Programmheft »Salome«

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SALOME Richard Strauss


INHALT

Die Handlung

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Synopsis in English

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Über dieses Programmbuch

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Der Aufbruch ins Neue → Philippe Jordan

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Eine Authentizität, die sich nicht mehr verbergen lässt → Cyril Teste im Gespräch mit Sergio Morabito

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Der Salome-Stoff in der Literatur- und Kunstgeschichte → Ann-Christine Mecke

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Zwischen Jungfrau und Mörderin. Zur Salomé-Dichtung Oscar Wildes → Tina Hartmann

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Die unerhörte Schwierigkeit des Werkes → Aus den Briefen von Richard Strauss an Ernst von Schuch

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Ein einmaliges Experiment an einem besonderen Stoff → Dietmar Holland

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Die Sprengung der Enge → Alex Ross

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Ja, so einer wurschtelt sich durch → Klaus Mann

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Mahler und Strauss – Die Unzeitgemäßen → Anette Unger

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Akkorde in Moschus → Francis Kurkdjian im Portrait von Nikolaus Stenitzer

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Größte Eleganz bei maximaler Tiefenbohrung → Sergio Morabito über das Theater des Cyril Teste

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Salomes Ende → Oscar Wilde

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Ich dürste nach deiner Schönheit. Ich hungre nach deinem Leib. Nicht Wein noch Äpfel können mein Verlangen stillen ...


SALOME → Musikdrama in einem Aufzug von Richard Strauss nach Oscar Wildes Drama in der Übersetzung von Hedwig Lachmann

Orchesterbesetzung Piccoloflöte, 3 Flöten, 2 Oboen, Englischhorn, Heckelphon, kleine Klarinette in Es, 4 Klarinetten, Bassklarinette, 3 Fagotte, Kontrafagott, 6 Hörner, 4 Trompeten, 4 Posaunen, Basstuba, 4 große Pauken, kleine Pauke, Schlagzeug (große Trommel, Becken, kleine Trommel, Triangel, Tamtam, Tamburin, Xylophon, Kastagnetten, Glockenspiel), Celesta, 2 Harfen, Violine I, Violine II, Viola, Violoncello, Kontrabass Bühnenmusik Harmonium, Orgel Spieldauer 1 Stunde 45 Minuten (keine Pause) Autograph Richard-Strauss-Archiv Garmisch-Partenkirchen Uraufführung 9. Dezember 1905, Königliches Opernhaus Dresden Erstaufführung an der Wiener Hofoper 14. Oktober 1918




DIE HANDLUNG

Im Kreis einer erlesenen Gästeschar feiert der Tetrarch Herodes seinen Geburtstag. Zwei Soldaten und der Hauptmann Narraboth bewachen den Gefangenen Jochanaan. Narraboth ist verliebt in Herodes’ Stieftochter Salome. Die Warnungen des Pagen ignoriert er. Aus dem Kerker ertönt die Stimme des Propheten. Er verkündet die Ankunft des Messias. Angewidert von der Zudringlichkeit ihres Stiefvaters verlässt Salome die Tafel. Sie lauscht den Mahnungen des Propheten und möchte ihn sehen. Sie überredet Narraboth, dem ausdrücklichen Verbot des Tetrarchen zuwiderzuhandeln und ihren Wunsch zu erfüllen. Jochanaan erscheint vor Salome. Ohne ihr zunächst Beachtung zu schenken, klagt er ihren Stiefvater der blutschänderischen Ehe mit ihrer Mutter Herodias an. Der fremdartige Mann erweckt Salomes Sehnsucht und Begierde. Es überkommt sie das Verlangen, seine Haare und seinen Körper zu berühren und seinen Mund zu küssen. Ihre Verzückung treibt Narraboth in den Selbstmord. Der Prophet weist Salome ab, nur einen gäbe es, der sie retten könne: Jesus von Nazareth. Als Salome nicht von Jochanaan ablässt, verflucht er sie und zieht sich in sein Gefängnis zurück. Der Tetrarch erscheint auf der Suche nach Salome. Erneut ist die mahnende Stimme des Propheten zu hören. Herodias verlangt seine Auslieferung an die Juden. Herodes widersetzt sich, denn er hält Jochanaan für einen heiligen Mann, eine Ansicht, die einen heftigen Streit unter den Juden provoziert: während einige in ihm einen Scharlatan sehen, verehren ihn die Nazarener als Vorboten der Erlösung. Herodes fordert Salome auf, für ihn zu tanzen. Sie willigt erst ein, nachdem er den Eid geleistet hat, ihr zum Lohn jeden Wunsch zu erfüllen. Salome tanzt und verlangt den Kopf des Jochanaan. Der entsetzte Herodes bietet ihr die kostbarsten Schätze, doch Salome besteht auf ihrer Forderung. Selbstvergessen versinkt sie in den Anblick des abgeschlagenen Hauptes. Als sie schließlich den blutigen Mund des Propheten küsst, befiehlt Herodes, sie zu töten. DIE H A N DLU NG

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SYNOPSIS

Herod, the Tetrarch, is celebrating his birthday with a select group of guests. Two soldiers and the captain of the guard, Narraboth, are watching the prisoner, Jochanaan (the prophet, John the Baptist). Narraboth loves Herod’s step-daughter, Salome. He ignores the warnings of the Page. The voice of the prophet sounds from the dungeon. He is announcing the arrival of the Messiah. Repelled by her stepfather’s advances, Salome leaves the feast. She hears the prophet’s warnings and wants to see him. She persuades Narraboth to ignore the Tetrarch’s explicit ban and grant her wish. Jochanaan appears before Salome. Without at first paying attention to her, he accuses her stepfather of his incestuous marriage with her mother, Herodias. The strange man arouses Salome’s curiosity and desire. She is seized by a longing to touch his hair and his body, and to kiss his lips. Her ecstasy drives Narraboth to suicide. The prophet spurns Salome, saying there is only one who can save her – Jesus of Nazareth. When Salome continues to haress Jochanaan, he curses her and returns to his prison. The Tetrarch enters, looking for Salome. The prophet’s voice is heard again, reprimanding. Herodias demands that he be given into the hands of the Jews. Herod refuses, as he believes Jochanaan is a holy man, an opinion which prompts a sharp disagreement among the Jews – while some believe he is a charlatan, the Nazarenes honour him as a herald of the Saviour. Herod presses Salome to dance for him. She refuses until he swears to give her anything she wants. Salome dances, and demands Jochanaan’s head. Appalled, Herod offers her his most precious treasures, but Salome insists on her demand. She loses herself in gazing on the severed head. When she finally kisses the prophet’s bloody mouth, Herod orders the soldiers to kill her.

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SY NOPSIS


ÜBER DIESES PROGRAMMBUCH Erzählungen, die den Tod Johannes des Täufers mit dem Tanz einer Prinzessin verknüpfen, finden sich im Markus- und Matthäus-Evangelium sowie in den Jüdischen Altertümern des Flavius Josephus. Die in zeitlichem Abstand zu den mutmaßlichen Ereignissen entstandenen Quellen weisen Widersprüche auf, die zahlreiche Bearbeiter des Salome-Stoffes zu neuen Lösungen und Erweiterungen anregten. Zweifellos ist die auf einem Drama Oscar Wildes beruhende, den (gekürzten) Wortlaut der Dichtung vertonende, 1905 uraufgeführte Oper von Richard Strauss seine wirkungsmächtigste Fassung. In die Partitur des Einakters ging die flamboyante Instrumentations- und Satzkunst der orchestralen Tondichtungen ein, mit denen Strauss seit 1886 Furore gemacht hatte; in die effektvolle Behandlung der Singstimmen floss die in München, Bayreuth und Weimar gesammelte Erfahrung seiner Opernkapellmeisterkarriere ein. Die Oper ist ein musikdramaturgisches Meisterstück an Timing und Suspense, bei differenziertester Auffächerung des äußeren und innerpsychologischen Geschehens. Premierendirigent Philippe Jordan erläutert in seinem Beitrag ab S. 8 die Schönheit und Kühnheit der Partitur. Regisseur Cyril Teste, der mit dieser Inszenierung sein Regiedebut außerhalb Frankreichs gibt, erkennt in der begehrenswerten jungen Frau ein vaterlos aufgewachsenes, vom Stiefvater bedrängtes und traumatisiertes Kind. Informationen zu Testes bisherigem Schaffen finden Sie ab S. 68, er selbst gibt ab S. 15 im Gespräch Auskunft über seine Annäherung an das Stück. Das Porträt eines seiner Theaterarbeit verbundenen Parfumeurs lesen Sie ab S. 64. Mehrere Beiträge skizzieren die Geschichte des Salome-Stoffes, seine Gestaltung durch Oscar Wilde sowie zentrale Momente der Entstehungs- und Aufführungsgeschichte der Oper. Überschattet war die Rezeption zunächst durch die Entrüstung über das als dekadent geächtete Geschehen, die auch zum Verbot der von Gustav Mahler angestrebten Erstaufführung an der Wiener Hofoper führte. Dass Moral kein Maßstab für die Be- und Verurteilung von Kunstwerken ist, sondern allein auf menschliches Verhalten erkenntnisfördernd anwendbar ist, macht ein Vergleich des Schicksals beider Autoren des Werks deutlich: Während der Dichter wegen »homosexueller Unzucht« zu zwei Jahren Zwangsarbeit verurteilt wurde, führte der Opportunismus des Erfolgskomponisten zu seinem Versagen angesichts der moralischen Katastrophe des Nationalsozialismus. Aspekte von Strauss’ Sozialcharakter und künstlerischer Physiognomie erkunden die Texte von Klaus Mann (S. 52) und Anette Unger (S. 56). ÜBER DIESES PROGR A M MBUCH

→ Malin Byström als Salome und Pablo Delgado als Henker



Philippe Jordan

DER AUFBRUCH INS NEUE Vergleicht man Salome, uraufgeführt im Jahr 1905, mit Richard Straussʼ ersten beiden Opern, also Guntram (1894) und Feuersnot (1901), so wird der enorme Entwicklungssprung, der dem Komponisten mit seinem neuen Werk gelang, offenbar. Denn ohne Zweifel sind Guntram und Feuersnot noch sehr post-wagnerisch, ein stilistischer Pfad übrigens, den etliche seiner Kollegen in dieser Zeit beschritten haben. Strauss selbst erkannte allerdings bald, dass dieser Weg – musikalisch wie stofflich – nicht weiterführt, sich viele Themen, wie die bekannten Helden- und Götterstoffe, erschöpft hatten. Und er wusste natürlich, was musikalisch rund um ihn sonst noch geschah und kannte die anderen existierenden Stilrichtungen. Strauss spürte, dass nun etwas Anderes kommen musste, und als Enfant terrible seiner Zeit wagte er das Neue. Und dieses Neue war Salome. Analysiert man seinen musikalischen Reifeprozess, sieht man, dass dieser Schritt freilich nicht von ungefähr kam, sondern seine Symphonischen Dichtungen eine Art musikalische Werkstatt gewesen sind, aus deren Erfahrung sich viele Neuerungen in Salome speisen – Strauss selbst nannte sie einmal »Vorbereitungsarbeiten« für die Oper. Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass diese Symphonischen Dichtungen zu ihrer Zeit als unge8


mein und modern galten, nicht nur in Bezug auf ihre musikalische Sprache, sondern auch thematisch. Es ging immer wieder nicht mehr um die großen Helden, sondern vor allem um Anti-Helden: zum Beispiel um einen Don Quixote oder um einen Till Eulenspiegel und so unterschieden sie sich stark von tradierten Protagonisten-Idealen. Schon darin lag eine bewusste Abkehr vom Wagner’schen Modell – was Cosima Wagner Strauss übrigens prompt zum Vorwurf machte. Eine besonders starke Verwandtschaft zu Salome kann man in Also sprach Zarathustra entdecken, obgleich dieses Werk knapp zehn Jahre vor Salome uraufgeführt worden ist: im religiösen Element einerseits, aber auch in der Lust am Kolorieren, an einer mitunter »exotisch« wirkenden Klangwelt – dies übrigens auch ein Zeitphänomen. Doch auch wenn Strauss neue Wege beschritt, steckt trotzdem noch viel Wagner in seiner Salome, allein schon durch die Leitmotiv-Technik, die auch bei Strauss ein wesentliches Kompositionselement ist. Es hat jede Figur oder Situation ihr Motiv, mitunter sind es mehrere. Während die Leitmotive bei Wagner aber deutlich psychologischer angelegt sind, sind die Motive bei Strauss vor allem Material, um ganze Szenen zu bauen. Wir finden sie in allen möglichen Kombinationen, in Umkehrungen, Verlängerungen, Verkürzungen – all das dient dazu, ein großes Gemälde zu entwerfen. Nicht zu vergessen ist in Bezug auf Wagner die Orchesterbesetzung: Strauss greift auf Wagners Klangapparat zurück, der jedoch deutlich erweitert wird, und die Form der Orchestrierung wird schon allein wie er die Instrumente einsetzt, revolutionär erweitert. Ein weiteres Wagner-Element ist die durchkomponierte Struktur, die wir sowohl bei Salome als auch bei Elektra wiederfinden. Dazu kommen bewusst gesetzte Verweise direkt auf Wagners Werke, denken wir etwa an den Beginn der Oper, wenn der verliebte Hauptmann Narraboth singt, »Wie schön ist die Prinzessin Salome heute Nacht!«. Unmittelbar darauf erklingt in den Celli ein Thema, dessen Bezugspunkt unverkennbar Tristan und Isolde ist: Es geht ja um die sehnsüchtige Liebe von Narraboth! Es ist ganz generell erstaunlich, wie oft der sogenannte Tristan-Akkord in Salome eingesetzt wird. Ein weiteres, sehr deutliches WagnerZitat finden wir, wenn Salome zum ersten Mal in die Dunkelheit der Zisterne hinunterschaut: Es erklingt es-Moll, ein Verweis auf die Götterdämmerung. Doch nicht nur Wagner, auch Engelbert Humperdinck ist in der Partitur zu finden. Strauss war ja der Uraufführungsdirigent von Hänsel und Gretel in Weimar, er hat das Stück geliebt und man merkt an vielen Stellen eine entsprechende Beeinflussung. Etwa in dem Moment, in dem Salome auf die Idee kommt, Jochanaans Kopf zu fordern, oder als sie das Haupt des Propheten küsst: Da hören wir denselben Triller in genau der gleichen Orchestrierung, die wir vom Sandmännchen in Hänsel und Gretel kennen. Leider hat Strauss auch Humperdincks Hang zur Überorchestrierung, also zu einem zu breiten und deckend klingenden Orchester, übernommen. Gerade in Salome merkt man das noch sehr deutlich. 9

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Sehr wahrscheinlich musste er in dieser Hinsicht noch seine Grenzen austesten, wie es Richard Wagner mit dem Holländer ja nicht anders ging: Um sich wirklich kennen zu lernen, muss man wahrscheinlich oft erst einmal die Grenzen überschreiten. Abgesehen davon schlägt eine Komposition mitunter einen Weg ein, den man zunächst nicht vorhergesehen oder geplant hat. Dass Salome keine Isolde ist und man mit der Rolle anders umzugehen hat, das musste Strauss erst begreifen. In seinen Briefen an Franz von Schuch, dem von Strauss auf das Höchste geschätzten Uraufführungsdirigenten, forderte der Komponist zunächst tatsächlich noch eine Sängerin mit »Isolden-Stimme«. Aber je öfter er das Stück in den verschiedensten Produktionen hörte und dann auch immer wieder selbst dirigierte, umso deutlicher merkte er, wie das Werk etwas viel Fragileres und Jugendlicheres verlangt. Nach wie vor ist die Salome daher eine schwierige Besetzungsfrage: Wie soll man sie anlegen? Je typengerechter man besetzt, desto achtsamer muss man mit dem gewaltigen Orchesterapparat umgehen. Strauss selbst hat ja, je älter er wurde, immer leichtere Stimmen zu überreden versucht, die Salome zu probieren. So entstanden auch die nunmehr veröffentlichten »Dresdner Retuschen«. Die Strauss-Dirigenten, die mit dem Komponisten noch unmittelbar zusammenarbeiteten, wie Clemens Krauss, Fritz Reiner und nicht zuletzt Karl Böhm, kannten die Intentionen des Meisters natürlich genau und wendeten diese ihre ganze Laufbahn lang an. Daher ist es für Dirigenten geradezu eine Verpflichtung, dynamische Retuschen vorzunehmen und in die Partitur einzugreifen, dazu hat Strauss uns geradezu ermuntert und ermächtigt! Franz von Schuch demonstrierte dem Komponisten bei der Probe, was passiert, wenn man die notierte Dynamik ungefiltert spielen lässt. Strauss erkannte damals schlagartig, dass es sich hier eben nicht um eine Wagner-Oper handelt, sondern, dass die Partitur – wie er es später selbst ausdrücken sollte – gleichsam wie Mendelssohn’sche Elfenmusik behandelt werden muss. Erst mit Elektra lernte Strauss das Verhältnis zwischen den Sänger- und Sängerinnenstimmen sowie dem Graben besser auszutarieren, indem er den Orchesterklang tiefer setzte und dunkler färbte, wodurch der Gesang sich besser absetzt. Auch der vermehrte Einsatz von Fortepiano und Fortissimopiano sowie schnelle Decrescendi wurde selbstverständlich. In der Partitur der Salome kommen eine große Anzahl an musikalischen Bildern, Situations- wie auch Personenbeschreibungen respektive -charak­terisierungen zum Einsatz. Sehr augenfällig ist das etwa beim Paar Salome-Jochanaan, hier weist Strauss den beiden Figuren unterschiedliche Tonarten zu und schafft so einen Gegensatz. Die Prinzessin bewegt sich eher im cis-Moll und A-Dur-Segment, das sind sehr helle Kreuztonarten, Jochanaan hat nicht nur C-Dur, sondern auch die dunkleren b-Tonarten, sein erster Einsatz ist zum Beispiel in As-Dur, oftmals hören wir EsDur. Es gibt aber auch einen großen stilistischen Unterschied: Die Sphäre DER AUFBRUCH INS NEUE

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Jocha­naans bringt uns in einen klaren, tonalen Bereich, fast choralhaft, Salome ist das exakte Gegenteil, oftmals leicht, schwebend, grazil, verletzlich, polyphon. Herodes und Herodias – sie sind einander relativ ähnlich und weniger direkt zuordenbar als die beiden eben Genannten – sind eher im Moll-Sektor verortet, also zum Beispiel in d-Moll oder e-Moll, verstärkt aber auch im Bitonalen: wir erleben bei Herodes Ganzton-Skalen wie auch Chromatik. Und gerade das harmonisch Gewagte, das sich durch die gesamte Oper zieht, ist einer der Gründe, warum die Oper damals als so modern empfunden wurde. Denn selbst wenn Salome eigentlich noch eine tonale Partitur ist, verwendete Strauss viele Dissonanzen und Klangspielereien, schärfte Akkorde, schachtelte mitunter mehrere Tonarten übereinander. Ein einprägsames Beispiel dafür ist der Moment, in dem Salome den Mund des toten Jochanaan küsst: wir hören mehrere Tonarten simultan, die sich von einem hohen Triller (d-Moll) über ein Salome-Motiv (e-Moll) bis zu einem weit darunterliegenden, sehr »schmutzig« klingenden Akkord erstrecken (cis-Moll mit Dissonanzen) – man empfindet förmlich diesen widerlichen Kuss. Das war eben das Neue, von dem vorhin gesprochen wurde. Leider gibt es auch erschreckend dunkle Schatten, die auf das Werk fallen. Sehr bekannt ist, dass Strauss beim sogenannten »Judenquintett« antisemitische Klischees verwendete, die vom Publikum auch so verstanden wurden. Ein wesentlicher Aspekt dieses Werks, den man buchstäblich auf den ersten Blick wahrnimmt, ist der große, weit ausdifferenzierte Orchesterapparat. Dieser ermöglicht eine unglaubliche Palette an Schattierungen und die gesamte Breite an Klangtechniken. (Das lag freilich auch wiederum in der Zeit, wenn wir etwa an Igor Strawinski oder Maurice Ravel denken.) Strauss entwirft dank dieses Orchesters einen großen atmosphärischen Zauber, man vergegenwärtige sich die schwüle Abendstimmung, die »orientalische« Färbung, die Klangbilder. Er setzt dafür etwa die Celesta oder Harfen ein, aber auch viele Solo-Streicher, eine reiche Auswahl an unterschiedlichen Blasinstrumenten, vor allem Klarinetten – ein ganzes Bataillon –, auch geteilte Streicher, die zum Teil jeweils unterschiedliche Techniken anwenden: Während die einen trillern, tremoliert eine Gruppe, wiederum andere fügen Pizzicati hinzu. Nicht zuletzt gibt es ein unglaubliches Schlagwerk, unter anderem das Glockenspiel und das sehr wichtige Xylophon. Und Strauss versucht neuartige Klangfarben aus diesen Instrumenten herauszulocken, solche, die es vorher nicht gab. Ein sehr bekannter Moment ist jener, in dem Salome auf die Hinrichtung Jochanaans wartet. In die angespannte Stille setzt Strauss einen seltsamen Ton, gespielt vom Solokontrabass. Ein B, sehr kurz, ungewöhnlich hoch, wird mittels einer seltenen Spieltechnik, bei der die Saite mit Daumen und Zeigefinger festgehalten wird, angerissen. Ein außergewöhnlicher Effekt! 11

PHILIPPE JORDAN


Es gibt ganz generell zahllose Bilder in der Oper, die Strauss in Klangsprache umwandelt: Ist etwa von der Silberschüssel die Rede, hören wir einen Beckenschlag; lautmalerisch, beinahe impressionistisch und ganz nahe an Debussy wird der Mond in Töne gefasst; wenn es um den Wind geht, erlebt man chromatische Tonleitern. Besonders gut gefällt mir die Stelle, an der Herodes von den Pfauen spricht: Kontrabass-Pizzicati wechseln sich mit der Pauke ab, man sieht förmlich, wie die Vögel stolzieren. Strauss imitiert also musikalisch, oder besser: er kommentiert alles. Es gibt bei ihm eine unbändige Freude an der Illustration des Textes, die sich quer durch sein Werk zieht, bis zu seiner letzten Oper Capriccio. Das weist darauf hin, wie eminent wichtig das Wort für ihn als Komponist war. Meiner Meinung nach war der Text sogar Straussʼ Grundmotor, um überhaupt künstlerische Einfälle zu bekommen. Herausfordernd ist in diesem Zusammenhang, dass man als Dirigent die Kontrolle und Übersicht bewahrt: Es gibt Situationen, in denen es sich anbietet, auf ein solches Klangbild besonders hinzuweisen. Gleichzeitig muss man aber Acht geben, aus lauter Detailverliebtheit nicht das große Ganze aus den Augen zu verlieren.

→ Daniel Jenz als Narraboth und Patricia Nolz als Page der Herodias

DER AUFBRUCH INS NEUE

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EINE AUTHENTIZITÄT, DIE SICH NICHT MEHR VERBERGEN LÄSST Cyril Teste im Gespräch mit Sergio Morabito

Cyril, du bezeichnest Salome immer wieder als das Porträt einer Familie. Könntest du diesen Gedanken ausführen? CT Das Drama der Salome ist das Kapitel einer Familientragödie. Die Ausgangssituation weist überraschende Parallelen zu Hamlet auf: Die Mutter hat in zweiter Ehe den Mann geheiratet, der den Vater ihres Kindes umgebracht hat, und der zugleich der Bruder ihres ersten Mannes ist. Das ist sehr elisabethanisch. Wir konzentrieren uns vor allem auch auf die Erkundung dieser Familienstruktur.

I n der Librettofassung wird das Schicksal von Salomes leiblichem Vater nicht mehr erwähnt. Warum ist es für deine Analyse wichtig?

← Wolfgang Koch als Jochanaan

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CT Bei Wilde erfahren wir, dass Salome vierzehn Jahre alt war, als ihr Vater getötet wurde. Jochanaan wird in der selben Zisterne gefangengehalten, in der auch ihr Vater zwölf Jahre schmachtete. Sie hat ihren Vater also kaum gekannt. Wenn sie die Stimme Jochanaans hört, die durch die Gitterstäbe der Zisterne dringt, dann beschwört das die Erinnerung an die

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Klagerufe ihres Vaters herauf. Wenn Salome die Zisterne mit einer Gruft vergleicht, bezieht sie sich auf den Mord an ihrem Vater, der auf Herodes’ Geheiß erdrosselt wurde. Jochanaan ist der einzige Mann, der Salome nicht ansieht, und zugleich der einzige Mann, der sie auf eine gute und richtige Weise ansieht, so wie ihr Vater sie angesehen hätte. Jochanaan öffnet etwas sehr Machtvolles in Salome. Es geht um die Liebesgeschichte eines Kindes, das falsch bzw. zu viel geliebt wurde, wie Herodes selbst einräumt. Zur Zeit des Herodes konnte man vierzehnjährige Kinder heiraten, Herodes deutet diese Möglichkeit sogar an. Im Jahr 2023 konfrontiert uns das Stück mit einer anderen Problematik, die wir nicht akzeptieren dürfen. Mit Pädophilie? CT Genau. Salome wird in der Oper von einer erwachsenen Frau dargestellt, d. h. wir sehen und beurteilen Salome fast zwangsläufig als Frau. Ich sehe meine Aufgabe darin, in ihr das Kind zu befreien, das von den Blicken der anderen gefangengehalten wird, oder richtiger: ihr in diesem Befreiungskampf beizustehen. Ich behandle diese heikle Problematik auf poetische Weise. Das Stück erlaubt uns, der Gewalt und Niedertracht künstlerisch mit Schönheit zu begegnen.

Das Thema des Festmahls ist bei dir zentral. Dafür hast du ikonographische Recherchen betrieben und das Motiv des Kannibalismus entdeckt. CT Der Mund nimmt eine zentrale Rolle ein: der Mund, aus dem die Worte der Rede dringen, aber auch der Mund, der isst und die Nah­r ung aufnimmt. Im Stück stehen immer wieder Früchte und Weine im Fokus. Salome wird am Ende als letzten Gang das Haupt des Jochanaan auftragen und entstellt so eine kannibalische Gesellschaft zur Kenntlichkeit, in der man sich gegenseitig verschlingt, obwohl wir zunächst eine äußerlich perfekte, kultivierte Abendgesellschaft zu erleben glauben. Das Gastmahl spielt eine Hauptrolle, wie in Fanny und Alexander von Bergman, wo sich unter der scheinbar gelösten Oberfläche einer Festgesellschaft ein existentielles Drama anbahnt.

Salome ist auch eine Tragödie des Blicks. CT Auch das ist sehr zeitgenössisch. Wir verlieren mehr und mehr das Gehör und den Geruchssinn, die Wahrnehmung wird heute über das Auge gesteuert. Einer der großen beiden Mythen, die Salome zugrundeliegen, ist der Orpheus-Mythos: Salome steigt in die Unterwelt hinab, um Jochanaan und in ihm ihren verlorenen Vater zu finden, so wie Orpheus Eurydike dort sucht. Und wenn man sich umblickt, verliert man, was man liebt.

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Der zweite Mythos ist der Blick der Gorgo Medusa, der Blick, der versteinert und tötet. Und der Blick verweist zugleich auf das Theater – ›Theatron‹ bedeutet etymologisch ›Schaustätte‹, Raum des Sehens. Die Heldin unseres Stückes zwingt uns, unseren Blick im und auf das Theater infrage zu stellen: Von wo aus blickt man, was kann man sehen, was sieht man nicht, was sagt man, und warum ist das, was gesagt wird, nicht identisch mit dem, was man sieht? Es geht um die Geschichte einer verbotenen und verborgenen, einer unmöglichen Liebe. Salome versucht, das wiederzufinden und wieder herzustellen, was die Gesellschaft in ihr zerstört hat. Der Grund, warum Jochanaan sie nicht ansehen will, ist, dass Salomes Blick alle korrum­ pierten, verdorbenen Blicke ihres Milieus in sich trägt. Am Ende fragt sie den abgeschlagenen Kopf: »Warum hast du mich nicht angesehen? Hättest du mich angesehen, du hättest mich geliebt.« Ein unsagbarer Schmerz. Ein Schmerz, mit dem jeder Mensch umgehen muss, wir alle leiden daran, nicht oder falsch angesehen worden zu sein. Was bedeutet das für die Ästhetik der live oder vorproduzierten Bilder der Kamera in deiner Aufführung? Ich möchte, dass die Bilder, die wir produzieren, zu uns sprechen, sich gewissermaßen an unser Gehör wenden. Ein Bild muss zu mir sprechen, das ist meine Überzeugung, es soll nichts zeigen, nichts abbilden. Das Porträt Salomes und das Porträt ihrer Familie filtere ich durch den Blick des Kamera-Auges, vor allem den Tanz der sieben Schleier. Wir befinden uns auf einem diplomatischen Bankett, auf dem durch eine Fotografin und einen Kameramann Bilder für die Öffentlichkeit produziert werden. Und das benutzt Salome, indem sie die Blickrichtung umkehrt. Sie benutzt das Bild als Waffe, um aller Welt die Blicke zu zeigen, denen sie preisgegeben war. Die Rechnung ist offen zwischen Herodes und Salome, beide rücken in den Kamerabildern zu nah aufeinander, wir sehen, wie seine Hand die ihre sucht. Das ganze Stück beginnt mit dem Protest der jungen Frau, »Warum sieht mich der Tetrarch fortwährend so an?«, und es endet damit, dass Herodes ihren Anblick nicht mehr erträgt und befiehlt, sie zu töten. Jochanaan hingegen wird von der Kamera nicht erfasst. Gilles Deleuze hat den wunderbaren Satz gesagt: »Jedes Close-up ist Zärtlichkeit/Zuneigung.« Genau diese Nähe und Zärtlichkeit, im wohlmeinendsten Sinne, müssen wir finden im Umgang mit Salome. Die Kamera hilft uns dabei, Salome so schön zu zeigen wie möglich. Kein einziges Bild, das wir von ihr zeigen, ist übelwollend. CT

Vieles, was deine Kunst ausmacht, wird im Gesagten bereits deutlich. Es geht in Fragen der Kunst ja nie direkt um das ›was‹, sondern immer um das ›wie‹, das macht es schwierig, über Kunst zu sprechen, man verständigt sich meist nur über sogenannte Inhalte. Mallarmé hat gesagt, ein Gedicht wird nicht aus Ideen, 17

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sondern aus Worten geschaffen. Wie realisiserst du deine Ideen künstlerisch? Die Worte, mit denen du arbeitest, sind die Parameter des Theaters, Raum, Licht etc., vor allem aber der Körper und die Fantasie der Darsteller. Ich beobachte, wie du den körpersprachlichen Ausdruck der Mitwirkenden rekalibrierst, ihn von falschen Konventionen zu reinigen suchst und einen Nullpunkt anstrebst, um zu einer anderen Glaubwürdigkeit vorzustoßen. Oft kommen die Darsteller mit einer fertigen Idee auf die Probe. Meine Arbeit besteht zunächst darin, diese Ideen zu dekonstruieren. Unsere Aufgabe am Theater ist es nicht, zu erklären, sondern zu verstehen. Entscheidend ist, dass alle Mitwirkenden begreifen, dass es um eine unabgeschlossene kollektive Erkundung, einen kollektiven Erfahrungsprozess geht. CT

Hier spielt vermutlich deine eigene Geschichte und Erfahrung als Schauspieler eine Rolle. CT Ich erinnere an Tarkowski, der von einer Authentizität ge­ sprochen hat, die so groß ist, dass sie sich nicht mehr verbergen lässt. Nach dieser Authentizität und Intimität muss man gemeinsam mit den Darstellern suchen. Und diese Authentizität muss nicht mehr erklärt oder illustriert werden. Das Theater braucht die Welt nicht zu erklären, es ist ein Resonanz-, ein Echoraum der Welt. Und richtig: Du kannst die schönsten Bilder, Lichtstimmungen und Einstellungen schaffen – wenn die Akteure im Inneren deines Konstrukts nicht authentisch sind, dann taugt auch alles andere nichts. Der Inhalt, der Gedanke bestimmt die Form.

Wie findest du zur Form? CT Ich weiß vor Beginn der eigentlichen Probenarbeit nicht, was ich erzählen werde. Denn das ist abhängig von den Darstellern. Sie geben mir die Energie, aus der meine Aufführung entsteht. Ich bin nur der Kar­ tograf, die Sänger sind es, die sich in das Dickicht des Waldes hineinbegeben und es durchdringen. Man muss dabei auch den Zufall zulassen. Der Zufall ist ein großer Dramaturg. Jetzt, drei Wochen nach Probenbeginn, beginne ich – vielleicht – zu verstehen. Das Theater ist kein Bild, sondern etwas Lebendiges. Nur indem man es erlebt, kann man es verstehen.

Opernsänger können Opfer einer bestimmten ›déformation professionnelle‹ werden: Dadurch, dass sie ihre Partien unter unterschiedlichen, oft eher thea­ ter­feindlichen Bedingungen immer und überall produzieren müssen, wird ihr Spiel fast zwangsläufig veräußerlicht und vergröbert. Dem entspricht auf Publikumsseite das verbreitete Missverständnis, bei einer Operninszenierung CY R IL T E ST E IM GE SPR ÄCH

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handele es sich um die optisch ansprechende ›Verpackung‹ von Sängergrößen und nicht um die wechselseitige Durchdringung und Verwandlung von Akteur und szenischem Ereignis. CT Auch hier hilft die Kamera, sie zwingt die Künstler zu einer Fokussierung ihres Spiels.

Kannst du uns noch kurz die Arbeitsweise des Theaterkollektivs MxM erläutern, dessen Mitglied du bist? CT Das Kollektiv ist ein großes Team von ca. 35 Leuten, das Schau­ spieler, Dramaturgen, Videokünstler, Techniker usw. umfasst, jeder hat dabei seinen ganz bestimmten Arbeitsbereich. Im Grunde ist es ein selbständiger mobiler Theaterbetrieb und die Theaterproduktionen entstehen in gemeinsamer und hermetischer Interaktion, daher zeichnet auch das Kollektiv für sie verantwortlich. Wenn wir in der Oper arbeiten, öffnen wir uns auf andere personelle und institutionelle Strukturen, daher ist das Ergebnis keines, das vom Kollektiv insgesamt erarbeitet wird. Und darum firmiere ich hier als Regisseur im klassischen Sinn. Unverändert ist, dass ich abhängig bin von Mitarbeitern, die Dinge infrage stellen und mich auf Dinge aufmerksam machen, die mir entgangen sind. Letztlich geht es auch hier um das gemeinsame, kollektiv geteilte Abenteuer.

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EIN E AU T HEN T IZITÄT, DIE SICH N ICH T MEHR V ER BERGEN LÄS ST


Oscar Wilde

Der Kappadozier Welch seltsames Gefängnis! Zweiter Soldat Es ist eine alte Zisterne. Der Kappadozier Eine alte Zisterne! Das muss eine ungesunde Wohnstatt sein. Zweiter Soldat O nein! Des Tetrarchen Bruder zum Beispiel, sein älterer Bruder, der erste Gemahl der Herodias, lag zwölf Jahre darin gefangen. Es hat ihm nicht den Garaus gemacht. Nach Ablauf der zwölf Jahre musste man ihn erdrosseln. Der Kappadozier Erdrosseln? Wer wagte das? Zweiter Soldat (auf den Henker weisend) Jener Mann dort, Naaman.


Der Kappadozier Der fürchtete sich nicht? Zweiter Soldat O nein! Der Tetrarch sandte ihm den Ring. Der Kappadozier Welchen Ring? Zweiter Soldat Den Todesring. Drum fürchtete er sich nicht. Der Kappadozier Und dennoch ist es etwas Grauenhaftes, einen König zu erdrosseln. Erster Soldat Warum? Könige haben nur einen Hals wie andere Leute. Der Kappadozier Mir scheint es grauenhaft. Salome (übersetzt von Frieda Uhl)




Ann-Christine Mecke

DER SALOME STOFF IN DER LITERATUR- UND KUNSTGESCHICHTE

Die Johannes-Erzählung war im frühen Christentum und im Mittelalter populär und wurde in immer neuen Varianten erzählt. Anfang des 5. Jahrhunderts griff der Theologe Isidor von Pelusium für die tanzende Tochter des Tetrarchen den – historisch nicht unplausiblen, durch den Geschichtsschreiber Flavius Josephus verbürgten – Namen »Salome« auf. Manchmal wurde sie aber auch wie ihre Mutter »Herodias« genannt, und je nach Schwerpunkt der Erzählung konnten Mutter und Tochter auch zu einer Person verschmelzen. In volkstümlichen Erzählungen gab es Fortsetzungs- und Erweiterungsgeschichten über den Tod Salomes (etwa ihre spätere Enthauptung durch eine Eisscholle) oder ihr geisterhaftes Weiterleben als Hexe oder im »Wilden Heer«. Letzterer Mythos erscheint im Epos Ysengrimus, das Mitte des 12. Jahrhunderts schriftlich fixiert wurde. Vermittelt durch Heinrich Heines Versepos Atta Troll aus dem Jahr 1843 wurde dieses Epos für die weitere Rezeption besonders bedeutsam, weil die Tochter der Herodias hier erstmals in Johannes verliebt ist und sogar versucht, den abgetrennten Kopf zu küssen.

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Während die in mehreren Varianten zirkulierende Geschichte um die Hinrichtung eines Gefangenen zur Unterhaltung eines oder einer Geliebten während eines Gastmahls in römischer Zeit noch dazu diente, den hierfür verantwortlichen Konsul oder Statthalter zu diskreditieren, war die Schuldige in christlicher Tradition nun weiblich, mit unterschiedlicher Gewichtung: Salome ist manchmal willenloses Werkzeug ihrer Mutter, manchmal verantwortliche Täterin. Herodes hingegen erscheint meist als schwacher Herrscher, der von Mutter und/oder Tochter ausgetrickst wird. Eine Welle literarischer Darstellungen der Hinrichtung des Johannes gab es im 16. Jahrhundert, bevor das Interesse im 17. und 18. Jahrhundert wieder sank. Der bekannteste Autor aus dieser Zeit ist Hans Sachs, der 1550 eine ›Tragedia‹ Die Enthauptung Johannis veröffentlichte. In dieser Variante ist die Tochter eine selbständig handelnde Person, die ihrer Mutter den Plan mit dem Tanz vorschlägt und seine erotische Wirkung durch Kleidung und Kosmetik intensiviert. Herodes hingegen zeigt ein durchaus schlechtes Gewissen und erklärt dem Henker (der sich zunächst weigert, die Hinrichtung zu vollziehen!), dass er andernfalls Angst habe, die Gunst von Mutter und Tochter zu verlieren. In anderen Johannes-Spielen gibt es makabre Anspielungen auf einen Kannibalismus der Tochter oder schaurige Ansprachen des abgetrennten Kopfs. Bildliche Darstellungen des abgetrennten Johannes-Kopfs und des Gastmahls des Herodes lassen sich seit dem 6. Jahrhundert nachweisen. Salome ist auf Gastmahl-Darstellungen beim Tanzen oder beim Empfang des Kopfes zu sehen, typischerweise werden mehrere Szenen simultan gezeigt, also Tanz, Hinrichtung und Übergabe des Kopfes. Allerdings führt Salome keinen erotischen Tanz auf, sondern eher akrobatische Kunststücke – man spricht in diesem Zusammenhang auch von der »Gaukler-Salome«. In Renaissance und Barock wurde Salome in den bildlichen Darstellungen eleganter und attraktiver, gleichzeitig wurde der Gegensatz zu den grausamen Geschehnissen auf die Spitze getrieben: Eine hübsche, königlich gekleidete junge Frau nimmt lächelnd den Kopf von Johannes entgegen. In dem Bild Peter Paul Rubens’ von 1638 ist – wie bei manchen Johannes-Spielen – ein kannibalistischer Aspekt angedeutet: Herodias führt eine Gabel in Richtung des Kopfs, als wolle sie etwas davon zu sich nehmen. Im 16. Jahrhundert taucht noch ein zweiter Typus Salome-Bilder auf: Sie wird nun allein mit dem Kopf auf einer Schale dargestellt. Oft waren diese Bilder willkommener Anlass, eine attraktive Frau zu porträtieren, und nur das schaurige Requisit macht diese Gemälde zu einer Salome-Darstellung. Nachdem das Interesse an dem Motiv vorübergehend zurückgegangen war, wurde es im 19. Jahrhundert wieder intensiv verarbeitet. Orientalismus und zum Teil sehr explizite Erotik waren neue Aspekte, die nun in die bildliche Darstellung einflossen – durchaus parallel zu einer Neuentdeckung der Figur in der Literatur. Berühmt ist insbesondere die Salome-Darstellung von Henri Regnault von 1870: Salome triumphiert hier offenbar zwischen Tanz und Hinrichtung, ihre Kleidung ist durch 25

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den Tanz in Unordnung geraten, ihre Füße ruhen auf einem Raubtierfell. Der goldene Hintergrund des Bildes war in der Kunst zuvor für Heilige reserviert. Oscar Wilde kannte viele Salome-Bilder, er schätzte aber weder die Darstellungen von Rubens oder Leonardo noch die von Regnault. Von besonderer Bedeutung für ihn waren jedoch zwei 1876 gemalte Bilder von Gustave Moreau, die auch Joris-Karl Huysmans in seinem 1884 erschienenen Roman Gegen den Strich (Originaltitel: A rebours) als Lieblingsbilder des Romanhelden Jean des Esseintes beschrieb: »[Er] wünschte Gemälde, die zarte und köstliche Phantasien alter Zeit und klassischer Verderbtheit vorstellten, die unsern Tagen und Sitten fern liegen. Er brauchte zum Ergötzen seines Geistes wie zur Freude seiner Augen einige Gemälde, die ihn in eine unbekannte Welt einführen, ihm die Spuren neuer Ideen enthüllen und sein Nervensystem durch hysterische Sensationen erschüttern sollten.« Jeans Lieblingsbilder sind das Ölgemälde Salome tanzt für Herodes und das Aquarell Die Erscheinung (L’Apparition): »In dem Werk von Gustave Moreau, in seinem Entwurfe frei von aller Tradition, sah Herzog Jean endlich diese übermenschliche und seltsame Salome verkörpert. Sie war nicht allein die Tänzerin, die durch wollüstige Windungen ihrer Hüften einem geschwächten Greise den Schrei frivoler Begier entlockt, indem sie sich den Willen eines Königs durch die Bewegungen ihres Leibes und das Zittern ihrer Schenkel unterwirft; sie wurde sozusagen die sinnbildliche Gottheit unzerstörbarer Wollust, die Göttin der unsterblichen Hysterie; jenes einfache Sinnentier, ungeheuer, gefühllos, unempfindlich, die alles, was sich ihr nähert, sie berührt und sie sieht, vergiftet.« Oscar Wilde bewunderte Gustave Moreaus Salome-Bilder ebenso wie den Roman von Huysmans. Gustave Flauberts Erzählung Herodias (Hérodiade) von 1877 enthält viele Elemente, die Oscar Wilde ebenfalls verwendete. Im Zentrum der Erzählung steht Herodes Antipas, der zwischen den politischen Interessen verschiedener Bevölkerungsgruppen vermitteln muss und einerseits von Herodias unter Druck gesetzt wird, Jochanaan endlich zu töten, andererseits befürchtet, er könnte tatsächlich den zurückgekehrten Propheten Elias festgesetzt haben. Herodias setzt sich durch, indem sie ihre entfernt aufwachsende Tochter Salome heimlich zur Tänzerin ausbilden lässt, die Herodes mit einem erotischen Tanz dazu bringt, ihr die Erfüllung eines beliebigen Wunsches zu versprechen – mit den bekannten Folgen. Salome selbst hat keine Beziehung zu Jocha­ naan: »›Ich will, dass du mir gibst auf einer Schüssel den Kopf ...‹ Sie hatte den Namen vergessen, fuhr aber gleich lächelnd fort: ›Den Kopf Jochanaans!‹ Der Tetrarch sank, gebrochen, in sich zusammen. Er war durch sein Wort gebunden, und das Volk wartete.« Flauberts Herodias ist ein wichtiges Vorbild für Oscar Wildes Salomé, aber der Stoff war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in aller Munde: Neben zahlreichen Malern beschäftigten sich unter anderem Stéphane Mallarmé und Jules Laforgue mit der Figur, und sogar ein unbedeutendes Salome-Theaterstück von Joseph Heywood hatte Oscar Wilde für eine Zeitschrift rezensiert, bevor er sich selbst für diesen Stoff entschied. DER SA LOME -STOFF IN DER LIT ER AT U R- U N D K U NSTGE SCHICH T E


Tina Hartmann

ZWISCHEN JUNGFRAU UND MÖRDERIN

Zur Salomé-Dichtung Oscar Wildes


Oscar Wildes Tragödie in einem Akt entstand von November 1891 bis Januar 1892 während eines längeren Paris-Aufenthaltes. Mochte die Pariser Gesellschaft über den extravaganten Dandy von der Insel auch geteilter Meinung sein, mit seiner geschliffenen Konversation schlug er alle in Bann. Zu Wildes Spezialitäten gehörten kleine, aus dem Moment oder einer Bemerkung heraus erzählte Geschichten, die häufig ein Motiv der Bibel, eines Märchens oder des antiken Bildungskanons aufgriffen, variierten und ihm dabei mitunter eine paradoxe Wendung gaben. In Paris rankten sich zahlreiche dieser Tafel-Geschichten um eine kleine jüdische Prinzessin namens Salome. Gillot de Saix hat in den späten 1930er Jahren diese Geschichten von Zeitzeugen gesammelt und unter dem Titel Le Chant du cygne (dt. Die Herberge der Träume) herausgegeben. Die drei darin enthaltenen Salome-Geschichten dokumentieren Wildes schwankenden Blick auf Salome, die er mal als eine unschuldige Jungfrau und Märtyrerin, dann wieder als eiskalte Mörderin sah. Salomé, so der ursprüngliche Titel, steht völlig solitär in Wildes dramatischem Werk. Erst auf den zweiten Blick erkennt man, dass die Figuren ähnlich aneinander vorbeireden wie in Wildes geistreichen Gesellschaftskomödien Lady Windermere’s Fan oder The Importance of Beeing Ernest. Mit Salomé wollte Wilde an die progressive Dramatik der französisch­ sprachigen Symbolisten anschließen, insbesondere an Maurice Maeterlinck. Tatsächlich scheinen sich Salomé und das allerdings erst 1893 uraufgeführte Drama Pelléas et Mélisande regelrecht gegenseitig zu kommentieren. In beiden Stücken projizieren die Figuren ihre Sehnsüchte und Ängste auf die Mondscheibe, von der Wilde behauptete, sie spiele die Hauptrolle in seinem Stück. Salomé schrieb er ursprünglich in französischer Sprache. Obgleich er ausgezeichnet französisch sprach, hoffte der irische Dichter auf diese Weise, ähnlich wie der Belgier Maeterlinck, auf einem ihm »fremden Instrument« spielen und so der Sprache neue Töne entlocken zu können. Die musikalischen Möglichkeiten der Sprache prägen auch die Struktur des Textes. In De Profundis, einem langen Brief aus dem Gefängnis von 1897, weist Wilde auf immer wiederkehrende Motive und Satzteile hin und bringt Salomé dadurch in Verbindung mit der ältesten musikalisch-narrativen Textform, der Ballade: »The refrains whose recurring motifs make Salomé so like a piece of music and bind it together as a ballad.« 1893 beauftragte Wilde seinen Freund Lord Alfred Douglas mit der Übersetzung der Salomé. Die miserable Qualität von ›Bosies‹ Text führte nicht nur zu einem handfesten Streit zwischen den Liebenden, sondern auch zu einer so gründlichen Revision durch Wilde, dass die englische Salome gleichermaßen als seine originäre Schöpfung gilt. Wilde schrieb Salomé für die von ihm glühend verehrte Schauspielerin Sarah Bernhardt. Diese akzeptierte die Rolle, obgleich sie der Auffassung war, dass in dem Stück eigentlich Herodes die Hauptrolle spiele. Doch Wilde war bereits in den frühen 1890er Jahren in London mehr als umstritten, und auch der zweifelhafte Ruf ihres Schöpfers 29

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machte Salomé zu einem Skandalstück. Der Zensor E. F. Smyth Pigott nannte das 1893 in französischer und ein Jahr darauf in englischer Sprache publizierte Stück »halb biblisch, halb pornografisch« und untersagte die Aufführung unter Verweis auf ein aus dem 16. Jahrhundert stammendes, nominell in England gleichwohl noch immer gültiges Bühnenverbot für biblische Stoffe. Wilde sollte sein Stück nie auf der Bühne sehen. Im Gefängnis erfuhr er 1896 von der Uraufführung in Frankreich, für die er, vermittelt über seinen engsten Vertrauten und literarischen Nachlassverwalter Robert Ross, Anweisungen an Sarah Bernhardt gab. 1891 hatte Oscar Wilde in Paris zu seinem jungen Bewunderer André Gide gesagt: »Ich habe mein Genie auf mein Leben verwendet, auf meine Kunst nur mein Talent.« Doch wie die englische Schriftstellerin Ada Leverson erinnerte, galt das nicht für Salomé, die Wilde vor allen anderen Dramen als sein wichtigstes Werk schätzte. Oscar Wilde starb im November 1900 im französischen Exil. Die Rezep­ tionsgeschichte der Salomé begann kurz darauf in Berlin, wo Max Reinhardt das Stück 1902 am Kleinen Theater herausbrachte. Im Jahr darauf besuchte der junge Dirigent und Komponist Richard Strauss eine Vorstellung. Nur zwei Jahre später hatte seine gleichnamige Oper am königlichen Opernhaus in Dresden ihre Uraufführung. Robert Ross war bei der Premiere anwesend, und von ihm wird der Satz kolportiert, »Oscar hätte es nicht gefallen«. Gleichwohl ist seine Salomé wohl für immer untrennbar mit der Straussʼschen Vertonung verbunden.

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Z W ISCHEN J U NGFR AU U N D MÖR DER IN

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DIE UNERHÖRTE SCHWIERIGKEIT DES WERKES Aus Briefen von Richard Strauss an Ernst von Schuch Der Dirigent Ernst von Schuch leitete die Uraufführung der Salome an der Hofoper Dresden


BERLIN, 16. MAI 1905 1 Ich kann Ihnen schon heute mitteilen, daß die Partitur der Salome bis Mitte Juni vollendet sein wird.2 Der Klavierauszug ist ebenfalls bereits in Angriff genommen u. wird bis Anfang September im Druck fertig oder wenigstens in Correcturbogen soweit vollendet sein, daß die Hauptsänger mit dem Rollenstudium beginnen können. Partitur und Stimmen werde ich trachten, bis Anfang Oktober fertigzustellen (Anfang Juni wird das erste Drittel der Partitur schon in Stich gegeben), ich denke somit, Sie können die Erstaufführung auf Mitte November anberaumen. Chor ist keiner drin, aber Solopartien und Orchester ist etwa doppelt so schwer als Feuersnot. Nach reiflicher Überlegung bin ich dahin gekommen, daß Salome doch nur von Frau Wittich gesungen werden kann. Die Rolle erfordert eine Sängerin ganz großen Styles, die an Isolden u. derartiges gewöhnt ist. Da Frau Wittich etwas schwer lernen soll, ist es nötig, daß sie wenigstens ihre Partie mindestens 3 Monate vor der Premiere in Händen hat. Herodes – Burrian Jochanaan – Perron Narraboth – lyrischer Tenor, viel Stimme und etwas hoch? Herodias – dramatischer Mezzosopran mit gutem hohen h? 5 sehr hohe Tenorjuden – helle scharfe Stimme, sehr musikalisch? Ein Page – Altistin? 4 sehr gute Solobässe: 2 Soldaten, ein Nazarener?3 Was die Dekoration betrifft, so wäre es gut, wenn Ihr Maler4 sich einmal die Aufführung im hiesigen neuen Theater5 (mit der prachtvollen Dekoration von Lovis Corinth u. eben dessen Kostüme) ansehen wollte. Wichtig ist für die Akustik, daß die Dekoration so kurz und so geschlossen als möglich ist: Das Problem [ist], daß der in der Cisterne singende Jochanaan ohne Sprachrohr möglichst verständlich [ist], vielleicht kann er mit dem Kopf 2 Fuß über der Erde durch einen schwarzen Gazeschleier (ein Loch in der Mauer fürs Publikum unsichtbar) singen, sodass er selbst den Dirigenten sieht und direkt ins Publikum singt. Dies ist äußerst wichtig! [...]

ir zitieren nach dem Vorabdruck des von Dr. Gabriella Hanke edierten Briefwechsels Strauss/von Schuch W einschließlich ihres Anmerkungsapparats im Salome-Programmheft der Staatsoper Stuttgart ( Januar 1996). Strauss beendete die Salome-Partitur am 20. Juni 1905. Der Tanz der sieben Schleier war zu diesem Zeitpunkt noch nicht Teil der Partitur. 3 Die Uraufführungsbesetzung der Salome vom 9. Dezember 1905 lautete wie folgt: Herodes – Karl Burrian; Herodias – Irene von Chavanne; Salome – Marie Wittich; Jochanaan – Carl Perron; Narraboth – Rudolf Jäger; Ein Page der Herodias – Riza Eibenschütz; Fünf Juden – Hans Rüdiger, Hans Saville, Georg Grosch, Anton Erl, Leon Rains; Zwei Nazarener – Friedrich Plaschke, Theodor Kruis; Zwei Soldaten – Franz Nebuschka, Hans Erwin; Ein Kappadozier – Ernst Wachter; Ein Page des Herodes – Marie Keldorfer. 4 Der Bühnenbildner der Uraufführung war Emil Rieck. 5 Oscar Wilde, Salome in der Regie von Max Reinhardt und dem Bühnenbild von Max Kruse und Lovis Corinth im Neuen Theater in Berlin. 1

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MARQUARTSTEIN, OBERBAYERN, 15. JULI 1905 [...] Mit Ausnahme des Tanzes ist Salome in Partitur u. Klavierauszug im Stich; ich rechne bestimmt darauf, Ihnen bis 1. September einige Notklavierauszüge aus Correcturbogen herstellen lassen zu können, damit sofort mit dem Studium der wichtigsten Partien: Salome (Wittich), Herodes (Burrian), Jochanaan (Perron) begonnen werden kann. Die kleineren Partien sind leicht in 3 Wochen zu bewältigen, Chor ist keiner drin. Das Orchestermaterial dürfte bis 1. November spätestens fertig sein, so daß die Oper so circa 20. November herauskommen könnte. Salome ist mit großem Orchesterapparat so anspruchsvoll geworden, daß sie nur von einer hochdramatischen Sängerin erster Klasse zu bewältigen sein wird, Experimente mit kleinen Würmchen sind absolut ausgeschlossen: bleibt also nur Frau Wittich, wenn Sie nicht über ein anderes Stimmphänomen von reichster Darstellungskraft, fertigem Stylgefühl und ausgereifter Routine inzwischen verfügen. [...]

BERLIN, 5. OKTOBER 1905 Soeben Ihren lieben Brief! Sie jagen mir da einen schönen Schrecken ein: ich combiniere, daß Frau Wittich6 überhaupt mit dem Studium der Salome noch nicht begonnen hat. Ja, wie soll sie, von der man mir sagt, daß sie schwer lernt und langsam begreift, bis Ende November diese neue und schwerste Rolle lernen und so frei und vom Kapellmeister unabhängig schaffen wie es nötig wäre. Oh, Oh, Oh, sagen die Juden auf Seite so und so viel des Klavierauszuges. Ich will mir gerne so bald als möglich Frl. von Osten als Brünnhilde, Isolde, Evchen oder Euryanthe anhören: andere Rollen dürften mir für die Beurteilung der Salome nicht in Betracht kommen. Sie erhalten, lieber Freund, nächste Woche die Partitur und werden sich selbst überzeugen, daß nur eine Stimme von kräftigstem Metall und allererster Durchschlagskraft die Salome bewältigen kann. Was nützt mir Darstellung, schönes Aussehen, wenn man sie einfach nicht hört? Aber studieren Sie doch meinetwegen Salome mit ihr, lassen Sie sie alternieren, sollte sie wirklich besser werden als Wittich, dann können wir uns in letzter Stunde immer noch entscheiden. »Lies sie Bärbchen vor, lies sie Marzel6

ie Sopranistin Marie Wittich (1868–1931) kam 1889 an die Hofoper nach Dresden. Während eines VierteljahrD hunderts wirkte sie als Primadonna an diesem Haus. Dieser Stellung hatte sie es zu verdanken, dass sie die Titelrolle in Richard Strauss’ Salome verkörpern durfte. Obwohl sie von ihrer äußeren Erscheinung her keineswegs der jungen Prinzessin entsprach und im Tanz der sieben Schleier durch die Tänzerin Sidonie Korb ersetzt wurde, erzielte sie aufgrund ihrer großen dramatischen Stimme einen glänzenden Erfolg, den schließlich auch Strauss, der die Partie der Salome lieber mit Annie Krull besetzt hätte, anerkannte. Ebenso wie in Dresden, so hatte Marie Wittich auch bei den Bayreuther Festspielen großen Erfolg, wo sie in den Jahren 1901 bis 1910 Sieglinde in Die Walküre, Kundry in Parsifal und Isolde in Tristan und Isolde sang.

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line vor«7 lassen Sie die Rolle doch von beiden studieren und setzen Sie mir sobald als möglich V. Osten in einer großen Rolle an: ich komme hinüber, aber telegrafieren Sie mir morgen, was los ist, damit ich mir meinen Dienst von nächster Woche danach einrichten kann. [...]

BERLIN, 23. OKTOBER 1905 Sie erhalten Ende dieser Woche die gedruckte Salomepartitur. Damit Sie sich nach Ihrem Wunsch schon vorher etwas orientieren können, lasse ich Ihnen heute durch Fürstner8 eine Partiturabschrift schicken, die ich Sie ersuche, nach Empfang der gedruckten Partitur sofort an Fürstner zurückzuschicken. Streicherbesetzung 16 erste, 16 zweite Viol., 10 Bratschen, 10 Celli, 8 Bässe unerläßlich u. wenn Sie 2 Parkettreihen herausnehmen lassen müßten. Heckelphon und Celesta haben Sie wohl schon angeschafft? 6 Klarinetten, 10 Mann Schlagzeug!! Armer Freund! Könnten Sie nicht Ihren Sängern etwas die Leviten lesen, daß sie die bei jeder neuen Oper altgewohnten Lamentationen über die unerhörte Schwierigkeit des Werkes etwas für sich behielten u. die auf Kritikerinterviews verwendete Zeit lieber auf das Studium ihrer Partitur verwenden möchten. Dieses Geschreibe vor der Aufführung ist mir so zuwider u. ich mag diese dummen Notizen nicht immer dementieren. Nach der Aufführung kann jeder sagen, ob ihm das Werk gefällt oder nicht, schimpfen, so viel er Lust hat. Aber bis dahin Maul halten! Nehmen Sie mal in diesem Punkte Frau Wittich aufs Korn: dieselbe hat sich bei Frau Wagner schon beklagt, daß sie solches Zeug lernen muß. Wenn sie keine Lust hat, soll sie’s eben bleiben lassen; es muß ja nicht sein!

BERLIN, 24. OKTOBER 1905 So ist es also nun glücklich gekommen, wie ich befürchtete. Verleger, Stecher u. ich haben uns den ganzen Sommer abgezappelt, um Ihnen bis 1. September die Klavierauszüge zu liefern. Die »große« Frau Wittich läßt das Schundzeug 5 Wochen liegen u. kanns eben schließlich nicht schaffen. Ich habe also das Meinige getan: Sie dürfen mir also nicht böse sein, wenn ich Ihnen unter diesen Umständen die Uraufführung nicht mehr garantieren kann. In Leipzig studiert Nikisch bereits feste dran, Mahler teilt mir heute mit, daß er das Werk endlich bei der Censur durchgedrückt habe u. geht nun sofort mit Feuereifer an die Arbeit, läßt die Salo icht wortgetreues Textzitat aus Le nozze di Figaro von Wolfgang Amadeus Mozart und Lorenzo Da Ponte: N In der 3. Szene des 1. Aktes bittet der verliebte Page Cherubino Susanna, seine neugedichtete Canzonetta der Gräfin, sich selbst, Barbarina und Marcellina sowie allen Mädchen des Schlosses vorzulesen. 8 Der 1868 von Adolph Fürstner (1833–1908) in Berlin gegründete Musikverlag veröffentlichte mit Beginn von Strauss’ Berliner Tätigkeit (1898) die meisten seiner Werke. 7

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me in 4facher Besetzung studieren; wenn er Ihnen nunmehr zuvorkommt, kann ich nichts dafür. Wie ich Ihnen schon depeschierte, will ich Ihnen bis spätestens 9. Dezember die Uraufführung reservieren, können Sies dann nicht herausbringen, dann mag es bringen, wer zuerst fertig wird. [...] Frau Wittich scheint die Sache überhaupt keinen Spaß zu machen. Wenn sie dazwischen noch große Gastspiele absolviert und sich nicht vollständig auf Salome konzentriert, kann nichts gescheites herauskommen. Ich bitte um umgehende Drahtantwort über das endgültige Datum der Première. Hoffentlich sind Sie mir nicht böse; aber wenn Sie Ihre verfluchten Primadonnen nicht besser im Zaum haben, dürften Sies mir nicht entgelten lassen.

BERLIN, 24. OKTOBER 1905 Nun haben wir des Rätsels Lösung: Frau Wagner9 schreibt mir heute wörtlich: Ich hatte Frau Wittich gebeten, den Monat November, welchen sie frei hatte, hierher (nach Bayreuth) zu kommen, um mit ihr die Isolde auszuarbeiten; denn es liegt mir daran, diese ungeheure Aufgabe möglichst lange im Voraus mit unseren Künstlern durchzunehmen, damit sie im Verlaufe der Zeit sich dessen bewußt werden, was sie hier erfuhren u. um dann auf unserer Bühne mit Freiheit unangestrengt darin aufzutreten, nachdem die Probezeit bloß für die Einzelheit u. Verfeinerung gebraucht worden war. Sie hatte zugesagt, nun muß sie mir absagen wegen des Studiums der Salome etc. etc. Also, Frau Wagner will die Isolde, die Frau Wittich im August singen soll, schon im November mit ihr studieren: meine Salome, die wirklich noch schwerer ist, soll Frau Wittich in einem Monat lernen u. creieren. O, warum haben Sie, lieber Freund, mir nicht gefolgt, als ich Sie bat, Anfang September mit Frau Wittich das Salomestudium zu beginnen. Bedenken Sie doch, was für mich bei einer solchen Uraufführung auf dem Spiele steht! Nach allem, was ich nun so ersehe, scheint mir Frau Wittich ein sehr unsicherer Cantonist zu sein; die sich wohl der Verantwortung, die sie hier mit Salome auf sich hat, nicht bewußt ist. 20. Nov. will sie in Stuttgart Fidelio singen. Herr Perron10 hat sich seine Rolle überhaupt noch nicht angesehen u. will auch in Urlaub gehen. Ja, lieber Freund, wie soll denn das werden? 9

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ie Reaktion Bayreuths nach der Uraufführung der Salome führt zur Distanzierung zwischen Cosima Wagner und D Richard Strauss, die sich über mehr als zehn Jahre freundschaftlich verbunden waren. Nach der ersten Begegnung von Cosima Wagner und Richard Strauss 1888 zeigte sich sehr bald, dass Cosima nicht an den Werken des jungen Komponisten interessiert war, sondern am Mitarbeiter bei den Festspielen. 1894 dirigiert Strauss Tannhäuser bei den Bayreuther Festspielen (mit seiner Frau Pauline de Ahna als Elisabeth). Bis 1933 ist dies das letzte Engagement. Der Bassist Carl Perron (1858–1928) debütierte als Konzertsänger; in der Partie des Wolfram in Wagners Tann­ häuser feierte er 1884 in Leipzig einen ersten Bühnenerfolg. 1892 erfolgte der Ruf an die Dresdner Hofoper. Als Jochanaan in Salome und Orest in Elektra wirkte er am 9. Dezember 1905 und am 21. Januar 1909 an beiden Strauss-Uraufführungen mit. Gegen den Widerstand von Strauss, der in Perron vorab den Wagnersänger sah und nicht den Komödianten, verkörperte Perron am 26. Januar 1911 den Barons Ochs auf Lerchenau in der Uraufführung des Rosenkavalier. Strauss muss diese Rollenbesetzung auch im Nachhinein als verfehlt erachtet haben, da er am 21. Dezember 1911 an Hugo von Hofmannsthal schreibt: »Der Fall Perron in Dresden ist mir noch in zu guter Erinnerung: das passiert mir ein zweites Mal nicht.«

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Hier heißtʼs doch: Alle Mann an Bord. Bitte geben Sie keinen Urlaub mehr und konzentrieren Sie alle Kräfte der Bühne auf Salome. Sie haben ja die Partitur noch nicht gesehen u. ahnen noch gar nicht, was Ihnen da noch Alles bevorsteht. [...]

BERLIN, 11. DEZEMBER 1905 Ich überlege mir immer, wie ich Ihnen für letzten Sonnabend11 noch besonders danken soll. Da aber ein Briefbogen keine Orchesterpartiturseite ist, versagt meine Instrumentationskunst, und ich weiß mir nicht anders zu helfen, als einer solchen Vollendung gegenüber, wie sie Sonnabend von Ihrer Instrumentationskunst geboten wurde in der Wiedergabe meiner Salome-Partitur, jedes Lob verstummen zu lassen und einfach zu sagen: Tausend, tausend Dank Ihnen und Ihrer herrlichen Künstlerschar. Was Sie alle geleistet haben, wissen Sie selbst am besten, wie enthusiastisch es von allen Seiten anerkannt wird, sehen Sie, und daß es mir möglich war, vollständig kritiklos der Aufführung beizuwohnen und nur bewundernd zu genießen, – jeder produktive Künstler, der nicht in der Lage ist, selbst auch sein Werk ganz nach seinen eigenen Intentionen zu reproduzieren, wird Ihnen sagen können, was das heißt. »Heut’ hast Duʼs erlebt«, konnte ich mit Wotan singen.12 Nur daß ich es nicht für möglich gehalten habe, daß bei der ersten Aufführung eines so eminent schwierigen Werkes eine solche Vollendung der Wiedergabe mit dem Stempel absoluter Mühelosigkeit zu erzielen sei, das müssen Sie noch wissen! Da Sie immer so liebenswürdig waren, auf das Einverständnis des Komponisten das größte Gewicht zu legen, macht es Ihnen vielleicht Freude, wenn ich Ihnen sage, daß Sie meine höchsten Erwartungen nicht nur erfüllt, sondern in ungeahnter Weise übertroffen haben. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen, darum nochmals innigsten Dank! [...]

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ie Uraufführung der Salome am 9. Dezember 1905. D Textzitat aus Richard Wagners Die Walküre, zweiter Aufzug: Beginn des Streites zwischen Fricka und Wotan.

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Dietmar Holland

EIN EINMALIGES EXPERIMENT AN EINEM BESONDEREN STOFF

Als Richard Strauss sich dazu entschloss, Oscar Wildes Einakter Salome ohne den Umweg über die traditionelle Librettistik – die Umformung lite­ rarischer Vorlagen in opernspezifische, affektbestimmte Situationen und in komponierbare Verse – zu vertonen, war das zwar ein Novum in der Geschichte der deutschen Oper nach Richard Wagner, vom Komponisten aber nicht als programmatischer Vorgang gemeint, sondern eher als glücklicher Zufall gewertet: »Ich war in Berlin in Max Reinhardts ›Kleinem Theater‹, um Gertrud Eysoldt in Wildes Salome zu sehen. Nach der Vorstellung traf ich Heinrich Grünfeld, der mir sagte: ›Strauss, das wäre doch ein Opernstoff für Sie.‹ Ich konnte erwidern: ›Bin bereits beim Komponieren.‹ Der Wiener Lyriker Anton Lindner hatte mir das köstliche Stück schon geschickt und sich erboten, mir daraus einen ›Operntext‹ zu machen. Auf meine Zustimmung hin schickte er mir ein paar geschickt versifizierte Anfangsszenen, ohne dass ich mich zur Komposition entschließen konnte, bis es mir eines Tages aufstieg: Warum komponiere ich nicht gleich ohne weiteres ›Wie schön ist die Prinzessin Salome heute Nacht!‹ Von da ab war es nicht schwer, das Stück so weit von schönster Literatur zu reinigen, dass es nun ein recht schönes ›Libretto‹ geworden ist.« 42


Hinter diesen eher untertreibenden Worten steckt eine schwerwiegende ästhetische Entscheidung: als Initialzündung der Musik die zur Komposition herausfordernden Anreize des Textes selber zu betrachten, ohne diese eigens herstellen zu müssen. Dennoch war es ein Zufall, der Strauss zu dem brachte, was man später als den Sonderfall der »Literaturoper« bezeichnete, einen Operntypus, bei dem sich der bereits von Wagner geforderte literarische Anspruch mit der Vertonung von Prosa statt Versen verband. Dafür war natürlich nicht jeder Schauspieltext geeignet, und Strauss mochte bei der Lektüre der Salome gespürt haben, dass sich hier – ähnlich wie in Maurice Maeterlincks Pelléas et Mélisande, komponiert von Claude Debussy kurz zuvor – genügend Ansatzpunkte für eine direkte Umsetzung in Musik fanden, die zudem mit gewissen Eigenarten seiner eigenen musikalischen Sprache konvergierten: Bekanntlich war ja der junge Strauss ein Meister der Symphonischen Dichtung und in seinen ersten beiden Opern Guntram und Feuersnot noch ganz dem Fahrwasser des Wagner-Epigonentums verhaftet. So erscheint es nicht weiter verwunderlich, dass die ersten Worte der Salome in ihm alle musikalischen Kräfte mobilisierten, um die Erfahrungen mit der Musiksprache der Symphonischen Dichtungen, ihrer Charakterisierungskunst und Motivtechnik, ihrer großformatigen Anlage und großzügigen Formenkunst endlich einmal auf den Bereich origineller Musikdramatik, also konkret greifbar anzuwenden. Der Text Oscar Wildes bot ihm tatsächlich genügend »musikalische Angriffspunkte«, um die grundsätzliche Affinität zwischen der nervösen, feingliedrigen und äußerst flexiblen Motivsprache, die Strauss in seinen frühen Orchesterwerken etabliert hatte, und der »nervösen Zerfaserung« (Anna Amalie Abert) der von Wilde höchst artifiziell eingesetzten Kunstsprache für die Komposition der Salome-Musik fruchtbar machen zu können. Der ebenso schlagende wie einmalige Anfang der Oper spricht bereits dafür: Ohne an den Zwang zu einer Ouvertüre oder wenigstens zu einem Vorspiel des Orchesters denken zu müssen, öffnet sich mit dem schleichenden, zugleich höchst faszinierenden Motiv der Klarinette der Vorhang und gibt sogleich in »visueller Klanglichkeit« (Fritz Gysi) den akustischen und optischen Blick frei für die Bühnensituation; ein Anfang also, der prägnanter gar nicht ausfallen könnte. Und was für das Vorgehen von Strauss spricht, ist die Tatsache, dass man im Grunde gar nicht merkt, dass hier Musik einen Bühnenvorgang »begleitet«, so eng ist ihre Existenz an den szenischen Augenblick gebunden, ja, mit ihm ununterscheidbar verwoben. Die Tendenz der Musik jedoch, die Vorgaben des Textes – die Formulierungen ebenso wie die Bühnenvorgänge – gleichsam aufzusaugen, ja, zu übersteigen, ist die andere Seite dieses Sachverhalts, und sie machte sich Strauss ebenfalls zunutze. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger Richard Wagner und zu seinem kühnen Zeitgenossen Arnold Schönberg war Strauss alles andere als ein musikali 43

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scher Revolutionär. Erst die Stoffe, an denen er seinen kompositorischen Mut, seinen Hang zu breitgefächerter Stilistik, erproben konnte, riefen in ihm die Lust zu unerhörten Klangwelten wach, wie er sie in Wildes Salome sprachlich vorgeprägt fand: die schillernde Atmosphäre der Vorgänge, der äußere Gegensatz zwischen den an sich unvereinbaren Gegenwelten des dekadenten Heidentums und des prophetischen Christentums, die psychologischen Widersprüche und die schärfste Charakterzeichnung der Hauptpersonen und die farbenreiche, mit biblischen Metaphern, orakelhaften Sprüchen und übersteigerten Leidenschaften virtuos spielende Formulierungskunst einer Sprache, die nicht im vordergründigen Sinne der unmittelbaren Verständigung dient, sondern – ganz im Gegenteil – gerade das verhüllt oder verschweigt, was sie meint, indem sie sich in Andeutungen und geheimnisvolle Wendungen zurückzieht und damit erst recht der Musik den Raum zur Entfaltung freigibt. Andererseits hat Wilde selbst eigens darauf hingewiesen, dass die Sprache in Salome gleichsam wie Musik strukturiert sei, denn ihre »immer wiederkehrenden Sätze« fügten das Stück »wie ein Musikstück mit immer wiederkehrenden motifs« zusammen. Freilich zog Strauss daraus nicht etwa den voreiligen Schluss, das sprachliche Motivgewebe einfach in ein musikalisches Gewebe analogisierend umzusetzen, sondern er erkannte, dass sich ihm hier die unschätzbare Möglichkeit bot, der Gefahr eines Komponierens »am Text entlang« wirksam zu entgehen, indem er sich einerseits die sprachliche Wiederholungsstruktur für formale Gliederungen der Musik zunutze machte und dennoch auf die musikalische, sozusagen symphonisch-eigenständige »Logik« nicht zu verzichten brauchte. Er machte tatsächlich ernst mit jenem »symphonischen Ehrgeiz« (Egon Voss), der bereits den Musikdramatiker Wagner beschäftigte, und ließ sich zu der neuartigen Idee anregen, der Wiederholungsstruktur des Textes ein sich stetig wandelndes Motivgewebe des Orchesters zu unterlegen, das über das von Wagner etablierte Leitmotivnetz – die Verknüpfung von Erinnerungen und Vorahnungen jenseits des aktuellen Bühnengeschehens – weit hinausgeht und im Grunde auf die Konsistenz eines rein symphonischen Zusammenhangs (gleichsam mit obligaten Singstimmen) abzielt. Das dürfte auch der Grund für die Entscheidung gewesen sein, den von Wilde »durchkomponierten« Einakter einer – zunächst rein äußerlich erscheinenden – ausdrücklichen Szenengliederung zu unterwerfen, die durch den Auftritt einer jeweils neuen Hauptperson dramaturgisch motiviert ist. Musikalisch indessen ist es von Belang, dass sich die vier Szenen, die ohne Zäsur (im Sinne einer durchkomponierten, einsätzigen Symphonie mit ihren Abschnitten) ineinander übergehen, sowohl hinsichtlich ihrer formalen Anlage und ihrer Ausdehnung als auch in ihrer Komplexität scharf voneinander unterscheiden und damit dem äußerlichen Gliederungsprinzip des Einakters eine rein musikalische Tiefenstaffelung und innere, dramatische Glaubwürdigkeit verleihen. DIETM A R HOLLA N D

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Nicht nur ist jede der vier Szenen länger als die vorhergegangene – auch das wäre nur ein äußerlicher Gesichtspunkt –, sondern auch in ihrem formalen Aufbau und in ihrer motivischen Dichte brisanter; die kumulative Ausdehnung entspricht genau der anwachsenden, inneren Steigerung der Bühnenvorgänge, wie sie sich erst aus dem symphonischen Gewebe der Musik in ihrer Tiefenschicht entschlüsseln lässt. Das meint Strauss mit seinem Hinweis, das Spiel der Darsteller müsse sich, im Gegensatz zu der allzu aufgeregten Musik, auf größte Einfachheit beschränken; Toben auf und vor der Bühne zugleich – das sei zu viel. Das Orchester allein genüge dafür, ein Orchester freilich – so wäre hinzuzufügen –, das sich keineswegs damit begnügt, die Vorgänge auf der Bühne mehr oder weniger drastisch zu »untermalen«. Der »symphonische Ehrgeiz«, den Strauss hier ausdrücklich investiert hat, schafft inhaltliche Querbezüge, die über die sprachliche Wiederholungsstruktur hinausgreifen: die »Geschichte« zentraler Motive, die den symphonischen Geist von Aufkeimen, Verwandeln, Steigern, Verdichten und Überhöhen erfüllt. Unter der betörend-schillernden Oberfläche des Orchesterklangs, mit dem Strauss hier zu operieren versteht, waltet also ein strenger Wille zur klaren, ja, strengen Form: Die Anfangsszene, zusammen mit der zweiten Szene, dem Auftritt Salomes, die »Exposition« des Dramas (und der Symphonie), ist parataktisch gebaut, fügt sich aus kontrastierenden Abschnitten zusammen, in denen die virtuell gleichzeitig ablaufenden Bühnenvorgänge des Vorder- und Hintergrunds auseinandergefaltet werden. Die zweite Szene dagegen gehorcht dem Aufbauprinzip der einfachen, linearen Steigerung: Salomes Flucht aus dem Festsaal des Herodes, ihre neugierige Reaktion auf die aus der Zisterne heraufklingende Stimme des Propheten Jochanaan und ihr Wunsch, mit ihm zu sprechen, den sie gegen den Widerstand des in sie verliebten Narraboth durchzusetzen versteht (»Ich weiß, du wirst das tun«). Genau an der Stelle, als Narraboth den Befehl erteilt, den Propheten heraufzuholen, ist der Höhepunkt der Szene erreicht, bei dem der symphonische Kommentar als Ausdruck der emotionalen Verdichtung – Salomes gespannte Erwartung – in den Vordergrund treten kann. Dieses erste orchestrale Zwischenspiel »begleitet« zwar ebenso das Heraufkommen des Propheten wie das Nachspiel der dritten Szene sein Hinuntersteigen, doch bildet das »tönende Schweigen« des Orchesters (als eine Sprache ohne Begriffe) hier einen ersten Knotenpunkt der inneren Handlung: Es ist der innere Monolog der Salome, zugleich die emotionale Vorbereitung der zentralen Auseinandersetzung zwischen ihr und dem von ihr als Objekt sexueller Begierde erfassten Propheten. Spiegelt sich die antithetische Struktur dieser Szene bereits in dem orchestralen Rahmen wider – im Nachspiel wird, konträr zum Vorspiel, das durch den Fluch Jochanaans ausgelöste »Chaos der Emotionen« (Wolfgang Krebs) hörbar –, dann wird sie erst recht wirksam in der – im Gegensatz zur zweiten Szene – spiralförmigen, komplexen Steigerung der Auseinandersetzung 45

EIN EINM A LIGE S EX PER IMEN T A N EIN EM BE SON DER EN STOFF


(eigentlich: des Aneinander-Vorbeiredens) im zweiten Teil. Der Text der Dichtung enthält bereits den inneren Aufbau der gesamten Szene: im ersten Teil die (durch die Musik hör- und fühlbar gemachte) dreifache, lineare Ablehnung der Salome durch den asketischen Propheten und – als schroffen Gegensatz dazu – seine erotische Anziehungskraft auf sie, die in dem sehnsuchtsvollen Anruf seines Namens gipfelt, und im zweiten, entscheidenden Teil das komplexe Widerspiel der abermals dreifachen Werbung Salomes um Jochanaan, ihre drastische Zurückweisung, der Wechsel von Liebe in Hass (Zerrbilder der Gestalt des Propheten) und das erneute Aufbrechen der erotischen Obsession, die schließlich, nach der dritten Zurückweisung (»Niemals«), anstelle des früheren, zeitweiligen Umschlags von Liebe in Hass, übergeht in den signifikanten Durchbruch des (auch musikalisch höchst auffälligen) obsessiven Motivs der Salome »Ich will deinen Mund küssen«, das alles, auch den – im Übrigen völlig unbeachtet bleibenden – Selbstmord Narraboths vor ihren Augen, an sich reißt und sich provokant gegen die Erlösungsidee des von Jochanaan ins Feld geführten Messias stellt. Das obsessive Motiv der Salome tritt zwar wie neu ins musikalische Geschehen ein, entspringt aber doch dem weitgespannten symphonischen Zusammenhang (eine Vorstufe bildet das prägnante Motiv Jochanaans aus der ersten Szene bei den Worten »Wenn er kommt« – der Messias nämlich) und führt in einen weitreichenden Kontext ein, der bis an das Ende der Oper reicht. An diesem Motiv, das so scheinbar unvermittelt exponiert wird, lässt sich paradigmatisch zeigen, was die (symphonische) »Geschichte« eines Motivs erzählen kann: Es ist, wie Wolfgang Krebs in seiner Studie Der Wille zum Rausch (1991) erkannt hat, das in der Musik allmählich hervorkeimende und schließlich zur Schlussapo­ theose der Titelheldin erhobene »dionysische« Liebesverlangen, das konträr zur messianischen Botschaft des von ihr begehrten, asketischen Propheten auf die Erfüllung im sinnlichen »großen Augenblick« abzielt. Die Ambivalenz der obsessiven Begierde der Salome, wie sie sich in diesem Motiv verdichtet, macht Strauss ausdrücklich hörbar, indem er es nicht nur aus der Messias-Erwartung der christlichen Gegenwelt Salomes herauswachsen lässt, ja, es sogar durch den ästhetischen Salto mortale einer grundsätzlichen Umdeutung dem Liebesmotiv des Messias zugänglich macht (in der Erzählung des Jochanaan von der erlösenden Kraft des Christengottes), sondern es auch – beim Übergang zur vierten, letzten Szene – einer Metamorphose ins Ungeheure unterzieht. Nach dem Abgang des Jochanaan und dem Kampf der widerstreitenden Gefühle in Salome blitzt im Orchester der entsetzliche Gedanke auf, der zur Peripetie der Handlung führt: Im Orchester ertönt, mahnend und drohend zugleich, die Verwandlung des obsessiven Liebesmotivs in das Motiv des Rachegedankens »Ich will den Kopf des Jochanaan«, ebenso rhythmisch skandiert wie das wortgezeugte frühere Motiv. Und auch diese Metamorphose hat ihre muDIETM A R HOLLA N D

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sikalische Vorgeschichte: Es ist das Motiv des Pagen in der ersten Szene zu den Worten, gerichtet an Narraboth, »Du siehst sie immer an«, eines jener refrainartigen Fatalitäts-Motive, die das gesamte Stück durchziehen. Die zunächst wie zufällig wirkende Motivik schürzt sich im Verlauf der Oper immer mehr zum musikdramatischen Knoten, bis schließlich die Substanz umschlägt in eine ganz neue Qualität: Das bis zum Wahnsinn gesteigerte Begehren der Salome findet seine, wenn auch grausige Erfüllung in der letzten Verwandlung des obsessiven Motivs zur in sich abgeschlossenen, nicht mehr vorwärtsdrängenden Gestalt eines Quart- anstelle des früheren Terzaufstiegs und zuletzt sogar, bei den Worten der Salome »Ich habe deinen Mund geküßt, Jochanaan«, zur periodischen Melodielinie. Diesen Moment bis zuletzt aufgespart zu haben, nachdem der Schlussmonolog der Salome insgesamt das Ziel der musikalisch-symphonischen Entwicklung war und in seinem auskomponierten Resultatscharakter die Bedingung einer großen, ja, überwältigenden Reprise erfüllen konnte als Zusammenfassung, Verdichtung und Apotheose gleichermaßen – das allein beweist nicht nur den großen symphonischen Atem, über den Strauss hier verfügte, sondern – und vor allem – die Kraft des musikalischen »Experiments«, den tieferen Sinn der Dichtung sogar gegen die Intentionen des Dichters durchzusetzen.

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EIN EINM A LIGE S EX PER IMEN T A N EIN EM BE SON DER EN STOFF


Siegfried Wagner

» Es ist tieftraurig, dass der Parsifal nun bald den Theatern erreichbar sein wird, die durch die unheilschwangern Werke von Richard Strauss verunreinigt sind, den Brettern, über die die ekelhafte Salome gegangen ist. Seine Musik ist eine spekulative Versündigung an der Menschheit.


Es muss auch gemeine Texte, gemeine Musik geben – für Menschen, die das brauchen. Aber die Halbwelt bleibe doch gefälligst unter sich, und man wage es doch nicht, auf einen anständigen Tisch Gerichte zu bringen, die von Bazillen wimmeln, Gifte allerschlimmster Art. « anlässlich des Auslaufens der Parsifal-Schutzfrist 1913


Alex Ross

DIE SPRENGUNG DER ENGE Zur SalomeErstaufführung in Österreich

Als Richard Strauss seine Oper Salome am 16. Mai 1906 in Graz dirigierte, versammelten sich diverse gekrönte Häupter der europäischen Musikwelt, um dem Ereignis beizuwohnen. Die Uraufführung der Salome hatte fünf Monate zuvor in Dresden stattgefunden, und es hatte sich herumgesprochen, dass Strauss etwas Unerhörtes geschaffen hatte – ein ultradissonantes biblisches Spektakel nach dem Theaterstück eines degenerierten Briten irischer Herkunft, dessen Namen man in der anständigen Gesellschaft nicht nannte, ein Werk, das jugendliche Lust und Erotik so Schrecken erregend darstellte, dass die kaiserlichen Zensoren es an der Wiener Hofoper verboten hatten. 50


Gustav Mahler, der Direktor der Wiener Oper, kam mit seiner Frau, der so schönen wie umstrittenen Alma. Der kühne junge Komponist Arnold Schönberg reiste mit seinem Schwager Alexander von Zemlinsky und nicht weniger als sechs seiner Schüler aus Wien an. Einer von ihnen war Alban Berg. Ganz gewöhnliche Musikbegeisterte füllten den Rest des Zuschauerraums – »viele junge Leute aus Wien, deren einziges Handgepäck ein Klavierauszug war«, wie Richard Strauss notierte. Unter ihnen war womöglich der 17jährige Adolf Hitler, der gerade erst Mahler in Wien Richard Wagners Tristan und Isolde hatte dirigieren sehen. Hitler erzählte Straussʼ Sohn später, er habe sich für die Fahrt nach Graz Geld von Verwandten geborgt. Sogar ein fiktiver Charakter saß im Publikum – Adrian Leverkühn, die Hauptfigur von Thomas Manns Doktor Faustus, ein Komponist, der einen Pakt mit dem Teufel eingeht. Strauss und Mahler, die Titanen der deutsch-österreichischen Musikwelt, verbrachten den Nachmittag in den Bergen oberhalb der Stadt, wie Alma Mahler sich in ihren Memoiren erinnerte. Ein Fotograf hielt die beiden Komponisten vor dem Opernhaus fest, als sie offenbar gerade zu ihrer Wanderung aufbrechen wollten – Strauss lächelnd mit Strohhut, Mahler in die Sonne blinzelnd. Die Gruppe besichtigte einen Wasserfall und aß in einem Gasthof zu Mittag, an einem einfachen Holztisch. Die beiden müssen ein seltsames Paar abgegeben haben: Strauss, groß und schlaksig, mit hoch gewölbter Stirn, leicht fliehendem Kinn, durchdringenden, aber tief liegenden Augen; Mahler, einen ganzen Kopf kleiner, ein kräftiger, raubvogelartiger Mann. Als die Sonne sank, wurde Mahler angesichts der fortgeschrittenen Stunde nervös und schlug vor, zum Hotel Elefant zurückzukehren, wo sie logierten, um sich auf die Aufführung vorzubereiten. »Ach was, ohne mich anfangen könnenʼs ja doch nicht«, sagte Strauss. »Sollenʼs nur warten.« Mahler entgegnete: »Gut, wenn Sie nicht kommen, so fahre ich und dirigiere für Sie.« Mahler war 45, Strauss 41. Sie waren in vielerlei Hinsicht das genaue Gegenteil voneinander. Mahlers Launen wechselten wie die Farben eines Chamäleons – kindisch, himmelstürmend, despotisch, verzweifelt. Wenn er in Wien aus seiner Wohnung Nähe Schwarzenbergplatz zum Opernhaus am Ring schritt, flüsterten die Fiaker ihren Fahrgästen zu: »Der Mahler!« Strauss hingegen war erdverbunden, selbstgenügsam, ziemlich zynisch und blieb für die meisten Betrachter undurchsichtig. Die Sopranistin Gemma Bellincioni, die beim Bankett nach der Grazer Vorstellung neben ihm saß, beschrieb ihn als »Deutschen reinsten Wassers, ganz ohne Pose, ohne langatmige Reden, fast ohne Interesse für Klatsch und ganz ohne Neigung, über sich und sein Werk zu sprechen, mit stählernem Blick und undurchschaubarer Miene«. Strauss kam aus München, in den Augen kultivierter Wiener wie Gustav und Alma Mahler ein rückständiges Nest. Alma unterstrich diesen Eindruck in ihren Memoiren, indem sie Straussʼ Worte in übertriebenem bayrischen Dialekt wiedergab. 51

A LEX ROS S



← Richard Strauss und Gustav Mahler an einem Seiteneingang des Grazer Opernhauses, anlässlich der österreichischen Erstaufführung der Salome.

»Strauss und ich graben von verschiedenen Seiten her in unsern Schachten desselben Berges«, sagte Mahler einmal. »Wir werden uns schon treffen.« Beide betrachteten Musik als ein Medium des Konflikts, als ein Schlachtfeld der Extreme. Sie schwelgten in den ungeheuren Klängen, die ein hundertköpfiges Orchester hervorbringen kann, doch sie setzten dabei auch Energien des Zerfalls und Zusammenbruchs frei. Die heroischen Erzählungen der Romantik des 19. Jahrhunderts, von Beethovens Symphonien bis hin zu Wagners Musikdramen, endeten unweigerlich mit dem hellen Aufstrahlen von Transzendenz, mit einem spirituellen Triumph. Mahler und Strauss hingegen erzählten Geschichten, die eher kreisförmig angelegt waren, und stellten dabei häufig die Möglichkeit eines wahrhaft glücklichen Endes in Frage. Beide unterstützten die Musik des anderen demonstrativ. Strauss wurde 1901 Vorsitzender des Allgemeinen Deutschen Musikvereins, und seine erste größere Amtshandlung war es, Mahlers Dritte Symphonie ins Programm der nächsten Festspiele zu nehmen. In den folgenden Jahren wurden Mahlers Werke dort so häufig gespielt, dass einige Kritiker die Organisation in »Allgemeiner Deutscher Mahlerverein« umtauften. Andere bezeichneten die Festspiele als »Alljährlichen Deutschen Karneval der Kakophonie «. Mahler seinerseits bewunderte die Salome. Strauss hatte ihm den Klavierauszug ein Jahr zuvor in einer Klavierhandlung in Straßburg vorgespielt und -gesungen, während Passanten die Ohren ans Schaufenster pressten, um mitzuhören. Salome versprach einer der Höhepunkte seiner Intendanz in Wien zu werden, doch die Zensoren schreckten vor einer Oper zurück, in der biblische Figuren Unaussprechliches tun. Der wütende Mahler erging sich in Andeutungen, dass seine Tage in Wien nun gezählt seien. Im März 1906 schrieb er an Strauss: »Sie glauben gar nicht, welchen Ärger ich bereits in dieser Sache gehabt habe und (unter uns gesagt) welche Consequenzen unter Umständen für mich daraus entstehen werden.« Und so kam die Salome nach Graz. Das Stadttheater inszenierte die Oper auf Anregung des Musikkritikers Ernst Décsey, eines Bundesgenossen von Mahler, der die Theaterleitung überzeugte, damit einen Skandalerfolg landen zu können. In seiner Autobiografie Musik war sein Leben schrieb Décsey: »Alsbald entstand große Aufregung in der Stadt. Parteiungen, Spaltungen. Wirtshausphilosophen schwirrten neugierig um das Geschehen im Opernhaus herum... Aus der Provinz kamen Besucher, aus Wien Kritiker, Presseleute, Berichter, Fremde... drei mehr als ausverkaufte Häuser.« Als es dämmerte, erschienen Mahler und Strauss endlich am Opernhaus, nachdem sie ihr Chauffeur im Auto eilig zurück in die Stadt gebracht hatte. Im Foyer wogte das Publikum hin und her – förmlich aufgeladen von nervöser Anspannung. Das Orchester spielte einen Tusch, als Strauss zum Pult schritt, und die Zuschauer applaudierten stürmisch. Dann senkte sich Stille über den Zuschauerraum, eine Klarinette spielte eine sanft sich schlängelnde Tonleiter, und der Vorhang hob sich.

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DIE SPR ENGU NG DER ENGE


Adrian Leverkühn über den Komponisten der Salome

» Was für ein begabter Kegelbruder! Der Revolutionär als Sonntagskind, keck und konziliant. Nie waren Avantgardismus und Erfolgssicherheit vertrauter beisammen.


Affronts und Dissonanzen genug – und dann das gutmütige Einlenken, den Spießer versöhnend und ihn bedeutend, dass es so schlimm nicht gemeint war ... Aber ein Wurf, ein Wurf ... « in: Thomas Mann, Doktor Faustus




JA, SO EINER ›WURSCHTELT SICH DURCH

Klaus Mann an Prof. Thomas Mann US Press Camp, Rosenheim (Bayern), den 16. Mai 1945


↑ Vorige Seiten: Links: Gerhard Siegel als Herodes Rechts: Michaela Schuster als Herodias und Malin Byström als Salome

Eines anderen Gespräches von erstaunlicher Drolligkeit möchte ich schließlich noch Erwähnung tun. Gestern war ich bei Richard Strauß in Garmisch, mit Curt Rieß zusammen, der hier als ein ›US Correspondent‹ tätig ist. Wir ließen uns als zwei amerikanische Reporter melden; der Meister empfing uns mit großer Herzlichkeit, ohne mich zu erkennen, natürlich, und ohne dass ich ihm irgendwelche Aufschlüsse über meine Identität gegeben hätte. Auch diese Unterhaltung fand vor einer Villa im blühenden Garten statt, freilich in sehr viel intimerer Form als die Entrevue mit dem Reichsmarschall. Bei Strauß gab es kein militärisches Zeremoniell, keinen Massenandrang internationaler Berichterstatter; vielmehr waren Curt und ich die einzigen oder doch die ersten journalistischen Besucher, nicht nur an diesem Tage, sondern überhaupt, seit dem Ende des Krieges. Sonderbarerweise war noch nicht einer von unseren sonst so findigen Kollegen auf die Idee verfallen, den Komponisten der Salomé und des Rosenkavalier zu interviewen. Um so größer seine Mitteilsamkeit, die durch keinerlei Scham oder Takt gehemmt erscheint. Scham und Takt sind seine Sache nicht. Die Naivität, mit der er sich zu einem völlig ruchlosen, völlig amoralischen Egoismus bekennt, könnte entwaffnend, fast erheiternd sein, wenn sie nicht als Symptom sittlich-geistigen Tiefstandes so erschreckend wäre. Erschreckend ist das Wort. Ein Künstler von solcher Sensitivität – und dabei stumpf wie der Letzte, wenn es um Fragen der Gesinnung, des Gewissens geht! Ein Talent von solcher Origi­ nalität und Kraft, ein Genie beinah – und weiß nicht, wozu seine Gaben ihn verpflichten! Ein großer Mann – so völlig ohne Größe! Ich kann nicht umhin, dies Phänomen erschreckend und auch ein wenig degoutant zu finden. Sein hohes Alter ist keine Entschuldigung, kaum ein mildernder Umstand. Zwar erklärte er uns, dass er keine ›künstlerischen Pläne‹ mehr habe. (›Fünfzehn Opern, dazu die Lieder, die symphonischen Stücke und andere Kleinigkeiten, es genügt: Mein Œuvre ist abgeschlossen.‹) Aber für einen Mann von einundachtzig ist er in ungewöhnlich guter Form; die rosige Miene hat nichts Greisenhaftes, ebensowenig wie der sichere Gang und die süddeutsch weiche, sanft-sonore Stimme. Mit sanft-sonorer Stimme teilte er uns mit, dass die Nazi-Diktatur auch für ihn in mancher Beziehung lästig gewesen sei. Da war zum Beispiel, kürzlich erst, der höchst ärgerliche Zwischenfall mit den Ausgebombten, die in seinem – des Meisters – Haus einquartiert werden sollten. Ihm schwoll die Zornesader, wenn er nur daran dachte. »Man stelle sich das vor!« rief er, sehr aufgebracht. »Fremde – hier, in meinem Heim!« Mit einer Hand, die etwas zitterte, nicht von Altersschwäche, sondern vor Wut, wies er auf das Haus: ein ländlich-eleganter Bau von stattlichen Dimensionen. »Beruhige dich doch, Papa!« Des Meisters Schwiegertochter, die mit uns im Garten saß, redete dem cholerischen Alten zärtlich-vernünftig zu. »Es war eine scheußliche Idee, ein Affront, äußerst ungehörig; aber Gott sei

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Dank ist es doch bei der Idee geblieben. Man hat dir keine Ausgebombten zugemutet, nicht wahr, Papa?« »Gewiss! Weil der Krieg zu Ende ging!« Der Alte grollte immer noch, nur halb besänftigt. »Aber was wäre sonst passiert? Mein Appell an Hitler hatte keine Wirkung. Er bestand darauf, dass auch ich Opfer bringen müsse. Einquartierung! Eine Unverschämtheit!« Und sonst gab es nichts, was er Hitler übelnahm? Doch, noch das und dies, noch mancherlei! Der musikalische Geschmack des Führers war, nach Straußens Ansicht, denn doch etwas einseitig und speziell gewesen. Richard Wagner in allen Ehren, aber schließlich waren auch noch andere da. »Meine letzte Oper, Die Liebe der Danae, ist einfach ignoriert worden«, stellte der Komponist beleidigt fest. »Und Sie wissen ja, was für Schwierigkeiten ich wegen des Librettos von Stefan Zweig hatte. Dabei ist Die schweigsame Frau wirklich ein sehr geschickt gemachter Text – und übrigens konnte ich ja 1933 nicht ahnen, dass die Rassengesetze kommen würden.« Ob er jemals daran gedacht hatte, Nazi-Deutschland zu verlassen? Meine Frage überraschte ihn; er musterte mich unter hochgezogenen Augenbrauen. Warum hätte er wohl Deutschland verlassen sollen? »Ich habe doch meine Einkünfte hier, ziemlich große sogar.« Die Schwiegertochter, eine nicht sehr ›arisch‹ wirkende Dame, nickte eifrig, während der rosige Alte nicht ohne Stolz konstatierte: »Schließlich gibt es bei uns mindestens achtzig Opernhäuser.« »Es gab!« Ich konnte diesen Einwand nicht unterdrücken. »Sie wollen wohl sagen, dass es in Deutschland einmal achtzig Opernhäuser gegeben hat.« Er verstand mich nicht. Vollauf beschäftigt mit seinen eigenen Affären, hatte er wohl noch keine Zeit gehabt, eine Bagatelle wie die Zerstörung deutscher Städte (und deutscher Opernhäuser) auch nur zur Kenntnis zu nehmen. »Mindestens achtzig«, insistierte er streng, um dann mit leicht besorgtem Kopfschütteln fortzufahren: »Natürlich, wenn die Lebensmittelversorgung hier noch schlechter werden sollte, würde ich vielleicht doch noch auswandern müssen, in die Schweiz etwa. Aber bis jetzt hat man sich ja immer noch irgendwie durchgewurschtelt.« Ja, so einer ›wurschtelt‹ sich durch, ganz gleich, unter welchem Regime. Haben die Nazis einen sinnlosen und mörderischen Krieg verschuldet? Sind Millionen Unschuldiger in Gaskammern zugrunde gegangen? Liegt Deutschland in Schutt und Asche? Was kümmert es Richard Strauß? Richard Strauß sagt: »Auswandern? Ja, wenn das Essen schlecht wird! Im Dritten Reich gab es sehr gut zu essen, besonders wenn man Tantiemen aus mindestens achtzig Opernhäusern scheffelte. Von ein paar dummen Zwischenfällen abgesehen, hatte ich nicht zu klagen. »Manche der NaziHäuptlinge – sagt Richard Strauß – waren famose Menschen: Hans Frank, zum Beispiel, der Fronherr des Polenlandes (»Sehr fein! Sehr kultiviert! Er schätzt meine Opern!«), und Baldur von Schirach, der über die »Ostmark« K LAUS M A N N

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(sonst Österreich genannt) zu gebieten hatte. Dank seiner Protektion genoss die Familie Strauß in Wien eine Vorzugsstellung – und dies, obwohl der Sohn des Komponisten eine rassisch nicht einwandfreie Gattin hat! »Ich darf wohl behaupten, dass meine Schwiegertochter die einzige freie Jüdin in Großdeutschland war.« »Frei? Nicht doch, Papa! Oder doch nicht so ganz!« Es war Frau Strauß ›junior‹, geborene Grab, die kokett-wehleidig protestierte. »Meine Freiheit ließ zu wünschen übrig. Du vergisst, was ich auszustehen hatte. Durfte ich etwa jagen gehen? Nein! Sogar das Reiten war mir zeitweise verboten ... « Ich schwöre es, dies waren ihre Worte! Die Nürnberger Gesetze sind gewesen; Auschwitz ist gewesen; ein Massaker ohne Beispiel hat stattgehabt; das infamste Regierungssystem der Weltgeschichte hat die Juden zum Freiwild degradiert. All dies ist bekannt. Und die Schwiegertochter des Komponisten Richard Strauß beklagt sich, weil sie nicht jagen durfte. Zeitweise war ihr sogar das Reiten untersagt ... Ich fand es an der Zeit, das empörende Gespräch zu beenden. »Sie gehen schon?« Der Meister und die geborene Grab hätten uns gern zum Essen dabehalten. Ich lehnte ab. Curt erklärte, gleichfalls eine Verabredung in der Stadt zu haben, konnte aber doch nicht umhin, Herrn Strauß um eine signierte Photographie zu bitten. »Gewiß doch! Mit Vergnügen!« Der Alte strahlte. Und zu mir gewendet: »Wünschen auch Sie ein Bild?« »Danke. Ich sammle nicht.« Meine Antwort muss ziemlich eisig geklungen haben. Die weißen Augenbrauen stiegen höher denn je, mehr verblüfft als gekränkt. Dann kam ein Achselzucken, ein überlegenes Lächeln. Diese Amerikaner! Man weiß ja, wie eingebildet und vulgär sie sind. Ein Autogramm des Meisters zu verschmähen! So ein blöder ›Yank‹ kennt eben nichts als Boxer und ›movie stars‹.

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JA, SO EIN ER W U RSCH T ELT SICH DU RCH


Anette Unger

GUSTAV MAHLER UND RICHARD STRAUSS oder: Die unsachliche Polarisierung zweier Komponisten, denen die Zukunft gehörte


1906, zehn Jahre nach Vollendung seiner dritten, durch Nietzsches Kunstphilosophie inspirierten Symphonie und der im selben Jahr entstandenen Tondichtung Also sprach Zarathustra von Richard Strauss, meinte Gustav Mahler in einem Interview auf die Frage nach einem inhaltlichen Berührungspunkt der beiden Kompositionen leicht ironisch, zwar hätten sie beide die »sozusagen latente Musik in dem gewaltigen Werk Nietzsches herausgefühlt«, er aber, »um mit Nietzsche zu sprechen«, als »Unzeitgemäßer«. »Der wahre Zeitgemäße« sei Richard Strauss. Darum genieße er »die Unsterblich­ keit schon hienieden«. Was auf den ersten Blick als wohlwollend gemeint erscheinen konnte, war eine kaum verhüllte Attacke, und jeder Nietzsche-Kenner dürfte sie verstanden haben. Denn Nietzsche hatte seinen Zarathustra als den Prediger des Unzeitgemäßen aufgefasst und folglich den Begriff des Zeitgemäßen negativ besetzt. Zeitgemäß war, wer in der Tradition verharrte, gleichzeitig jedoch jeder Mode hinterherlief, rücksichtslos die Perfektionierung einer materialistisch ausgerichteten Welt betrieb und sich einem diesseitsorientierten Positivismus unterwarf. Wenn Mahler seinen Kollegen den »wahren Zeitgemäßen« nannte, so meinte er nichts anderes, als dass Strauss der seit 1890 wellenartig sich ausbreitenden Nietzsche-Mode gefolgt sei. Diese reduzierte den Kampf des Philosophen gegen die »aufgeblasenen Pseudoideale einer ideenlosen Gesellschaftsschicht« (Nietzsche) auf Schlagworte und führte eher zu einer Affirmation des herrschenden Gesellschaftsbildes – sozialdarwinistisches und positivistisch-materialistisch orientiertes Gründerzeitdenken, Nationalismus und Rassenwahn –, als dass es dieses unzeitgemäß attackiert hätte. Damit wäre Strauss’ Tondichtung dem Denken Nietzsches gegen die Zeit und seiner Tendenz zur Umwertung der Werte nicht nur fremd gewesen, sie hätte sogar das Gegenteil bewirkt. Nun mag man der Ansicht sein, was da vor mehr als achtzig Jahren ausgefochten wurde, sei heute passé; es handele sich um Eifersüchteleien zwischen zwei Komponisten, die dasselbe Thema beschäftigte. Doch Mahlers Einschätzung seines Kollegen (die stets zwischen Freundschaft, Verehrung und Unverständnis schwankte) wurde im Laufe der Zeit und bis heute immer wieder gern übernommen, und zwar nicht nur in der Beurteilung der beiden Nietzsche-Kompositionen, sondern in der Bewertung von Mahlers und Strauss’ Musik überhaupt. Unverrückbar überdauert das Urteil seit über achtzig Jahren jede Entwicklung in Geschichte und Musikgeschichte: Strauss, der zeitgemäße, pseudorevolutionäre Bourgeois, dessen Modernität nichts anderes sei als die in Wahrheit reaktionäre Anpassung an den Zeitgeschmack; Mahler, der unzeitgemäße, reflektierende Zweifler, der die Fundamente einer heilen Welt erschütterte. Dieses Urteil findet sich bei Theodor W. Adorno ebenso wie bei Arnold Schönberg, Thomas Mann, Ernst Bloch oder Helmut Lachenmann: Alle glaubten und glauben, es im Laufe der Zeit immer wieder bestätigen zu 63

A N ET T E U NGER


können. Wurde Strauss zunächst zum Vertreter der positivistisch orientierten Gründerzeit erklärt, galt er später als Vorläufer, dann als Repräsentant einer Kunstästhetik, die den Nationalsozialismus prägte und eine unpolitische, der Realität ausweichende, affirmative Grundhaltung forderte. Nach dem Krieg suchte man in seiner Musik (mit Ausnahme der immer wieder als Gegenbeispiel angeführten Metamorphosen) nahezu vergeblich nach dem – der geschichtlichen Situation zweifellos angemessenen – Ausdruck von Leid und Gebrochenheit. Die Intellektuellen der sechziger Jahre vermissten die politische Ausstrahlungskraft, die der siebziger die musikalische Umsetzung von neuer Sensibilität und neuer Innerlichkeit. So wurde Strauss – in merkwürdigem Gegensatz zum Opern- und Konzertbetrieb – unter Wissenschaftlern, Komponisten, Soziologen und Philosophen zunehmend unpopulärer, während Mahler vor allem in den letzten drei Jahrzehnten zum »Zeitgenossen der Zukunft« – so der Titel der 1969 veröffentlichten MahlerBiografie von Kurt Blaukopf – avancierte. Strauss, der angeblich Zeitgemäße, wurde unzeitgemäß, und Mahler, genau wegen seiner Unzeitgemäßheit, zum Zeitgemäßen. In Mahlers Musik, so schrieb als erster Theodor W. Adorno, werde sich die beginnende Ohnmacht des Individuums ihrer selbst bewusst. In ihr spiegele sich Gebrochenheit und Zerfall, jüdisches Außenseitertum, Idyllen- und Versöhnungsunfähigkeit. Die Musik von Strauss dagegen, die Adorno allein als »Schöpfung des Ich«, als ausschließlich vom Subjekt her definiert sah, setzte er in Beziehung zu einer »kapitalistischen Physiognomik«: »Die seelischen Probleme, die Strauss darstellt, reichen nicht in den Problemgrund der Innerlichkeit hinein; sie sind von typischer Allgemeinheit.« Genau darin schien die Unwahrheit, die Scheinhaftigkeit der Musik von Strauss zu liegen: Durch den vermeintlich fehlenden Bruch zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen Subjekt und objektiv Vermitteltem wähnten Adorno und zahlreiche Musikwissenschaftler nach ihm sie aufgesogen von dem, was sie eigentlich hätte negieren sollen: dem Bürgertum. Gustav Mahler, so schrieb Frank Berger noch 1993 in seiner »geistigen Biographie« auf Adorno aufbauend, sei heute zeitgemäßer denn je, Mahlers Musik habe »in ihrer Aktualität, ihrer Zeitgemäßheit uns Heutigen etwas zu sagen [...], dessen wir bedürfen«. Sie »musi­ziert antizipando die Höhen und Tiefen unserer Zeit, die Triumphe und Katastrophen unseres Jahrhunderts aus. Sie trifft, kurz gesagt, den Nerv unserer Zeit.« Ist die Polarisierung wirklich so überzeugend, wie sie, von Adorno forciert, seit Jahrzehnten betrieben wird? Hat Strauss’ Musik sich inhaltlich überlebt, hat sie nichts mehr mit uns zu tun, ist sie unmodern, unzeitgemäß geworden? Umgekehrt: War sie zu ihrer Zeit wirklich so zeitgemäß und – im Gegensatz zu derjenigen Mahlers – ausschließlich der Mode unterworfen? Richard Specht, einer der wenigen Kritiker, die sich mit Mahler wie mit Strauss auseinandersetzten, schrieb 1923: »Es stünde schlimm um das Werk des Meisters Strauß, wenn es nicht mehr wäre, als bloß zeitgemäß – wenn A N ET T E U NGER

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nicht Zukunftsträume in ihm lägen, ja wenn nicht gerade ein Wesentliches in dem ruhen würde, was nicht mit dem Geist unserer Tage zusammenhängt. Also im Unzeitigen.« Die Generationsgefährten Gustav Mahler und Richard Strauss waren Kinder ihrer Zeit, standen als Künstler unter dem Einfluss derer, die damals fast alle kreativ Schaffenden beeinflussten: Richard Wagner, Arthur Schopenhauer und Friedrich Nietzsche. Beide interessierten sich für Literatur, die sich mit der Seele des Menschen beschäftigte, sich im weitesten Sinne auf die Psychoanalyse zubewegte. Beide verstanden sich als die geistigen Kinder der drei Genannten, wollten wie sie außerhalb der gemeinen Gesellschaft stehen und sahen sich – wenn auch auf völlig verschiedene Weise – als unzeitgemäße Außenseiter. Das machte sie ohne Zweifel wieder zeitgemäß: Der Wunsch, unzeitgemäß zu sein, entsprach dem Geist der Epoche, war modern und eben zeitgemäß. Unzeitgemäß sollte nach ihrem Willen auch ihre Musik sein, die als Abkehr von der Tradition, als von Moden unabhängige individuelle künstlerische Entwicklung verstanden werden wollte und auf unterschiedliche Weise den – später von Adorno geforderten – Bruch zum Kompositionsprinzip erhob: Vergangene Ideale existieren nur noch als Reminiszenz, werden als unwiederholbar entlarvt und verlieren so ihren archaisierenden und banalen Charakter. Bei Mahler spiegelt sich dies meist in vergänglichen und schmerzvollen Rückblicken inmitten einer panisch-humoristischen und verlogenen Welt. Vergangenheit scheint nur noch in satirischer Brechung und Verzerrung oder als unwiederbringlich Verlorenes durch. Sehr oft beruft sich Mahler dabei auf Gebrauchs- und Volksmusik oder auf eigene, das Volkslied imi­tierende Musik. Er beschwört die verlorene Vergangenheit durch eine Vorstufe von Kunstmusik herauf. Bei Strauss hingegen spiegelt sich die Vergangenheit, das bewusste Festhalten an musikalischer Tradition, oft im parodistischen Zitat artifizieller Kunstmusik (vor allem in seinen Tondichtungen). Dieser unterwirft er sich betont, macht sie lächerlich, um sie in einem zweiten Schritt in ihrer Scheinhaftigkeit bloßzulegen und zu vernichten. Oder er demonstriert damit ein Unvermögen, ein Verharren auf einer Stufe, die jede Entwicklung verweigert (vgl. z. B. die musikalische Zeichnung einer Figur wie Barak in der Frau ohne Schatten, der erst allmählich aus einer naiven Starre ausbricht). Doch ähnlich wie Mahler verfährt Strauss, wenn er etwa Elektra an die heile Welt ihrer Kindheit zurückdenken oder Chrysothemis die Idylle inmitten des Chaos heraufbeschwören lässt. Oder wenn er – vor allem in Spätwerken wie dem Oboenkonzert – vergangene Ideale als Erinnerung an eine heile Welt begreift, mit der er, zumal er im Grunde selbst nicht mehr von ihr überzeugt ist und Werke wie das Konzert deshalb als »Werkstattarbeit« abtut, gegen die Trauer über eine zerstörte Welt anzukämpfen versucht. Mahler fand Zuflucht in der Utopie, in der »anderen Welt«, wie es Mahler-­ 65

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Exegeten pauschal formuliert haben, Strauss im Glauben an den Menschen, auch an sich selbst. Beiden verwehrte dies nicht den harmonischen Schönklang, wie im Auferstehungsfinale von Mahlers Zweiter, in den letzten Sätzen seiner Dritten und Neunten, oder am Ende von Strauss’ Tod und Verklärung und der Frau ohne Schatten. Aber während man ihn Strauss vorwarf, hatte Mahler, wie es die Exegeten nach 1945 wollten, dessen Unglaubwürdigkeit mitkomponiert. In der Brechung lag jedoch zunächst beider Kompositionsprinzip – zumindest bis Mahlers Tod 1911, also in dem Jahr, das zugleich mit dem Rosenkavalier als Strauss’ Wende zum Konservatismus genannt wird. Strauss deutete die Gebrochenheit in seinen Tondichtungen allerdings immer positiv, nämlich als Voraussetzung schöpferischer Produktion, als Vorstufe auf dem Weg zur Erfüllung. Mahler interpretierte sie als »Leiden« an der Welt, als immer neue Sehnsucht nach dem Unerreichbaren. Gebrochenheit wird musikalisch vor allem im Gebrauch von Signalen deutlich. Das Signal­thematisiert für beide Komponisten die zunehmende formale Problematik des Kunstwerks: Es ruft – in Zusammenhänge unvorbereitet hineintönend – dazu auf, die traditionelle Formenlehre aufzulösen und nach neuen Formen zu suchen, und es kündigt Kämpfe an, deren verzweifelte Geste bei Strauss freilich fehlt. Das wirkt sich auch auf das Verständnis von Humor aus. Bei Strauss entbehrt er jedes tragischen Moments: Humor ist für ihn – vor allem in den mit Mahlers Werken zeitgleich entstandenen Tondichtungen – Mittel, um gegen musikalische Dogmen, harmonische Eindeutigkeit, streng vorgegebene Metren oder gegen einen überlieferten Formenkanon zu protestieren. Programmatisch in gesellschaftlichen Außenseiterfiguren wie Don Quixote oder Till Eulenspiegel zum Ausdruck gebracht, dient Humor dazu, längst überholtes ad absurdum zu führen und zu überwinden. Mahlers Humor hingegen ist eng verknüpft mit dem Leiden, mit dem Ekel vor einer Welt der »Heuchelei und Lügenhaftigkeit« – so formulierte er es bereits in seinem berühmten Jugendbrief von 1879 –, in dem sich die immer neue, jedoch unerfüllbare Sehnsucht nach Erlösung spiegelt. Fehlt der Musik von Strauss mithin doch nicht der Bruch zwischen Subjekt und objektiv Vermitteltem, Individuum und Gesellschaft, wie Theodor W. Adorno glaubte? Bei Strauss wird der Bruch zum Formgesetz, sogar im Sinne Nietzsches. Adorno behauptete, das Subjekt sei in traditionelle Werte verstrickt, leide an dieser Verstricktheit, und im Leiden liege der Bruch zwischen Subjekt und Objekt, durch den Wahrheit hindurchscheine. Doch Nietzsche zielte darauf ab, dass das Subjekt die Werte immer als unvollkommen und unreif entlarven müsse und sie zu zerstören habe. Zwar leide es an der Unvollkommenheit jeder Existenzform, doch in seinem Leiden liege der Wille zum Leben, und Neues scheine nicht nur durch den Bruch hindurch, sondern entstehe erst aus ihm. Dass das Neue selbst ebenfalls nur scheinA N ET T E U NGER

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haft ist und der Wahrheit entbehrt, dass Wahrheit Utopie bleibt, sah auch Nietzsche. Leiden besaß auf kunstästhetischer Ebene für ihn allerdings auch eine lustvolle Komponente, der sich Adorno schon aufgrund seiner eigenen Biografie, d. h. als unmittelbar Betroffener des Zweiten Weltkriegs, nie hätte anschließen können. Um diese Ebene des Lustvollen jedoch ging es auch Strauss, und auf dieser Ebene erfüllte er den Anspruch nach Wahrheit im Kunstwerk ebenso wie Gustav Mahler. Die Musik von Strauss erfüllte damit einerseits Adornos Ansprüche, nahm andererseits ihren Ausgangspunkt bei einer anderen, von Nietzsche geprägten Kunstästhetik, die mit derjenigen Mahlers zwar viel gemeinsam hatte, aber letztlich doch völlig anders war, die die unüberbrückbare Kluft zwischen Mensch und Gesellschaft zum Ausdruck brachte und sich trotzdem dem Leiden daran entzog. Sie wird von Figuren wie Don Juan, Till Eulenspiegel, dem Helden im Heldenleben oder Don Quixote repräsentiert. Zahlreiche Strauss’sche Opern-Protagonisten vertreten diese Ästhetik auch auf geistig-inhaltlicher Ebene, wobei Strauss mit Hugo von Hofmannsthal als Librettisten ideal harmonierte. Hofmannsthal wollte nicht, dass der Mensch leidend am Leben scheitere, sondern über sich hinausgelangen, sich verwandeln möge, um tatsächlich leben zu können. Strauss’ Protagonisten existieren in einer Welt des Fin de siècle und müssen sich deshalb mit der Brüchigkeit eines Systems oder menschlicher Beziehungen auseinandersetzen. Doch nicht immer gehen sie an dieser Brüchigkeit zugrunde wie Elektra, sondern reifen auch daran, werden stark, stehen im Leben, ohne sich oberflächlich darin zu ergeben, erweisen sich fähig zur Selbstreflexion und Selbstverwirklichung. Figuren wie Guntram, die Kaiserin in der Frau ohne Schatten oder die Marschallin im Rosenkavalier lernen am Leben, setzen sich mit ihrem Ich auseinander und gewinnen daraus eine Kraft, die Veränderungen schafft: Die Musik beleuchtet sie denn auch geradezu psychoanalytisch, legt – über den Text hinausgehend – tieferliegende Schichten frei. Straussʼ Musik reflektiert jedoch, bis auf die in Elektra, nie das Leiden an der Welt, sie schafft es gar nicht. Darin sind Mahler und Strauss tatsächlich grundverschieden. Dennoch: Nicht nur Straussʼ Ehestudien, seine Beziehungskomödien oder Selbstfindungs-Erzählungen sind bis heute aktuell. Aktuell ist auch seine Musik, die trotz ihres Festhaltens an der Tonalität (von der sich auch Mahler nicht löste, vielleicht auch nicht gelöst hätte, wenn er älter geworden wäre) von unreflektierter Naivität weit entfernt ist. Stärker als diejenige Mahlers versucht sie, den Glauben an eine lebbare Existenz aufrechtzuerhalten. Und je schlechter die Zeiten wurden, umso heftiger klammerte Strauss sich an diesen Glauben, umso stärker distanzierte er sich auch von einer musikalischen Entwicklung, die die Tonalität infrage stellte. Strauss kehrte vielmehr um und versuchte, gegen das Hässliche und Gemeine anzukämpfen – mit einer Musik, die er selbst längst in Elektra überholt hatte. Das ist ihm stets vorgeworfen worden. Vielleicht lebte Strauss im Gegen 67

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satz zu Mahler zu lange, um heute als »Zeitgenosse der Zukunft« zu gelten? Zu Mahlers Lebzeiten jedenfalls war Strauss ebenso zeitgemäß unzeitgemäß wie Mahler. Mahlers Unzeitgemäßheit scheint einer Welt, die den Zweiten Weltkrieg erlebt hat, zeitgemäßer; seine Musik, so heißt es immer wieder in der Mahler-Literatur, habe vorweggenommen, was uns bis heute prägt: die Angst vor der Ausbeutung und der technologischen Zerstörung der Natur, vor Inhumanität und Oberflächlichkeit. Oder hatte Erich Leinsdorf recht, der 1991 die Verbindung Mahlers mit der Zukunft als »Neurose des westlichen Menschen« und damit als Mode abtat, wenn er behauptete: »Wenn die Pathologie auf eine tiefere Ebene kommt, dann wird auch Mahler eine tiefere Ebene erleben [...]. Die besten Werke von Strauss [werden] die besten Werke von Mahler überleben.«? Heute existiert eine Fülle an wissenschaftlichem Material über Mahler, dazu kommen zahlreiche Aufnahmen und Gesamteinspielungen. Aufsätze und Bücher zur Rezeptionsgeschichte haben einen Umfang erreicht, der die Frage aufwirft, die Martin Staehelin schon 1981 formulierte, »ob die Mahler-Aufwertung der heutigen Zeit eine [...] notwendige Profilierung eines lange zu Unrecht zurückgedrängten Meisters darstelle oder ob es sich dabei eher um eine Mode handle, die sich bis in einigen Jahren wieder abbauen werde«. Beides mag der Fall sein. Doch was als Mode bezeichnet wird, ist historisch verständlich. Der Nationalsozialismus verdrängte die Musik des Juden Mahler und erlaubte es Strauss, eine zeitweilig nicht eindeutig zu definierende Position im Musikleben einzunehmen. Nach 1960 wurde Mahler jedenfalls zum Symbol derer, die gegen eine etablierte Kunst opponierten und denen jede Harmonie suspekt war. Man identifizierte sich mit seiner Botschaft vom ruhelosen Unterwegssein, von der Suche nach einer besseren Welt außerhalb der banalen Wirklichkeit, Mahler wurde zum künstlerischen wie menschlichen Ideal. Damit erfüllte sich, was Mahler prophezeit hatte: »Meine Zeit wird kommen.« Seine Kunst war zeitgemäß, ›modern‹ geworden. Und wo sie doch hätte positiv wirken können, etwa in den scheinbar ungebrochenen C-Dur-Passagen, hörte Peter Ruzicka 1973 »Zeichen reflektierenden Zweifels, der Selbstgefährdung, ja der Gefährdetheit künftiger sinfonischer Musik überhaupt«. Dennoch vermochte Mahlers Aktualität Strauss nicht zu verdrängen, und es bleibe dahingestellt, ob sich Mahlers Symphonien tatsächlich »weit größerer Beliebtheit« erfreuen »als die Tondichtungen seines einst berühmteren Antipoden«, wie der Musikwissenschaftler Constantin Floros 1996 behauptete. Wenn ihn auch die Wissenschaft kaum mit ernsthaften Untersuchungen zu seinem Werk bedachte, so blieb Strauss im Musikbetrieb ebenso gegenwärtig wie Mahler. Warum? Ganz lässt sich die Frage nicht klären. Die Polarisierung des ›Diesseitigen‹ und ›Jenseitigen‹, des ›Freudenspenders‹ und ›Leidverkünders‹, ›ZeitA N ET T E U NGER

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gemäßen‹ und ›Unzeitgemäßen‹ hat sich jedenfalls gehalten, und sie ist auch nicht von der Hand zu weisen. Aber sie bedarf der Differenzierung. Jetzt, am Ende des 20. Jahrhunderts, scheint man sich wieder ernsthaft für Strauss zu interessieren, für jenen Strauss, der Mahler gar nicht so fern steht: den psychologisierenden, gesellschaftskritischen, unzeitgemäßen. Vor allem Regisseure seiner Opern thematisieren diesen Aspekt verstärkt in ihren Inszenierungen. Aber auch Komponisten begreifen Straussʼ Bedeutung für die Moderne neu, nachdem die Musik der fünfziger Jahre verblasst ist und die Post­ moderne auch die Musik beeinflusst hat (bezeichnenderweise waren es Komponisten wie Nono, Ligeti, Schnebel, Lachenmann oder Ruzicka, die nur in Mahler eine künstlerische Vaterfigur gesehen haben). Und Wissenschaftler, deren Ablehnung bis in die achtziger Jahre selten auf musikalischer Analyse, sondern mehr auf oberflächlichen biografischen Teilaspekten basierte, versuchen heute, dem Phänomen Strauss durch eingehende musikalische Untersuchungen gerecht zu werden. Wird Strauss nun zeitgemäßer, weil man seine Unzeitgemäßheit zu entdecken beginnt? Eduard Hanslick hatte schon zu Lebzeiten der beiden Komponisten geschrieben: »Es ist möglich, dass ihnen die Zukunft gehört.«

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Nikolaus Stenitzer

AKKORDE IN MOSCHUS Francis Kurkdjian – Ein Porträt Für die neue Salome-Produktion arbeitet ein unsichtbarer Akteur daran, dem Gesamtkunstwerk eine außergewöhnliche Facette hinzuzufügen. In enger Zusammenarbeit mit Regisseur Cyril Teste kreiert der französische Parfumeur und Duftkünstler Francis Kurkdjian die olfaktorische Dimension des Theaterabends. 2008 wurde der damals 39jährige Francis Kurkdjian mit dem Titel »Chévalier de l’ordre des Arts et des Lettres« ausgezeichnet. Die Auszeichnung wurde 1957 gestiftet, um Personen zu ehren, »die sich durch ihr Schaffen im künstlerischen oder literarischen Bereich oder durch ihren Beitrag zur Ausstrahlung der Künste und der Literatur in Frankreich und in der Welt ausgezeichnet haben«. Die Definition, die das französische Kulturministerium zur Verfügung stellt, ist weit gefasst und würde nichtsdestoweniger vielleicht zuerst an Musiker und Schriftsteller denken lassen. Und doch passt sie genau auf den 1969 in Paris geborenen Francis Kurkdjian. Kurkdjians erster Beruf ist der eines Parfümeurs. Seine Duftkreationen für internationale Modelabels machten ihn schon früh international bekannt. Ebenso früh entwickelte Kurkdjian ein Interesse dafür, seine Fähigkeiten als Erdenker von Geruchswelten und -erzählungen über den Parfümmarkt hinaus einzusetzen: nämlich in der Zusammenarbeit mit Künstlerinnen und Künstlern. Der Grundstein für dieses Interesse, so Kurkdjian, wurde schon in seinem Elternhaus gelegt: »Ich hatte das Glück, von Eltern und Großeltern großgezogen zu werden, die mich früh in die Welt der Künste einführten. Ich nahm Ballett- und Klavierunterricht, besuchte Museen und Ausstellungen, und ich tauchte in die Welt der Mode ein: Meine Groß72


väter waren beide Schneider, und meine Mutter, der ich sehr nahestand, arbeitete mit Christian Dior. Ich wuchs mit einer großen Neugierde und einer Begeisterung für die Handwerkskunst auf.« Den Ausschlag für die Berufswahl gab schließlich eine andere Kunstform: Der 14jährige Francis sah den Film Le Sauvage von Jean-Paul Rappeneau, in dem Yves Montand einen Parfumeur spielt, der auf einer entlegenen venezolanischen Insel arbeitet. »Danach sagte ich meinen Eltern, dass ich Parfumeur werden würde. Ich hatte meine Bestimmung gefunden!« Seine Ausbildung erhielt Francis Kurkdjian am ›Institut supérieur international du parfum, de la cosmétique et de l’aromatique alimentaire‹ in Versailles. Sein erster Arbeitgeber, der Duftstoffproduzent Quest International, beauftragte ihn 1994 mit der Kreation eines Duftes für Jean-Paul Gaultier. So entstand Le Mâle, ein Duft, der zu einem modernen Klassiker werden sollte. Die Liste der Häuser, für die Kurkdjian in der Folge Düfte kreierte, ist illuster: Escada, Dior, Yves Saint Laurent, Versace, Giorgio Armani. Mit seinem 2009 gegründeten Maison Francis Kurkdijan schuf sich der Parfumeur dann die Freiheit, seine eigene Vorstellung der Parfümkreation umzusetzen. »Ein Duft ist für mich vor allem eine Möglichkeit, mich selbst auszudrücken«, sagt Francis Kurkdjian dazu. »Ich verwende Gerüche, wie ein Maler Farben einsetzt, ein Musiker Noten spielt und ein Schriftsteller Worte schreibt. Jeder neue Duft ist eine Weise, eine Geschichte zu erzählen.« Ist die Kreation von Parfüms also eine Kunstform? Nein, präzisiert Kurkdjian. Bei einem Parfüm, das in Flaschen gefüllt und verkauft werde, handle es in seinem Verständnis nicht um ein Kunstwerk – »auch wenn Kunst den Ausschlag für eine Kreation geben kann.« Der Grund dafür liege in den Schranken, die einem solches Parfüm für das gesetzt seien, was ihm in seiner Arbeit wichtig ist: das Geschichtenerzählen. »Bei manchen Gefühlen – Schmerz oder Trauer, alles, was mit dem Tod zu tun hat – ist es unangemessen, sie in einem Parfüm auszudrücken. Nachdem ich das verstanden hatte, begann ich, mit Künstlerinnen und Künstlern zusammenzuarbeiten. So kann ich das konventionelle Konzept von Duft hinterfragen und auch in meiner Arbeit das ganze Spektrum von Emotionen erkunden, unkonventionell denken und Risiken nehmen.« Seit mehr als zwanzig Jahren arbeitet Francis Kurkdjian mit Künstlerinnen und Künstlern zusammen. Die Arbeiten, die dabei entstanden sind, sind faszinierend multidisziplinär. Eine Arbeit für die Künstlerin Sophie Calle beruhte etwa auf der »Erinnerung an den Geruch einer Dollarnote«; für die Installation Mawtini des syrischen Künstlers Hratch Arbach (2014, eine Zusammenarbeit mit der Komponistin Sivan Eldar) versah Kurkdjian 20.000 wächserne Nägel mit den Gerüchen von Erde, Blut und Jasmin. Mit Salome-Regisseur Cyril Teste hat Francis Kurkdjian bereits 2017 zusammengearbeitet. Für Testes Produktion Festen nach Tomas Vinterbergs gleichnamigem Film erdachte Kurkdjian drei Gerüche, die an dem Abend 73

N IKOLAUS ST EN ITZER


punktuell zum Einsatz kamen: Die moosige Feuchte eines Waldes zum Beginn, der Geruch eines erkalteten Kamins in der Mitte des Abends und im letzten Teil ein Duft: Das Parfüm der verstorbenen Tochter der Familie, der großen Abwesenden in Vinterbergs Geschichte. Das künstlerische wie technische Gelingen dieses Projekts brachte Cyril Teste nun dazu, Francis Kurkdjian auch zur Mitarbeit an der neuen Salome einzuladen, die er für die Wiener Staatsoper inszeniert. »Cyril und ich teilen dieselbe Vision«, erklärt Francis Kurkdjian. »Wir erzählen Geschichten auf unsere je eigenen Weisen, jeder in seiner eigenen Sprache. Er ist mein Auge, ich bin seine Nase. Ich mag auch, wie er kreative Menschen zusammenbringt und das Ökosystem organisiert, das so entsteht.« Kurkdjians Beitrag entsteht im Gespräch: »Wir setzen uns hin und reden, ich höre mir an, wie er die Geschichte sieht, welche Art von Gefühlen er durch Geruch vermitteln will. Manchmal fordere ich ihn heraus. Unsere Gespräche sind sehr flüssig, das liegt am Respekt, den wir jeweils für die Arbeit des anderen haben.« Im Fall von Salome habe Teste ihn mit seiner Vision für die Hauptfigur eingenommen, mit der Auseinandersetzung mit der ganzen Figur, ihrem Leben vor dem Einsetzen der Opernhandlung und den Lösungen, die der Regisseur dafür für die Bühne gefunden habe. Die beiden seien sich schnell einig darüber gewesen, dass etwa der berühmte »Tanz der sieben Schleier« eine eigene, spezifische Geruchsnote haben müsse. Wie sich diese genau zusammensetzen werde, gibt der Duftkünstler noch nicht preis, aber er verrät einige der Inspirationen zu den SalomeDuftwelten, auf die ihn die Auseinandersetzung mit Cyril Testes Gedanken gebracht hat: »Eine moschusartige Note zwischen Offenheit und Sinnlichkeit, Sexualität. Etwas Tiefes, Anziehendes, unschuldig und betäubend.« Im Theaterraum ist der Geruchsbeitrag eine Herausforderung: Der Duft verteilt sich im Raum, verschiedene Gerüche überlagern sich, der Umgang mit diesem Aspekt muss bei der Arbeit mitbedacht werden. Aber ist das Nachhallen, das Nachwirken in einem Raum nicht auch etwas, das Musik und Duft – wenn auch auf verschiedene Weisen – teilen? Francis Kurkdjian kommt aus einer musikalischen Familie, spielt selbst seit seinem siebten Lebensjahr Klavier. Die Parallelen zwischen Musik und Duft sind für ihn offenkundig – bis in die Sprache hinein. »Gerade im Französischen verwenden wir zum Teil dieselben Worte, um Bestandteile unserer Arbeit zu beschreiben. ›Akkorde‹ und ›Noten‹ etwa sind gängige Begriffe auch in der Arbeit des Parfumeurs.« Wenn am Beginn von Salome die ersten Noten erklingen, wird sich also auch das Geheimnis um jene Akkorde lüften, in die Francis Kurkdjian seine Kreation für die Neuproduktion von Richard Strauss’ verstörendem Meister­werk gesetzt hat.

A K KOR DE IN MOSCH US

→ Malin Byström als Salome und Ilja Kazakov als Erster Solda

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Sergio Morabito

GRÖSSTE ELEGANZ BEI MAXIMALER TIEFENBOHRUNG

Über das Theater des Cyril Teste


Ambroise Thomas’ Hamlet an der Opéra-Comique Ich berichte über einen bemerkenswerten Abend: Der Besuch der Orchesterhauptprobe von Thomas’ Hamlet am 14. Dezember 2018 an der Opéra-­ Comique erwies sich als regelrechter Zufallstreffer: Eine bewundernswert durchdachte und durchhörte Aufführung einer Oper, die ich – bis auf Ophélies Wahnsinnsszene von der Callas natürlich – nicht kannte. Der Re­ gis­seur Cyril Teste hat mit hohem Raffinement und Kunstverstand gearbeitet, sehr französisch in der strengen Form, die er kreiert, aber er ruht sich eben nicht aus auf abstrakten ästhetischen Setzungen, sondern ihm geht es um die Durchdringung der Figuren und ihrer Geschichte: Mit Stéphane Degout in der Titelrolle und Sabine Devieilhe als Ophélie stehen ihm hochintelligente Sänger zur Verfügung, deren kognitives und darstellerisches Potenzial er zu subtiler Entfaltung bringt. Ebenfalls hervorragend Jérome Vanier als Geist von Hamlets Vater und Laurent Alvaro als Claudius; Sylvie Brunet-Grupposo als Gertrude musste aufgrund von Indis­ position markieren. Der Kammerchor Les Élements braucht, was Frische und Stimm­kultur und auch optische Jugendlichkeit angeht, keinen Vergleich zu scheuen, Louis Langrée macht sich zum überzeugenden Anwalt einer offenbar unterschätzten Partitur. Aber das eigentliche Ereignis bleibt für mich die souveräne Regie, die umso erstaunlicher ist, als mit ihr ein Schauspielregisseur in der Oper sein Debüt gegeben hat. Das Thema des »Theaters auf dem Theater« ist wohl eine Konstante im Schauspielschaffen von Cyril Teste, insofern steckt hinter seinem Engagement offenbar ein inhaltlicher Gedanke: Auch in Thomas’ Opernfassung ist die »mouse trap« zentral, und so ist Teil des Regiekonzepts eine »mise en éspace«, welche neben dem Zuschauerraum und Publikumsräumen auch die Hinter- und Seitenbühnen umfasst. Diese Spielorte werden durch Livekameras vergegenwärtigt. Die für die Kamera inszenierten Bilder begnügen sich nicht mit der heute gängigen, oft trashigen Live-Video-Ästhetik, sondern besitzen eine geradezu filmisch-opulente Qualität. Virtuos wird so die Musik zum Soundtrack einer »subjektiven Kamerafahrt«, die mit Hamlets Augen durch das Festgeschehen der Heirat Claudius’ mit Gertrude führt. Oder sie ermöglichen einen kühnen Perspektivwechsel, mit dem der Protagonist am Ende dieser Fahrt – und wir uns mit ihm – sich nach außen auf die Schlossterrasse versetzt sehen, wo er den Geist erwartet, den er dann unter den Zuschauern entdeckt. Das Understatement und unaufgeregte Fingerspitzengefühl, mit dem alle Setzungen, auch die gelegentlichen ironischen Brechungen sich nie wichtig machen, sondern mit einer Schlicht- und Klarheit realisiert sind, die zutiefst berührt, ist außerordentlich. Nicht dass es keine Details gegeben hätte, über die man unterschiedlicher Meinung sein darf – aber der grundsätzliche Angang ist wunderbar stimmig, und zudem habe ich ja nur eine Prégéne­rale 77

SERGIO MOR A BITO


erlebt, bei der man in diesem Fall sicher sein kann, dass sich das Ergebnis bis zur Premiere noch einmal potenzieren wird. Die Premierenbesprechungen scheinen dies zu bestätigen: »... eine außerordentlich gelungene Produktion ...« – »... eine höchst selten erreichte musikalische und theatrale Kohärenz ...« – »Das Werk Ambroise Thomas’ erlebt eine Wiedergeburt dank superben Sängern und einer von Cyril Teste erarbeiteten visuellen Partitur.« – »Man hat im Theater selten das Gefühl einer vollkommenen Erfüllung. Bei Hamlet hat man die Gewissheit, einem musiktheatralischen Ereignis von größter Kraft und atemberaubender künstlerischer Qualität beigewohnt zu haben.« SERGIO MOR A BITO

← Sabine Devieilhe als Ophélie in Hamlet

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Die Fernsehaufzeichnung dieser Produktion hat mich in meiner Begeisterung bestätigt. Die Lichtstimmungen und Videoprojektionen, der technische Gesamtablauf hat an Raffinement und Perfektion gewonnen. Wobei das Understatement der Bühneneinrichtung hervorzuheben ist: funktional, fast kahl, ohne hässlich zu sein, die wenigen Möbelstücke einer Inneneinrichtung sind clean, unpersönlich, wie aus einer Schaufensterauslage, gleichzeitig ist sie in intelligente Brechung gestellt zum dekorativen Intérieur der Zuschauerräume der Opéra-Comique, die ja immer wieder bespielt und über Videobilder in den Bühnenraum hineingespiegelt werden. Die Kostüme entschlackt, dabei detailliert gearbeitet. Die völlig unprätentiöse, unaufgeregte Durchdringung des Stoffes, die Einfachheit bei gleichzeitig großer Eleganz und maximaler emotionaler Tiefenbohrung mündet in ein vollkommen natürlich wirkendes Spiel der Akteure. Wie schlicht ist nicht die Verzweiflung und der Wahnsinn Ophélies dargestellt, und wie tief geht diese Szene unter die Haut!

Festen beim Festival Perspectives, Saarbrücken Cyril Teste hat sich mit seinem Collectif MxM des ersten Films angenommen, der den Gründungsstatuten des »Dogma 95« gemäß realisiert wurde: Das Fest des Dänen Thomas Vinterberg, der 1998 in Cannes den Spezialpreis der Festival-Jury erhielt, und zu dessen immenser Erfolgsgeschichte auch eine Theaterfassung gehört, die von Vinterberg selbst erstellt wurde, seither an zahlreichen Bühnen gezeigt wurde und die auch Grundlage dieser 2017 erstaufgeführten Inszenierung darstellt. Sie ist als »performance filmique« bezeichnet. Und tatsächlich realisiert das Bühnenbild das großbürgerliche Anwesen der Familie Klingenfeldt-Hansen als Set einer realistischen Filmkulisse, mit fahrbaren Raummodulen, die immer wieder Einblicke in die an den Speisesaal angrenzenden Räumlichkeiten ermöglichen: links in eines der Gästezimmer und das zugehörige Bad, rechts in die Küche, in der sich das Personal immer wieder sammelt. Zugleich erkennen wir die hinter den Fenstern ausgespannten, durchleuchteten Folien, die Tageslicht suggerieren, oder das Ende einer vermeintlich in höhere Stockwerke führenden Wendeltreppe, von der die Akteure nur über eine Rutschbahn wieder auf Bühnenniveau gelangen können. Über den ca. vier bis fünf Meter hohen Wänden ist eine Kinoleinwand ausgespannt, auf die die von zwei Kameramännern vor und hinter den Kulissen gefilmten Vorgänge projiziert werden. Wir beobachten also die Verwandlung von theatralischer Realität in kinematografische Illusion in Echtzeit. Die Ästhetik dieser Filmebene konterkariert in ihrer ausbalancierten Perfektion bewusst alle »Dogmen« des Manifests, das gegen die Illusionsmaschine des kapitalistischen Mainstreamkinos gerichtet war (ausschließliche Nut 79

GRÖS ST E ELEGA NZ BEI M A X IM A LER T IEFEN BOHRU NG


zung von Handkameras, Verzicht auf Filmmusik und künstliche Beleuchtung etc.). Testes hochästhetisierte Bildsprache lässt eher an Einstellungen des Altmeisters Kubrick denken, er selbst beruft sich zudem auf Bergmans Fanny und Alexander. Und so bringt er jeden »dogmatischen« Authentizitätsanspruch in die Schwebe, indem er mit unserer Wahrnehmung spielt und realen Vorgängen immer wieder einen surrealen, künstlichen Nachhall oder eine poetische Aura verleiht. So lösen sich auf dem Klavier angeschlagene Töne vom Instrument und beginnen ein Eigenleben zu führen, oder der das Anwesen umgebende Park wird durch eine »illustration olfactive«, also den dezenten Einsatz von Duftstoffen suggeriert, zudem erreichen uns die Gerüche des in der Küche real zubereiteten Festmahls. Und plötzlich tauchen in den vermeintlich live gedrehten Filmsequenzen Dinge auf, die in der »Bühnen-Wirklichkeit« unsichtbar sind: vor allem die Gestalt von Christians Zwillingsschwester Linda, deren kurze Zeit zurückliegender Selbstmord Christians Outing als sexuelles Missbrauchsopfer seines Vaters anlässlich der Feier zum 60. Geburtstag des Patriarchen triggert. Hier spielt auch eine dritte, von Teste neu hinzukomponierte Bildebene mit hinein, nämlich Corots bekanntes Gemälde Orpheus führt Eurydike aus der Unterwelt von 1861, das in einer gerahmten Reproduktion über dem Klavier hängt und das im Verlauf des Abends auf Kamerafahrten erkundet wird, bei denen sich das animierte Bild sogar verräumlicht. Hier wagt sich Testes Ästhetik durchaus an die Grenze zum Kitsch. Dass das nicht zum Problem wird, liegt an der schauspielerischen Durchdringung und dem von tiefem SERGIO MOR A BITO

← Mathias Labelle als Christian in Festen

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humanistischem Ernst geprägten Beglaubigung des zwischenmenschlichen Geschehens. Das Ensemble agiert hervorragend, geradezu umwerfend Mathias Labelle in der Hauptrolle des Christian, der seinem Vater, dem Schweigekartell der übrigen Familie und vor allem der eigenen Angst die Stirn bieten muss. Wie Teste hier diesen Darsteller durch alle Stadien der Verlorenheit führt, bis hin zu einer Sprachhemmung, die ihn bei seiner Anklage ereilt, ist schlicht großartig. Das erste Gastspiel dieser Produktion außerhalb Frankreichs am 14. Juni 2019 erntete Ovationen.

Opening night im Théâtre Sénart/Lieusaint-Moissy Ich sah die Eröffnungsvorstellung einer Aufführungsserie dieser Produktion im Théâtre Sénart, das Teil ist eines im No Man’s Land südöstlich von Paris gelegenen Kulturzentrums. Die Premiere dieser Produktion fand im Februar 2019 in Angers statt und seither tourt sie, als »coup de maître« gefeiert, höchst erfolgreich durch Frankreich. Ich war am 2. Oktober 2019 bei der bereits 79. Vorstellung zugegen. Diese Information wurde zu Beginn auf dem großen Videoscreen eingeblendet, der – von einer unpersönlichen Wohnzimmerwand gerahmt – das von Sitzecke und Couchtisch auf der linken, einem runden Esstisch auf der rechten Seite vorgestellte Interieur nach hinten begrenzt. Nach vorn und zu den Seiten wird das Interieur nur durch einen ausgelegten hellen Teppich markiert, es steht frei auf der Bühne: Vielleicht das Gastappartement, in dem die Starschauspielerin Myrtle Gordon residiert, vielleicht nur eine Probendekoration, in der drei Schauspieler zwei Schauspieler und einen Regisseur spielen, die sich in unserer Gegenwart an Cassavetes’ Filmszenarium aus dem Jahr 1977 abarbeiten, assistiert von einer Garderobiere und einem Inspizienten sowie einem Kameramann. Im linken Bühnendrittel ist eine Garderobe angedeutet: ein Kleiderständer, zwei Stühle, ein Spiegel. Ansonsten ist der Bühnenraum schwarz ausgehängt. Teste hat ein knapp anderthalbstündiges Kondensat des Filmskripts erarbeitet, das sich auf die drei Protagonisten fokussiert: den Regisseur Manny, seine Hauptdarstellerin Myrtle und Maurice, einen Schauspieler der zweiten Garde und Bühnenpartner, ehemals auch Lebenspartner der Diva. Die im Film markant besetzten Rollen der Stück-Autorin, des Produzenten, der Ehefrau des Regisseurs und einiger anderer Akteure sind gestrichen. Ausgangspunkt der »mise en abyme« von Theater, Identität und Existenz ist der Unfalltod einer jungen Autogrammjägerin, die in einer Gewitternacht von einem Auto erfasst wird, kaum dass sie sich vom Wagen ihres umschwärmten Idols gelöst hat. Hier wird die Figur der Nancy von der Tochter Isabelle Adjanis dargestellt, die nicht live agiert, sondern Myrtles Erinnerungen in Videosequenzen heimsucht und so die latente Lebenskrise der Schauspielerin zum Ausbruch bringt. 81

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In der nahezu kahlen Szenerie entfaltet sich ein poetisches und hochmusikalisches Spiel auf mehreren Ebenen, die sich immer wieder und höchst suggestiv überlagern und vermischen. Zum einen wird die reale Live-Situation etwa durch direkte Ansprache des Publikums durch den Regisseur thematisiert und durch den Kameramann auch ins Bild gesetzt. Zum andern wird diese Situation immer wieder, etwa durch von der Bühne geisterhaft herab klingenden Applaus traumhaft verfremdet. Sehr Pirandello-haft hält die ebenso unaufwändige wie magische Geräusch-, Licht- und Bildregie es in der Schwebe, ob wir einer Probe oder einer Aufführung beiwohnen, ob die Akteure das Stück spielen, improvisieren oder halluzinieren. So kann Nancys Geist auch im Spiegel der Garderobenecke erscheinen, und die Livekamera diese Bilder abfilmen und auf die große Leinwand projizieren. Während wir alle Akteure sehr bald auch in Nahaufnahmen beobachten können, nähert sich die Livekamera der Protagonistin erst spät und auf Umwegen, sie zunächst nur von hinten erfassend, bevor sie endlich auch ihr – anfangs noch durch eine Sonnenbrille geschütztes – Gesicht einfängt. Isabelle Adjani spielt mit großer Zerbrechlichkeit und einer zurückgenommenen Diktion, der man sich kaum entziehen kann. Der finale Alkoholexzess, in den sie sich flüchtet, ist als virtuoser Pas de deux mit dem Kameramann choreografiert. Als sie völlig alkoholisiert, halb bewusstlos und am Ende ihrer Kräfte ihren Premierenauftritt bestreiten soll, zeigt Adjani, dass sie auch über viel Humor bei beeindruckendem Mut zur Hässlichkeit verfügt. Mit der gleichen Lakonik und Klarheit, die alle Inszenierungen auszeichnet, die ich von Teste sehen konnte, wurde ein Höchstmaß an poetischer Verdichtung erreicht. Ich vermute, es ist sein tiefes Verstehen und Begreifen der Figuren von innen heraus, bei gleichzeitiger Klarheit und Liebe zur Genauigkeit im Spiel mit dem Theater, das den Zuschauer so unmittelbar und auf nur schwer analysierbare Weise affiziert.

Fidelio an der Opéra-Comique Ein Element seiner Ästhetik hat Cyril Teste in dieser Produktion, deren Premiere ich am 29. September 2021 beiwohnen konnte, neu definiert: Anders als bei seinen bisherigen Arbeiten verleiht er dem Video keine kinemato­ grafische Ästhetik, sondern eher eine dokumentarische; dies ist inhaltlich begründet durch das Kamera-Überwachungssystem des Gefängnisses, das er zeigt, und das sich an zeitgenössischen amerikanischen Einrichtungen orientiert. Dadurch verliert dieses Medium etwas von der Kostbarkeit, die es in anderen seiner Inszenierungen besaß, und nähert sich eher dem Gebrauch an, der heute nahezu allgegenwärtig ist. Die Bühne findet eine schöne Balance zwischen Abstraktion und Konkretion. Die Architektur ist – wie stets bei Teste – eher modellhaft zitiert als SERGIO MOR A BITO

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realistisch ausformuliert: eine Gefängnishalle mit Sicherheitstüren und Gitterwänden, welche – nach Herunterlassen einer portalfüllenden Gefängnisumzäunung – von den Häftlingen auch als Sporthalle genutzt werden darf. Am Ende wird sehr gekonnt der Zuschauerraum einbezogen: durch ihn treten die Frauen und Kinder des 2. Finalchores auf, von ihm aus singen sie auch ihren ersten Einsatz, während vor der Gefängnisumzäunung ein Standmikrophon für den Minister aufgestellt wird und dieser sich mit seiner Ansprache direkt an das Auditorium wendet. Zusätzliches Spiel bringen sieben rechteckige, aufrechtstehende und mobile Videoprojektionsschirme mit hinein, die sehr präzise choreografiert sind, wodurch die abgefilmten Gefängnisalltagsvorgänge multiperspektivisch gebrochen werden. Hohe Aufmerksamkeit widmet die Bildregie der subtilen Choreografie der Blicke zwischen den Akteuren. Womöglich zu aktionistisch ausgefallen ist die Videobebilderung der Ouvertüre, in der wir sehen, wie Florestan von den Wächtern niedergeprügelt wird und Leonore sich in Fidelio verwandelt. Ansonsten sind alle Entscheidungen Testes und seines Dirigenten Raphael Pichon nachvollziehbar stimmig: Sehr schön ist es, aus dem Programmheft zu erfahren, dass alle Versuche, in die 1814er Fassung Materialien aus den vorangegangenen Leonoren-Fassungen zu integrieren, zurückgenommen wurden angesichts der sich als »unhintergehbar« erweisenden immanenten Stimmigkeit und Stringenz von Beethovens Fassung letzter Hand (lediglich im

→ Siobhan Stagg als Leonore in Fidelio

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»Oh Gott, welch ein Augenblick«-Ensemble gestatten sich die beiden noch einen Rückgriff auf die etwas breiter angelegte Urfassung), und natürlich wurde keine weitere Ouvertüre eingefügt. Die Seriosität von Teste/Pichon bewährt sich nicht zuletzt auch daran, dass die Form des Singspiels, der »Comique«, mit – wenn auch eingestrichenen – gesprochenen Dialogen gewahrt bleibt. Teste gelingt – »trotz« eines internationalen Ensembles – eine präzise, untheatralische Dialogregie (unter Anhebung durch eine diskrete Mikrofonierung, um den Sprechern einen glaubwürdigen Tonfall zu ermö­ glichen). Die Dialoge wurden zudem mit einer subkutanen atmosphärischen Bruitage unterlegt. Das historische Instrumentarium des Originalklang-Ensembles Pygmalion schafft ein akustisches Pendant zur Leichtigkeit und Transparenz von Testes Theatermitteln und trägt zur ungewohnten Anmutung eines Kammerspiels bei. Das erweist sich erst gegen Ende des Abends auch als Einschränkung, denn die narrativen und ideologischen Brüche – etwa zwischen laizistischem französischen Revolutionspathos und verordnetem obrigkeitsfrommen k.u.k.-Katholizismus – werden mehr und mehr harmonisiert und nivelliert, die Qualität des schauspielerischen Understatements verschwimmt zu einer gewissen Ungenauigkeit (etwa in der Geschichte Marzellines oder in der des Wendehalses Rocco, letztlich auch der Florestans und Fidelio-Leonores). Es hätte mehr Momente der Verrückung und Überhöhung gebraucht, wie etwa das sehr poetische Erscheinen von spielenden Kindern während des Gefangenenchors. Zugunsten einer zu brav bleibenden utopischen Befreiungsbotschaft verliert die Aufführung an Präzision, Genauigkeit und Schärfe: Theater kann keine Utopien bebildern, ihnen nur auf paradoxem Wege umso näherkommen, je unbestechlicher es die Konflikte artikuliert. Als ließe sich Geschichte und Erfahrung von Gewalt ablegen wie eine Sträflings- oder Bewacheruniform. Wir sehen ein naives »Zurück« in einen vermeintlich heilen »Status quo ante«, das Beethovens Widersprüchen nicht gerecht wird: Der »Naivität« der Befreiungseuphorie wohnt das totalitäre Moment inne. Das Wunder von Cyril Testes Hamlet vor drei Jahren am selben Ort hat sich nicht wiederholt – es bleibt freilich mehr als genug, um sich über einen insgesamt gelungenen und anregenden Abend freuen zu können, in dem Teste seine Intelligenz, sein humanes Theater – im Umgang mit den Stoffen ebenso wie mit den Menschen, mit denen er arbeitet – und seine Musikalität einmal mehr bewährt. Und auch das Dirigat von Pichon bleibt bemerkenswert: ein unfehlbares Timing, ein präzises Gefühl für Struktur, Syntax, Proportionen, Puls, Gestus – umso erhellender, als er keinerlei ausgestelltem und selbstgefälligem Manierismus frönt. → Malin Byström als Salome

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Oscar Wilde

SALOMES ENDE Sooft die Leute von der Prinzessin Salome reden, denken sie nicht daran, dass sie später eine Heilige geworden ist ... Lesen Sie es nur nach bei Nikephoros, dem würdigen Patriarchen von Byzanz. Als Herodes sah, wie die Tochter seiner Frau das Haupt des Gerichteten auf den Mund küsste, überwältigten ihn Grimm und Wut; so befahl er seinen Leibwächtern, das wunderbare Geschöpf unter ihren schweren schwarzen Schilden zu zermalmen. Doch auf das Flehen der Herodias stand er ab davon und begnügte sich, das verdorbene Ding aus dem Palast zu jagen. Die Verstoßene ging davon, immer einfach geradeaus vor sich hin, bis sie in die Wüste kam; dort hauste sie viele Jahre lang, verachtet und verflucht, als Einsiedlerin; ihre Blöße bedeckte sie mit dem Vlies eines Tieres, und sie nährte sich nur von Beeren, Wurzeln und Heuschrecken, ganz wie der Prophet selbst. Da nun Jesus durch die Wüste zog, erkannte sie Ihn als den, dessen Kommen die tote Stimme verkündet hatte, und sie glaubte an Ihn. Doch sie fühlte sich unwert, Seinem Schatten zu folgen. So machte sie sich wiederum auf, immer einfach geradeaus vor sich hin, um die frohe Botschaft in die Ferne zu tragen. Ihr Weg führte sie über Flüsse und über Meere, und nach den Feuerwüsten durchschritt sie nun Wüsten von Schnee. Als sie eines Tages einen zugefrorenen See überquerte, da brach das Eis unter ihren Füßen; sie sank ins Wasser, und die scharfe Eisscholle durchschnitt ihr den Hals und enthauptete sie so; gerade, dass sie noch »Jesus« und »Jochanaan« sagen konnte. Und das Eis schloss sich wieder. Später kamen Menschen zum Ufer, und sie sahen auf dem glatten Silberschild des Eises, leuchtend wie eine Blüte mit rubinroten Staubfäden, das wunderschöne Haupt einer Frau, und darüber einen goldenen Heiligenschein, glänzend wie eine Krone.


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Die OMV ist seit langem Generalsponsorin der Wiener Staatsoper und wir sind stolz, diese herausragende österreichische Kulturinstitution mit voller Energie zu unterstützen. Wir freuen uns mit Ihnen auf die bewegenden Inszenierungen. Alle Sponsoringprojekte finden Sie auf www.omv.com/sponsoring


Impressum

Richard Strauss SALOME Saison 2022/23 HERAUSGEBER Wiener Staatsoper GmbH, Opernring 2, 1010 Wien Direktor: Dr. Bogdan Roščić Musikdirektor: Philippe Jordan Kaufmännische Geschäftsführerin: Dr. Petra Bohuslav Redaktion: Sergio Morabito, Oliver Láng, Andreas Láng Gestaltung & Konzept: Fons Hickmann M23, Berlin Layout & Satz: Miwa Meusburger Bildkonzept Cover: Martin Conrads, Berlin Lektorat: Martina Paul Druck: Print Alliance HAV Produktions GmbH, Bad Vöslau TEXTNACHWEISE ORIGINALBEITRÄGE Sergio Morabito: Die Handlung (englische Übersetzung von Andrew Smith – transtext) / Über dieses Programmbuch / Eine Authentizität, die sich nicht mehr verbergen lässt. Cyril Teste im Gespräch / Größte Eleganz bei maximaler Tiefenbohrung. Über das Theater des Cyril Teste – Philippe Jordan: Der Aufbruch ins Neue (redigiert von Oliver Láng) – Nikolaus Stenitzer: Akkorde in Moschus. Francis Kurkdjian – Ein Porträt. ÜBERNAHMEN Ann-Christine Mecke: Der Salome-Stoff in der Literaturund Kunstgeschichte, aus: Ann-Christine Mecke: Strauss – Salome/Opernführer kompakt, Leipzig 2016 – Tina Hartmann: Zwischen Jungfrau und Mörderin. Zur Salomé-Dichtung Oscar Wildes, aus: Salome, Programmheft des Theater Heidelberg, Spielzeit 2009/2010 – Richard Strauss an Ernst von Schuch: Die unerhörte Schwierigkeit des Werkes, aus: Salome, Programmheft der Staatsoper Stuttgart 1995/1996 – Dietmar Holland: Ein einmaliges Experiment an einem besonderen Stoff, aus: Salome, Programmheft der Staatsoper Stuttgart 1995/1996 – Alex Ross: Die Sprengung der Enge, aus: The Rest is Noise. Das 20. Jahrhundert hören, deutsch von Ingo Herzke, München 2009 – Klaus Mann: Ja, so einer wurschtelt sich durch, aus: Klaus Mann: Der Wendepunkt. Ein Lebensbericht, Hamburg 1993 – Anette Unger: Mahler und Strauss – Die Unzeitgemäßen, aus: Wer war Richard Strauss? Hg. Hanspeter Krellmann, Frankfurt 1999

BILDNACHWEISE Cover: Willy Verginer: Moongirl, 2019, Lindenholz, Acrylfarbe, 105x29x21cm Alle Szenenbilder: Michael Pöhn und Ashley Taylor / Wiener Staatsoper GmbH. – Peter Paul Rubens, Das Fest des Herodes, lizensiert von Alamy Limited – Foto S. 24: The Mahler-Rosé Collection, University of Western Ontario; Rechteeinräumung für die Wiener Staatsoper durch Gilbert Kaplan – Die Aufführungsfotos auf den Seiten 78-83 stammen von Vincent Pontet (Hamlet), Simon Gosselin (Festen) und Stéphan Brion (Fidelio). Nachdruck nur mit Genehmigung der Wiener Staatsoper GmbH / Dramaturgie Kürzungen sind nicht gekennzeichnet. Rechteinhaber, die nicht erreicht werden konnten, werden zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten.


Generalsponsoren der Wiener Staatsoper


→ wiener-staatsoper.at

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