei babylonischen Illuminationen nubischer Sänger und Tänzer erfreuen.« Bei Leibniz, Voltaire, Rousseau, besonders krass bei Kant, Herder, Fichte, Hegel erschienen obstinat die Orientalen in den Fesseln der Typologie, nie – wie beim späten Lessing und beim späten Goethe – als Individuen. Mit bohrendem Wiederholungszwang gestaltete sich das Repertoire der Zuweisungen. Darunter fanatisch und fatalistisch, wollüstig und grausam. Kant, bisweilen auch konzilianter betrachtend, dekretierte: »was aus türkischem Blut ist, ist eine schlimme Rasse, sehr aufrührerisch und treulos«. Und was, so fragte der sonst so kosmopolitische Herder in seinen Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit, »sollen Fremdlinge, die noch nach Jahrtausenden asiatische Barbaren sein wollen, was sollen sie in Europa?« Die »Türkengefahr«, eines der wichtigsten Antagonismusnarrative der frühen Neuzeit, verblasste als konkrete Drohung nach der osmanischen Niederlage bei der zweiten Belagerung Wiens 1683, und das Bild des Türken wandelte sich vom bedrohlichen, unbesiegbaren Schrecken der Christenheit zum kuriosen, exotischen Nachbarn. Die osmanische Kultur fand in den politischen, wissenschaftlichen, wirtschaftlichen und ästhetischen Diskursen des 18. Jahrhunderts breite, zum Teil euphorische Aufnahme und Verarbeitung. Zugleich verstärkte sich zu Beginn des 18. Jahrhunderts der europäische Einfluss im gesellschaftspolitischen und kulturellen Leben des Osmanischen Reichs. Welche Möglichkeiten bestanden, sich ein Bild des Anderen zu machen, und zu welchen Teilen gründete es auf autistischer Selbstbespiegelung einerseits, auf Neugier und produktiver Aneignung andererseits? Welche Formen des interkulturellen Kontaktes existierten und wie sind sie dokumentiert? Die Beispiele hierfür waren rar und Johann Heinrich Gottlob von Justis den Kern berührende Frage aus seinen Vergleichungen der europäischen mit den asiatischen: und anderen vermeintlich barbarischen Regierungen aus dem Jahr 1762 blieb weitgehend unbeantwortet: »worauf gründet sich der eitle Hochmuth, daß wir uns vor die vernünftigsten und gesittetsten Völker des Erdcreyßes halten? Ebenso resonanzlos blieb Friedrich Schlegels Wunsch: »Wären uns nur die Schätze des Orients so zugänglich wie die des Altertums!«. 91

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In seiner großangelegten Studie zum ästhetischen Phänomen der Türkenoper hat Thomas Betzwieser auf die Polyvalenz des einer Hilfskonstruktion gleichkommenden Sammelbeckenbegriffs hingewiesen, der immer noch ein »Konglomerat verschiedenartigster Elemente« (Betzwieser,16) bezeichne. Aller Polyvalenz entgegen geht es auch in dieser Analyse wie auch in zahlreichen weiteren Studien einzig um den okzidentalen ästhetischen Blick auf den Orient. Eingegangen wird darin lediglich auf ein wie immer auch geartetes, recht opakes türkisches Idiom. Was nicht zu verwechseln ist mit türkischer Musik, der durchaus heterogenen, multikulturell geprägten Klangwelt des Osmanischen Reiches. Nur wenige Exponenten einer wirklichen Symbiose lassen sich aufführen. Darunter der zeitweilig in Ankara wirkende Paul Hindemith. Seine Beschäftigung mit anatolischen Volksliedmelodien und überhaupt den klassischen Werken der traditionalen türkischen Musik, deren europäisierende Erneuerung die tief verwurzelten Traditionen zu erhalten habe, gehört zu den wenigen Ausnahmen transnationaler Begegnung zwischen Westen und Osten. Spuren einer Integration originaler türkischer Kunstmusik – sanat müziği – sucht man indessen in den Türkenopern vergeblich. Mehterhâne, die martialische Janitscharenmusik mit ihrem Instrumentarium aus Pfeifen, Kesselpauken, Schellenbaum, Zymbeln, Zylindertrommel, Trichteroboen und der bei Gluck und Mozart auftauchenden Triangel wurde adaptiert, wenn es um erklingende Krudelität, um Furcht und Zittern ging. Pauker und Beckenschläger taten sich hier besonders hervor. Türkische Abteilung wird noch heute vereinzelt das Schlagwerkensemble eines Orchesters genannt.

IV. Alla Turca Bisweilen ging man hierbei so weit, dass eine gleichsam geomusikalische Differenz der Sphären behauptet wurde. Mozarts Singspiel Entführung aus dem Serail – »das Buch ist ganz gut / das Sujet ist türkisch« (Mozart am 1. August 1781 an seinen Vater) – gibt hierfür ein gutes Beispiel. In der Ouvertüre etwa konnte man einen ethnomoralischen Dualismus von Westen und Osten darin erhorchen, dass sich »nach wenigen Takten spielerischer Ruhe [...] ein Einbruch der türkischen Musik« ereignet, der die Aussage erhalte: »grässlich, der Mensch ist zum Furchtbarsten fähig.« (Nikolaus Harnoncourt, PH Theater an der Wien, Wien 1990, S. 23) Eine bizarre Interpretation, die auf das Türkische zum Synonym des Inhumanen macht. Noch der 1980 erstmals gedruckte und von Michael Gielen an der Oper Frankfurt erstmals dirigierte achtundzwanzig Takte währende C-Dur- Janitscharenmarsch – wohl aus aufführungstechnischen Gründen nachträglich erst als Bühnenmusik geschrieben, um den Auftritt des Chores zu überbrücken lässt nur die Sicht auf das Türkische und nicht dieses selbst erklingen. Gleiches gilt von dem zum Schlager mutierten Rondo Alla Turca, »im türkiNOR BERT A BELS

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schen Stil« oder dem erwähnten türkischen Marsch Beethovens. Selten wurde das Authentizitätsdefizit dergleichen tonsprachlicher Assimilierungstechnik kritisch betrachtet. Eine Ausnahme war der Poet und Tonsetzer Christian Friedrich Daniel Schubert: »wer aber das Glück gehabt hat, die Janitscharen selber musicieren zu hören, [...] der muß mitleidig über die Nachäffungen lächeln, womit man unter uns meist die türkische Musik verunstaltet.»

V. Cérémonie turque Anno 1670: Die Verbindung zwischen der europäischen Opernwelt und ihrem orientalisierenden Exotismus begann mit einer politischen Farce. Nachdem sich Ludwig XIV., der Sonnenkönig, zum wiederholten Male von Seiten der Hohen Pforte, vor allem des nicht minder megalomanen Sultan Mehmed IV., düpiert und herabgesetzt sah, gab er Molière den Auftrag, ein Stück zu verfassen. Darin sollte als dekuvrierende Revanche das türkische Hofrituell, die pompöse cérémonie turque, parodiert werden. Der Monarch lud deshalb einen ausgewiesenen Kenner morgenländischer Kultur dazu ein, die authentische Erscheinungsform des recht komischen Auftritts zu bewerkstelligen. Laurent d’Arvieux, der den gesamten Orient bereist hatte, neben der türkischen Sprache auch das Arabische, Persische, Hebräische und Syrische beherrschte und dem es aufgrund seines Verhandlungsgeschicks gelungen war, in Tunis die Befreiung von Hunderten französischen Bürgern aus der Sklaverei zu erlangen, dünkte Louis für diese Aufgabe der richtige Mann zu sein. Er soll sich neben dem Verhaltensstil und Kostümgestaltung auch bei der Auswahl der Musikinstrumente hervorgetan haben. Die Türkenszene gewann darüber hinaus noch an pseudoexotischer Couleur durch eine linguale Besonderheit. Sie bediente sich – ungewöhnlich genug – der Lingua franca. Diese Behelfs- und Zweitsprache, einige Jahrhunderte zuvor aus Gründen des wirtschaftlichen Austauschs zwischen der romanisch mediterranen und arabischen Sphäre entstandene Verständigungsweise, verschaffte dem Auftritt eine belustigende Nuance. Die mit einer durchaus humorträchtigen Musik Jean-Baptiste Lullys versehene Uraufführung der Ballettkomödie Le Bourgeois Gentilhomme, fand am 14. Oktober 1670 im luxuriösen Loire-Château de Chambord statt. Einem als Jagdresidenz erbauten, längst aber als prunkvoller Repräsentationsort der Staatsmacht fungierender Schauplatz mithin, an dessen Ausgestaltung einst nicht zuletzt Leonardo da Vinci mitgearbeitet hatte. Cléonte, dem Liebhaber Luciles, der selbstbewussten Tochter des neureichen, von Molière selbst dargestellten Emporkömmlings Monsieur Jourdain, gelingt ein erfolgreicher Verkleidungscoup. Um den Parvenü zu beindrucken, tritt er als Şeyhülislam, als hoheitsvoller Mufti des großmächtigen Padischah Mehmed IV. also, erfolgreich auf den Plan. Lully selbst gab dabei den Mufti. 93

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Seine an der Janitscharenmusik orientierte, pompös angelegte Marche pour la Cérémonie des Turcs gab sich mit seinem hart punktierten Rhythmus und perkussiver Dynamik authentisch. Auch die Instrumentenwahl, darunter jene später auch in Webers orientalisierendem Oberon erklingenden klirrenden Schellentrommeln – gab sich außerordentlich martialisch. Der vom Tanz flankierte Türkenmarsch galt dabei zunächst zwar dem mutmaßlichen Avancement des Bürgers in den »Mamamouchi« – einen erfundenen türkischen Adelstitel. Das Ganze dieser burlesken türkische Zeremonie aber präsentierte sich am Ende keineswegs nur als blasphemische Persiflage eines bizarren türkischen Zeremoniells. Die türkische Literaturwissenschaftlerin Adile Ayda verortete die Lächerlichkeit der Szene zu Recht ebenso bei dem im Türkischen Gewande sich aufplusternden Franzosen.

VI. Orientbild Schon vor der Neuzeit und der mit ihr einhergehenden kopernikanischen Wende waren das Orientbild des Westens, aber ebenso das Okzidentbild des Ostens geprägt durch stereotype kulturelle Projektionen. Der Mechanismus dabei vollzog sich als Selbstbildung durch Konstruktion eines Gegenbildes. Das Eigene vom Anderen, das Vertraute vom Fremden her wahrzunehmen, ist freilich kaum verwunderlich. »Die meisten Menschen sind jemand anderes«, stellte Oscar Wilde fest. Rimbaud sekundierte zugespitzt – und diese Differenz ins Innere verlegend – mit dem berühmten Bonmot »Ich ist ein anderer«; Sartre, abermals auf den Gegensatz von Ich und Welt zielend, mit dem nicht minder prominenten Wort aus dem Einakter Huis clos: »Die Hölle, das sind die anderen«. Dass dergleichen Distinktionen in Zeiten der Gewalt sich polarisierten und entstandene Brücken des Einklangs zum Einsturz brachten, gehört ebenso zu den erwartbaren Dingen. Nach einer geglückten Aneignung vermag das Angeeignete gleichwohl zum Teil des Eigenen zu werden. Beide jedenfalls, Orient und Okzident, waren stets Nahtstellen unterschiedlicher Welten. Bisweilen amalgamierten sich Weisheitslehren, fanden sich Begegnungsräume. Es konvergierten Perspektiven des Zukünftigen im Wissen um den gemeinsamen Ursprung im Vergangenen. Es wurden dann Islam und Christenglaube nicht ausschließlich als religiöse Welten, sondern ebenso als sich einander ergänzende Kulturräume verstanden. Beiden war in ihren hochzivilisierten Gründungs- und Blüteperioden der Geist ihrer gemeinsamen aristotelischen Provenienz einbeschrieben. Philosophia und Falsafa haben eine gemeinsame Etymologie. Beiden erschien – wie etwa dem andalusischen Philosophen Averroes oder später dem persischen Neuplatoniker Avicenna- fremd, was bald in der Kreuzfahrerideologie und später als Entropie und sodann auch Fundamentalismus oder europäischer MoNOR BERT A BELS

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nopolismus auf den welthistorischen Plan trat. Als der erste Kreuzzug der Franken das oströmische Konstantinopel erreichte, habe es – so der wache Bericht einer Augenzeugin, der byzantinischen Historikerin Anna Komnene den Anschein gehabt, als sei »das ganze Abendland, mit allen Stämmen der Barbaren, die hinter dem Adriatischen Meere und bis zu den Säulen des Herkules hausen, aufgebrochen zu einer Völkerwanderung und befinde sich mit all seiner Habe auf dem Weg, in gewaltiger Masse in Asien einzubrechen.« Und um beim Beispiel Konstantinopels zu bleiben, des seit 1930 offiziell so genannten heutigen Istanbul: ebenso barbarisch vollzog sich hier im Jahre 1453 die Konsolidierung des Osmanischen Reiches zur unumschränkten Hegemonialmacht. Unbeschreibliche Grausamkeiten werden von der Invasion berichtet. Die in einem Massaker kulminierende Eroberung Konstantinopels, deren Abschluss sich sinnbildlich im Absturz des tausendjährigen Kreuzes der Hagia Sophia kundtat, stand an Brutalität dem ebenso unmenschlichen Kreuzzugsinferno in Nichts nach. Von jenem Sturze, schrieb der Wiener Stefan Zweig, erbebte das gesamte Abendland: »Schreckhaft hallt die Nachricht wider in Rom, in Genua, in Venedig, wie ein warnender Donner rollt sie nach Frankreich, nach Deutschland hinüber, und schauernd erkennt Europa, dass dank seiner dumpfen Gleichgültigkeit durch die verhängnisvolle vergessene Tür, die Kerkaporta, eine schicksalhaft zerstörende Gewalt hereingebrochen ist, die jahrhundertelang seine Kräfte binden und lähmen wird.« Diese wie eine apokalyptische Zeitenwende ins kollektive Bewusstsein eingravierte Erinnerung an die expansive Okkupationsdynamik des Osmanischen Reiches war noch mehr als zweihundert Jahre danach virulent bei der Belagerung Wiens. Ebenso der Spruch, den der auch auf die europäische Kaiserkrone versessene Sultan Süleymān der Prächtige auf dem Höhepunkt des osmanischen Imperiums und fast drei Jahrzehnte nach der Ersten Wiener Türkenbelagerung auf die nach ihm benannte, von Tausenden Sklaven erbaute große Moschee anbringen ließ: »Eroberer der Länder des Ostens und des Westens mit der Hilfe des Allmächtigen und seiner siegreichen Armee, Herrscher über die Reiche der Welt.« Seitdem geriet der Ruf »der Türke vor der Tür« zum europäischen Angsttopos. Kulturelle Ambiguität bestimmte gerade im aufklärerischen 18. Jahrhundert die beiderseitige orientalische und okzidentale Sicht aufeinander. Der Orient sei, so schrieb Michel Foucault, »für das Abendland all das, was es selbst nicht ist. Diese Kennzeichnung war maßgeblich für das epochale Werk des aus Jerusalem stammenden palästinensischen Literaturwissenschaftlers Edward Said. Weder der Orient noch der Okzident galten ihm als »simple Naturgegebenheit«. Beide »fast mythische« Konstrukte sind Ausdruck einer stets vom jeweiligen historischen Horizont geprägten Vorstellung, einer Idee mit jeweils eigener »Denktradition, einer eigenen Symbolik und Terminologie«. Nie aber aber Ausdruck einer »ontologischen Eigenständigkeit«, setzte Said hinzu. 95

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»Gibt’s außer diesen Bergen auch noch Länder und Menschen?« So fragt in der Zauberflöte der Vogelfänger Papageno. Der Arabist und Islamwissenschaftler Thomas Bauer attestierte dieser Frage den Rang eines Traumas der westlichen Welt. Ein Bild vom Orient und vom Okzident, das auf der Akzeptanz der Differenz der Kulturen besteht, ohne die Idee der Menschheitseinheit preiszugeben, harrt auch in der globalisierten Welt bis zum heutigen Tage auf seine Einlösung.

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Laura Stendhal Holder über→IlLetzter turco in Versuch Italia

Das Quintett » Oh! guardate che accidente / Non conosco più mia moglie « ist vielleicht das köstlichste Stück aus all den komischen Opern Rossinis.


Judith Belfkih

SELBSTERMÄCHTIGUNG IM KORSETT Welche Klischees, Moralkonzepte und Geschlechterstereotype in La cenerentola und Il turco in Italia stecken – und wozu sie trotz aller Kritik heute noch dienen können.

Das arme Mädchen mit dem reinen Herzen, das vom edlen Ritter errettet wird, die böse Stiefmutter (meist ist sie auch noch hässlich), die intrigante Rivalin, der eifersüchtige, blind auf Rache sinnende Liebhaber, der diabolische Ränkeschmied, der gütige König oder der reine Tor, an dessen weißer Weste das Böse abperlen muss. Oper ist voll von Klischees, bestückt mit Figur gewordenen Stereotypen und grob geschnitzten Persönlichkeitsschablonen. In den meisten Fällen passen diese vorgefertigten Charakter-Scherenschnitte mit hohem Wiedererkennungswert ziemlich genau in traditionelle Geschlechterbilder und erfüllen damit gleichzeitig auch so manches Rollenklischee. Auch bei Gioachino Rossinis Cenerentola und Il turco in Italia ist das der Fall – einmal als märchenhaft pure Präsentation, das andere Mal als durchaus augenzwinkerndes Spiel mit Klischeegrenzen. Wie aber in einer aufgeklärten, geschlechtergerechten Welt umgehen mit diesen verzopften Stereotypen? Opern einfach umschreiben? Partien ohne Rücksicht auf deren Geschlecht, also genderblind besetzen – sofern sich das J U DIT H BELFK IH

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musikalisch ausgeht? Angestaubt Traditionelles durch progressive Inszenierungen kontrastieren? Spielpläne zensieren und besonders frauenfeindliche oder klischeetriefende Werke einfach gar nicht mehr aufführen? Wohl kaum. Wohl aber: Darüber nachdenken, wozu wir Stereotype – nicht nur in der Oper – brauchen, was sie über uns als Gesellschaft aussagen und wie wir sie jenseits der plumpen Klischees auch heute als Möglichkeit des Erkenntnisgewinnes für uns nutzen können. Was La cenerentola hier auf den ersten Blick ein Stück weit aus der Geschlechterfalle rettet, ist der Untertitel der Oper: La bontà in trionfo. Nicht nur soll ein holdes Mädchen vom ebensolchen Prinzen aus der Asche auf den Thron gehoben werden, nein, es geht um wesentlich Grundsätzlicheres: um den unbedingten Sieg des Guten schlechthin – selbstredend über das Böse. Die Essenz der Geschichte, so legt dieser zweite Titel nahe, ist eine moralische. Auch nicht unproblematisch, doch an sich geschlechtertechnisch etwas weniger verdächtig. Wenn sich das nur trennen ließe. Einen Minuspunkt erfährt die Rollenverteilung der Oper gegenüber der Märchenvorlage: Das aktive Gute ist hier rein auf männliches Personal verteilt, aus der mancherorts agierenden guten Fee wird der kluge Lehrer. Als Ausgleich ist die böse Stiefmutter gestrichen und ersetzt durch einen kurzsichtigen, in jeder Hinsicht triebgesteuerten Stiefvater. Ob er aktiv böse oder schlicht als Opfer seiner Gier ein passiv Getriebener ist, ist wohl Auffassungssache. Das eindeutig aktiv Böse bleibt mit den beiden Stiefschwestern weiblich, das aktiv Gute männlich. Auf der einen Seite stehen damit die zankenden, hochnäsigen und geizigen Schwestern Clorinda und Tisbe, die durch Aufdringlichkeit und Herabwürdigungen auffallen. Sie sind eine der wohl gängigsten, meist weiblichen Typologien in der Märchenwelt. Die analogen Brüder sind zwar auch oft hochnäsig und eitel, meist aber zu tumb, um aktiv böse zu werden. In dieses Schema passt bei Cenerentola auch der Vater der Schwestern, Don Magnifico. Seinen Namen, den des (Selbst)Herrlichen, kann man mit dieser Charakterzeichnung durchaus als einen ironischen Griff verstehen. Er folgt gierig der Spur des Geldes, des Ruhmes und des Weines. Was dabei unter die Räder kommt, lässt ihn schlicht kalt, er folgt seinem Instinkt. Auf der anderen Seite steht zuallererst Cenerentola Angelina: Anmut, Liebreiz und Bescheidenheit treffen in ihr auf Treue, Armut und Demut. Sie symbolisiert das Ideal von Reinheit, Keuschheit und Tugend. Ihr einzig ebenbürtig ist der Prinz – im Doppelpack mit dem oft bemühten treuen Diener. Don Ramiro will um seiner selbst geliebt werden, nicht etwa des Geldes, seines Titels, der Macht wegen. Er sucht die Unschuld wahrer Liebe. Auch Klugheit und Weitsicht stehen auf der Seite der Liebenden, sie sind mit dem Philosophen und Lehrer Alidoro freilich (historisch bedingt, möchte man heute hinzufügen) männlich besetzt. Männliche Weitsicht ist es, die die Handlung vorantreibt und entscheidet. 99

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Laura Holder Stendhal → Letzter Versuch

Gleichermaßen außerstande auch nur 20 Takte zu schreiben, ohne sein Genie zu verraten, ist Rossini seit dem Tod von Canova der größte lebende Künstler.


Betrachtet man diese Stereotype allein von der Geschlechterseite, so ist der männliche Idealblick auf die gezeichneten Frauenbilder aus feministischer Sicht schlicht unwürdig. Es gibt im scharfen Scherenschnitt nur zwei weibliche Konzepte: die aktive Frau, die ihr Leben selbst in die Hand nimmt und mit allen Mitteln für ihr Glück kämpft. Sie gerät unweigerlich ins Reich des Bösen, des Unattraktiven. Die passiv duldende, bescheidene Frau hingegen wird zwar von den Frauen verachtet, jedoch vom Blick der Männer idealisiert und damit gesellschaftlich belohnt. Halte dich brav zurück, mein Mädchen, dann wirst du (vom Prinzen) erlöst, suggeriert diese Typologie. Nimm dein Leben nicht selbst in die Hand, das ist unschicklich. Warte duldsam und fleißig, bis dein Held dich erkennt. Dein Kapital sind nicht das Geld oder die Macht. Dein Kapital sind Anmut und Liebe. Auch eine bewährte Methode der gesellschaftlichen Unterdrückung der Frau. Dass sie gänzlich ausgerottet ist, muss bezweifelt werden. Für die Herren hat die Oper eine andere Lektion bereit: Mäßige dich, halte dich zurück, prüfe genau – genauer: teste die vermeintlich trügerische Frau, die es womöglich nur auf dein Geld oder deine Macht abgesehen hat. Auch hier wird gar nicht so indirekt ein Frauenbild der generellen Listigkeit gezimmert. Die beiden Pole, zwischen denen der edle Jüngling also für sich wählen kann, sind der kluge, zurückhaltende Philosoph und als abschreckende Schablone der Stiefvater, der sich nicht unter Kontrolle hat – und folglich innerhalb dieses Moralkonzeptes scheitern muss. Blendet man die Geschlechterrollen aus, so bleibt die moralische Botschaft, die selbstredend einen ebenso normativen Anspruch mit sich trägt: Jeder verdient, was er sät, Missgunst setzt sich nicht durch, Rechtschaffenheit zahlt sich aus, denn: Das Gute gewinnt. Immer. Um diese Botschaft zu unterstreichen, siegen nicht nur die Edelmütigen, nein: Sie bekehren alle andern auch noch. Dass sich durch diese Methode nicht nur Glück für den Einzelnen in Aussicht stellen, sondern auch Aufbegehren oder im schlimmsten Fall Rebellion unterbinden lässt, steht auf einem anderen Blatt. Doch bei aller aus heutiger Perspektive gerechtfertigter Kritik an historisch gewachsenen wie angestaubten Rollenbildern: So einfach ist die Sache nicht. Wer einem Werk wie La Cenerentola allein durch politische Korrektheit jeden Erkenntnisgewinn abspricht, macht es sich zu einfach. Denn Klischees haben ihren Zweck, den man – einmal durchschaut – abstrahieren und zeitlos nutzen kann. Im täglichen Leben tauchen diese Stereotype freilich nicht ganz so sortenrein auf wie auf der Bühne. Auch ist das Bezugssystem der Wirklichkeit meist komplexer als die sehr klar definierten Naturgesetze der Oper. Genau in dieser Abgeschlossenheit und inneren Logik liegt ja der Reiz: Wie in einem von der eigenen Lebensweltlichkeit abgeschotteten, klar sortierten, nicht zuletzt durch die Musik emotional aufgeladenen Versuchslabor, lassen sich in Oper Situationen durchspielen und durchfühlen, denen man sich im echten Leben kaum je stellen würde. Die Schablonen dienen damit 101

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nicht einzig der gesellschaftlichen Unterdrückung – der Frau, des Triebes, des instinktiv Bösen. Sie dienen auch als Reibfläche zur Persönlichkeitsbildung, zur Selbstreflexion, zur Überprüfung eigener Ideale und Neigungen. Mancher findet in der Rezeption vielleicht sogar die Ersatzbefriedigung für selbst nicht gelebte Impulse. Die überzeichneten Bilder, ja, Schablonen können also ein Stück weit Orientierung liefern und sei es nur durch ihre kategorische Ablehnung. Gerade unsere ausdifferenzierte, alles tolerierende westliche Gesellschaft braucht diese in Kunst gebannten und dort aus der sicheren Distanz heraus studierbaren Pole menschlichen Verhaltens vielleicht mehr als frühere Generationen. Überspitzt: In Zeiten der überall proklamierten Selbstfindung jedes und jeder Einzelnen, ist es Knochenarbeit, sich ständig aus dem politisch korrekten Nichts heraus neu zu erfinden. Ohne Leitplanken ist es schwer. Wie diese aussehen, daran lohnt es sich freilich zu jeder Zeit zu arbeiten. Denn sie sind vor allem eines: Kinder ihrer Zeit. Die geschlechterspezifische Rollenanalyse bei Il turco in Italia ist etwas komplexer – und dadurch weit realistischer und ungleich weniger romantisch verklärt. Weniger archetypisch sind die Figuren deswegen nicht. Doch ist in ihrer Zeichnung, was auch dem anderen dramatischen Genre geschuldet, eine Portion Ironie, ja, Hohn, wenn nicht sogar Kritik an gesellschaftlichen Gepflogenheiten nicht zu überhören. Auch spielt die Moralkeule kaum eine Rolle, wenn auch am Ende dieser bürgerlichen Komödie penibel auf die sittlich korrekte Zusammenfindung der Paare geachtet wird. Als weiblicher Gemeinplatz taucht hier die doppelt untreue Ehefrau Donna Fiorilla auf, ihr Verhalten wird formal etwas entschuldet, da sie ja als junge, lebenshungrige Frau einem Greisen vermält wurde. Das zweite Frauenbild wird durch die Romni Zaida skizziert, potenziell problematisch an ihrer Zeichnung ist eher die Tatsache, dass ihre Leidenschaft durchaus mit ihrer ethnischen Herkunft assoziiert wird. Bei den Männern dominieren Eifersucht und Besitzdenken das Geschehen. Jeder gegen jeden, könnte man beinahe meinen, und mit so gut wie allen Mitteln – vom aufbrausenden, besitzergreifenden Türken Selim, dem gutgläubigen, betrogenen Ehemann Don Geronio bis zum ebenfalls gehörnten Liebhaber Don Narciso. Gut und Böse sind hier keine relevanten Kategorien. Was auffällt: Es sind, vom Dichter abgesehen, die Frauen, die das Geschehen bewusst vorantreiben, die Männer reagieren, mitunter impulsiv, sind mehr mit dem Kampf gegeneinander beschäftigt. Die Mittel der Wahl, um die eigenen Ziele umzusetzen? Die Frauen intrigieren, die Männer duellieren, rauben oder kaufen – oder bekunden zumindest die Absicht danach. Die weibliche Selbstermächtigung hat selbstredend ihre Grenzen: Es bleiben die Männer, die letztlich die Wahl haben und sich entscheiden (zu vergeben). Die (gesellschaftliche) Bedrohung ist hier das nicht ehelich gezügelte Begehren – das der Frauen, aber auch der Männer. Solange es ein Spiel bleibt, darf es sich ausprobieren, doch zu subversiv darf es nicht werden. Dass im SELBST ER M ÄCH T IGU NG IM KORSET T

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Finale also der Türke und die Romni (wieder) zusammenfinden und die untreue Ehefrau doppelt reuig heimkehrt in den Ehehafen, wendet alle etwaigen Bedrohungen ab. Die natürliche Ordnung ist wiederhergestellt. Zu weit soll es schließlich auch im Versuchslabor der Emotionen nicht gehen. Im Gegensatz zu La cenerentola werden hier jedoch Klischees, Gepflogenheiten und Konventionen kontrastiert und konterkariert. Und trotz der Leichtigkeit, ja, Flatterhaftigkeit die dem Turco inne wohnt, eignet sich auch diese Oper als dieses gefahrenlose und doch tief gehende Versuchslabor für die eigenen Befindlichkeiten. Auch wenn wir manche gesellschaftliche Einordnung oder moralische Beurteilung heute anders treffen würden als zu Rossinis Zeit: An den Emotionen, die die Oper verhandelt, also an den Wünschen und Träumen, den Begierden und Sehnsüchten, den Enttäuschungen und Rachegedanken von Menschen hat sich in den vergangenen Jahrhunderten nichts geändert.


Hilary Poriss

ROSSINI UND SEINE SÄNGER

»Letztendlich sind der Komponist und der Dichter die einzigen wahren Schöpfer.« So schrieb Rossini 1851 in einem Brief an einen Freund und schwärmte von den Unterschieden zwischen Komponisten und Librettisten auf der einen und Sängerinnen und Sängern auf der anderen Seite. »Um seine Rolle auszufüllen«, so Rossini weiter, »muss der gute Sänger nichts anderes sein als ein geschickter Interpret der Entwürfe des Meisterkomponisten, der versucht, sie mit der angemessenen Wirksamkeit auszudrücken und ins rechte Licht zu rücken.« Die starre Hierarchie, die Rossini konstruiert, ist erstaunlich, denn wie er selbst sehr genau wusste, war die Realität des Theaterlebens ganz anders als das, was er im Brief beschrieb. Im 19. Jahrhundert akzeptierten Opernsängerinnen und -sänger, insbesondere Primadonnen und Primi Uomini, selten die Rolle des »interpretierenden Gefäßes«. Stattdessen verdankten sie ihren Ruhm und ihr Vermögen ihrer Fähigkeit, die Opern, in denen sie auftraten, mitzugestalten, und sie HILA RY POR IS S

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hielten ihren Einfluss aufrecht, indem sie bei späteren Wiederaufführungen weitere Änderungen vorschlugen. Sie waren also Mitautoren an der Seite des Komponisten und des Librettisten, und ohne ihre Beiträge hätte sich das Belcanto-Repertoire nie in der uns bekannten Art und Weise entfaltet. Mehr als jede andere Musikgattung ist die Oper von ihren Sängerinnen und Sängern – ihren »Divas« und »Divos« – abhängig, wenn es um Erfolge, Misserfolge, ja, um ihre Identität geht. Wie ein Kommentator feststellte, »sind [die Sängerinnen und Sänger] das Lebenselixier der Kunst, und ohne ihre konkurrierenden Talente wäre die Oper nur halb so interessant.« Viele Anhängerinnen und Anhänger des Genres würden vielleicht sogar behaupten, dass die Oper ohne ihre Primadonnen und Primi Uomini überhaupt nicht mehr interessant wäre. Die Situation war nicht immer so. Als das Genre um den Beginn des 17. Jahrhunderts entstand, gab es den Beruf des »Sängers« noch nicht, zumindest nicht in der Form, in der wir ihn heute kennen. Wie der Historiker John Rosselli recherchiert hat, gab es zu wenige Opern, als dass sich Künstler ausschließlich damit beschäftigten, und diejenigen, die in den ersten bei Hof und öffentlich aufgeführten Werken auftraten, waren in der Regel entweder Instrumentalisten oder Schauspieler, die zufällig auch singen konnten. Die Situation veränderte sich gegen Ende des 17. Jahrhunderts; Mitte des 18. Jahrhunderts – als die Opernsaison ein fester Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens in und außerhalb Italiens wurde und die Nachfrage nach Interpreten stieg – konnten sich die Musiker schließlich ganz der Gesangskunst widmen. Es sind dies die Jahre des steilen Aufstiegs der Divas und Divos an die Spitze der Opernwelt, wo sie vom Publikum verehrt und wahrhaft königlich behandelt wurden, eine Zeit, in der sie höher bezahlt wurden als alle anderen an den Produktionen beteiligten Personen. Wie der Doyen der Forschung zur italienischen Oper, Philip Gossett, feststellte, »wurde Manuel García, der erste Almaviva in Il barbiere di Siviglia, für seinen Gesang in der Oper dreimal so viel bezahlt wie Rossini für deren Komposition«. Es mag vielleicht noch viel mehr überraschen, dass Rossinis Vertrag für diese Oper ihn verpflichtete, »alle Änderungen vorzunehmen, die notwendig sind, um entweder zu gewährleisten, dass die Musik gut aufgenommen wird, oder um den Umständen und dem Komfort eben dieser Sänger gerecht zu werden«. Wie wirkte sich diese Art von Anweisung auf den schöpferischen Prozess um die italienische Oper im 19. Jahrhundert aus? In erster Linie komponierte Rossini die Gesangslinien in der Regel erst, nachdem er sich ein umfassendes Bild von den Stärken und Schwächen der Sängerinnen und Sänger gemacht hatte, die bei der Uraufführung einer Oper auftreten sollten. Sein Hauptziel war der unmittelbare Kassenerfolg, und deshalb war es seine Pflicht, Musik zu schreiben, die seine Sängerinnen und Sänger gut singen konnten (und wenn dies bedeutete, dass er etwas von seiner »künstlerischen Vision« opfern musste, nahm er das in Kauf ). Einer seiner 105

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ersten Triumphe war La pietra del paragone; die Oper wurde am 26. September 1812 am Teatro alla Scala in Mailand uraufgeführt. Für ihn als junger Mann von kaum 20 Jahren, der sich gerade erst einen Namen machte, waren es die Empfehlungen zweier etablierter Vokalkünstler, Maria Marcolini und Filippo Galli, die ihn in diese heiligen Hallen der Oper brachten. Nachdem er mit der Komposition der neuen Oper beauftragt worden war, schrieb er Marcolini und Galli die Musik auf den Leib, um deren individuelle Talente zur Geltung zu bringen. Die Sängerin und der Sänger waren glücklich und leisteten Spektakuläres, sodass die Oper zu einem durchschlagenden Erfolg wurde. In dem Maße, wie Rossinis Karriere gedieh, vertieften sich auch die Beziehungen zu seinen Sängerinnen und Sängern, auf deren Anregungen, Vorschläge und besondere Fähigkeiten er angewiesen war. Seine erste Frau war etwa Isabella Colbran, eine spanische Sopranistin, die von 1807 bis 1820 zu den schillerndsten Opernstars Italiens gehörte – als sie einander kennenlernten, war sie sogar bekannter als er. Ihr höchst ornamentaler Gesangsstil hatte großen Einfluss auf Rossinis Kompositionsstil, und er schrieb in acht seiner Opern Rollen für sie: Elisabetta, regina d’Inghilterra (1815), Otello (1816) und La donna del lago (1819) gehören dazu. Ohne Colbran wären die Arien von Elisabetta, Desdemona, Elena und einigen anderen Figuren mit Sicherheit ganz anders ausgefallen. Zu Rossinis engem Freundeskreis zählten auch mehrere andere bedeutende Sängerinnen und Sänger, für die er einige der denkwürdigsten Rollen komponierte. Geltrude Righetti-Giorgi, eine italienische Altistin, war zum Beispiel eine Vertraute, für die er die Rollen der Rosina in Il barbiere di Siviglia und der Angelina in La cenerentola schuf. Luigi Pacini, ein italienischer Bass, war ein weiterer Freund, dem Rossini ebenfalls zwei Rollen auf den Leib schneiderte: Parmenione in L’occasione fa il ladro und Don Geronio in Il turco in Italia. Rossini war nicht der Einzige, der sich einer engen Zusammenarbeit mit den Sängerinnen und Sängern verschrieb, um größtmögliche Wirkung zu erzielen. Eine enge Zusammenarbeit zwischen Komponisten und Sängerinnen und Sänger war über weite Teile des 19. Jahrhunderts üblich. So schrieb Giuseppe Verdi, als er Macbeth komponierte, Briefe an Marianna Barbieri-Nini und Felice Varesi, die die Hauptpartien singen sollten, in denen er sie um ihre Meinung zu einzelnen Passagen und Wendungen bat. Verdi ging sogar so weit, dass er Varesi zwei Vorschläge für einen wichtigen musikalischen Moment in der Oper schickte und hinzufügte: »Nimm den, der besser zu Dir passt, und schreibe mir, welchen ich orchestrieren soll.« Den Sängerinnen und Sängern »die Wahl ihres eigenen Abenteuers« zu überlassen, das war eine der vielen Möglichkeiten, wie Komponisten ihren Interpretinnen und Interpreten etwas von ihrer Macht überließen. Die Erwartung an die Sängerinnen und Sänger, sich kreativ an Opernproduktionen zu beteiligen, hörte nicht auf, sobald die Noten auf dem Blatt geHILA RY POR IS S

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trocknet waren – es gab noch verschiedene andere Möglichkeiten, mit denen sie die Musik nach ihren eigenen Vorstellungen gestalten konnten. Vor allem Rossini und seine Zeitgenossen erwarteten von den Sängerinnen und Sängern, dass sie Verzierungen und Kadenzen in das musikalische Gewebe hineinwoben und so Gesangslinien schufen, die teils von den Komponisten, teils von den Interpretinnen und Interpreten stammten. Wie die meisten heutigen Sängerinnen und Sänger wissen, wäre es ein Missverständnis der zeitgenössischen Aufführungspraxis, eine Melodie genau so vorzutragen, wie Rossini sie geschrieben hatte, ohne sie zu verschönern. Die Sängerinnen und Sänger der Belcanto-Epoche achteten grundsätzlich darauf, ein Gleichgewicht zwischen der Originalmusik und ihren eigenen Verzierungen zu wahren, es war jedoch nicht ungewöhnlich, dass einige, besonders die berühmtesten Primadonnen der Welt, die Grenzen des ornamentalen Anstands überschritten. Der Fall von Adelina Patti illustriert dies anschaulich. Patti (1843-1919) war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die primadonna assoluta unter den Koloratursopranistinnen; sie war ständig von den größten Opernhäusern der Welt angefragt und in den Rollen des italienischen und französischen Repertoires des 19. Jahrhunderts unvergleichlich. Ein Teil ihrer Anziehungskraft lag in ihrer erstaunlichen Virtuosität und ihrer Fähigkeit, Verzierungen zu improvisieren, wofür sie vom Publikum angebetet wurde. Die Kritiker hingegen waren nicht immer so beeindruckt, und ein Rezensent klagte: »Sie verzierte Rossinis Musik so ausgiebig und fügte so viel Eigenes ein, dass von den ursprünglichen Tonfolgen nur sehr wenig übrigblieb. Es kann kaum eine größere Täuschung geben, als wenn jemand Effekthascherei betreibt, indem süße Melodien mit leeren Fiorituren überfrachtet werden.« Auch Rossini selbst soll von Pattis Neigung zu Verzierungen verprellt gewesen sein. Der Legende nach wandte sich der Komponist an sie, nachdem er sie seine Arie »Una voce poco fa« aus Il barbiere di Siviglia singen gehört hatte, und fragte sie: »Wer hat die Arie geschrieben, die Sie gerade gesungen haben?« Patti legte nicht nur übermäßig komplexe Verzierungen auf ihre Gesangslinien, sondern beteiligte sich auch an einer beliebten Aufführungspraxis des 19. Jahrhunderts, die aus den heutigen Produktionen weitgehend verschwunden ist: der Ariensubstitution. Vereinfacht ausgedrückt, handelte es sich dabei um eine Praxis, die es den Sängerinnen und Sängern ermöglichte, Arien ihrer eigenen Wahl in Belcanto-Opern zu interpolieren. Ariensubstitution konnte verschiedene Formen annehmen: Sie konnte einen Teil einer Oper ersetzen, die Arien konnten vom Komponisten der Oper verfasst oder von jemand anderem geschrieben worden sein. Die Sängerinnen und Sänger planten diese »Einlagen« zumeist im Voraus und alle an der Produktion Beteiligten (das Orchester, die anderen Sängerinnen und Sänger) wussten, wann und wo sie passieren würden. Warum ließen Rossini und andere Komponisten dies zu? Ganz einfach, weil es in ihrem Interesse lag, 107

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die Sängerinnen und Sänger bei Laune zu halten und alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um sicherzustellen, dass diese weiterhin gut singen würden. Ariensubstitution war beliebt, weil sich dadurch eine Fülle von Vorteilen bot, die die Sängerinnen und Sänger nicht nutzen konnten, wenn sie sich an die Partitur hielten, vor allem, wenn die betreffende Oper nicht für ihre speziellen Talente geschrieben worden war. In einer Welt, in der überragende gesangliche Leistungen das wertvollste wirtschaftliche und künstlerische Gut waren, das ein Opernhaus besaß, bedienten sich die Sängerinnen und Sänger der interpolierten Arien, um die eigenen individuellen Stärken und ihren Stimmumfang ins rechte Lichte zu rücken und ihre Rollen auszubauen. Und je besser sie sangen, desto eher konnten sie Abend für Abend ein großes Publikum anlocken. Im 19. Jahrhundert gab es unzählige Fälle dieser interpolierten Arien, zu viele, um sie hier aufzuzählen. Die beiden Opern, die dieses Gastspiel zeigt, beleuchten jedoch auf brillante Weise einige der interessantesten Ergebnisse dieser Praxis. In einer Inszenierung von Il turco in Italia aus dem Jahr 1830 am Teatro Valle in Rom sang der Tenor Francesco Regoli die Rolle des Narciso. Wie ein Kritiker erklärte, wollte Regoli mehr von der Rolle als das, was Rossinis Musik bot, und so sang er als Einlage eine Kavatine des weit weniger populären Komponisten Francesco Morlacchi, »in der Regolis Bravour und ungewöhnliche Beweglichkeit besonders zur Geltung kamen«. Weder die Kritiker noch die Zuschauer stießen sich daran, dass Morlacchis Musik in Rossinis Oper vorkam, und Regoli wurde für seinen Gesang hoch gelobt. Bei einer anderen Aufführung von Il turco in Italia, die zehn Jahre zuvor im King’s Theatre in London stattgefunden hatte, ging man sogar noch weiter. Um ihre Rollen auszubauen, interpolierten die Primadonna Giuseppina Ronzi de Begnis und ihr Ehemann, der Tenor Giuseppe de Begnis, mehrere Arien aus La cenerentola. Trotz der Unterschiede zwischen den beiden Handlungssträngen war diese Verquickung von Rossinis beiden Opern ein voller Publikumserfolg. Die Gepflogenheit, Arien zu interpolieren, setzte sich im 19. und 20. Jahrhundert fort. Die Tradition wurde gelegentlich in heutigen Produktionen wiederbelebt, aber selten mit dem Elan und der Vielfalt, mit der die Interpretinnen und Interpreten des 19. Jahrhunderts ihre Änderungen präsentierten. Warum eigentlich nicht? Was würde es schaden, zu dieser einst lebendigen Tradition zurückzukehren? Man könnte argumentieren, dass in der heutigen Zeit sowohl Komponisten als auch Sängerinnen und Sänger viel an kreativer Kontrolle an die Regie abgegeben haben. Die Rückkehr zur Tradition der Ariensubstitution aus dem 19. Jahrhundert würde eine verlorene Kunst wiederbeleben und gleichzeitig den Sängerinnen und Sängern neue Möglichkeiten bieten, die Grenzen ihrer Kreativität auszuloten. Und es wird wohl nicht zum Nachteil des Publikums sein, wenn das geschieht.

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→ José Maria Lo Monaco als Zaida in Il turco in Italia

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Stendhal über Il turco in Italia

Das Duett » D’un bell’uso di Turchia / Forse avrai novella intesa « kann es mit allen Arien von Cimarosa und Mozart aufnehmen. Diese großen Männer haben Stücke von gleichem Wert geschrieben, aber keine besseren. Sie haben nichts komponiert, was dem leichten Ton dieser Kantilene nur annähernd gleichkäme.


Livio Marcaletti

WIE KANN MAN HUMOR IN MUSIK SETZEN?

Wie kann Musik lustig sein? Wie kann Humor in Musik gesetzt werden? Eine ausführliche Antwort auf diese Fragen würde ein ganzes Buch füllen. In diesen wenigen Zeilen sei davon die Rede, wie Gioachino Rossini in seinen komischen Werken Humor darstellt. Die Opera buffa war im frühen 19. Jahrhundert eine etablierte Gattung mit präzisen Konventionen, die Rossini sehr gut kannte. Er beschritt zwar neue Wege des Komischen, griff dabei aber immer auf eine bereits existierende Tradition zurück und musste den Erwartungshorizont des Publikums berücksichtigen. Opernmusik bringt 111

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zum Lachen, indem sie bestimmte anerkannte Codes verwendet, bestimmte Erwartungen erfüllt oder ihnen bewusst widerspricht. Jedes Genre und jede Epoche setzten auf unterschiedliche »Tricks«, die als komisch empfunden wurden, es gibt allerdings Kontinuitäten und Tendenzen, die sich seit den Anfängen der Operngeschichte durchgesetzt haben und auch in Rossinis komischen Werken aufzufinden sind. Ein typisches komisches Element in der Oper ist etwa die unerwartete oder ungewöhnliche Behandlung der menschlichen Stimmen. Die Kastraten und Hosenrollen der italienischen Oper wurden in diesem Sinne nicht als lustig empfunden, da sie zu den Gattungskonventionen gehörten. Während in Italien die Kastraten die Heldenrollen übernahmen, konnten sie auf französischen Bühnen hingegen nicht als ernste Figuren wahrgenommen werden. Am französischen Hof des jungen Sonnenkönigs wurden daher den Kastraten komische Partien zugewiesen. Noch in der venezianischen Oper des späten 17. Jahrhundert wurde die typische komische Figur der alten Amme (die z.B. in L’incoronazione di Poppea erscheint) mit Tenören besetzt, um die gealterte und daher tiefer gewordene weibliche Stimme zu karikieren. Ein gegensätzlicher Effekt ist die gelegentliche Verwendung des Falsetts in männlichen Stimmen, die oft in Opere buffe vorkommt, wenn etwa eine männliche Stimme eine weibliche imitiert. Ein anderes Element, das Lachen auslösen kann, ist die bewusst inkongruente Vermischung der Stile unterschiedlicher musikalischer Gattungen: Wenn etwa bei einem komischen Duett kompositorische Elemente auftauchen, die den strengen Kontrapunkt der Kirchenmusik nachäffen, klingt das Stück absurd und daher humoristisch. Noch typischer ist die parodierende Benutzung von Formen der Opera seria, der ernsteren Schwester der Opera buffa. Mozart tut es mehrmals in Così fan tutte: Dorabella und Fiordiligi singen Zornesarien, die ihren richtigen Platz in einer tragischen Oper hätten, und zwar mit absichtlichen parodistischen Zielen: Mozart will zeigen, dass ihr fast hysterischer Widerstand gegen neue Liebesbeziehungen eine Fassade ist. Es ist auch möglich, Texte mit einer widersprechenden Musik zu vertonen. Paradigmatisch hierfür ist Jean-Philippe Rameaus komische Oper Platée, in der die allegorische Figur der Folie in einer wunderbaren Szene die Macht der Musik auf absurde Weise zelebriert: Sie besingt tragische Ereignisse zu einer heiteren Melodie und lustige Dinge zu traurigen Klängen. Die offenbaren Widersprüche zwischen Text und Musik bringen das Publikum selbstverständlich zum Lachen, da die Zuschauer*innen die »Regel« der Komposition mindestens implizit kennen und ihre Nichtbeachtung goutieren kann. Wie fügt sich Rossini in diese Tradition ein? Er greift oft auf die typischen komischen Mittel der italienischen Opera buffa zurück, die den im Libretto enthaltenen Sprachspielen und lautmalerischen Texten entsprechen. Bei Rossinis Werken sind die Finali besonders auffallend, bei denen der Text oft die spielerische Imitation von Geräuschen verlangt. Der Komponist aus Pesaro LI V IO M A RCA LET T I

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ist ein Meister in der Auswahl gezielter Orchesterklänge und Rhythmen, die zu einem quasi »motorischen Exzess« führen (wie der deutsche Musikwissenschaftler Arnold Jacobshagen zutreffend definiert hat). Bei Rossini ist die rhythmische Komponente mit einer eigenartigen, oft ungewöhnlichen Verteilung der Akzente auf der Melodie einer der entscheidenden Faktoren der komischen Wirkung seiner komischen Werke. Sehr typisch ist auch das schnelle Parlando der Bufforollen, bei dem eine große Menge an Silben in kürzester Zeit und mit hoher Geschwindigkeit artikuliert wird. Wenn die richtige Ausführung dieser Stellen bereits in der Originalsprache eine Herausforderung für den Sänger (in der Regel ein Bass) darstellt, ist sie in deutscher Übersetzung fast unmöglich. Rossini selbst verlangte bei seinem Wiener Aufenthalt im Jahre 1822 bei Proben seiner Cenerentola in deutscher Übersetzung schnellere Tempi als die, welche die Sänger*innen ausführen konnten. Als er die Antwort bekam, dass solche Tempi den deutschen Text unaussprechlich machen würden, erwiderte er: »Che cosa? Parole? Effetto! Effetto!« (»Was? Worte? Effekt! Effekt!«). Die genaue Verständlichkeit der einzelnen Worte ist in Rossinis Ensemblestücken nur sekundär gegenüber der gesamten Wirkung der Harmonie, der Orchestrierung und der rhythmischen Effekte. Der Parlandostil wurde freilich nicht von Rossini erfunden, sondern war ein typisches Stilmittel der Vokalpartien komischer Figuren schon im 18. Jahrhundert. Diese Melodien waren überwiegend syllabisch und konnten zuweilen aus einer obsessiven Wiederholung derselben Note bestehen. Rossini gelingt es, diese Wiederholungen durch ungewöhnliche Tonabweichungen und abwechslungsreiche Melodien und Orchesterbegleitungen spannender und lustiger zu gestalten. Sehr berühmt ist Don Bartolos Arie »Signorina, un’altra volta«, in der er seinem Mündel Rosina verbietet, auf den Balkon hinauszugehen. Der Sänger muss sehr schnell bedeutende Textmengen aussprechen und zugleich nicht unbedeutende melodische Sprünge beherrschen – seine Vokalpartie ist alles andere als monoton! Anders ist der Parlandostil in La cenerentola, und zwar bei Don Magnificos Diktat des Reinheitsgebotes für Wein (»Noi don Magnifico«), nach seiner Ernennung zum Kellermeister. Um Don Magnificos Diktieren anschaulich zu machen, entscheidet sich Rossini für eine Art Sprechgesang auf einem Ton, während das Orchester die Monotonie der Vokalmelodie durch eine bunte und lebendige Begleitung von Streichern und Holzinstrumenten belebt, deren harmonischer Verlauf alles andere als banal ist. Der Humor der Szene entsteht aus dieser besonderen Vertonung und natürlich aus der Tatsache, dass man in einer Oper ein Edikt über die Reinheit des Weins erlässt. Wortwiederholungen sind ein anderes humoristisches Mittel, das Rossini in La cenerentola verwendet, etwa wenn der Diener Dandini, der als Prinz verkleidet den Beginn des großen Festmahls verkünden darf und sich schon auf die großen Essenportionen freut, die ihm bei dieser Gelegenheit zuste 113

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hen werden. Dandini kann seine Freude kaum verbergen und singt viermal »Andiamo, andiamo a tavola« (»Gehen wir, gehen wir zu Tisch«), mit der Verdoppelung von »andiamo«, die seine Eile noch anschaulicher macht. Bestimmte Wortwiederholungen sind bereits im Libretto enthalten, wie im Duett Dandini-Prinz »Zitto zitto, piano piano« (»Sacht sacht, leise leise«); die Begleitung der Streicher malt quasi ein Summen, das den geflüsterten Dialog über die zwei Schwestern des Aschenbrödels Angelina darstellt. Das Summen evoziert auch den Klang bestimmter Insekten, wie es bei der Biene der Fall ist, mit der sich Dandini bei seiner Auftrittsarie als Prinz vergleicht (»Come un’ape ne’ giorni d’aprile«). Gleichnisarien mit Naturelementen oder Tieren waren Usus in der italienischen Oper und wären nicht unbedingt lustig gewesen, allerdings ist ein Vergleich mit einer von Blüte zu Blüte hüpfenden Biene ein erniedrigendes Gleichnis für einen Prinzen, das die reale Herkunft Dandinis enthüllt. Er beginnt mit einem seiner vorgestellten Rolle würdigen Sprachregister, indem er nach einem »sembiante« Ausschau hält (»Erscheinung« in der erhobenen Sprache der Libretti der Zeit), der seiner würdig ist, aber gleich danach mit Bezug auf die gesuchte Ehefrau von einem »boccone squisito« spricht, »einem köstlichen Happen«, der aus der Alltagsprache eines Dieners stammt. Rossini folgt dem Stilbruch Dandinis mit der Vokalmelodie, die zuerst sehr verziert und fein scheint, um danach zum Sillabato zu werden. Er würdigt die Schönheit der beiden Schwester, deren Wirkung er mit den »colpi di un doppio cannone« (» Einschlägen einer doppelten Kanone«) vergleicht. Rossini evoziert diese Liebesoffensive mit wiederholten akzentuierten Triolen der Blasinstrumente (Flöten, Oboen, Klarinetten, Fagotte). Ähnlich bietet der Librettotext im ersten Finale von Il turco in Italia ein Gleichnis zwischen dem stürmischen Wind, der in Wäldern und auf Meeren wütet, und der Wut zweier rivalisierender Frauen. Rossini, der ein Penchant für die tonmalerische Darstellung von Stürmen hatte – siehe Barbiere, Cenerentola, aber auch Otello und Guillaume Tell – orchestriert die Szene dementsprechend: Die Streicher imitieren den Sturm in üblichen Unisono-Tiraden, die Blechinstrumente donnern wiederholte Töne, die Piccoloflöte (die oft die Blitze eines Sturmes malt) begleitet die Koloraturpassagen der Stimmen. Die Wiederholung derselben Melodie in einem Duett, ein Spezifikum des Rossini’schen Stils – einige zeitgenössische Komponisten bevorzugten eine Variation der Melodie bei der Wiederholung – kann ein weiteres Mittel des Humors sein, wenn die Bedeutung der Worte eine ganz andere ist: Ein gutes Beispiel ist im Turco das Duett »D’un bell’uso in Turchia« zwischen den Rivalen Selim und Don Geronio: Während der türkische Prinz ein seiner Ansicht nach gutes Angebot vorschlägt, indem er Geronios Frau Fiorilla mit Geld ablösen möchte (»D’un bell’uso di Turchia forse avrai novella intesa« (»Vielleicht hast du von einer schönen türkischen Sitte gehört«), beantwortet Don Geronio mit einer Drohung: Wer ein solches Angebot wagt, wird LI V IO M A RCA LET T I

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durch den Mann der begehrten Frau verprügelt (»in Italia è più bell’uso, il marito rompe il muso quasi sempre al comprator«). Dass beide genau dieselbe Melodie singen, wirkt humoristisch, da man erwarten würde, dass sie unterschiedliche Melodien für unterschiedliche Affekte anwenden. Rossinis komischer Stil wurde ungeachtet des heutigen und damaligen Erfolgs von seinen Zeitgenossen nicht durchgängig geschätzt. Manche Rezensenten meinten, ernste Stücke seien zu fröhlich und komische Partien manchmal zu erhaben. Sehr bekannt ist die Melodie, die das Orchester bei der »Verleumdungsarie« von Don Basilio im Barbiere spielt, und die ins tragische Finale des Otello übernommen wurde. Die Stücke wurden in unterschiedlichen Städten uraufgeführt, in Rom bzw. Neapel, was die Selbstentlehnung zunächst verbarg. Als beide Opern allerdings in anderen Theatern zirkulierten, musste Rossini die Stelle im Otello retuschieren, um eine Assoziation mit der Verleumdungsarie im Publikumsgedächtnis zu vermeiden. Übrigens konnte Rossini sogar bei der Komposition von Opere serie bewusst humoristisch arbeiten. In einer seiner ersten Opern, Ciro in Babilonia, schrieb er für eine zweitrangige Sängerin, Anna Savinelli, eine Arie auf einem einzigen Ton, der gut 62mal wiederholt wird, während das Orchester für die abwechslungsreiche Begleitung sorgen muss, damit die Arie gar nicht langweilig klingt – und die deswegen dem Publikum gut gefiel. Rossini selbst schrieb in einem Brief, dass »meine eintönige Sängerin überglücklich über ihren Triumph« war. Musikalischer Humor kann auch bei scheinbar ernsten Gelegenheiten getrieben werden, und Rossini, der auch im Alltagsleben immer »amüsant und geistreich« wirkte, wie Mendelssohn ihn in einem Brief beschrieb – verstand auch dies meisterhaft.

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DER WITZ ALS KNOBELAUFGABE Die Philosophin Anne Sophie Meincke über das Phänomen Humor

Fangen wir ganz journalistisch an. Wann haben Sie zuletzt so richtig gelacht? Wann wirklich das letzte Mal war, kann ich gar nicht sagen. Aber vor einigen Tagen hatte ich ein professionelles Fotoshooting, mit Visagistin und allem, was dazugehört. Und mittendrin wurde ich plötzlich – aus Gründen, die hier nichts zur Sache tun – emotional und das aufwendig aufgetragene Make-up drohte zu zerrinnen. Also habe ich gerufen: Irgendwer muss jetzt etwas tun, könnt ihr mir nicht einen Witz erzählen? Meiner Bitte A. S. MEINCKE

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wurde entsprochen. Der Witz war ganz flach, aber es hat geholfen: Ich musste lachen, hörte auf zu heulen und das Fotoshooting konnte weitergehen. Damit ist ja über Humor als Ventil viel gesagt. Aber probieren wir zunächst eine Definition: Was ist Humor? Die Philosophen haben sich ziemlich abgemüht, eine entsprechende Definition zu finden, ohne sich einigen zu können. Wichtig ist aber zu beachten, dass Humor und Lachen nicht dasselbe sind. Wir lachen ja manchmal auch über Dinge, die gar nicht lustig sind. Wenn man nun fragt, was Humor ist, stellt sich die Frage, was man überhaupt meint. Die humorvolle Reaktion auf einen Reiz oder die Sache selbst, über die man lacht, das lustige Objekt? In letzterem Falle bin ich skeptisch, ob man überhaupt objektive Eigenschaften eines »lustigen Objekts« definieren kann. Denn ob ein Objekt lustig ist, hängt doch immer von den Einstellungen ab, die wir zu diesem Objekt haben, und damit vom jeweiligen Kontext. Daher ist es philosophisch interessanter zu schauen: Was ist die humorvolle Einstellung? Ich denke, dass Humor die Fähigkeit voraussetzt, sich zu distanzieren. Also sich aus einer Situation, in die man emotional verstrickt und die vielleicht sogar unangenehm ist, herauszunehmen. Man nimmt die Position des Außenstehenden ein – und das befähigt einen, das Komische in einer Situation zu sehen und darüber zu lachen. ASM

Das klappt aber nur, wenn man der Akteur ist? Wenn man einen Komödien-Klassiker heranzieht, wie etwa den Menschen, der gegen einen Laternenpfahl läuft, hat das mehr mit Schadenfreude zu tun? Ein sehr guter Einwand! Es gibt ja die bis in die Antike zurückreichende Theorie, dass Humor eigentlich immer Spott und damit etwas Böses ist. Er basiert auf einem Gefühl der Überlegenheit, und das Lachen, das er auslöst, ist stets ein Auslachen. Wobei ich in diesem Zusammenhang auf Henri Bergson, der ein ganzes Buch über das Lachen geschrieben hat, hinweisen möchte. Er meint, dass auch beim Auslachen eine Distanzierung vorliegt. Denn wenn man mit der Person, die gegen einen Laternenpfahl läuft, mitfühlte, müsste man sie eigentlich bedauern. Da man aber nicht mitfühlt, findet man es lustig. ASM

Nikolaus Harnoncourt wies ja immer darauf hin, dass er deshalb nicht lacht, weil das Lachen auf Kosten eines anderen geht. Das ist eben die alte antike Idee. Darum wollte Platon die Komödie verboten sehen, weil das Lachen aus seiner Sicht die bösen Anteile in der Seele des Menschen beflügelt. Hinzu kam der Gedanke, ASM

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dass das Lachen etwas Irrationales an sich hat – und das ist zutiefst unphilosophisch. Der Philosoph in der Antike wollte ausgeglichen sein, rational sein, beherrscht sein und wollte seine Triebe und seine Leidenschaft im Griff haben. Wenn man aber vom Lachen übermannt wird und sich am Boden kugelt, ist all das nicht erfüllt. Aber existiert auch eine positive Philosophie des Lachens? Etwa im Sinne einer Befreiung von der Erdenschwere? Es gab und gibt verschiedenste philosophische Theorien des Humors, etwa die »Entladungstheorie«, der zufolge aufgestaute Energie im Lachen freigesetzt wird. Eine bekannte Form dieser Theorie wurde von Sigmund Freud vertreten. Er meinte, dass die freigesetzte Energie genau jene sei, mit der wir üblicherweise bestimmte Gefühle und Begierden, vor allem sexuelle, aber auch solche der Feindseligkeit, unterdrücken. Im Witz bzw. im Lachen entlädt sich diese Repressionsenergie. Allerdings wird diese Theorie empirisch durch die Tatsache widerlegt, dass nicht etwa die sexuell Verklemmten, sondern vielmehr jene Menschen, die ihre sexuellen Wünsche frei ausleben, sich am meisten an anzüglichen Scherzen erfreuen. Dann gibt es die Inkongruenz- bzw. Nichtübereinstimmungstheorie, die besagt, dass das, worüber man lacht, auf einer enttäuschten Erwartung beruht: Der Effekt eines Witzes liegt in der unerwarteten Pointe. Henri Bergson wiederum meinte, dass wir über die Mechanisierung des Lebendigen lachen, also wenn Personen sich wie Dinge benehmen – man denke etwa an den Clown und seine ungelenken Bewegungen, aber auch an charakterliche Versteifungen wie Geiz oder Pedanterie. Bergson betonte außerdem, dass der Humor eine soziale Funktion hat: Indem wir über solche mechanischen »Abirrungen vom Leben« lachen, lockern wir die Versteifung auf und nehmen so eine soziale Korrektur vor. Gleichzeitig reflektieren wir, wie wir eigentlich leben sollten. Und damit kommt dem Humor als intellektuellem Spiel und als Genuss tatsächlich eine wichtige existenzielle Bedeutung zu. Hier wäre der von Ihnen gefragte Aspekt des Positiven. ASM

Wie sieht es mit der Zeitlosigkeit des Humors aus? Gibt es Muster, die sich von der griechischen antiken Komödie bis zur heutigen Sitcom wiederfinden? Das kulturelle Erbe, also die Geschichte, die uns heute noch prägt, spielt sicherlich eine große Rolle. Selbst wenn viele keine griechische Komödie auf einer Bühne gesehen haben oder kennen, ist natürlich die Art, wie wir denken und wie wir wahrnehmen, von dem, was in der Antike schon gedacht und gelebt worden ist, geprägt. Zugleich ist ASM

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der Humor als soziales Phänomen auch einem historischen Wandel unterworfen. Es gibt sicherlich signifikante Unterschiede zwischen dem Humor verschiedener Zeitalter. Lässt sich umreißen, was besserer oder schlechterer Humor ist? Ich kann jetzt nicht mit einer ausgefeilten Typologie des Witzes aufwarten, aber zumindest lässt sich ein gewisser Anspruch definieren. Je mehr es zu lernen gibt und je mehr ich mich intellektuell anstrengen muss, um einen Witz zu verstehen, desto höher ist der Anspruch. Witz oder Komik können ja eine intellektuelle Tiefe haben. Und wenn mir eine Komödie etwas über das Wesen des Menschen eröffnet oder mir einen Spiegel vorhält, dann kann ich etwas lernen. Denn manche der Charakterzüge, die man auf der Bühne sieht, hat man ja selber in Ansätzen. Nicht so überzeichnet vielleicht, aber sie sind vorhanden. ASM

Das heißt, Intellektualität stört den Humor nicht? Nein, ganz im Gegenteil. Ich bin überzeugt, dass es sich beim Humor um ein intellektuelles Phänomen handelt und nicht um irgendeine Leidenschaft oder Energie, die uns überfällt bzw. aus uns hervorbricht. Der Witz ist ein intellektueller Reiz. Er ist sozusagen eine Knobelaufgabe, die es zu lösen gilt. Daher das peinliche Gefühl, wenn man die Pointe eines Witzes nicht versteht. Und wenn jemand Schlagfertigkeit und Witz besitzt, dann interpretieren wir das als Zeichen von Bildung, Horizont, Reflexionsvermögen und – vielleicht sogar – Weisheit. Ja, ich sehe den Witz als etwas Intellektuelles, Kognitives. ASM

Nun gibt es ja auch den Kinderhumor. In einem gewissen Alter zum Beispiel lachen viele Kinder am allerliebsten über Pups-Witze. Da geht es ja eher um die Auseinandersetzung mit sozialen Normen, weniger um Intellektualität. Die Auseinandersetzung mit sozialen Normen ist doch auch intellektuell! Das Kind versteht, dass es eine Norm gibt, also etwas Abstraktes, und dass diese Norm gebrochen wird. ASM

Wie sieht es mit regionalen Unterschieden aus? Ich weiß über viele andere Kulturen zu wenig, um das um­fassend beantworten zu können. Aber: Ich komme aus Deutschland und habe fünf Jahre in England gelebt. In England gelten die Deutschen als huASM

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morlos oder zumindest sagt man ihnen einen schlechten Humor nach. Das stimmt natürlich nicht: es ist einfach ein anderer Humor. Es gibt hier, alleine schon aufgrund der Traditionsstränge, Unterschiede. Nun haben wir viel über Humor gesprochen, gleichzeitig bleibt die Frage unbeantwortet: Warum lachen wir eigentlich? Ich greife da wieder auf die Idee des Sich-Distanzierens zurück. Wir müssen fragen: Warum hat es einen Wert, sich zu distanzieren? Antwort: Weil es viele schlimme Dinge gibt! Das Lachen ist der Gegenpol zum Weinen, der Humor, das Fröhliche, das Lustige sind der Gegenpol zum Leid, zur Trauer. Beides gehört zur menschlichen Lebenswelt. Wir brauchen Humor als eine intellektuelle Leistung, um in dieser Welt, die doch, sagen wir einmal, eine sehr gemischte ist, zurechtzukommen. Wir müssen diese Fähigkeit haben, uns aus dem Moment herauszuziehen und etwas, was negativ ist, ins Positive zu wenden. Dabei ist es jedoch nicht so, dass das positive Gefühl sofort da ist; ich muss vielmehr etwas dafür tun, dass es sich einstellt. Erst die geistige Anstrengung des Humors, dann Fröhlichkeit und Lachen. Was ich zuletzt noch einwerfen wollte: Es gibt Literatur zu interessanten Gemeinsamkeiten zwischen Stand up-Comedy und Philosophie. Dazu gehören zum Beispiel der kritische Ansatz, das Hinterfragen vermeintlich selbverständlicher Annahmen, der Wert, der auf die Wortwahl gelegt wird, das Bemühen – wie man es etwa in manchen politischen Witzen findet –, Dinge auf den Punkt zu bringen, die sonst nicht gesagt werden, und allgemein die Liebe zur Wahrheit. ASM

Das Gespräch führte Oliver Láng

→ David Astorga als Albazar in Il turco in Italia

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Michael Jahn

»LA CENERENTOLA« IN WIEN

← Abendzettel der Erstaufführung an der Wiener Hofoper, 1881

Viele Opernbesucher haben vermutlich von dem berühmten »Rossini-Taumel« des Jahres 1822 gehört, den der Komponist auslöste, als er im Wiener Kärntnertortheater mit einer Truppe italienischer Sängerinnen und Sänger (u.a. seiner ihm auf der Reise nach Wien angetrauten Gattin, der Primadonna Isabella Colbran) mehrere seiner Opern unter tosendem Applaus aufführte. Weniger bekannt ist, dass sich Wien eigentlich bereits seit 1816 in einem veritablen »Rossini-Taumel« befand. Sozusagen zum »Aufwärmen« lernten die Wiener Musikfreunde im November 1816 im Kärntnertortheater (dem damaligen Spielort der Hofoper) die Farsa L’inganno felice kennen – eine Aufführung, die zwar nicht für Ablehnung, aber auch nicht für überbordende Begeisterung sorgte. Ein Monat später jedoch war der Name Rossinis in aller Munde: Die angeblich mit einer in Wien bis dahin in dieser Qualität nicht gehörten herrlichen Altstimme gesegnete Gentile Borgondio trat in der Titelpartie des Tancredi vor das Publikum und schmetterte die Cavatina »Di tanti palpiti« in den Zuschauerraum. Von nun an gab es kein Halten mehr; die »Tanti palpiti« wurden an allen Ecken Wiens geträllert, in den verschiedensten Besetzungen in Druck und dadurch unter das musikbegeisterte Volk gebracht; die Borgondio musste ein Jahr in Wien verweilen und hier u.a. in den Erstaufführungen von L’italiana in Algeri und Ciro in Babilonia mitwirken. In den Theatern in der Leopoldstadt und in der Josefstadt folgten naturgemäß erfolgreiche Parodien des Tancredi (mit Musik von Wenzel Müller bzw. Ferdinand Kauer) und nach der Abreise der Borgondio wurde das Werk in deutscher Sprache am Kärntnertortheater einstudiert (mit der kaum weniger erfolgreichen Katharina Waldmüller in der Titelrolle). Es folgte eine Zeit der deutschsprachigen Rossini-Erstaufführungen in Wien – entweder im Kärntnertortheater oder in dem zu jener Zeit in Personalunion mit diesem geführten Theater an der Wien, das jedoch nie zur Hofbühne erhoben wurde: Elisabeth, Königin von England, Otello, Die diebische Elster, Der Barbier von Sevilla, Richard und Zoraide und Der Türke in Italien – all diese Opern waren in Wien bekannt, als am 29. August 1820 die Premiere des Aschenbrödel im Theater an der Wien stattfand. Allerdings war auch dieses Werk den Wienern nicht mehr gänzlich fremd: Als am 7. März 1820 der Türke in Italien im Theater an der Wien zum ersten Male

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aufgeführt worden war, wollte man dem Publikum nicht die originale Ouvertüre dieses Werkes zumuten, da die Wiener jene Teile dieser Nummer bereits kannten, die Rossini in der Sinfonia zu Otello wiederverwendet hatte – somit entschieden sich die Verantwortlichen, dem Türken in Italien die Ouvertüre zur Cenerentola voranzustellen. Dieses Stück hatten die Wiener Musikenthusiasten allerdings bereits zuvor unter dem originalen Titel in »Musikalischen Akademien« im Kärntnertortheater hören können, ebenso wie die finale Arie der Titelrolle – dass ein Teil dieser Szene eigentlich aus dem Barbiere di Siviglia stammte, war in Wien übrigens unbekannt, da die Arie des Almaviva im 2. Akt nicht Bestandteil der damaligen Wiener Aufführungen des Barbiers war. Die Mitwirkenden an der Cenerentola-Erstaufführung am 29. August 1820 zählten zu den Stützen des damaligen Wiener Opernensembles, das sowohl im Kärntnertortheater als auch im Theater an der Wien auftrat. Der Tenor Franz Jäger (1796-1852), der Interpret des Don Ramiro, war ein gebürtiger Wiener, von dem Mozart-Schüler Joseph Weigl für die Bühne entdeckt worden und hatte 1818 am Theater an der Wien debütiert. Er wurde vor allem als Rossini-Tenor geschätzt, aber auch Partien wie Max in Webers Freischütz und Tamino in Mozarts Zauberflöte zählten zu seinen Lieblingsrollen. Von 1824 bis 1828 gehörte er dem Ensemble des Königstädtischen Theaters in Berlin an, von 1828 bis 1836 jenem des Hoftheaters Stuttgart. Den Don Magnifico sang Joseph Seipelt (1787-1847), der zunächst als Chorist an das Theater an der Wien engagiert und von Antonio Salieri zum Solisten ausgebildet worden war. Seipelt trat an der Wiener Hofoper in zahlreichen Rossini-Opern auf (u.a. als Bartolo im Barbier von Sevilla und Mustafà in der Italienerin in Algier), er war aber auch als Sarastro, Pizarro, Kaspar und Komtur sowie in der Uraufführung von Webers Euryanthe (1823, als König Ludwig) zu hören. Joseph Spitzeder (1796-1832), der Interpret des Alidoro, stammte aus Kassel und wurde zunächst als Schauspieler, dann aber von Joseph Weigl im Gesang ausgebildet. Bis 1824 war der Künstler in Wien in Partien wie Papageno, Leporello oder Thaddäus (Taddeo) in der Italienerin in Algier zu hören. Dann ging Spitzeder nach Berlin, später nach München, wo die erfolgreiche Karriere durch seinen frühen Tod beendet wurde. In noch jüngeren Jahren starb seine erste Gattin, Henriette Spitzeder-Schüler (1800-1828), Wiens erste Clorinde (Clorinda) in der Cenerentola. Die aus Dessau stammende Künstlerin hatte 1814 in Nürnberg debütiert, 1816 Joseph Spitzeder geheiratet und 1819 erstmals in Wien gesungen. Hier trat sie u.a. als Königin der Nacht und innerhalb von nur fünf Jahren in allen drei Frauen-Partien in Mozarts Don Giovanni auf – wohl ein einmaliger Fall in der Wiener Operngeschichte. 1824 folgte sie ihrem Gatten nach Berlin. Ihre Bühnen-Schwester in der Cenerentola als Tisbe war Marianne Kainz (1800-1866), eine gebürtige Innsbruckerin, die 1817 in Prag Schülerin von Carl Maria von Weber gewesen war und über Wien (wo sie insbesondere als Ninetta in der Diebischen Elster einen großen persönlichen Erfolg feierte) nach Italien ging. Später reifte sie in DeutschMICH A EL JA HN

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land zu einer großen Primadonna, die mit der berühmten Henriette Sontag verglichen wurde. Der Bariton Joseph Carl Schütz (1794-1840), Wiens erster Dandini, war zunächst als Schauspieler tätig (u.a. auch am Wiener Burgtheater), danach als Sänger am Theater an der Wien und am Kärntnertortheater. Mit seiner Gattin Amalie Schütz-Oldosi ging der Künstler nach Italien, wo er u.a. Direktor des Teatro Carcano in Mailand wurde. Diese Amalie Schütz (1804 - 1852, eine gebürtige Wienerin namens Holdhaus) war von ihrer berühmten Kollegin Antonia Campi entdeckt worden. Sie feierte als blutjunge Künstlerin in unserer Aschenbrödel-Erstaufführung ihr Bühnendebüt und wurde ein Jahr später Ensemblemitglied der Hofoper. Sie trat bis 1823 in zahlreichen Rossini-Opern auf (u.a. La donna del lago, L’italiana in Algeri, Tancredi). In Italien zu einer gefeierten Primadonna gereift, die sowohl an der Mailänder Scala als auch am Teatro San Carlo in Neapel auftrat, kehrte die Schütz-Oldosi 1835 nach Wien zurück und begeisterte das Publikum in Bellinis Norma und Sonnambula sowie in Donizettis Anna Bolena. Die Schütz entzückte die Wiener allerdings bereits im Jahre 1820 als Aschenbrödel durch ihre helle, volle Altstimme, gepaart mit einer ruhigen, durchdachten Darstellung und einer sehr angenehmen Gestalt. Sie erhielt enthusiastischen Beifall, wie wir einer Rezension der Leipziger Allgemeinen musikalischen Zeitung entnehmen dürfen. Jedenfalls merkten die Zuseherinnen und Zuseher keinen Augenblick, dass es sich um ein Bühnendebüt handelte, vielmehr bewunderte man die auffallende Sicherheit in Gang, Gebärde und Rede (die Rezitative wurden der damaligen Sitte gemäß in deutschsprachigen Aufführungen in gesprochenen Dialog umgewandelt; die Bearbeitung stammte von Ferdinand Biedenfeld). Ihre Partner füllten die ihnen anvertrauten Partien ebenso erfolgreich aus, in erster Linie der heftig akklamierte Tenor Franz Jäger, wie Der Sammler berichtete. Die unter der musikalischen Leitung von Ignaz von Seyfried (1776-1841) stehende Aufführung wurde allgemein mit Wohlwollen aufgenommen, die Reprisen waren gut besucht, und als herausragende Nummern des Werkes wurden in der Wiener Allgemeinen musikalischen Zeitung gepriesen: Der Schluss der Introduktion, die Romanze der Cenerentola, das Duett zwischen ihr und Ramiro, das Quintett »Signor, una parola«, mehrere nicht näher bezeichnete Ensembles im ersten Finale, die Soloszenen des Don Magnifico, das Duett zwischen Magnifico und Dandini, Partien aus dem Sextett »Siete voi?« sowie natürlich die Final-Arie der Primadonna. – Überragend war der Erfolg des Werkes dennoch nicht, gab es am Theater an der Wien doch übermächtige Konkurrenz durch ein anderes Aschenbrödel, nämlich die Feenoper Cendrillon des heute beinahe vergessenen französischen Komponisten Nicolas Isouard, die von 1811 bis 1823 nicht weniger als 107 Mal an der Wien aufgeführt wurde. Eine solche Rivalität war am Kärntnertortheater nicht zu fürchten, denn an diesem Haus wurde Isouards Werk nie aufgeführt – ganz im Gegensatz zu Rossinis Cenerentola, die allerdings auch hier am 30. März 1822 zunächst in 125

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deutscher Sprache als Aschenbrödel gezeigt wurde. Der k. k. Hoftheatermaler Johann Janitz sorgte für die Dekorationen, Biedenfelds Textfassung wurde aus dem Theater an der Wien übernommen. Für die musikalische Einstudierung sorgte Rossini selbst, der wenige Tage zuvor in Wien eingetroffen war und bei den Proben die Anleitung zur Aufführung der Oper gab – auf diesen Umstand wurde sogar auf dem Theaterzettel hingewiesen. Für die meisten Nummern bestimmte er ein schnelleres Zeitmaß, das sich wiederum mit der schweren deutschen Sprache nicht vertrug. Rossini selbst soll jedoch den Wienern erklärt haben, dass man bei seiner Musik nicht jedes Wort verstehen musste, und allein der Effekt die Hauptsache sei – niemand wagte, ihm zu widersprechen. Im Allgemeinen gefiel die Oper dennoch weniger als im Theater an der Wien. Die Schütz-Oldosi und Jäger wiederholten ihre ausgezeichneten Leistungen als Angelina und Ramiro, Seipelt war wieder der Magnifico, Johann Michael Weinkopf der Alidoro und Anton Forti (eines der wandlungsfähigsten Ensemble-Mitglieder der Wiener Oper, das von Mozarts Sarastro bis Rossinis Otello Bass-, Bariton- und Tenor-Partien übernahm) der Dandini, dessen eher grimmiger Persönlichkeit der Buffo-Charakter dieser Partie laut überlieferter Rezensionen nicht wirklich entsprach. Rossini brachte 1822 einige der berühmtesten Sänger nach Wien: Neben Isabella Colbran u.a. die Tenoristen Giovanni David und Andrea Nozzari, die Mezzo-Sopranistin Fanny Eckerlin und den Bass-Buffo Antonio Ambrogi. Einer der führenden Künstler der italienischen Halbinsel sollte jedoch erst ein Jahr später Wien beehren: Luigi Lablache, der sich in Wien als für viele Jahrzehnte wegweisender Figaro im Barbiere di Siviglia vorstellte und der in späteren Jahren u.a. den Giorgio in Bellinis Puritani und die Titelpartie in Donizettis Don Pasquale kreieren sollte. Als nun dieser große Künstler am 17. Mai 1823 den Dandini in der ersten italienischen Aufführung der Cenerentola am Kärntnertortheater übernahm, war der Erfolg gesichert, nicht zuletzt auch durch seine ausgezeichneten Partner: David sang den Don Ramiro, Ambrogi den Don Magnifico, Adelaide Comelli-Rubini (die Gattin des großen Tenors) interpretierte die Titelpartie und die junge Karoline Unger (die später unter dem Namen Ungher-Sabatier hochangesehene Primadonna) übernahm die Partie der Tisbe. Bis 1828 gab es etwa 40 Aufführungen der Cenerentola in italienischer Sprache, in welchen berühmte Künstler wie Rubini den Don Ramiro, Antonio Tamburini den Dandini oder Nicola Bassi und Lablache den Don Magnifico interpretierten. Nachdem sich der Impresario Domenico Barbaja, dem Wien diese Hochblüte des italienischen Gesanges zu verdanken hatte, aus der Donaumetropole zurückgezogen hatte, kamen wieder die einheimischen Künstlerinnen und Künstler in deutscher Sprache zu Wort, und sofort hatte ein Werk wie La cenerentola, das so sehr auf den Witz und den melodischen Duktus der italienischen Sprache aufgebaut ist, weniger Erfolg – nach fünf deutschen Aufführungen im Jahre 1829 verschwand das Werk wieder aus dem Spielplan der Hofbühne. MICH A EL JA HN

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Wenn es allerdings die politischen Verhältnisse zuließen und italienische Spielzeiten am Kärntnertortheater organisiert werden konnten (meistens von Anfang April bis Ende Juni des jeweiligen Jahres), so war auch Rossinis Cenerentola ein wertvoller und beliebter Bestandteil dieser Stagione und die berühmtesten italienischen Künstler interpretierten die Hauptpartien: So war etwa 1837 Marietta Brambilla in der Titelrolle neben Agostino Rovere als Magnifico und Ignazio Marini als Dandini zu erleben, 1847 wiederum sang Elena Angri die Angelina und wurde von einem Musikkritiker als »eine der größten Sängerinnen der Gegenwart in jeder Beziehung« bezeichnet. Ihr Tenorpartner musste eine eingelegte – nicht näher bezeichnete – Arie im zweiten Akt sogar wiederholen. Von 1854 bis 1859 war die Cenerentola mit immerhin 31 Aufführungen jährlicher Bestandteil der italienischen Stagione; Adelaide Borghi-Mamo und Laura Brambilla-Marulli sangen die Angelina, Raffaele Scalese und Giovanni Zucchini den Magnifico, Camillo Everardi den Dandini und Emanuele Carrion den Ramiro. 1865/66 setzten Künstler wie Désirée Artôt (Angelina) und Luigi Fioravanti (Magnifico) einen weiteren Glanzpunkt im Reigen der großartigen Darbietungen von Rossinis Opera buffa. Die 1869 eröffnete neue, prachtvolle Hofoper am Ring war aufgrund ihrer Größe für die Wiedergabe intimerer Werke der deutschen, französischen und italienischen komischen Oper wesentlich weniger geeignet als das alte intime Kärntnertortheater – die Diskussion um ein eigenes Wiener Opernhaus für kleinere Opern führte zum Bau der Komischen Oper (des später unter tragischen Umständen abgebrannten Ringtheaters) sowie des Kaiserjubiläums-Stadttheaters (der heutigen Volksoper). Nur wenigen Sängern gelang es, mit ihren Stimmen den großen Raum der Hofoper zu füllen, und dazu gehörte wohl auch Marietta Biancolini, die am 2. Mai 1881 der im Rahmen einer italienischen Stagione organisierten Erstaufführung der Cenerentola im neuen Haus die Partie der Angelina sang, wie wir der Wiener Abendpost vom 3. Mai 1881 entnehmen dürfen: »Sgra. Biancolini, eine würdige Gestalt, entzückt, wenn sie den Mund aufthut. Diesem entströmt eine große, volle, schöne Altstimme, die ohne Anstrengung das Haus mit Wohllaut erfüllt.« Doch auch ihre Partner, allen voran »der gewandte Buffo« Alessandro Bottero als Magnifico, »der flinke Barytonist« Napoleone Verger als Dandini und der »gut geschulte Tenorist« Giacomo Piazza »erwiesen sich als wirkungsfähig«. Das unter der musikalischen Leitung von Raffaele Kuon stehende Werk wurde damals übrigens als dreiaktiges [!] Melodramma giocoso aufgeführt und im dritten Akt durch eine Balletteinlage, einen Pas de six, verlängert. Beinahe ein halbes Jahrhundert später, am 25. Juni 1930, wurde das Werk in einer Übersetzung des Münchener Kapellmeisters Hugo Röhr unter Hinzufügung der Original-Secco-Rezitative in einer Inszenierung von Lothar Wallerstein und unter der musikalischen Leitung von Robert Heger wieder in den Spielplan der Staatsoper aufgenommen – allerdings nicht in das 127

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große Haus, sondern in den als zweite Spielstätte eingerichteten intimeren Redoutensaal. Die wieder durch ein Ballett bereicherte Aufführung wurde von Ferdinand Scherber, dem Kritiker der Wiener Zeitung, als »oft etwas zu überspitzt burlesk und zu schwerfällig« geschildert. Der Regisseur Wallerstein habe das Werk zu ernst genommen, und auch das Orchester unter Heger sei erst gegen Ende der Vorstellung der Stimmung einer komischen Oper nahegekommen. Die Sänger (Kolomán von Pataky als Ramiro, Karl Hammes als Dandini und Karl Norbert als Magnifico) gaben zu viel Stimme, nur Nicola Zec zeigte als Alidoro eine »gemütliche und maßvolle Buffoleistung«. Mit »technisch vorzüglicher« Koloratur stellte Adele Kern als Angelina eine

← Bühnenbildskizze von Alfred Roller für die Cenerentola der Wiener Staatsoper, 1930

»herzige Nippesfigur« auf die Bühne. In beinahe unveränderter Besetzung ( Josef Manowarda übernahm den Alidoro) wurde das Werk am 20. Februar 1932 in die Staatsoper übernommen, wo es bis November 1933 zu sehen war. An die beiden letzten Inszenierungen der Cenerentola in der Staatsoper können sich ältere Opernbesucher noch erinnern: Zunächst am 25. Oktober 1959 die geglückte Einstudierung der Angelina in der deutschen Übersetzung von Joachim Popelka und der szenischen Fassung des Meisterregisseurs Günther Rennert, der allerdings auf einer immer gleichbleibenden Besetzung bestand. In allen 21 Aufführungen dieser Inszenierung bis Jänner 1965 sangen daher Christa Ludwig die Angelina, Emmy Loose und Dagmar Hermann Clorinde und Tisbe, Waldemar Kmentt den Ramiro, Walter Berry den DanMICH A EL JA HN

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dini, Karl Dönch den Magnifico und Ludwig Welter den Alidoro. Einzig die musikalische Leitung wechselte von dem Dirigenten der Premiere, Alberto Erede, zu Peter Ronnefeld, Wilhelm Loibner und Heinrich Bender. Am 22. Oktober 1981 folgte dann wieder eine italienische Cenerentola unter der musikalischen Leitung von Roberto Abbado mit Agnes Baltsa als Angelina, Renate Holm und Gertrude Jahn als deren böse Stiefschwestern, Francisco Araiza als Ramiro, Enzo Dara als Dandini, Giuseppe Taddei als Magnifico und Rudolf Mazzola als Alidoro. In den insgesamt 23 Aufführungen der Inszenierung von Giancarlo Menotti traten bis Mai 1984 u.a. Lucia ValentiniTerrani als Angelina, John Aler als Ramiro sowie Rolando Panerai und Alberto Rinaldi als Dandini auf. Die Rennert-Inszenierung des Jahres 1959 wurde 1968 an die Volksoper übernommen (unter der musikalischen Leitung von Argeo Quadri), und 1997 (unter Gabriele Ferro) fand in diesem Theater eine weitere Neuinszenierung von Rossinis geistreicher Opera buffa in Wien statt. Die Inszenierung von Achim Freyer stand noch kurze Zeit vor der Premiere der aktuellen Produktion der Staatsoper auf dem Spielplan der Volksoper. An der Hof- bzw. Staatsoper hingegen wurden im 20. Jahrhundert weitere Fassungen des Aschenbrödel-Stoffes gezeigt, und zwar die Ballette Aschenbrödel von Johann Strauß in der musikalischen Einrichtung von Josef Bayer (1908-1919) und Cinderella von Sergeij Prokofjew (1970/1971). 2013 kam die bisher letzte Neuproduktion an der Wiener Staatsoper heraus: Sven-Eric Bechtolf inszenierte, Jesús López Cobos dirigierte. Bis 2022 fanden knapp 50 Aufführungen dieser Produktion statt.

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Oliver Láng

VOM PUBLIKUM GELIEBT

Schlaglichter auf Wiener Aufführungen von Il turco in Italia


Anfangs war es gar nicht Rossini. Sondern der Dresdner Komponist Franz Seydelmann (1748-1806), der sein »italienisches Singspiel« Il turco in Italia nach Wien, ans alte Burgtheater am Michaelerplatz brachte. Das Libretto hatte Caterino Tommaso Mazzolà verfasst, und die spätere Rossini-RomaniVariante sollte auf diesem fußen. Sechsmal erklang das Stück in der Premierenserie, nennenswerte Reaktionen waren nicht zu verzeichnen. »Se. Excellenz Hr. Graf Ferdinand von Palffy, Eigenthümer des k. k. privil. Theaters an der Wien, bewilligten dem Unterzeichneten eine Vorstellung zu seinem Vortheile, derselbe gibt sich demnach die Ehre, einen hohen Adel und das verehrungswürdige Publicum gehorsamst zu benachrichtigen, dass diese Vorstellung heute, Dienstag den 7. März 1820 im Theater an der Wien Statt haben, und an diesem Tage gegeben wird: Zum ersten Male: Der Türke in Italien. Komische Oper in zwei Aufzügen, nach dem Italienischen, von Hrn. Ritter Joseph von Seyfried. Musik von Rossini. Die Ansicht Neapels ist nach der Zeichnung eines dortigen Malers. (…) Ludwig Schwarzböck, Regisseur und Chor-Director des k. k. priv. Theaters an der Wien.« Nicht ohne Umschweife ist die Ankündigung in einer Zeitung, die auf die erste Wiener Aufführung von Rossinis Turco in Italien hinweist. Ungewohnt ist aus unserer heutigen Sicht die Voranstellung des Libretto-Übersetzers vor den Komponisten, aussagekräftig freilich der Hinweis auf die Authentizität der »Ansicht Neapels«, die das Publikum auf einem Prospekt sehen konnte: Eine Theatervorstellung, das war mitunter auch ein kleiner Ausflug, gewissermaßen eine Auslandsreise, die das Publikum, das die tatsächliche Möglichkeit dazu zum großen Teil nicht hatte, an bekannte Stätten mitnahm. So war auf dem Prospekt ein offenbar hübsches Panoptikum zu sehen: »Die Ansicht von Neapel, rechts das Castell St. Elmo, links in der Ferne der rauchende Vesuv, an dessen Fuße das jedem Freund des klassischen Ritterthums merkwürdige Portici sich hinzieht, prangt in lieblicher Frische«, wird in einer zeitgenössischen Rezension hervorgehoben. 7. März 1820 also: Noch hatte das RossiniFieber die Rezensenten nicht vollends erfasst, denn die Kritiken lesen sich zum Teil bissig (und in ihrem teils abfälligen Tonfall dem journalistischen Zeitstil entsprechend). Man zieht über die Handlung her, bringt gegen den Komponisten die üblichen negativen Stereotypen ins Spiel: »Rossini hat sich in dieser Musik weniger auffallend, als gewöhnlich, wiederholt, wenigstens sind die Ähnlichkeiten hier verlarvter, und das er seine Eigenthümlichkeit so ganz verleugnen sollte, ist nicht zu verlangen. Dagegen gebricht es hier an neuen und anziehenden Melodien, wofür die Blumen des Gesanges wieder reichlich genug ausgestreut sind. Mehrere Nummern tragen den Charakter einer sorgfältigen Instrumentirung, während die Singstimmen, durch brillante Verschlingungen und immitierende Passagen zu überraschen suchen.« Einzelne musikalische Nummern werden lobend hervorgehoben, Rossini als Komponist des Komischen jenem des Tragischen vorgezogen. Wie so häufig 131

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← Barry Banks als Don Narciso in Il turco in Italia

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weist man auf frühere Qualitäten des Komponisten hin, um festzustellen, dass es inzwischen bergab gehe. So las das Publikum »Mit Tancredi stürzte er [Rossini] sich – ein Epochenmacher ohne Gleichen – wie ein Komet in die Sonnenbahn der Harmonie; außer ihm schien nichts Glänzenderes, nichts Rührendes, nichts Melodisches zu seyn; (…) Es kam Othello und die diebische Elster auf die Bühne, und mit diesen Opern erreichte Rossini’s Ruhm den Zenith. Mühsam erhielt er sich mit seinem Barbier von Sevilla auf dem Scheitelpunkte; aber nun trat das Gesetz der Schwere in seine Wirksamkeit; Rossini näherte sich mit Richard und Zoraide dem Nadir und mit dem Türken in Italien erreichte er diesen Fußpunkt, um sich wahrscheinlich nie wieder zu heben.« Gleichzeitig findet man im Handel Bearbeitungen für den Hausgebrauch: »Sämtliche Ouvertüren von Joachim Rossini« sind in QuartettBearbeitungen oder als Klavierauszug zu erhalten, so auch jener von Turco, wie Inserate in der Wiener Zeitung zeigen. Man wagt auch den Blick über den Wiener Tellerrand, liest in der Wiener Theaterzeitung im Sommer 1820, dass der Turco in Paris »in der Opera buffa (…) bey der meisterhaften Ausführung von Seite der Sänger und des Orchesters, sehr glücklichen Erfolg gehabt hat.« Nur viermal wird die Oper gespielt, es dauert fünf Jahre, bis sie wieder, diesmal an der Hofoper im Kärntnertortheater, erneut auftaucht. Es ist eine italienische Truppe, die sie, unter Obhut des Impresarios Domenico Barbaja, des Leiters des Teatro San Carlo in Neapel, nun zur Aufführung bringt – in italienischer Sprache. Der Rezensent der Theaterzeitung erinnert sich an die nicht überragende Aufnahme der Oper im Jahr 1820, lobt Rossinis Musik als »effectvoll und brillant«, wenn ihm auch das Finale der Oper langweilig erscheint. Und in der Wiener Zeitschrift liest man, dass die Musik »vorzüglich gut gelungene Nummern [enthält]; die Situationen sprechen sich klar und wirksam aus; es ist nicht auf Bravour-Gesang und Kehlen-Virtuosität angelegt; nur ein paar Arien hörten wir, und eine gehört nicht einmal hierher. Komisch-charakteristischer Ausdruck und die wahre Sprache der musikalischen Conversation herrschen überall hervor.« Geadelt wurde die Vorstellung durch große Persönlichkeiten: Don Geronio wurde von Luigi Lablache gesungen, Donna Fiorilla von Joséphine Fodor: voller Lob sind die Rezensionen. Doch auch diese Serie währt nur kurz, nur fünfmal erklingt der Turco diesmal. Es dauerte erstaunlich lange, bis die Oper erstmals – als Gastspiel der Württembergischen Staatsoper am 5. April 1962 – an der Wiener Staatsoper zu erleben ist. Regisseur war Günther Rennert, der in Wien vor und nach dem Gastspiel mit zahlreichen Arbeiten präsent war; als Bearbeiter verpasste er dem Dichter Prosdocimo eine Spielleiterfunktion. Sehr zum Missfallen Franz Endlers, des Kritikers der Kronen Zeitung, der im Falle Rennerts befand, dass »der meist außerordentliche Regisseur mitunter ein geschmackloser Bearbeiter sein kann. (…) [Rennert] wollte ins Schwarze treffen – und Rossini sank dabei tot um.« Der Publikumsfreude schien das freilich keinen Abbruch getan zu haben, denn dieses jubelte offenbar ausgiebig. Wohl auch, weil Fritz VOM PU BLIK UM GELIEBT


Wunderlich den Narciso sang. »Unsere besondere Sympathie aber gehört Fritz Wunderlich, dem geradezu legitimierten Liebhaber der Ehefrau. Er besitzt eine echte, prächtige Tenorstimme und versteht es, eine unwiderstehliche Vis comica zu entfalten, indem er scheinbar seriös singt«, meinte Heinrich Kralik in der Presse, der im Gegensatz zu seinem Kollegen die Arbeit Rennerts wenn nicht höchst, dann doch zumindest höher schätzte. Und: »[Der Dirigent Ferdinand Leitner] nimmt die Kostbarkeiten gleichsam aus der Vitrine und lässt sie in der richtigen Beleuchtung glitzern und leuchten.« Im Kurier liest man, was Rennerts Arbeit betrifft, von »versteckter und offener Ironie« und »Modellaufführung«, es gab sogar Szenenapplaus für das Bühnenbild (Ita Maximowna) und die offenen Verwandlungen. Doch nicht nur Wunderlich, auch das restliche Ensemble – unter anderem Ruth-Margaret Pütz, Fritz Linke, Horst Günter – kam gut an: »Die Stuttgarter Gäste zeigten sich aber auch dem Kostbaren des Stückes gewachsen: der in Faktur und Ausdruck noblen, ja eleganten Musik Rossinis mit ihrer Fülle reizender Ensembles und ihrem instrumentalen Pointenreichtum« (Kurier). Im folgenden halben Jahrhundert wurde Rossinis Turco in Italia immer wieder in Wien gespielt: an der Wiener Kammeroper 1998 (mit Vittorio Grigolo als Narciso), an der Volksoper 2003 (mit Adrian Eröd als Dichter) oder im Theater an der Wien 2009 (mit Ildebrando D’Arcangelo als Selim). Mit dem aktuellen Gastspiel setzt sich diese Reihe nun fort – und bringt Cecilia Bartoli erstmals in einer szenischen Opernproduktion auf die Bühne der Wiener Staatsoper.

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Listen to her award-winning recordings 135

KOLUMN EN T IT EL

Photo: © Kristian Schuller / Decca


DIE OPÉRA MONTE-CARLO pantone red 032

C=0 M = 88 Y = 68 N=0

dankt dem Gouvernement Princier und der Association des Amis de l’Opéra de Monte-Carlo für ihre fundamentale Unterstützung bei der Verwirklichung dieses Projekts.

Die Opéra Monte-Carlo freut sich besonders, L’AMADE zu unterstützen.

©Elizabeth Billhardt


AMADE

(Association Mondiale des Amis de l’Enfance) AMADE wurde 1963 auf Initiative von Prinzessin Grace von Monaco gegründet und steht unter dem Vorsitz von SAR Prinzessin Caroline von Hannover. AMADE setzt sich für den Schutz von Kindern ein.

DAS PROGRAMM « EIN ZIVILSTAND FÜR ALLE » Heute haben 237 Millionen Kinder unter fünf Jahren keine Geburtsurkunde, 166 Millionen sind nicht beim Einwohnermeldeamt registriert. Diese sogenannten Geisterkinder existieren für die Verwaltungen ihrer Länder einfach nicht offiziell. AMADE möchte dieses Grundrecht auf Identität verteidigen und hat das Programm «Ein Zivilstand für alle» ins Leben gerufen. Dank der Großzügigkeit der Wiener Staatsoper und der Künstler werden die anlässlich des Galaabends am 8. Juli gesammelten Gelder an AMADE überreicht und zur Legalisierung von 230.000 Kindern in der Demokratischen Republik Kongo beitragen.

Sie können sich auch direkt an dieser Initiative beteiligen, indem Sie online spenden:

https://dons.amade.org/Etatcivil


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Die OMV ist seit langem Generalsponsorin der Wiener Staatsoper und wir sind stolz, diese herausragende österreichische Kulturinstitution mit voller Energie zu unterstützen. Wir freuen uns mit Ihnen auf die bewegenden Inszenierungen. Alle Sponsoringprojekte finden Sie auf www.omv.com/sponsoring


Impressum

ROSSINI MANIA Saison 2021/2022 HERAUSGEBER Wiener Staatsoper GmbH, Opernring 2, 1010 Wien Direktor: Dr. Bogdan Roščić Musikdirektor: Philippe Jordan Kaufmännische Geschäftsführerin: Dr. Petra Bohuslav Redaktion: Sergio Morabito, Andreas Láng, Oliver Láng Gestaltung & Konzept: Fons Hickmann M23, Berlin Layout & Satz: Irene Neubert TEXTNACHWEISE ORIGINALBEITRÄGE Oliver Láng: Über dieses Programmbuch – Sergio Ragni: Das war Rossini – Musik als Mission: Cecilia Bartoli im Gespräch – Ein künstlerischer Austausch – Rossini, der Vater Pirandellos, Gespräch mit Jean-Louis Grinda – Arnold Jacobshagen: Mit historischen Augen und Ohren – Norbert Abels: Fast eine europäische Erfindung – Ein Rossini-Erlebnis: Gianluca Capuano im Gespräch Judith Belfkih: Selbstermächtigung im Korsett – Hilary Poriss: Rossini und seine Sänger – Livio Marcaletti: Wie kann man Humor in Musik setzen? – Was ist Humor? Gespräch mit Anne Sophie Meincke – Oliver Láng: Vom Publikum geliebt ÜBERNAHMEN Inhaltsangabe von La cenerentola, übernommen aus dem La cenerentola-Programmheft der Wiener Staatsoper 2021/22, Übersetzung von Andrew Smith – Inhaltsangabe von Il turco in Italia, übernommen aus dem Il turco in Italia-Programmheft der Opéra Monte Carlo, 2022 – Andreas Láng: Ihr Gesang strotzt in Perlen, übernommen aus dem La cenerentola-Programmheft der Wiener Staatsoper 2021/22 – Claire Delamarche: Vom Fiasko zum Triumph, übernommen aus dem Il turco in Italia-Programmheft der Opéra de Monte-Carlo, 2022 – Michael Jahn: Cenerentola in Wien, übernommen aus dem La cenerentola-Programmheft der Wiener Staatsoper 2021/22

BILDNACHWEISE Coverbild: Stefan Rohrer: Arancio, 2011, Motorroller, Stahl, Lack, 200 x 171 x 290 cm. Courtesy Galerie Scheffel, Bad Homburg. Alle Szenenbilder Il turco in Italia und La cenerentola: © 2022 – Alain Hanel – OMC Weitere Abbildungen: Archiv ÜBERSETZUNGEN Sabine Amon: Ein künstlerischer Austausch, Vom Fiasko zum Triumph, Inhaltsangabe Il turco in Italia Helena Bilgeri: Das war Rossini Sergio Morabito: Rossini, der Vater Pirandellos Andrew Smith: Rossini und seine Sänger Nachdruck nur mit Genehmigung der Wiener Staatsoper GmbH / Dramaturgie Kürzungen sind nicht gekennzeichnet. Rechteinhaber, die nicht erreicht werden konnten, werden zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten.


Generalsponsoren der Wiener Staatsoper



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