Programmheft »Wozzeck«

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WOZZECK Alban Berg


INHALT

Die Handlung

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Synopsis in English

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Über dieses Programmbuch

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Es ist ein Schweigen in der Welt → Anna Mitgutsch

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Ein scharfer Blick auf die soziale Realität → Im Gespräch mit Simon Stone

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Über die Wozzeck-Musik → Philippe Jordan

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Das »Opernproblem« → Alban Berg

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Zur Charakteristik des Wozzeck → Theodor W. Adorno

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Eine perfekte Oper → Christian Gerhaher

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Wozzeck ist keine Zigarette → Oliver Láng

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»...ein Stück von mir...« → Daniel Ender

60

Ein Klavierauszug oder 4 Kilo Kaffee → Theresa Steininger

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Friede den Hütten! Krieg den Palästen! → Georg Büchner 80 Soziales Fieberthermometer → Martin Schenk

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Vom Rätsel zum Nicht-Sein → Melanie Unseld

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Eine gesellschaftliche Veränderung tut Not → Im Gespräch mit Monika Jank und Isabel Haider

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Mondnacht → Konrad Paul Liessmann

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Mit Glück über den Berg → Andreas Láng

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Der Mensch ist ein Abgrund, es schwindelt Einem, wenn man hinunterschaut... Wozzeck, 2 Akt, 3 Szene


WOZZECK → Oper in drei Akten (15 Szenen) Musik Alban Berg Text Alban Berg nach Georg Büchners Woyzeck in der Bearbeitung von Karl Emil Franzos & Paul Landau

Orchesterbesetzung 4 Flöten, 4 Oboen, 4 Klarinetten, 1 Bassklarinette, 3 Fagotte, 1 Kontrafagott, 4 Hörner, 4 Trompeten, 4 Posaunen, 1 Kontrabasstuba, 2 Paar Pauken, Becken, Große Trommel, Kleine Trommel, Rute, Großes Tamtam, Kleines Tamtam, Triangel, Xylophon, Celesta, Harfe, Violine I, Violine II, Viola, Violoncello, Kontrabass Auf der Bühne Mehrere kleine Trommeln; Eine Militärmusik: 1 Piccoloflöte, 2 Flöten, 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotte, 2 Hörner, 2 Trompeten, 3 Posaunen, 1 Kontrabasstuba, Schlagwerk; Eine Heurigen-(Wirtshaus-)Musik: 2 Fiedeln, 1 Klarinette, 1 Ziehharmonika bzw. Akkordeon, 1 Gitarre, 1 Bombardon bzw. Basstuba; Ein Pianino Ein Kammerorchester in der Besetzung von Arnold Schönbergs Kammersymphonie: 1 Flöte (auch Piccolo), 1 Oboe, 1 Englischhorn, 2 Klarinetten, 1 Bassklarinette, 1 Fagott, 1 Kontrafagott, 2 Hörner und ein Solo-Streich­quintett Spieldauer 1 Stunde 30 Minuten Autograf Library of Congress, Washington (Partitur) Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek (Particell) Uraufführung 14. Dezember 1925, Staatsoper Unter den Linden, Berlin Erstaufführung an der Wiener Staatsoper 30. März 1930




DIE HANDLUNG

Um seine Freundin Marie und ihren kleinen Buben ausreichend finanziell unterstützen zu können, geht Wozzeck mehreren unterschiedlichen Nebenverdiensten nach: So rasiert er zum Beispiel regelmäßig den Hauptmann, schneidet Stöcke oder stellt sich dem Doktor für fragwürdige medizinische Experimente – wie eine Bohnen- und Schöpsenfleischdiät – zur Verfügung. Ruhelos und von peinigenden Wahnvorstellungen getrieben, hetzt er von einer Tätigkeit zur nächsten, ständig dem Spott und den Sadismen des Hauptmanns und Doktors ausgesetzt. Einzigen Halt bietet ihm das Verhältnis zu Marie. Doch diese fühlt sich vom attraktiven Tambourmajor angezogen, mit dem sie schließlich eine sexuelle Beziehung eingeht. Da Wozzeck bei ihr zwei neue Ohrringe entdeckt, schöpft er einen ersten Verdacht. Aber auch eindeutige boshafte Anspielungen des Doktors und Hauptmanns machen ihm klar, dass er von Marie betrogen wurde. Von ihm zur Rede gestellt, weist Marie Wozzeck brüsk zurück. Als er sie auch noch in der Öffentlichkeit mit dem Tambourmajor tanzen sieht und dieser ihm gegenüber wenig später sogar von ihren körperlichen Vorzügen schwärmt, beschließt Wozzeck, Marie zu ermorden. Beim nächsten Zusammentreffen mit Marie, draußen in der Natur, setzt er sein Vorhaben um und tötet Marie mit einem Messer. Nachdem Margret und andere kurz darauf an Wozzeck Blut entdecken, kehrt dieser an den Tatort zurück, um das weggeworfene Messer noch besser zu verstecken, dabei taucht er immer tiefer ins Wasser ein und ertrinkt. Der von anderen Kindern gehänselte Bub Mariens bleibt als Vollwaise zurück: noch zu klein, um das Geschehene verstehen zu können. DIE H A N DLU NG

← Vorherige Seiten: Szenenbild → Christian Gerhaher als Wozzeck und Dimitry Belosselskiy als Doktor

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SYNOPSIS

← Anja Kampe als Marie und Sean Panikkar als Tambourmajor

In order to provide adequate financial support for his girlfriend Marie and her little boy, Wozzeck takes on a number of odd jobs to earn additional income. For example, he regularly shaves the captain, cuts sticks, and makes himself available to the doctor for questionable medical experiments – such as a diet of beans and wether meat. Restless and hounded by tormenting delusions, he hustles from one job to the next, a constant target for the ridicule and sadism of the captain and doctor. His only anchor in life is his relationship with Marie. However, she is attracted to the handsome drum major, with whom she finally enters into a sexual relationship. When Wozzeck discovers that she has a new pair of earrings, he starts to become suspicious. The obviously malicious insinuations made by the doctor and the captain make it clear to him that he has been deceived by Marie. He asks her about the matter, but Marie brusquely rebuffs Wozzeck. When he then sees her dancing in public with the drum major, who later even enthuses to Wozzeck about her physical merits, Wozzeck decides to murder Marie. The next time he meets up outside with Marie, he carries out his plan and stabs Marie to death. Shortly thereafter, when Margret and others discover blood on Wozzeck, he returns to the scene to find a better hiding place for the knife he had thrown away; he wades deeper and deeper into the water and drowns. Marie’s little boy, teased by the other children, is left a complete orphan, still too young to understand what has happened.

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SY NOPSIS


ÜBER DIESES PROGRAMMBUCH

Alban Bergs Wozzeck erzählt die Geschichte einer gepeinigten Kreatur, die, von Visionen und Ängsten bedrängt, von der Gesellschaft verlacht und gequält, aus ihrer Existenz getrieben wird – bis es zur finalen Katastrophe kommt. In ihrem einleitenden Essay umreißt die österreichische Schriftstellerin Anna Mitgutsch ab Seite 10 Wozzecks Welt und Leid wie auch sein tragisches Scheitern. Dass es sich dabei um keinen historischen, sondern brennend aktuellen Stoff handelt, legt Regisseur Simon Stone in einem Interview ab Seite 16 dar. Martin Schenk, Mitbegründer der Armutskonferenz und stellvertretender Direktor der Diakonie, dokumentiert ab Seite 88 die Armut im Österreich im Jahr 2022. Die Musikwissenschaftlerin Melanie Unseld zeichnet ab Seite 98 die Berg beeinflussenden Diskurse um das »Weib« der Wiener Moderne nach und, ausgehend von Wozzecks Mord an Marie, sprechen Monika Jank von der Wiener Interventionsstelle gegen Gewalt in der Familie und Isabel Haider vom Institut für Strafrecht und Kriminologie über den Femizid in Österreich (ab Seite 104). Die Ausführungen zur Wozzeck-Musik führt Premierendirigent Philippe Jordan ab Seite 22 mit Einblicken in die komplexe Partitur und Klangsprache Bergs an; Kurzanalysen einzelner Opernszenen stammen von Barbara Meier (Seite 28) und Constantin Floros (Seite 36). Die aufschlussreiche Wozzeck-Auseinandersetzung des Berg-Schülers Adorno ist ab Seite 40 nachzulesen, der Komponist selbst kommt mit seinem berühmt gewordenen Text Das ›Opernproblem‹ zu Wort (Seite 32). Einblicke in das Werk, die Personenkonstellationen und die Psychologie des Protagonisten gibt der Premieren-Wozzeck Christian Gerhaher ab Seite 46, Oliver Láng umreißt ab Seite 54 die Entstehungsgeschichte der Oper. Detailaufnahmen zu Bergs sich im Werk niederschlagenden Erlebnissen als Soldat sowie zur wirtschaftlichen Lage des Komponisten stammen von Daniel Ender (ab Seite 60) und Theresa Steininger (ab Seite 70). Konrad Paul Liessmann beschäftigt sich ab Seite 112 mit dem Naturbegriff von der Romantik bis zum Beginn des 20. Jahrunderts und Andreas Láng beschreibt die Staatsopern-Aufführungsgeschichte dieses Zentralwerks der klassischen Moderne ab Seite 118. Ü BER DIE SE S PROGR A M MBUCH

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»Ich fühle schneidend, dass Geld die Mauer ist, die vom wirklichen Leben trennt, dass das Mutige immer mutig, das Große immer groß, das Opfer immer heilig und das Böse immer böse wäre, wenn nicht das Geld die Seelen verhöhnte und die Werte in fratzenhafte Dimensionen verzerrte.« Marieluise Fleißer in Fata morgana des Geldes, 1932 9


Anna Mitgutsch

ES IST EIN SCHWEIGEN IN DER WELT

Wo das Schweigen in die Sprache eindringt, wird der sichere Boden der Realität brüchig, oder, wie Wozzeck in der zweiten Szene des ersten Akts singt: »Hohl! Alles hohl! /…/ Ein Schlund! Es schwankt! Hörst Du, es wandert was mit uns da unten!« Das Schweigen reißt Lücken in das tragfähige Gewebe der Wirklichkeitsdeutung. Die Musik dagegen verhält sich zum Schweigen anders, nicht dialektisch, sondern ergänzend, sie hebt die Sprache auf eine andere Ebene des Verstehens, führt sie weiter, lässt sie im Schweigen klingen. Es erscheint wie ein Paradox, dass gerade die Literatur die Schweiger, die Stammler, die mit der Sprache kämpfen, mehr liebt als die Wortgewandten. Sie lassen die Abgründe sichtbar werden, sie demonstrieren uns die Ohnmacht vor den unlösbaren Rätseln der Existenz. Büchners Woyzeck ist ein Schweiger, einer, der sich mit Worten und zusammenhängenden Gedanken schwer tut und doch mehr von den unheimlichen Kräften spürt, die anderen verborgen bleiben, gerade, weil er seinen Empfindungen stärker vertraut als der Vernunft. Mit Woyzeck fand Büchner eine Figur, die uns ein solches Schweigen packend und verstörend vorführt. Je mehr ein Autor offen lässt, je mehr Leerstellen er dem Leser anvertraut, desto verwundbarer A N NA MITGU TSCH

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wird das Stück, desto mehr überlässt die Auslegung dem Zufall. Büchner hinterließ ein aufs Äußerstes reduziertes Fragment, dessen Intentionen zwar deutlich erkennbar sind, das aber in der Fassung von Karl Emil Franzos, nach der Alban Berg arbeitete, noch knapper, noch reduzierter ausfiel. Das ist das Erstaunliche an der Oper Wozzeck, dass er uns einen Woyzeck im Sinn Büchners schenkte, einen Wozzeck, der mehr weiß, als er verstehen kann, einen Antihelden, der seiner sozialen Erniedrigung nichts entgegensetzt als verständnislosen Gehorsam, den die Verzweiflung in den Wahnsinn treibt und dessen Rebellion im Mord an dem einzigen Menschen besteht, den er liebt. Trotzdem leiden wir mit ihm und empören uns an seiner statt. Wozzeck wird als Subalterner eingeführt, der die Urteile über sein Verhalten und seinen Lebenswandel ebenso gehorsam hinzunehmen hat wie die Befehle. Er steht in der Hierarchie ganz unten, alle sind ihm vorgesetzt, alle außer Andres und Marie. Monoton antwortet er auf alles, ob es Kommentare zum Wetter oder zur Moral sind, mit »Jawohl, Herr Hauptmann«. Das mehrmalige Stakkato derselben Note hämmert uns den marionettenhaften Gehorsam dieser Antwort ein. »Wozzeck!« – eine Anrede wie ein militärischer Gruß, ein Peitschenhieb, einerlei, ob sie vom Hauptmann, vom Doktor oder vom Tambourmajor kommt, gleichbleibend im Ton, aggressiv, die Betonung auf der letzten Silbe. Sie gilt als Befehl und als Entmündigung, alles in diesem einen Wort, das zugleich sein Name ist. Aber Alban Berg hütet sich, ein zeitbezogenes Sozialdrama aus dem Stück zu machen. Wozzeck gibt es in jeder Gesellschaft, in jedem System. Das Leben wird immer von den Machtverhältnissen bestimmt. Wer Macht hat, darf über Moral räsonieren, er darf Freiheit und Tugend definieren, egal, wie beschränkt er ist, er kann, wie Wozzeck es ausdrückt, »vornehm reden« und »tugendhaft sein«. Die Macht gibt ihm die Sprache, die Sprache verleiht ihm Macht. Wozzeck steht außerhalb der Macht und ihrer Sprache. Er ist ein vom Leben und der Gesellschaft Entmündigter, und alles, was er sich vom Leben nimmt, steht ebenso außerhalb der Macht und ihres Schutzes, denn er hat auf nichts ein Recht. Wozzeck wandert einen Grat entlang zwischen tumbem Tor und Visionär, Liebendem und Gewalttäter, Misshandeltem und verstörendem Außenseiter. Wie leicht könnte eine solche Figur aus dem Gleichgewicht geraten. Die Musik hält ihn im Gleichgewicht und bündelt seine Eigenschaften: seinen sechsten Sinn für das Unfassbare, Unnennbare, das den Menschen in seiner Faust hält und ihn jederzeit vernichten kann. »Wenn etwas ist und doch nicht ist. /…/ Ein Feuer! Ein Feuer, das fährt von der Erde in den Himmel ... und ein Getös herunter wie Posaunen… Wie’s heranklirrt.« Die Sprechmelodie dieser und ähnlicher Passagen reißt uns in seine Angst hinein vor dem, was er ahnt und nicht versteht. Wir spüren es und fragen uns: Warum spürt es niemand außer ihm? Es passt nicht in den Diskurs der Macht, nicht zur Selbstgewissheit des Hauptmanns und nicht zum Wissenschaftswahn 11

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← Anja Kampe als Marie und Sean Panikkar als Tambourmajor

des Doktors. Es ist eine Gegenwelt, aus der Wozzecks Visionen aufsteigen, eruptiv, bildgewaltig, rätselhaft, aufs Äußerste reduziert. Wir fragen uns nicht, ob Wozzeck verrückt geworden ist, das lassen Text und Musik nicht zu, die Bilder seiner Angstvisionen sind zu real, um uns in psychologische Mutmaßungen abschweifen zu lassen. Wozzecks Angst vor dem Schicksal rührt uns an. Sie verweist uns auf Büchners Frage nach der Vorbestimmung. Alban Bergs Loyalität seinem Helden gegenüber erlaubt uns nicht, uns von ihm auf eine Art und Weise zu distanzieren, wie der Doktor das tut: »Er hat eine schöne fixe Idee, eine köstliche aberratio mentalis partialis.« Wozzeck ist ein Prophet ohne Sprache, der seine apokalyptischen Visionen aus der Bibel nimmt, wenn ihm die Worte fehlen. Wir dagegen können die Bilder aus der Realität des zwanzigsten Jahrhunderts heraufbeschwören, wenn wir hören: »Und sieh, es ging der Rauch auf vom Land, wie ein Rauch vom Ofen«. Alban Bergs Oper wurde 1925 uraufgeführt. Da hatten die Schrecken des Jahrhunderts ihre ersten Vorboten bereits ausgeschickt. Aber alles in diesem Stück hat mehr als einen Bezugspunkt. Was Wozzeck sieht, ist nicht nur ferne Apokalypse, die die Menschheit bedroht, sie ist seine kreatürliche Angst vor dem ungewissen Schicksal, auf eine kosmische Leinwand projiziert. Innen und außen sind eins, das Drama der leidenden Seele reißt die Wirklichkeit in ihren Abgrund. Sie ist die Ahnung eines Menschen, der seinen nächsten Schritt nicht selbstbestimmt setzen kann und gerade deshalb spürt, wie leicht seine Welt zerstört werden kann. In der dritten Szene des ersten Akts, in der Wozzeck mit Marie allein ist, wenn Militärmusik und Wiegenlied ineinandergreifen, sind sie einander näher in der Angst vor dem, was sie bedroht, als in der Liebe. Die Liebe ist da, aber leiser, leicht zu übertönen. »Wir arme Leut«, dieser leitmotivisch wiederholte Aufschrei verbindet sie. Und das Grauen vor dem, was im Begriff ist, über sie hereinzubrechen. Marie und das Kind sind seine Welt, das, was bisher außerhalb der Macht, die ihn erniedrigt, gestanden ist. Um diese Welt intakt zu erhalten, verkauft Wozzeck sich an den Doktor und seine Versuche: »denn das Menagegeld kriegt das Weib: darum tu ich’s ja.« Marie ist sein einziger Gedanke, während der Doktor ihn mit Diätversuchen quält. Was bleibt einem Entrechteten anderes übrig, als sich zu verkaufen? Auch Marie verkauft sich für zwei Ohrringe. Und Wozzeck beschwichtigt sie: »’s ist gut, Marie! ’s ist gut!« und dann: »Wir arme Leut.« Und darauf, immer noch ihr zugewandt, im Ton der Intimität des Ernährers von Frau und Kind: »Da ist wieder Geld, Marie, die Löhnung und was vom Hauptmann und vom Doktor.« Spricht so ein vor Eifersucht Rasender? Oder einer, dessen Verstand von Visionen zerrüttet ist? Wozzecks Sprache mag eruptiv sein und manchmal zusammenhanglos erscheinen, er mag sich schwer tun, mit seinem ungebildeten Verstand zu dem Geheimnis vorzudringen, das über sein Leben herrscht und es zerstört. Aber sein Gefühlsleben ist differenzierter als das aller anderen Figuren, auch als das der Marie. Er ist in seinem soldatischen

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Gehorsam untertänig, aber er weiß sich zu wehren, wenn er den Tugendbegriff des Hauptmanns und die These über den freien Willen des Doktors widerlegt. Er versucht seine Daseinsangst mitzuteilen und seine kleine Familie zu schützen, die ihm nicht gehört, weil ihm nichts gehört, nicht einmal er sich selber. Er mag ungebildet und sprachgehemmt sein, aber er will verstehen, was es ist, das ihn bedroht und ihn zum Opfer macht. Ist er verantwortlich für seine Tat? Müsste er zum Messer greifen und Marie ermorden, wenn er andere Mittel zur Verfügung hätte, Macht, Sprache, die Fähigkeit und das Recht, seine Interessen zu verteidigen? Stumm und ernst steht er da, wenn er verhöhnt wird. Stumm sitzt er am Rand des Tanzbodens, auf dem Marie mit dem Tambourmajor tanzt, die Worte, mit denen er Marie ihre Untreue vorhält, sind nicht Vorwurf, sondern gequälte, selbstquälerische Schreie: »Da! Hat er gestanden /…/ so, so? /…/ Teufel! Hat er da gestanden? /…/ Ich hab ihn gesehen. /…/ Du – bei ihm! /…/ Mensch!« Und nachdem der Tambourmajor ihn gedemütigt und ihm Maries Untreue bestätigt hat, findet er nur einen Satz in sich vor: »Einer nach dem Andern!«, ein Satz, der mehrere Deutungsmöglichkeiten offenlässt: ein Mann nach dem anderen bei Marie? oder ein Vernichtungsschlag nach dem anderen gegen ihn? ein Mord nach dem andern? »Muss fort«, /…/ »immer zu, immer zu«, das Messer, das Blut. Es sind einzelne Wörter und Bilder, auf denen das Stück ruht. Auch Alban Berg verlässt sich auf die Wirkung dieser Leitmotive. Zwischen »Still, alles still, als wäre die Welt tot« in der zweiten Szene des ersten Akts bis zu »Still! Alles tot« am Ende des dritten Akts nach dem Mord spannt sich der Bogen der Tragödie. In ihrer Sparsamkeit laden die Wörter sich auf, Obsessionen verdichten sich in diesen Wörtern, die qualvoll hinausgeschrien ihrerseits zu obsessiven Chiffren werden, zu Leitmotiven, die einen inneren Zusammenhang herstellen. Büchner erklärt uns nicht, was wir von Woyzeck zu halten haben, er kommentiert den Mord an Marie nicht mit den Begriffen bürgerlicher Moral, die er in den Karikaturen des Hauptmanns und des Doktors ablehnt. Wozzecks Handlungen brauchen keine Erklärung. Die Musik hilft uns, die Figur aus ihrem Bewusstsein heraus zu verstehen, wenn wir das Unausgesprochene hören, die Pausen zwischen den Sätzen, die unausgesprochenen Sätze zwischen den wie von einem stummen Monolog übriggebliebenen Wörtern, die mit doppeltem Gewicht ins Schweigen fallen. Das, was Wozzeck zustößt, ist zu überwältigend, um es in Sprache zu fassen. Wer könnte eine angemessene Sprache finden für die Zerstörung seiner Welt, noch dazu in dem Augenblick, in dem sie ihm zustößt? Wozzeck ist zweifellos ein Mörder. Er ist der erste, der es ausspricht: »Mörder! Mörder! Ha! Da ruft’s. Nein, ich selbst« und der sich selber richtet, indem er sich im But, das er vergossen hat, ertränkt: »Aber ich muß mich waschen. Ich bin blutig. Da ein Fleck – und noch einer. Weh! Weh! Ich wasche mich mit Blut – das Wasser ist Blut… Blut.« Aber Wozzeck ist auch eine A N NA MITGU TSCH

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Gestalt, die an Hiob erinnert: der in die äußerste Verlassenheit gedrängte, gedemütigte Mensch, dem alles genommen wird und den man verhöhnen darf, weil man ihm gleichzeitig jede Möglichkeit nimmt, zu seinem Recht zu kommen. Sein Leiden geht weit über soziale Ungerechtigkeit hinaus und seine Rache ist nicht die eines gehörnten Liebhabers, sondern die Antwort eines Menschen auf die Vernichtung seines Lebensinhalts. »Herr Hauptmann, ich bin ein armer Teufel! Hab sonst nichts auf dieser Welt!«, fleht er, als der Hauptmann mit seiner Andeutung von Maries Untreue diese Welt ins Wanken bringt. Ob es die Lebensumstände sind, das Schicksal, ein grausamer Gott oder, wie Büchner es nennt, »der gräßliche Fatalismus der Geschichte«, es ist jedenfalls das Element, das den historischen Mordfall zur Tragödie macht. Die Oper endet jedoch nicht mit Mord und Selbstmord. Die letzte Szene kehrt zum Kind von Marie und Wozzeck zurück, zu den spielenden Kindern, die die tote Marie suchen gehen. Maries Kind reitet auf dem Steckenpferd hinterher, ihm gehört das letzte Wort mit seinem hellen »Hopp, hopp! Hopp, hopp! Hopp, hopp!« Es ist ein erschreckendes Bild, verstörender als die gewaltsamen Tode seiner Eltern. Beginnt damit ein neuer Kreislauf von Verlassenheit und sozialer Grausamkeit, mit der johlenden Schar Kinder, die die Leiche anschauen laufen, und dem verwaisten, alleingelassenen Kind, das sein Schicksal noch nicht versteht und keine Sprache hat? Bei Büchner hat das Kind noch vor dem Mord an Marie seinen letzten Auftritt: Woyzeck gibt seinen Sohn in die Obhut des zurückgebliebenen Karls. Alban Berg sagt in seinem Wozzeck-Vortrag (1929) zur Schlussszene: »Es ist vom dramatischen Standpunkt aus als der dem Selbstmord Wozzecks folgende »Epilog« aufzufassen, als ein aus dem handlungsmäßigen Geschehen des Theaters heraustretendes Bekenntnis des Autors, ja, als Appell an das gleichsam die Menschheit repräsentierende Publikum.« Anklagender und aufrüttelnder könnte ein Appell an die Gesellschaft nicht sein.

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EIN SCHARFER BLICK AUF DIE SOZIALE REALITÄT Regisseur Simon Stone im Gespräch mit Andreas Láng


Wenn man sich aufmacht, ein Bühnenwerk zu erarbeiten, ergeben sich mitunter bald mehr Fragen als Antworten. Wie lautet die wesentlichste Frage, die Sie sich beim Wozzeck stellen oder gestellt haben? Da sich die Dramaturgie dieser Oper, die dramaturgische Aktion so klar und konsequent zeigt, geht es eher darum, einen Weg zu finden, jene Welt zu umreißen und zu definieren, die Wozzecks Leben bedingt. Durch Büchners extreme Sparsamkeit hinsichtlich der Regieanweisungen – die auch Alban Berg kaum ergänzte – ist die Thematik grundsätzlich universell gehalten. Aus diesem Grund fände ich es auch schade, wenn man die Handlung in der vorgeschlagenen, rein militärischen Umgebung beließe. Es wäre viel zu einschränkend und verengt gedacht, all die hier geschilderten Repressionen, Brutalitäten, Missbräuche und Sadismen in die Grenzen eines vergangenen, rein soldatischen Biotops einzuzwängen. Die fatalen Konsequenzen, die entstehen, wenn einzelne Personen Macht über andere gewinnen und diese demütigen, sind allgegenwärtig und auf jede Gesellschaft übertragbar. Es gilt stets: Wenn Menschen zu Tieren erniedrigt werden, darf man sich nicht wundern, wenn diese dann auf atavistische, vorzivilisatorische Reaktionsmuster zurückfallen. Es reicht ja oft schon, wenn Ärmere und Schwächere vergessen oder als nicht relevant angesehen werden, um Monster zu kreieren. Nicht umsonst sagt Wozzeck im Gespräch mit dem Hauptmann in der 1. Szene, dass er ein ganz anderes, moralisch integres Leben führen würde, wenn er nicht arm wäre. Leider hat sich an der Aktualität dieses Werkes seit Büchner respektive Berg nichts verändert, da die Kluft zwischen arm und reich trotz aller politischen Veränderungen und Bemühungen bis heute nicht geschlossen werden konnte. Im Gegenteil, in den letzten Jahren hat sie sich erneut vergrößert. SIMON STONE

Die Aktualität wird bei Ihnen durch die konkrete Verortung im Wien der Gegenwart zusätzlich unterstrichen. Mir ist immer wichtig, Zuschauerinnen und Zuschauern die jeweilige Geschichte in der ihnen bekannten, eigenen Welt zu präsentieren. Im vorliegenden Fall haben sowohl Büchner als auch Berg schon von vornherein viel daran gesetzt, eine aktuelle Realität abzubilden. Es wäre in meinen Augen also falsch, die zeitlose Gültigkeit des Werkes dadurch zu verunklaren, dass man sie in einer Vergangenheit belässt, die uns fremd und nur bedingt erfahrbar ist. ST

Handelt es sich beim Wozzeck um ein Lehrstück, ein Sozialstück oder geht es um Mitleid, nicht zuletzt um Mitleid mit der Figur des Wozzeck? 17

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Ich würde eher von einer Dokumentation sprechen – Büchner benutzte ja bekanntlich reale Vorkommnisse, die er dann in diesem Werk verarbeitete. Es wird dem Publikum ganz sachlich vorgeführt, was passieren kann, wenn man Opfer beleidigt und erniedrigt, welche psychischen Mechanismen dann in Kraft treten. ST

Versteht sich diese Dokumentation bei Ihnen immer als objektive Erzählung oder zeigen Sie die Geschichte aus der Perspektive der handelnden Charaktere? Es trifft beides zu. Wir schildern einerseits die Sicht von außen, das Leben des Underdogs Wozzeck, seine Beziehungen zu den anderen Menschen, seine Umgebung, seine Welt und zeigen dadurch, dass man so jemanden jederzeit in der U-Bahn treffen könnte, beim Würstelstand, auf der Straße. Wozzeck geht nach dem Mord an Marie wieder ins Wirtshaus zu Margret, als ob nichts passiert wäre. Wir alle kennen aus den Medien Berichte von Menschen, die jemanden töten und die Leiche dann zum Beispiel wochenlang in einer Wohnung liegen lassen. Solche absonderlichen Personen gibt es, und wer weiß, ob man nicht gerade an so jemandem zufällig vorbeigegangen oder neben so jemandem gesessen ist. Diesen Aspekt aufzuzeigen ist uns sehr wichtig. Andererseits – aufsetzend auf das Expressionistische der Musik Bergs, die das Innenleben und die psychischen Zustände Wozzecks widerspiegelt – wechseln wir immer wieder die Perspektive und werden Teil der Halluzinationen des Titelhelden. Und so veranschaulichen wir, was Wozzeck zusätzlich zu den äußeren und bedingt durch diese äußeren Umstände im Inneren zu schaffen macht. ST

Inwieweit sind der Hauptmann und der Doktor feststehende Typen, inwieweit sind sie zufällige Personen, die leider zu viel Macht besitzen und diese missbrauchen? Vielleicht wollten Büchner und Berg auch etwas über böswillige Beamte und professorale Mediziner sagen. Zugleich zeichnen sie aber gerade diese beiden Charaktere auf gewisse Weise idiosynkratisch. Es ist nicht wie bei Brecht, bei dem eine Figur eine bestimmte Funktion erfüllt, sie sind vielmehr äußerst merkwürdig, Personen, die man ebenfalls unter Umständen aus dem eigenen Leben als Sonderlinge zu kennen meint. ST

Aber keine Karikaturen? Auf keinen Fall – Karikaturen sind lesbar, zeichnen sich durch als bekannt vorausgesetzte, übertrieben dargestellte Eigentümlichkeiten aus. Aber der Hauptmann und der Doktor sind vollkommen ST

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ungreifbar und untypisch, von den gegensätzlichsten, unerwartet zutage tretenden Emotionen und Eigenheiten bestimmt. Das heute leider nach wie vor sehr aktuelle Thema Femizid spielt durch den Mord an Marie in Wozzeck eine zentrale Rolle. Diesbezüglich wird ein sehr brennender Themenkomplex angesprochen: Wie oft bemühen Anwälte sogar heute noch das unerträgliche Argument, dass ein durch Eifersucht erfolgter Mord an einer Frau zumindest verstehbar, wenn nicht sogar zum Teil entschuldbar sei, da sie ja den Partner zunächst betrogen hätte. Dass jemand im 21. Jahrhundert so etwas überhaupt zu formulieren wagt, sagt viel über bestimmte Denkweisen, über angeblich beleidigten Stolz, verlorene Ehre, verunsicherte Identitäten und ähnlichen Unsinn aus, die wir eigentlich als längst überholt ad acta gelegt zu haben glauben. Wozzeck ist zweifellos ein vielfaches Opfer. Aber – und das ist wichtig – der Mord an Marie macht ihn zum Täter, und diese Tat ist nicht ableitbar aus seiner Opferrolle! Denn es gibt genügend Menschen in ähnlichen Situationen, die trotzdem nicht gewalttätig werden. Eine wichtige Lektion, die uns durch Büchner und Berg noch einmal eindringlich vorgeführt wird. Davon abgesehen: Seit wann ist Betrug eine Tat, auf die ein Todesurteil steht? Wenn dem so wäre, müsste bei uns wohl die Hälfte der Bevölkerung sterben. Natürlich behandelt Marie Wozzeck nicht gut, natürlich hintergeht sie ihn mit dem Tambourmajor. Aber anders als der Mord durch Wozzeck ist ihre Position sehr wohl nachzuvollziehen: Sie lebt mit einem Mann zusammen, der völlig durchdreht, unentwegt wirres Zeug denkt und spricht. Von ihm abhängig hockt sie tagaus, tagein allein mit einem Kind zu Hause, dem Wozzeck kaum Beachtung schenkt. Diesem perspektivlosen Gefühl des Eingesperrtseins hofft sie zu entfliehen, und der Tambourmajor scheint sich dafür als gangbarer Weg anzubieten. Ist es Marie zu verdenken, dass sie frei und eigenbestimmt sein will? ST

Wozzeck missdeutet also sein Verhältnis zu Marie als gegenseitige Liebesbeziehung. Dass man sich Zeit lässt und auf einen Partner, eine Partnerin, auf den wahren Einzigen wartet, den man wirklich liebt, ist ein Privileg der behüteten gesellschaftlichen Schichten. Natürlich gibt es auch im Prekariat echte Liebebeziehungen. Aber wenn man nicht weiß, wie man am Ende des Monats die Heizung, die Miete bezahlen soll, ob man genug Geld hat, dem Kind das Notwendigste zu geben, dann nimmt man schnell den Erstbesten, der einem gewisse Sicherheiten bieten kann, und verlässt ihn leider auch dann nicht sofort, wenn Gewalt ins Spiel kommt. ST

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Ab wann hat Wozzeck zum ersten Mal den Gedanken, Marie zu töten – denn von einer Affekttat wollen und können wir bewusst nicht ausgehen? Ich glaube, dass in seinem Unterbewusstsein schon sehr früh, wahrscheinlich von Anfang an, diese Option existiert. Er ist stets besessen vom Gedanken an den Tod, an Sterblichkeit und Vernichtung, er spricht von Blut, noch ehe er Marie mit dem Messer gegenübertritt. Wozzeck bemerkt offenbar nicht, wie sehr es in ihm arbeitet, dass er die ganze Zeit und nahezu von jedem Menschen heruntergemacht und ausgespottet wird. Wir haben keinen Otello vor uns, der erst durch die Machenschaften eines Jago aus der Spur gebracht wird, es gibt bei Wozzeck keinen Wendepunkt, keine Entwicklung. Er ist von Anfang an geknechtet und seelisch verkrüppelt. Die Entladung passiert einfach in dem Moment, in dem ihm sein Zustand gänzlich bewusst wird. Dieser Moment ist daher rein zufällig und hätte Monate früher oder später genauso passieren können. Aber noch einmal: Das ist keinerlei Entschuldigung für seine Tat. Deswegen ist es so wichtig, wie wir die Kinder erziehen, welches Bild wir ihnen von der Beziehung zwischen zwei Menschen vermitteln – und vorleben. ST

Nach dem Tod von Marie und Wozzeck bleibt das Kind der beiden als Waise zurück. Ist hier schon ein tragischer Grundstein für den zukünftigen, neuen Wozzeck gelegt? Nun, man kann es so lesen, dass das Kind am Ende der Oper tatsächlich schon von den anderen gequält wird und die Demütigungen schon in diesen frühen Jahren beginnen. Was wir auf jeden Fall lernen können: Während wir Erwachsenen mit unseren Schwierigkeiten beschäftigt sind, vergessen wir oft auf die Kinder und merken nicht, dass wir sie in unsere Probleme hineinreißen. Andererseits: Das Kind ist jung, und die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Wirklich bedenklich wäre es, wenn es schon an dieser Stelle begänne, mehr oder weniger subtile Aggressionen zu entwickeln. Aber davon ist keine Rede. Sein »Hopp-hopp« ist eher ein Zeichen der Unschuld. ST

→ Simon Stone, aus einem Fenster der Wohnung Alban Bergs in den Garten blickend, unter ihm das von Arnold Schönberg geschaffene Portrait Alban Bergs

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Philippe Jordan

ÜBER DIE »WOZZECK«MUSIK Mit Wozzeck kommt eine neue Sprache in die Operngeschichte. An dieser prominenten Wegmarke lässt Alban Berg im Musiktheater die altbekannte Tonalität hinter sich, die freilich schon weit zuvor, sehr deutlich etwa bei Richard Wagners Tristan und Isolde, stetig erweitert worden war. Viele Komponisten sind vom Tristan an weiter und weiter gegangen, bis das gewohnte System schließlich in der Zweiten Wiener Schule aufgegeben wurde. Das Beschreiten dieses ungewohnten, nicht mehr an eine Tonalität gebundenen Wegs (und Wozzeck gilt als erste wesentliche Oper dieser neuen Zeit) ist eine Phase der Befreiung. Wobei: Berg spielt durchaus noch mit Elementen aus der Tradition der westlichen Musikgeschichte und knüpft immer wieder auch an tonale Bezügen. Diese Freiheit, die er sich diesbezüglich gestattet, verweist auf sein Urmusikantentum, das jenseits einer zu strengen Prinzipienhaftigkeit steht. Gerade auch das macht ihn zu einem unglaublich publikumsfreundlichen Komponisten, der um die Notwendigkeiten der künstlerischen Freiheit wusste. So setzte Berg etwa spezifische Tonarten ein, die einen bestimmten Symbolcharakter haben oder auf etwas verweisen. Viele wissen, dass zum Beispiel d-Moll oftmals für den Tod steht – nicht umsonst ist Mozarts Requiem in dieser Tonart geschrieben. Der Epilog in Wozzeck, also das letzte Zwischenspiel, lässt d-Moll anklingen, ist also nichts anderes als ein Requiem für Wozzeck. Ein anderes Beispiel ist die Verwendung eines ganz normalen C-Dur-Akkords, Berg setzt ihn an der Stelle ein, an der Wozzeck Marie Geld gibt. Er hat also keine Scheu, auch zurückzublicken und sich des Vokabulars der Vergangenheit zu bedienen. Wobei es natürlich dennoch immer um das Vorwärtsschreiten geht: Schon die ersten beiden Akkorde der Oper waren im damaligen Musiktheater »neue« Klänge, man wusste also vom ersten Moment an, dass hier ein anderer Weg eingeschlagen wird. PHILIPPE JOR DA N

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Eine Besonderheit dieser Oper ist auch ihre formale Ausgestaltung. Alban Berg griff hier auf bekannte historische Formen zurück und legte sie den einzelnen Akten zugrunde. So besteht der erste Akt aus fünf Charakterstücken und beschreibt Wozzeck und die Menschen, die ihn umgeben. Jede Szene im ersten Akt hat eine andere musikalische Sprache. Für den Hauptmann etwa benutzt Berg Teile einer barocken Suite, Andres bekommt eine Rhapsodie, dann folgt Marie mit einem Marsch (weil sie den Tambourmajor bewundert) und einem Wiegenlied, der Doktor wird mit einer Passacaglia umschrieben und zuletzt erlebt man den Tambourmajor mit einem Marsch in einer Rondoform. Spannend finde ich besonders die barocke Suitenform der ersten Szene mit unterschiedlichen Teilen wie Präludium, Gigue, Air und so weiter. Warum setzt Berg diese Formen ein? In dieser Szene erlebt man den gnaden- und empathielosen Hauptmann, der redet und redet und ein Thema nach dem anderen anschneidet. Es geht um den Wind, das Wetter, die Zeit, die Moral, es sind viele unterschiedliche Konversationsmomente – und ihnen entsprach Berg jeweils mit einem anderen Teil der Suite. Das Vielteilige der Sprechthemen wird also durch die Vielfalt der Suite dargestellt. Berg schafft darüber hinaus musikalische Bilder, so erklingt beim Wetterthema eine Gigue, ein Tanz in einem Dreiertakt, dessen Beschwingtheit für den Wind steht. Die barocke Suitenform verweist darüber hinaus auch auf jene Epoche, in der die italienische Commedia dell’arte ihre Hochblüte erlebte – und Elemente der historischen Commedia-Figuren findet man in Wozzeck an vielen Stellen. Der Hauptmann, der Doktor und der Tambourmajor, alle drei tragen unverkennbare Stilelemente der Commedia dell’arte in sich, gerade in ihren Schablonenformen und Überzeichnungen. Ihre Typenhaftigkeit erkennt man übrigens schon daran, dass sie keine Eigennamen haben, sondern nur durch ihre Berufe definiert werden – ganz im Gegensatz zu den auch musikalisch zutiefst menschlich gezeichneten Figuren von Wozzeck und Marie. Berg schreibt für den Hauptmann einen Tenor-Buffo, für den Doktor einen Bass-Buffo vor, bereits in der Anlage findet sich also das Komische – wobei dieses kritisch gemeint ist. Denn wir erleben eine eiskalte Welt rund um diese im Grunde bitterbösen Figuren. Durch die ihnen innewohnende Ironie und die genannten Commedia dell’arte-Anklänge bekommen sie etwas Komisch-Böses, was sie allerdings noch grausamer macht. Eine Bissigkeit und Schärfe, die auch musikalisch in die Charaktere eingeschrieben ist. Die Formenorientierung wird auch in den anderen Akten beibehalten: Der zweite Akt ist nach dem Modell einer klassischen Symphonie in fünf Sätzen geformt, und der dritte besteht aus sechs Inventionen. Warum aber diese Formen? Berg war es, auch aufgrund der neuen Musiksprache, durchaus wichtig, den Ausführenden wie auch dem Publikum durch bekannte Strukturen eine Orientierung zu geben. Manchmal sind sie deutlich hörbar, manchmal weniger klar, aber sie sind vorhanden. Für uns Interpreten ist das Wissen um den Aufbau grundlegend, es ist wie eine Landkarte, die 23

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einem Orientierung verschafft. Man kann debattieren, ob die Formen für die Handlung wichtig sind, für den inneren musikalischen Zusammenhalt jedenfalls sind sie es in höchstem Maße. Und auch für eine Hörerin oder einen Hörer ist es vielleicht spannend zu wissen, dass das zweite Bild eine Rhapsodie darstellt oder es im dritten Akt um Inventionen geht. Man muss es nicht wissen, aber je weiter man in die Tiefe geht, desto genauer versteht man das Stück, wie ich ja ganz generell glaube, dass, je mehr jemand weiß, umso größer seine oder ihre Freude am Erlebten ist. Der Komplexität der Oper korrespondiert übrigens auch die verfasste Literatur über Wozzeck, es gibt unzählige Analysen und Aufsätze, die sich mit dem Werk, seiner Struktur, mitunter auch mit Einzelaspekten beschäftigen. Dass man sich zu Alban Bergs Zeit theoretisch so intensiv mit dieser Oper beschäftigt hat, ist klar – es war, siehe oben, eine neue musikalische Sprache, die man erst erlernen musste. Aber auch heute ist die Darstellung und erklärende Analyse des komplexen musikalischen Baus dieser Oper eminent wichtig. Gerade für die ausführenden Künstlerinnen und Künstler. Ich erinnere mich noch, wie ich zum ersten Mal – noch als Korrepetitor – an Wozzeck herantrat: Ich habe pro Seite einen Tag gebraucht, um das Stück in die Finger zu bekommen. Dabei hat mir die Lektüre über die einzelnen verwendeten Formen sehr geholfen, um die Struktur der Oper zu verstehen und mich zurechtzufinden. Ein weiteres Beispiel für die musikdramaturgische Wirkungsmacht Bergs ist die Verwendung des Tones H, für Berg ein Todeston, der immer dann ganz präsent ist, wenn es in Wozzeck um das Sterben oder den Mord geht. So hört man ihn ganz deutlich, wenn Wozzeck nach dem Ringkampf mit dem Tambourmajor sagt: »Einer nach dem anderen«. Und natürlich dominiert er in der zweiten Szene des dritten Aktes, beim Mord an Marie. Die lauernde Gefahr, die Berg da eindrücklich zum Ausdruck bringt, die bekommt man auch emotional mit, ganz ohne musikalisches Hintergrundwissen. Ein weiteres ganz charakteristisches und wiedererkennbares Element der Wozzeck-Musiksprache sind die unterschiedlichen (Figuren-)Motive, die in dieser Oper vorkommen. Hier kann man auf eine Wagner-Tradition verweisen – Berg war ja ein großer Wagner-Kenner. Auch diese Motive sind wie die genannten Formen unter anderem eine Orientierungshilfe für die Zuhörerinnen und Zuhörer, sie haben aber ebenso eine Bedeutung in der Erzähltechnik und geben Aufschluss über Hintergründiges. Auch die Zwischenspiele sehe ich als Teil des Wagner-Erbes, das über Berg bis Benjamin Britten reicht und das jeder auf seine Weise, aber alle gleichermaßen kongenial erweitert haben. In Wozzeck sind die Zwischenspiele Seelenräume, Klangräume, die vom Publikum sehr intuitiv und direkt begriffen werden können. Und sie gehören zu jenen Teilen der Oper, die sehr stark wirken, Atmosphäre erzeugen und durch ihre besondere Klanglichkeit auch aufs erste Hören »verstanden« werden können. In ihnen merkt man übrigens immer wieder auch den EinPHILIPPE JOR DA N

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fluss Claude Debussys, vor allem jenen von Pelléas et Mélisande. Das zeigt sehr deutlich, dass die Zweite Wiener Schule nicht nur in ihrem Saft geschmort, sondern alle Erneuerer der Musik rezipiert hat. Wir sehen, wie offen Bergs Gedankenwelt war oder ganz allgemein: Wie sich die Komponisten der Zeit umgeschaut und über ihren Horizont geblickt haben. Faszinierend finde ich jedes Mal aufs Neue den Gedanken, dass es sich bei Wozzeck um Bergs Opern-Erstling handelt. Ganz ohne Vorstufe hat er mit einem Mal eine Oper geschaffen, die einfach perfekt ist und es scheint, um mit Schönberg zu sprechen, als hätte Berg nie etwas anderes gemacht. Natürlich, Büchners Vorlage ist großartig und Berg war durch sie zutiefst inspiriert. Aber dennoch: Diese unglaubliche Fantasie, die technische Vollkommenheit, das Gespür für Dramaturgie, all das ist verblüffend! Ich dirigierte vor Kurzem die Altenberg Lieder von Berg aus den Jahren 1911/12, also ein Werk, das rund zehn Jahre vor dem Wozzeck geschrieben wurde. Am ehesten kann man in ihnen so etwas wie einen Vorlauf zu der Oper sehen, wobei man noch merkt, dass ihm an manchen Stellen die Erfahrung fehlte. Es ist noch ein bisschen »überinstrumentiert«, man muss als Dirigent also noch helfend eingreifen – was beim Wozzeck kaum mehr notwendig ist. Berg war übrigens nicht nur ein akribischer Arbeiter, der eine Fülle von Querbezügen in seine Musik eingeschrieben hat, er ging zum Teil sogar so weit, Details wie das wechselnde Tempo beim Fallen und Öffnen des Vorhangs zu bestimmen. Daran erkennt man, wie wichtig dem Dramaturgen Berg alle Elemente eines Abends waren – und nicht nur die Musik. Dies betrifft auch die Dynamik und die Agogik – Berg notiert sehr viel die Interpretation Betreffendes in der Partitur. Vielleicht empfindet der eine oder die andere diese Fülle als Einschränkung des Interpretierenden, ich aber finde, dass trotz dieser großen Detail-Genauigkeit (die erst einmal erfüllt werden muss!) in der Mehrdeutigkeit vieler Aspekte (wie etwa bei Tempowechseln oder Tempoangaben) eine ausreichende Freiheit besteht – wie auch eine Verwandtschaft mit Gustav Mahler. Apropos Mehr- und Vieldeutigkeit: Einer der faszinierenden Aspekte des Werks ist der Schluss, der mehrere Sichtweisen zulässt. Man kann in den Hopp-Hopp-Rufen des Kindes einen hoffnungslosen Befund hören, das Ende aber gleichermaßen offen sehen. Ich persönlich sehe da ein Fragezeichen und ein Rufzeichen: Ist das Kind, das keinen Vater und keine Mutter mehr hat, der nächste Wozzeck? Hat das Kind überhaupt eine Chance, diesem Kreislauf zu entkommen? Berg stellt uns diese Frage – und jeder Generation, die Wozzeck spielt und hört. Hier sind wir aufgefordert, weiterzudenken, und vielleicht auch zu verhindern, dass das nicht mit großen, klassischen Schlussakkorden endende, sondern offene Finale an den Anfang der Oper verweist und damit das tragische Spiel aufs Neue beginnt. Mit dieser auch hörbar offenen Frage und nicht beschließenden Antwort hat Berg auch in den letzten Takten noch einmal mit der Tradition gebrochen und etwas Genial-Neues geschaffen!

Ü BER DIE »WOZZECK«-MUSIK




Barbara Meier

SUITE, MOTIV, KAMMERMUSIK

Musikalische Einblicke in die erste Szene der Oper


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Der erste Akt führt die Gegenspieler vor, den Hauptmann, den Doktor, den Tambourmajor, Marie, die Wozzeck betrügt. Ihren jeweiligen Szenen hat Berg Titel traditioneller musikalischer Formen gegeben. Der Hauptmann, den Wozzeck rasiert, ein Tenorbuffo, wird mit Tanzcharakteren aus der barocken Suite dargestellt. Pavane, dem langsamen Schreittanz, entsprechen die selbstgefällige, joviale Attitüde des Vorgesetzten und sein zwanghaftes Bedürfnis nach Langsamkeit, das aus der Angst des Neurotikers vor der ungeheuren Zeit entsteht: Langsam, Wozzeck, langsam! Nervöse Figuren der obligaten Holzbläser bestimmen den Klang, Triolen ohne Ausdruck betonen den Leerlauf der Zeit, ein Angstmotiv ist mehrmals zu hören, groteske Sprünge kennzeichnen den Hysteriker. Wozzeck, Bariton, bleibt 126 Takte lang nahezu stumm, wiederholt bloß mechanisch seine Gehorsamsformel: Jawohl, Herr Hauptmann! Im folgenden Abschnitt, einer schnellen Gigue, gefällt sich der Hauptmann in der Rolle des Spaßvogels. Das Vergnügen an der Bloßstellung des Untergebenen belebt ihn so, dass er in lärmendes Gelächter ausbricht, ein Lachen, das Wozzecks Gehorsamsformel nachäfft. Die Quasi-Gavotte zeigt ihn schließlich in der Rolle des moralisierenden Eiferers. Er habe ein Kind ohne den Segen der Kirche, hält er Wozzeck vor. Begleitet von vier Trompeten, schwadroniert er über Moral, steigert sich bei diesem Wort bis zum hohen c, mo-ra-lisch bringt er nur noch im Falsett heraus. In die zu Phrasen verkommene Sprache über Moral passt dann auch sein gönnerhaftes Motiv Ein guter Mensch mit dem sentimentalen Sextsprung. Jetzt aber erhebt Wozzeck seine Stimme in einem 18 Takte langen Lamento über Tugend und Armut, quasi die Air der Suite, begleitet vom zwölftönigen Streichersatz. Der Beginn wird zu einer Art Leitmotiv der Oper: Wir arme Leut! Orchesterinstrumente variieren es, und wenn dieses Motiv das Wort tugendhaft begleitet wird deutlich, wie Armut und Tugend zusammenhängen. Wozzecks Klage gipfelt im einzigen größeren Melisma: selbst im Himmel müssten die Armen noch donnern helfen. Aber die Verhältnisse lassen nicht einmal Empörung zu, die Kontrabässe begleiten Wozzecks Anklage mit dem Rhythmus seiner Gehorsamsformel: Jawohl, Herr Hauptmann. Schon diese erste Szene ist ein Beispiel dafür, wie genau die Musik dem Text folgt; die kammermusikalische Behandlung des Orchesters verdeutlicht die Entwicklung der Motive und ihr Zusammenspiel. Nach einer kurzen Reprise gibt es bei geschlossenem Vorhang ein Zwischenspiel. Die Verwandlungsmusiken, sinfonische Abschnitte innerhalb der Oper, reflektieren das Geschehen, erheben Einspruch. Das Angstmotiv in den Blechbläsern sowie die schnellen Triolen der Gigue kehren wieder, und auf dem Höhepunkt wird das Motiv Wir arme Leut! zur leidenschaftlichen Anklage. Gleichzeitig spielen die Bässe die Gehorsamsformel in immer hastigeren Notenwerten und leiten über zum nächsten Bild.

BA R BA R A MEIER




Alban Berg

DAS » OPERNPROBLEM « PRO MUNDO

Anlässlich der Premiere einer modernen Oper um Ähnliches befragt, habe ich unlängst in einem Programmbuch Folgendes geschrieben. Ich glaube damit auch im allgemeinen zum »Opernproblem« Stellung genommen zu haben. »Wie denken Sie über die zeitgemäße Weiterentwicklung der Oper?« – so, wie ich über jede Entwicklung in Kunstdingen denke: Dass nämlich eines Tages ein Meisterwerk geschrieben sein wird, das so sehr in die Zukunft weist, dass man auf Grund seines Daseins von einer »Weiterentwicklung der Oper« wird reden können. Die Verwendung »zeitgemäßer« Mittel wie Kino, Revueartiges, Lautsprecher, Jazzmusik gewährleistet ja nur, dass ein solches Werk zeitgemäß ist. Aber ein wirklicher Fortschritt kann das wohl nicht genannt werden; denn ebenda sind wir ja angelangt, können also dadurch allein nicht weiterkommen. Damit man von der Kunstform der Oper wieder einmal sagen kann, sie habe sich weiterentwickelt – wie dies zum Beispiel durch Monteverdi, Lully, Gluck, Wagner und zuletzt durch Schönbergs Bühnenwerke geschehen ist –, bedarf es wohl anderer Mittel als der bloßen Heranziehung der letzten Errungenschaften und alles dessen, was gerade beliebt ist. Aber muss denn immer »weiterentwickelt« werden? Genügt nicht die Gelegenheit, zu gutem Theater schöne Musik zu machen oder – besser gesagt: so schöne Musik zu machen, dass – trotzdem – gutes Theater daraus wird? A LBA N BERG

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Und da bin ich auch bei meiner persönlichen Stellungnahme zum »Opern­ problem« angelangt, über die zu sprechen mir ein Bedürfnis ist, weil ich damit einen Irrtum richtigstelle, der über diese meine Stellungnahme gleich beim Bekanntwerden meiner Oper Wozzeck aufgetaucht war und seither allgemeine Verbreitung gefunden hat. Man verzeihe mir also dieses PRO DOMO. Es ist mir nicht im Schlaf eingefallen, mit der Komposition des Wozzeck die Kunstform der Oper reformieren zu wollen. Ebenso wenig wie dies Absicht war, als ich sie zu komponieren begann, ebenso wenig habe ich je das, was dann entstanden war, für etwas gehalten, was für ein weiteres Opernschaffen – sei es das eigene oder das anderer Komponisten – vorbildlich sein sollte und auch nicht angenommen oder gar erwartet, dass der Wozzeck in diesem Sinne »Schule machen« könnte. Abgesehen von dem Wunsch, gute Musik zu machen, den geistigen Inhalt von Büchners unsterblichem Drama auch musikalisch zu erfüllen, seine dichterische Sprache in eine musikalische umzusetzen, schwebte mir in dem Moment, wo ich mich entschloss, eine Oper zu schreiben, nichts anderes, auch kompositionstechnisch nichts anderes, vor, als dem Theater zu geben, was des Theaters ist, das heißt also, die Musik so zu gestalten, dass sie sich ihrer Verpflichtung, dem Drama zu dienen, in jedem Augenblick bewusst ist – ja weitergehend: dass sie alles, was dieses Drama zur Umsetzung in die Wirklichkeit der Bretter bedarf, aus sich allein herausholt, damit schon vom Komponisten alle wesentlichen Aufgaben eines idealen Regisseurs fordernd. Und zwar all dies: unbeschadet der sonstigen absoluten (rein musikalischen) Existenzberechtigung einer solchen Musik; unbeschadet ihres durch nichts Außermusikalisches behinderten Eigenlebens. Dass dies mit Heranziehung von mehr oder weniger alten musikalischen Formen geschah (was als eine der hauptsächlichsten meiner angeblichen Opernreformen angesehen wurde), ergab sich ganz von selbst. Schon die Notwendigkeit, von den 26 losen, teils fragmentarischen Szenen Büchners eine Auswahl für mein Opernbuch zu treffen, hierbei Wiederholungen, soweit sie musikalisch nicht variationsfähig waren, zu vermeiden, weiter diese Szenen eventuell zusammenzuziehen und aneinanderzureihen und sie gruppenweise in Akte zusammenzufassen, stellte mich – ob ich wollte oder nicht – vor eine mehr musikalische als literarische Aufgabe, die nur mit den Gesetzen der musikalischen Architektonik zu lösen war und nicht mit denen der Dramaturgie. Die durch eine solche Auswahl und Zusammenziehung erübrigten 15 Szenen nun aber abwechslungsreich zu gestalten, wodurch allein ihre musikalische Eindeutigkeit und Einprägsamkeit gewährleistet erscheint, verbot aber erst recht, so wie dies häufig üblich ist, sie lediglich auf ihren literarischen Inhalt hin fortlaufend »durchzukomponieren«. Eine absolute, in der Struktur so reiche, das dramatische Geschehen noch so treffend illustrierende Musik hätte nicht verhindern können, dass sich, schon nach einer kleinen Anzahl von auf diese Weise komponierten Szenen, das Gefühl musikalischer Monotonie bemerkbar gemacht hätte, ein Unlustgefühl, das durch die Serie von einem 33

DAS »OPER N PROBLEM«


Dutzend Zwischenaktsmusiken, die formell auch nichts anderes böten als die Erfüllung der Konsequenzen einer solchen musikalisch illustrierenden Schreibweise, nur noch eine bis zur Langweile gesteigerte Verschärfung erfahren hätte. Und Langweile ist doch das Letzte, was man im Theater empfinden darf! Indem ich nun der gebieterischen Forderung, auch musikalisch jeder dieser Szenen, jeder der dazu gehörenden Zwischenaktsmusiken (sei es in Form von Vor-, Nach-, Überleitungs- und Zwischenspielen) sowohl ihr eigenes, unverkennbares Gesicht als auch Abrundungen und Geschlossenheit zu geben, gehorchte, ergab sich von selbst die Heranziehung dessen, was eine solche Charakteristik einerseits und Geschlossenheit andererseits verbürgt: die vielbesprochene Heranziehung alter und neuer musikalischer Formen, und zwar auch solcher sonst nur in der absoluten Musik verwendeten. Ihre Einbeziehung in das Gebiet der Oper mag in mancher Hinsicht und in einem so großen Ausmaß ungewöhnlich, ja neu gewesen sein; ein Verdienst aber war es, nach dem, was ich hier gesagt habe, nicht! So dass ich die Behauptung, ich hätte mit derlei Neuerungen die Kunstform der Oper reformiert, entschieden zurückweisen kann und muss. Da ich aber durch diese Erklärung mein Werk nicht selbst verkleinern will, was ja andere, die es nicht so gut kennen, viel besser besorgen können, will ich gerne etwas verraten, was ich dennoch als mein ausschließliches Verdienst ansehe: Mag einem noch so viel davon bekannt sein, was sich im Rahmen dieser Oper an musikalischen Formen findet, wie das alles streng und logisch »gearbeitet« ist, welche Kunstfertigkeit selbst in allen Einzelheiten steckt ... von dem Augenblick an, wo sich der Vorhang öffnet, bis zu dem, wo er sich zum letzten Male schließt, darf es im Publikum keinen geben, der etwas von diesen diversen Fugen und Inventionen, Suiten- und Sonatensätzen, Variationen und Passacaglien merkt – keinen, der von etwas anderem erfüllt ist als von der weit über das Einzelschicksal Wozzecks hinausgehenden Idee dieser Oper. Und das – glaube ich – ist mir gelungen!

→ Alban Berg, aus einem Fenster seiner Wohnung in den Garten blickend, unter ihm sein von Arnold Schönberg geschaffenes Portrait

DAS »OPER N PROBLEM«

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Constantin Floros

DER » EPILOG « DER OPER ALS » BEKENNTNIS DES AUTORS «

Im Mai 1929 hielt Alban Berg in Oldenburg anlässlich der Neueinstudierung des Wozzeck seinen berühmt gewordenen Einführungsvortrag. Hier kam er auch auf das Orchesterzwischenspiel vor der Schlussszene zu sprechen, nannte es den »Epilog« der Oper und bezeichnete es als »Bekenntnis des Autors«.


Wörtlich heißt es hier: »Es ist vom dramatischen Standpunkt aus als der dem Selbstmord Wozzecks folgende ›Epilog‹ aufzufassen, als ein aus dem handlungsmäßigen Geschehen des Theaters heraustretendes Bekenntnis des Autors, ja als ein Appell an das gleichsam die Menschheit repräsentierende Publikum. Vom musikalischen Standpunkt aus stellt dieses letzte Orchesterzwischenspiel eine thematische Durchführung aller wichtigen, in Beziehungen zu Wozzeck getretenen musikalischen Gestalten dar.« Was Berg hier andeutet, vermag eine semantische Analyse der Musik zu verdeutlichen und zu konkretisieren. Das Orchesterzwischenspiel – als »Invention über eine Tonart« konzipiert – weist eine dreiteilige Form mit stark verkürzter und variierter Reprise auf (A - B - A’). Die Substanz des ersten Teils entnahm Berg im Wesentlichen einer unpubliziert gebliebenen frühen Klaviersonate in d-Moll, die im Autograf die Nummer IV trägt. Außerdem legte er dem Stück die wichtigsten Leitmotive der Oper zugrunde. Betrachtet man die Reihenfolge ihres Auftretens, so erkennt man, dass in den Eckteilen dieses Epilogs – sieht man von einer Reminiszenz an das Andres-Motiv T. 339-341 ab – nur Wozzeck-Motive vorkommen. So erklingt am Ende des ersten Teils das Motiv des gehetzten Wozzeck in mehrfacher Diminution. Der Mittelteil zitiert und verarbeitet hingegen die Motive des Doktors und des Hauptmanns, die in kontrapunktischer Verflechtung ertönen, und bezieht sich dann auf die Verführungsszene. Das heißt: Die Musik mehrerer Takte aus dem Andante affettuoso der Verführungsszene (I. Akt T. 656-660) kehrt hier in kunstvoller Variation wieder (= Epilog T. 352-357). Nach der Intonation des Motivs des Tambourmajors T. 357/358 kulminiert der Mittelteil in dem Wir arme Leut-Motiv und in dem berühmten Zwölftonakkord, der die Funktion einer mächtigen Dominante vor dem Schlussteil übernimmt. Die stark verkürzte Reprise evoziert noch einmal das Schicksal Wozzecks und wird von dessen »fatalistischem« Motiv dominiert. Ein Hörer, der die Oper einigermaßen kennt, wird nicht verkennen können, dass die Musik dieses letzten Orchesterzwischenspiels Wozzecks – des Antihelden – gedenkt. Sie erinnert an die Personen, die im Leben des Ertrunkenen eine Rolle gespielt haben, an seinen Freund Andres, an den Doktor, den Hauptmann, den Tambourmajor, und sie erinnert vor allem an die entscheidende Szene der Oper: die Verführungsszene. Der Epilog ist als »Bekenntnis des Autors« gedacht, das heißt: er verleiht dem Mitgefühl Bergs für den gequälten Menschen Ausdruck, der, von den Vorgesetzten gepeinigt und erniedrigt, von der Geliebten betrogen, vom Nebenbuhler gedemütigt, von der Umwelt verspottet, von Wahnideen geplagt, zum Mörder wurde. → Nächste Seiten: Anja Kampe als Marie und Michael Andrusenko als Kind

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CONSTA N T IN FLOROS




Theodor W. Adorno

ZUR CHARAKTERISTIK DES » WOZZECK « Im Fall des Wozzeck, wo der Anspruch des musikalischen Werkes dem des literarischen gleicht, dem es sich anschließt, ist über das Verhältnis der beiden Gebilde nachzudenken. Musik könnte solcher Dichtung gegenüber überflüssig erscheinen, bloße Wiederholung von deren eigenem hintergründigen Gehalt, von dem, was sie zur Dichtung macht. Um zu begreifen, was Bergs unendlich ausgearbeitete Oper mit dem absichtsvoll skizzenhaften Fragment Büchners eigentlich zu tun hat, was die beiden der ästhetischen Ökonomie nach zusammenbrachte, wird man wohl daran sich erinnern müssen, dass zwischen der Dichtung und der Komposition einhundert Jahre liegen. Das von Berg Komponierte ist nichts anderes, als was während der vielen Jahrzehnte der Vergessenheit in Büchner heranreifte. Die Musik, von der es getroffen wird, hat dabei insgeheim polemischen Zug. Sie spricht: so fremd, so wahr, so menschlich wie ich selber bin, ist das was ihr vergessen, was ihr nie auch nur erfahren habt, und indem ich es euch vorstelle, lobe ich dies andere. Die Oper Wozzeck meint eine Revision der Geschichte, in welcher Geschichte zugleich mitgedacht wird; die Moderne der Musik hebt die des Buches hervor, eben weil es alt ist und sein Tag ihm vorenthalten ward. So wie Büchner dem gequälten, wirren und in seiner menschlichen Entmenschlichung über alle Person hinaus objektiven Soldaten Wozzeck Gerechtigkeit widerfahren ließ, so will die Komposition Gerechtigkeit für die Dichtung. Die leidenschaftliche Sorgfalt, mit der sie gleichsam das letzte Komma in ihrer Textur bedenkt, bringt ans Licht, wie geschlossen das Offene, wie vollendet das Unvollendete bei Büchner ist. Das ist ihre Funktion, nicht die der psychologischen Untermalung, nicht Stimmung oder Impression, obwohl sie Elemente von alldem nicht verschmäht, sobald es gilt, das Verschüttete des Werks ins Licht zu rücken. Hofmannsthal sagte einmal vom Text des Rosenkavaliers, die Komödie T HEODOR W. A DOR NO

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für Musik sei dieser bestimmt als dem, was nicht in den Menschen, sondern zwischen ihnen ist. Genauer als für die Straussische Oper gilt das für die Bergs, eine Art Interlinearversion ihres Textes. Sie legt nicht die Gefühle der Menschen bloß aus, sondern trachtet, von sich aus einzuholen, was die hundert Jahre an den Büchnerʼschen Szenen vollbrachten, die Verwandlung eines realistischen Entwurfs in ein von Verborgenem Knisterndes, darin jegliches Ausgesparte des Wortes ein Mehr an Gehalt verbürgt. Dies Mehr an Gehalt, dies Ausgesparte offenbar zu machen – dafür ist die Musik im Wozzeck da. Sie gleitet mit unbeschreiblich gütiger Hand über das Fragment, besänftigt und glättet alles Herausstehende, Herausstechende darin, möchte die Dichtung trösten über die eigene Verzweiflung. Ihr Stil ist einer des lückenlosen Ineinandergepasstseins. Auch sie handhabt die Kunst des Übergangs weit über das hinaus, was Wagner je unter dem Begriff dachte, treibt sie bis zur universalen Vermittlung. Vorm Äußersten schreckt sie nicht zurück, die abgründige Traurigkeit ihres süddeutsch-österreichischen Tons nimmt das Büchnerʼsche Trauerspiel ganz in sich auf, aber in einer Geschlossenheit und Immanenz der Form, die Ausdruck und Leiden Bild werden lässt, dadurch rein aus sich heraus etwas wie eine Berufungsinstanz jenseits. Dies Ineinandergefugte und -gefügte der Musik, ihr Sprungloses, entscheidet. Verfehlt es die Aufführung nur einmal; zerreißt auch nur für eine Sekunde das Gewebe, so schlägt das akustische Bild ins Chaotische um. Was dann heraufkommt, ist freilich ein Moment der Sache selbst, jenes fassungslose Espressivo, das der äußersten Disziplin durch Konstruktion und Klang bedarf, wenn es nicht ins Diffuse stürzen soll. In der Spannung zwischen dem andrängend Unbewussten und einem fast optisch architektonischen Sinn für geschlossene Flächen lebt Bergs Musik insgesamt. Er selber sagte vom Wozzeck, er sei eine Piano-Oper mit Ausbrüchen. Erst seit die gedruckte Partitur allgemein zugänglich ist, kann man ganz ermessen, wie wahr das ist. Weite Strecken, so gleich in der Suite, mit der der erste Akt beginnt, sind wirklich kammermusikhaft, solistisch musiziert, nur gelegentlich ist einiges sehr komplex gesetzt, und das Tutti vollends ist für die wenigen dramatischen Wendestellen aufgespart. Solche Ökonomie des Klangs fördert die Dichte des Gewebes aufs äußerste durch die vollkommene Deutlichkeit und Eindeutigkeit eines jeden musikalischen Ereignisses. Ohne viel Paradoxie lässt sich von dem heute noch schwierigen, viele Proben erheischenden Gebilde behaupten, es sei einfach: weil nicht eine Note, nicht eine Instrumentalstimme steht, die nicht unbedingt zur Realisierung des musikalischen Sinns – des Zusammenhangs – notwendig wäre. Wahrhaft sachliche Setzweise straft alle die Lügen, die von nachtristanischer Spätromantik schwatzen, um eine Musik billig in die Vergangenheit abzuschieben, bei der sie bis heute nicht mitkamen. Zu lernen ist am Wozzeck vorab, was Ausinstrumentieren heißt. Gerade die stets noch herrschenden Vorstellungen über Orchestration sind in einem Zustand, über den etwa ein Maler, dem die Farbe als integrierendes Moment 41

Z U R CH A R A KT ER IST IK DE S »WOZZECK«


seiner Arbeit selbstverständlich ist, nur den Kopf schütteln könnte. Auf der einen Seite ist der grauslige Begriff der ›glänzenden Orchesterbehandlung‹, eines musikalischen Rosstäuscherverfahrens, das Musik möglichst bunt und knallig aufzäumt, um ihre Dürftigkeit zu verdecken, erneut in Schwang gekommen, als hätte nicht die neue Musik in ihren bedeutenden Exponenten solche Künste ein für allemal widerlegt. Andererseits befleißigen die, welche den falschen Reichtum nicht mögen, sich einer Askese, die am liebsten das Glück der Farbe aus der Musik überhaupt verbannen möchte und damit die Eroberung der Klangdimension als eines wesentlichen kompositorischen Sektors rückgängig macht. Die Wozzeckpartitur steht korrektiv gegen beides. Das Orchester realisiert die Musik im Cézanneʼschen Sinn des réaliser. Die gesamte kompositorische Struktur, von der Gliederung im großen bis hinein ins feinste Geäder der Motivbildung, wird in Farbvaleurs offenbar. Umgekehrt erscheint keine Farbe, die nicht ihre präzise Funktion für die Darstellung des musikalischen Zusammenhangs besäße. Der Formdisposition entspricht durchweg die orchestrale; concertinoähnliche Ensemblekombinationen und Tuttiwirkungen sind aufs sorgfältigste gegeneinander ausgewogen. Die Kunst des klanglichen Kitts, des unmerklichen Gleitens von einer Farbe in die andere ist beispiellos. Die Atmosphäre dieses Orchesters aber, das selbstvergessen in die Hohlräume hinter den Büchnerʼschen Worten sich versenkt, ist keine Stimmungszauberei. Sie stammt aus der Kraft zur Nuance, und die ist eins mit der des Ausinstrumentierens, der Übersetzung noch des leisesten kompositorischen Impulses in seine sinnlichen Äquivalente. Die Einfachheit der Partitur kann man vielleicht am besten im Vergleich mit Strauss erläutern. Im Heldenleben, in der Salome geht eigentlich auf dem Papier viel mehr vor, als man dann im Orchester hört; ein Großteil des Geschriebenen bleibt ornamental und Füllung. Bei Berg sieht alles, eben vermöge der völligen Unterordnung des Orchesters unter die musikalische Konstruktion, fast geometrisch klar aus, wie auf einer Architekturzeichnung, und der volle Reichtum des Komponierten erschließt sich erst bei der Aufführung. Es gibt nichts Überflüssiges in der Partitur, sie macht keine Umstände, und die differenziertesten Klänge – wie die berühmten Teichimpressionen von Wozzecks Todesszene – erweisen sich zuweilen als Kolumbusei. Das Weggelassene bezeugt kein geringeres Gestaltungsvermögen als das Geschriebene: eine Ökonomie, die allein der überquellenden Musiksubstanz Bergs die Verbindlichkeit der Form schenkt. Manche Szenen, die im Klavierauszug überaus kompliziert sich ausnehmen, wie die zweite des zweiten Akts, Fantasie und Tripelfuge, gewinnen in der Partitur eine Plastik und Durchsichtigkeit, die von der Praxis der Operntheater erst noch eingeholt werden muss, von Boulez erstmals eingeholt wurde. Die Geschlossenheit des Gefüges, die trotz allen dramatischen Ausdrucks krasse und primitive Kontraste meidet, wird bewirkt von der Konstruktion. Im Wozzeck wurde die Sprache der freien Atonalität zum ersten Mal in einem T HEODOR W. A DOR NO

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szenischen Werk von erheblicher Dauer gesprochen. Der Fortfall der Tonalität nötigte dazu, um so energischer andere Mittel zu entwickeln, die schlagkräftig den Zusammenhang herstellen. Das sind aber die einer wie nie zuvor aus der Tradition des Wiener Klassizismus im ganzen Umfang auf die Bühne übertragenen, motivisch-thematischen Arbeit. Sie klarzulegen, ist Aufgabe der diesmal Mahlerisch deutlichen Setzweise. Zu billig stellte man diese Konstruktion sich vor, verwechselte man sie mit den vielberufenen Formen der absoluten Musik, die im Wozzeck gebraucht sind. Diese garantieren zwar die Organisation des Zeitverlaufs über größere Flächen, brauchen und sollen aber als solche nicht wahrgenommen werden, sondern sind gleichsam unsichtbar, ähnlich etwa wie später die Reihen in einer guten Zwölftonkomposition. Übrigens wird der Formzusammenhang verstärkt durch eine Reihe plastischer Leitmotive durchaus Wagnerisch-musikdramatischen Gepräges; die Tripelfuge in der Straßenszene des zweiten Akts etwa kombiniert drei der wichtigsten dieser Motive, das des Hauptmanns, das des Doktors und die tappenden Triolen von Wozzecks Hilflosigkeit. Weit wichtiger als all das jedoch ist die innere Zusammensetzung der Musik, das Gewebe. Als der Wozzeck geschrieben wurde, haben zahlreiche Komponisten, zumal Strawinski und Hindemith, sich um neue Autonomie der Opernmusik bemüht. Sie wollten sie aus ihrer Abhängigkeit vom poetischen Wort befreien. Auch im Wozzeck meldet die Musik neuen Anspruch auf Selbständigkeit in der Oper an. Aber Bergs Verfahren ist dem der Neoklassizisten genau entgegengesetzt: eines rückhaltloser Versenkung in den Text. Die Komposition des Wozzeck entwirft eine überaus reiche, vielfältig gegliederte Kurve des inwendigen Gesamtverlaufs: expressionistisch darin, dass sie ganz und gar in einem seelischen Innenraum spielt. Sie zeichnet jede dramatische Regung bis zur Selbstvergessenheit nach. Gerade dadurch indessen wird sie in sich ebenfalls so gegliedert, artikuliert, variierend entwickelt wie nur große Musik, wie Instrumentalsätze von Brahms oder Schönberg. In ihrer unerschöpflichen, aus sich selbst heraus sich erneuernden Entfaltung gewinnt sie ihre Autonomie, während jenen Opernmusiken, die sich von der Szene lossagen und hemmungslos draufloslaufen, eben dadurch Eintönigkeit und Langeweile drohen. Vielleicht ist es die tiefste Paradoxie der Wozzeckpartitur, dass sie musikalische Autonomie erlangt, nicht indem sie dem Wort opponiert, sondern als rettende diesem hörig folgt. Die Wagnerʼsche Forderung, das Orchester solle das Drama bis in die letzten Verästelungen mitvollziehen und damit zur Symphonie werden, verwirklicht der Wozzeck, und das endlich tilgt den Schein von Formlosigkeit im Musikdrama. Der zweite Akt ist buchstäblich eine Symphonie, mit aller Spannung und aller Geschlossenheit der Form, und gleichwohl so sehr Oper in jedem Augenblick, dass der Hörer, der es nicht weiß, an eine Symphonie nicht einmal denken wird. Nicht unnütz, gerade heute darauf hinzuweisen, dass der Wozzeck Oper ist und sich selbst so nennt. Denn im gegenwärtigen Theater für Opernhäuser 43

Z U R CH A R A KT ER IST IK DE S »WOZZECK«


tendiert Musik immer mehr zur Begleitmusik filmischen Wesens, zur Radiohörkulisse, zur bloßen Untermalung. Im Wozzeck dagegen, wo die Musik den Text gänzlich absorbiert, wird sie zur Hauptsache, und alle Konzentration, die der Aufführung wie die des Hörens, sollte ihr gelten. Mit genauestem Instinkt hat der Avantgardist Berg eine »realistische« Inszenierung verlangt, fraglos, um nicht von der Musik, als dem Wesentlichen, das Interesse abzuziehen. Sie ist thematisch; in jeder Szene plastische Motive oder Themen exponierend, sie verändernd, Geschichte ihnen zuteilend. Thematisch will sie auch gespielt werden, vor allem also so, dass die musikalischen Charaktere unbedingt erkennbar, Vordergrundfigur sind. Die Themen und was ihnen widerfährt muss man verfolgen, ob es nun die sonatengleich aus kleinsten Motiven abgeleiteten der Schmuckszene im zweiten Akt sind oder die des Scherzos, der großen Wirtshausszene, oder die Abwandlungen des aus Legendentonalität und ausbrechender Atonalität kühn montierten Variationenthemas von Mariens Bibelszene. Bei aller Klangphantasie, bei so frappanten Orchestereffekten wie dem bis zum Zerreißen crescendierenden h nach Mariens Tod oder den Wasserkreisen, wenn Wozzeck ertrinkt – stets ist der Klang sekundär, Ergebnis der rein musikalisch-thematischen Ereignisse, nur von diesen erzeugt. Konzentriert man sich auf sie etwa wie auf die Melodien in einer traditionellen Oper, wird alles andere von selbst offenbar, zumal der Bergʼsche Ton: die gläsern festgebannte Angst der Szene auf dem Feld, der zugleich grelle und getrübte Marsch hinter der Szene, das Wiegenlied, Echo der unterdrückten und aufsingenden Natur; der unsäglich melancholische Ländler der großen Wirtshausszene, Wozzecks abgründige Frage nach der Zeit, der unselige Schlaf in der Kaserne. Vulgärmusik, das arme beschädigte Glück der Dienstmädchen und Soldaten ist in der eigenen dinghaften Fremdheit vernommen und auskomponiert, aber nicht mit Strawinskiʼschem Spott, sondern zum Ausdruck verhalten, dem fessellosen Mitleids. Aus der dramatischen Phantasie heraus sind dabei die kompositorischen Mittel schon so erweitert, dass Vieles dreißig Jahre Spätere vorweggenommen wird: so die Einbeziehung des Rhythmus in die thematisch-variative Kunst, die man dann in der seriellen Musik wieder entdeckte: die rasche rohe Klavierpolka der ersten Takte in der zweiten Wirtshausszene ist das rhythmische Modell alles dessen, was dann in der Szene vorbeihastet. So vollkommen ist das Gebilde, dass es vom Hörer nichts anderes verlangt als die angespannte Bereitschaft zu empfangen, was es verschwenderisch schenkt. Er soll nicht zurückschrecken vor einer Liebe, die ohne Rückhalt dort die Menschen sucht, wo sie am bedürftigsten sind. Aus: Der Meister des kleinsten Übergangs

T HEODOR W. A DOR NO

→ Alban Bergs Flügel in seiner Wiener Wohnung, an der Wand ein Foto des von Berg verehrten Gustav Mahler

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Christian Gerhaher

EINE perfekte OPER

Es ist eine grundsätzliche Frage bei jeder nicht gerade sakralen Vokalmusik, wie sehr der ursprüngliche Text Opfer der späteren Vertonung geworden ist. Hier ist kein Unrecht geschehen: Wozzeck würde ich diesbezüglich als Idealbeispiel einer Literaturoper bezeichnen (übliche Libretti werden ja geschrieben, um vertont zu werden), und noch dazu eine geglückte, weil die Büchner’sche Vorlage vom Komponisten recht weitgehend respektiert wurde, radikale Kürzungen ausgeblieben sind und insgesamt der vertonte Text dem Dramenfragment Woyzeck doch äußerst ähnlich geblieben ist – besonders in ihrer für eine Oper dringend notwendigen Kürze und Sinnverdichtung. Das liegt natürlich eben am Original, das eine phänomenale Verdichtung von Sinnhaftigkeit im verbalen Ausdruck aufweist: Jede Wendung ist von schier unvergleichlicher »atomistischer« Prägnanz, von Schönheit des Erkennens, von Witz. Wie viel ist mitunter in einzelne Worte verpackt – das »Uff« des Hauptmanns im zweiten Akt beispielsweise bildet mir bereits einen grandiosen, hinreißenden Satz! Und Berg hat diese Sinnhaftigkeit durch seine CHR IST I A N GER H A HER

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Musik noch einmal klanglich präzisiert, ja vielleicht überboten. Wozzeck ist somit in seiner gehaltvollen Knappheit, Bedeutungstiefe und gleichzeitigen musik-formalen Vollendung eigentlich die schlechthin perfekte Oper – und trotz aller Düsterkeit und Tragik des Stoffes eine einzige Freude für den Geist. Von welchem anderen zuvor aufgeführten oder studierten Werk ich auch immer gerade komme – die Auseinandersetzung mit Wozzeck gewährt mir jedes Mal eine unvergleichliche Erfüllung, ein inneres Aufatmen. Hier erlebe ich durch die Vereinigung der Sinnhaftigkeit Büchner’scher Sätze (kein Wort zu viel) mit der Sinnlichkeit der Berg’schen Musik (kein Ton zu viel) jedes Mal neu einen Gipfel in der Geschichte des Musiktheaters (einzige Einschränkung des Lobpreises wäre vielleicht, dass Alban Berg einerseits noch keine wissenschaftlich redigierte Version benutzen konnte und so einige Szenen nicht vertont werden konnten und er andererseits ein paar geschmacklich motivierte Textanpassungen vorgenommen hat). Eine wichtige Frage ist, inwiefern Bergs doch sehr dezidierte, aber in ihrer Gesamtheit immens schwer verständliche Notation der Gesangsstimmen – es gibt angeblich gezählt mehr als 60 (!) verschiedene Notationsformen – eins zu eins verwirklicht werden muss und ob sie bis ins letzte Detail überhaupt konsistent verwirklichbar ist. Der Farbgestus des durchschnittlichen Operngesangs am Ende des 19. Jahrhunderts dürfte hinsichtlich seiner deklamatorischen Vielfalt jedenfalls ein gewisses Defizit mit sich gebracht haben, welchem dann, nicht zuletzt von Schönberg und seinem Schüler Berg, aber auch schon beispielsweise in Humperdincks zunächst als reine Deklamationsoper verfassten Königskindern, mit koloristischer Vielfalt zu begegnen versucht wurde. Spätestens nach der Jahrhundertwende stand eine vielfarbigere Gestaltung der Gesangslinie als Desiderat im Raum – und das eventuell mehr als eine hundertprozentige Trefferquote der Tonhöhe. In diesem Sinne mag auch die entsprechende Anweisung Bergs zu verstehen sein, nach der die Intervalle korrekt zu singen, aber – bei entsprechender Notation – die exakten Intonationen vernachlässigbar wären. Andererseits versicherte mich Heinz Holliger oft (und dezidiert genug, dass ich das einfach so nachplappern darf ), dass bei Berg, dem vielleicht größten Klangdenker des 20. Jahrhunderts, kein Ton zufällig oder gar zu viel wäre und dass jede Tonfolge im Gesamtgefüge ihren ganz eigenen Sinn hätte. Und so kann es doch eigentlich nicht sein, dass in diesem luzide-konzisen Klanggebilde kontingente Tonhöhen, der momentanen Eingebung und Befindlichkeit eines Darstellers folgend, ihren berechtigten Platz finden dürfen. Inhaltlich ist Wozzeck die Geschichte eines Mannes, der in jeder Hinsicht Opfer und jedem unterlegen ist: dem Hauptmann hierarchisch, dem Doktor intellektuell und sozial. Marie ist er sexuell unterlegen, und überhaupt als Partner. Von den ersten beiden lässt er sich, da er Geld braucht, um seine Familie zu ernähren, knechten und für fragwürdige medizinische Zwecke missbrauchen. Und von Marie wird der sich stets Unterordnende und of 47

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← Jörg Schneider als Hauptmann und Christian Gerhaher als Wozzeck

fensichtlich als unattraktiv, zumindest inkompatibel Empfundene spürbar missachtet. Die Beziehung der beiden ist offensichtlich ein einziges Unglück. Sieht man in unserer Inszenierung das gemeinsame Bett, kann man sich kaum vorstellen, dass der gehemmte, verschämte Wozzeck dort neben Marie jemals liegen könnte. Wenn der hin und her Hetzende dann doch einmal nach Hause findet, so wird er wohl in einem Sessel Platz nehmen, um dort kurz zu schlafen, ehe er sein erratisches Leben wieder aufnimmt. Dieses Leben als eine Flucht vor seiner Lösung, in Furcht vor einer Auflösung der Illusion eines finanziell, sozial und sexuell-amourös scheinbar geordneten, mindestens funktionierenden Daseins gerät aber immer mehr in eine Schieflage, in eine Art zunehmender Verengung der Möglichkeiten seiner Fortführung: Der Arzt unterzieht ihn einer nebenwirkungsreichen (Hyperurie, Halluzinieren) Hülsenfrucht-Diät, die zunehmend das Maß des Tragbaren überschreitet (»auf der Straße gepisst wie ein Hund«), der narzisstische Sadismus des Hauptmanns (»O er ist dumm, ganz abscheulich dumm«) wird immer unerträglicher, und schließlich noch der ihn physisch wie psychisch demütigende Tambourmajor… Das schicksalhaft Entscheidende aber ist Maries unverhohlene Affäre mit diesem als Konsequenz ihrer Mesalliance, selbst eine Folge ihrer sozial prekären Situation (erster Dialog mit Margret). Warum Wozzeck diese Nicht-Beziehung überhaupt so lange aufrechterhält? Vielleicht sucht er eine stellvertretende Bedeutung seiner Existenz: Mit der Gegenwart, der aktuellen Situation weiß er nie etwas anzufangen, das Abliefern des soeben verdienten Geldes könnte aber ein befriedigendes tägliches Ziel sein (über einem für mehrere Takte liegenden C-Dur-Akkord) – Ersatz für ein Leben ohne Entwicklungsmöglichkeit. Ein Verhältnis mit anderen Frauen würde sich bei ihm wohl kaum anders gestalten, er dürfte in jeder Partnerschaft der Unterlegene sein. Käme er nach dem Mord an Marie nicht selbst um (für mich ist es ein Unfall, kein Selbstmord), wer weiß, ob er sich nicht zu einem Jack the Ripper entwickelte? Sein »Margret, du bist so heiß… wart nur, wirst auch kalt werden!« in der zweiten Wirtshausszene deutet immerhin in diese Richtung. Was Wozzeck also auf jeden Fall und in seiner zunehmenden Überforderung immer offensichtlicher fehlt, ist eine echte Perspektive, die ihn aus seiner unglücklichen Lebenslage befreit. Einen erahnbaren Ehrgeiz, einen Drang nach Bildung, von der er sich gesellschaftlichen Aufstieg und damit Steigerung seines Selbstwertgefühls erhoffen könnte, besitzt er ja, wie wir im Laufe der Handlung mehrfach erkennen können: In all den Zusammenkünften mit dem philosophierend-schwadronierenden Hauptmann, dem selbstgefälligen, größenwahnsinnigen und skrupellosen Doktor versucht Wozzeck alles Gehörte aufzusaugen und in sein Vokabular einzubauen (Bibelzitat und Attribute des vornehmen Herrn in der Hauptmannszene; Benutzen komplizierter Begriffe in der Doktorszene: »Natur«, »Charakter«, »Struktur«). Doch da ihm seine Herkunft und Erziehung nichts mitgab, bleiben ihm diese mehr-

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deutigen Begrifflichkeiten intellektuell natürlich verschlossen und letztlich unanwendbar. Auch seine im Wahn vorgebrachte Furcht vor den Freimaurern stellt letztlich nur eine assoziativ geäußerte Angst vor etwas Unbekanntem, etwas nicht Greifbarem dar, von dem er irgendwo etwas vernommen hat, ohne damit inhaltlich oder gar urteilend etwas verbinden zu können. Wozzecks experimentell evozierter Wahnsinn: Der Mediziner Büchner war seinerzeit Zeuge von Experimenten zur Frage, ob Hülsenfrüchte Fleisch ersetzen können (diese Feldstudie wird – nicht authentisch – mit Justus Liebig in Verbindung gebracht). Um die Kosten der Verpflegung von Soldaten zu reduzieren, dachte man daran, tierisches Eiweiß vollständig durch pflanzliches zu ersetzen – also bekamen die Probanden wochenlang nur Erbsen- und Bohnenbrei zu essen. Durch diese Einseitigkeit entstand dann eben der für den Protagonisten charakteristische Symptomkomplex (vermehrter Harndrang sowie optische und akustische Halluzinationen, Akoasmen). Zum einen wird klar, dass Wozzecks gesundheitlicher Zustand ganz offensichtlich von seiner sozialen Situation, seiner finanziellen Abhängigkeit, seiner Herkunft enorm mitbestimmt wird, zum anderen hilft dieser Umstand vielleicht, ein strittiges Detail im Text der Oper zu entscheiden: Heißt es in der Doktorszene im Original »Ich habs gesehn, Wozzeck, Er hat wieder gepisst«, so lautet die Stelle bei Berg »…hat wieder gehustet« – eine jener sprachlichen Anpassungen, von denen ich weiter oben sprach. Inhaltlich gesehen wäre es also legitim – und es ist mittlerweile fast üblich –, zur Büchner’schen Formulierung zurückzukehren. Nun hat es Berg aber aus ästhetischen Gründen anders entschieden, und ein ästhetischer Urgrund ist doch wiederum mitentscheidend dafür, dass es überhaupt zu so einem unvergleichlichen Werk gekommen ist. Eine eigentlich nicht, zumindest nicht grundsätzlich zu entscheidende Frage. Inwiefern nun die Personen rund um Wozzeck ebenfalls als Opfer der Umstände zu verstehen sind beziehungsweise in welchem Ausmaß ihnen Schuld zuzurechnen ist, ist immer eine Frage der Interpretation. Büchners bekannt radikale, sozial- und herrschaftskritische Haltung bietet da natürlich einen passenden Interpretationsrahmen. Grundsätzlich können die Rollen aber auch als Typen gesehen werden, die ihren Ursprung in der Commedia dell’arte finden: Der Hauptmann entspräche dem Capitano, Marie der Colombina, der Doktor dem Dottore, Andres der lebensbejahenden und Wozzeck der düsteren Seite des Harlekin. Zudem wird immer wieder wie dezidiert das Publikum adressiert. Aufgebrochen wird diese Typisierung freilich in den vier kurzen Szenen zwischen Wozzeck und Marie, in welchen sich trotz der gewohnt komprimierten Form eine vielfarbige psychologische Konstellation entwickelt, welche schließlich in der Mordtat als wohl einzig verbleibender Möglichkeit kulminiert. Eine interessante Position zwischen Marie und Wozzeck nimmt schließlich noch das Kind ein. Der Bub und Wozzeck scheinen ja durch keinerlei sichtbare emotionale Bindung verbunden – viel größer und damit erschütCHR IST I A N GER H A HER

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ternd ist die Empathie des Zusehers mit diesem Vollwaisen. Ist Wozzeck überhaupt sein Vater? Wenn er Marie in der ersten Unterredung auf ihr »Franz, dein Bub…« mit »Mein Bub, mein Bub… jetzt muss ich fort« antwortet, so interpretieren wir diese Aussage mit einem Fragezeichen. Vielleicht fürchtet er, ein Kuckuckskind vor sich zu sehen. Vielleicht ist der Bub aber auch nur ein Stiefkind? Das deutet sich jedenfalls im letzten Dialog an: »Weißt noch, Marie, wie lang es jetzt ist, dass wir uns kennen?« – »Zu Pfingsten drei Jahre«. Älter scheint dieser Bub allemal, und hier als Ernährer eilfertig einzuspringen, könnte der einzige Grund sein, warum Wozzeck sich mit einer ihm so sehr überlegenen Frau überhaupt einlassen konnte. Was für eine Perspektive: aus so dürftigem Grund sich als Paar zusammenzufinden! Sie entspricht der Perspektive, mit welcher dieses Theater einen gleich am Anfang umfasst: Trostlosigkeit, die nur so enden kann, wie sie endet. Aber im Vergleich zu vielem anderen in Film, Roman oder Theater – was für ein Vergnügen tut sich dazwischen auf, wenn der Hauptmann anhebt, die Düsternis hiesiger Sinnlosigkeit mit Worten so herrlich zu erhellen: »Wozzeck, es schaudert mich, wenn ich denke, dass sich die Welt in einem Tag herumdreht. Drum kann ich auch kein Mühlrad mehr sehn!«

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EIN E PER FEKT E OPER


» O!! Ich wünschte denen, die gar so superklug und moralisch sind, dass ihnen einst beim jüngsten Gericht – und das kommt bei jedem, viele wissen und fühlenʼs nur nicht – – dass ihnen, wenn sie dann ihren Seelenanteil forderten, Gurgelwasser gereicht werde und Klistierspritzen und Kompressen und Priesnitzbinden, denn das ist ihr Himmelreich, denn damit


haben sie im irdischen Leben ihre Sauwirtschaft geführt und bestritten und gerne auf seelische Extravaganzen verzichtet und nur spöttisch blöd darüber gelacht! Ja, ja: ich kannʼs ruhig heraussagen, aber am liebsten schrie ichʼs hinaus mit tausend Stimmen: ich hasse die Menschen – alle – alle –!! «

Alban Berg an seine spätere Ehefrau Helene Nahowski


Oliver Láng

» WOZZECK « IST KEINE ZIGARETTE

Zur Entstehungsgeschichte der Oper


Wer heute die Kammerspiele in der Rotenturmstraße im ersten Wiener Gemeindebezirk betritt, ahnt vielleicht gar nicht, dass er oder sie auf musikgeschichtlichem Boden steht. Denn hier, im Jahr 1914, erlebte Alban Berg eine Aufführung von Georg Büchners Woyzeck mit Albert Steinrück in der Titelrolle. Und war vom Gesehenen so beeindruckt, dass er augenblicklich an eine Vertonung des Stoffes dachte, wie er Jahre später an seinen Freund und Kollegen Anton Webern schrieb: »Ich habe einen so ungeheuren Eindruck gehabt, dass ich sofort (auch nach 2tem Anhören), den Entschluss fasste, ihn in Musik zu setzen. Es ist nicht nur das Schicksal dieses von aller Welt ausgenützten und gequälten armen Menschen, was mir so nahe geht, sondern auch der unerhörte Stimmungsgehalt der einzelnen Szenen.« Weniger überzeugt von der Idee der Vertonung war übrigens der gemeinsame Lehrer Arnold Schönberg, der meinte, dass daraus »unmöglich etwas Gutes werden« könnte. Doch Berg hielt, wenn auch zwischenzeitlich durch Schönberg verunsichert, mit erstaunlicher Konsequenz an der Idee fest. Heute wissen wir, dass das, was der junge Komponist in der damals so benannten Residenzbühne erlebte, keineswegs der »echte« Büchner war. Denn dieser hatte nur Woyzeck-Fragmente hinterlassen, ohne definierte Reihenfolge der Szenen, zum Teil in mehreren, sich unterscheidenden Schichten und Fassungen. Es war der Schriftsteller Karl Emil Franzos, der das Werk nach eigenem Gutdünken in eine Form brachte, veränderte und veröffentlichte. Durch eine weitere Überarbeitung – von Paul Landau – entstand schließlich jener Text, den Berg als Librettogrundlage verwendete. Büchner, Sohn eines Arztes, Doktor der Philosophie und Naturwissenschaftler, interessierte sich gleichermaßen für wissenschaftliche wie für soziale Aspekte der Welt, die ihn umgab. Als Vertreter revolutionärer Ideen – siehe etwa seine entsprechenden Schriften auf Seite 80 – wurde er steckbrieflich gesucht und musste fliehen. Und so ist auch sein Woyzeck zu lesen: gleichermaßen als sozialer Aufschrei wie auch als Auseinandersetzung mit damals heftig diskutierten wissenschaftlichen Fragen. Das Dramenfragment aus 1837 beruht auf mindestens drei unterschiedlichen Kriminalfällen, in deren Zentrum stets die Ermordung einer Geliebten stand: 1817 war der Tabakspinnergeselle Daniel Schmolling der Täter, 1821 der Titelgeber Johann Christian Woyzeck und 1830 der Leinenwebergeselle Johann Dieß und zumindest ein weiterer, ähnlich gelagerter Fall wird vermutet. Georg Büchner entnahm den Fällen jeweils Einzelaspekte, wobei es ihm in keiner Weise um eine historische Wahrheit oder dokumentarische Nacherzählung ging, sondern um Fragen der Zurechnungsfähigkeit, der psychischen Disposition und der gesellschaftlichen wie politischen Umwelt der Täter. Johann Christian Woyzecks Tat war der damals bekannteste der genannten Mordfälle. Es handelte sich um einen ehemaligen Soldaten, der, sozial heruntergekommen, der Gesellschaft entfremdet, von Wahnvorstellungen gequält, seine langjährige Geliebte aus Eifersucht mit sieben Messerstichen 55

OLI V ER LÁ NG


tötete. Der Tat folgte ein ungewöhnlich langer Prozess, der sich vor allem um die Frage drehte, ob Woyzeck zurechnungsfähig sei oder nicht: schließlich hätten ihn, so der Täter, Stimmen zum Mord gedrängt. Mehrere Gutachten bestätigten letztlich seine Zurechnungsfähigkeit und somit die Schuldfähigkeit. Drei Jahre nach der Tat, am 27. August 1724, wurde er hingerichtet, doch ganz geklärt wurde der Fall nie: Denn der Verdacht, dass die ihn als zurechnungsfähig erklärenden Gutachten nicht objektiv waren, sondern seine Bestrafung erzwingen wollten, wurde immer wieder geäußert. Es wäre, so der Vorwurf, weniger um eine ehrliche Beurteilung eines Zustandes gegangen, als darum, ein abschreckendes Exempel zu statuieren und einen der »besseren Gesellschaft« Unangenehmen mit der höchstmöglichen Strafe zu belegen. In Büchners Arbeit verschob sich der Fokus von der Tat zur psychologischen und schließlich zur sozialen Analyse. Einem Dramen-Abschluss kam sein früher Tod zuvor. Etwa 40 Jahre später, 1875, erschienen Teile des Textes erstmals – als Wozzeck, so die fehlerhafte Lesart des Namens – in der Neuen Freien Presse, eine Herausgabe des vermeintlich gesamten Werks folgte. Der oben genannte Karl Emil Franzos hatte dafür aus den unterschiedlichen (und schwer leserlichen) Entwürfen eine Dramenfassung erstellt, die dem 19. JahrhundertGedanken eines geschlossenen, linearen Schauspiels entsprach. Freilich ist dieses »Ganze« nichts anderes als eine Konstruktion, die auch durch Franzosʼ dramaturgischen Geschmack geprägt war. »Es war mein Bemühen, die beiden Elemente, das groteske und das tragische, so zu gruppiren, dass nicht das letztere Element durch das erstere in seiner Wirkung beeinträchtigt werde«, schrieb Franzos über seine Kompilationsarbeit. Er war durchaus auch gewillt, Handlungselemente nach Gutdünken hinzuzufügen, wie etwa den Tod bzw. Selbstmord Wozzecks. Später heftig für seine Eigenmächtigkeiten gescholten, muss man Franzos zugestehen, dass er die Bedeutung des Textes erkannte und sich bemühte, das Fragment einer möglichst großen Öffentlichkeit zu präsentieren, in jener Form, die ihm für eine publikumswirksame Veröffentlichung geeignet erschien. Dies ist nicht zuletzt unter dem Blickwinkel zu sehen, dass selbst Büchners Bruder 1850 im Zuge einer Herausgabe des Gesamtwerks auf den Woyzeck verzichtete. Eine weitere Bearbeitung des Textes erfolgte, basierend auf Franzos’ Arbeit, später durch Paul Landau, der in einer erstmals 1909 erschienenen Ausgabe vor allem die Szenen neu gruppierte – in dieser Fassung wurde das Stück 1913 in München uraufgeführt, und diese Fassung nahm Alban Berg als Grundlage für sein Libretto. Obgleich Berg sich unmittelbar nach dem Theatererlebnis 1914 für eine Vertonung entschied und noch 1914 erste Ideen niederschrieb, war die Entstehungsgeschichte der Oper eine lange. Für das Libretto, das er selbst einrichtete, wählte er Szenen aus der Vorlage aus, stellte um und kürzte. »Die textliche Bearbeitung (…) und die musikalische Konzeption erfolgten im WeOLI V ER LÁ NG

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sentlichen gleichzeitig. Die Musik wurde nicht zu einem Text geschrieben, sondern dieser wurde in den Plan der Komposition eingefügt. Bergs Absicht ist unverkennbar, Gestalt, Inhalt und Sprachgewalt der Dichtung nicht zu verzerren oder abzuschwächen«, analysierte der Musikwissenschaftler Ernst Hilmar. Nach Überlegungen, das Projekt ruhen zu lassen (Schönbergs Einfluss!), machte Berg sich im Sommer 1918 verstärkt an die Arbeit, wenn auch zahlreiche andere Verpflichtungen ihn an einem schnellen Weiterkommen hinderten. Und doch: »Ich fühle beim Niederschreiben der Musik immerfort Wärme und es geht mir auch leichter von der Hand, als ich nach einer so langen Pause gedacht habe«, schreibt er an Webern. Und: »Freilich drücken mich oft Bedenken über das Werk im Ganzen, über die Ausführbarkeit des Plans, die vielen kleinen Scenen in einige Akte zusammenzufassen.« Er nimmt sich nach Möglichkeit Urlaub, arbeitet zumindest in den Sommermonaten intensiv, klagt gleichzeitig über das langsame Vorwärtskommen und seine »Neigung zur Pedanterie«. Die »Pedanterie«, in Wahrheit nichts anderes als eine große Genauigkeit, führte ihn etwa in den siebenten Wiener Gemeindebezirk zum Instrumentenbauer Josef Leopold Pick, um dort Studien zum Klang und Spiel der Ziehharmonika (für die Wirtshausszene) durchzuführen. Das Berg stets begleitende Asthma verschlimmerte sich, gleich zweimal musste er im Herbst 1920 ins Sanatorium. 1921 war das Particell, also die in den Stimmen noch nicht ganz ausnotierte, aber grundlegend niedergeschriebene Komposition, abgeschlossen, Berg präsentierte das Werk seinem Lehrer Schönberg. Dieser war begeistert, wie er in einem Brief an den Direktor der Universal Edition schreibt: »Ich habe nun allerdings als sicher angenommen, dass Berg etwas Talentvolles zusammenbringt, aber doch meine großen Zweifel gehabt, ob er etwas wirklich theatermäßiges zusammenkriegt. Und das ist nun die große Überraschung. Das ist eine Oper!! Eine echte Theatermusik!« 1922, endlich, war auch die Partitur, die Berg seiner Gönnerin Alma Mahler widmete, finalisiert. Interesse an dem Werk signalisierten schnell mehrere Institutionen, unter anderem die Wiener Volksoper, auch aus München und Hamburg kamen Anfragen, die allerdings im Sand verliefen. Bevor das gesamte Werk erstmals gegeben wurde, erklangen 1924 in Frankfurt konzertant Teile der Oper unter Hermann Scherchen – mit großem Erfolg. Berg war in aller Munde, auch andere Städte und Veranstalter – wie das Wiener Konzerthaus – spielten in der Folge die sogenannten Wozzeck-Bruchstücke. Die eigentliche Uraufführung fand endlich am 14. Dezember 1925 an der Berliner Lindenoper unter dem damaligen Generalmusikdirektor Erich Kleiber statt, Leo Schützendorf sang die Titelpartie, Sigrid Johanson die Marie, die Inszenierung stammte von Franz Ludwig Hörth. Am Plakat lautet der Titel der Oper, wie auch auf der Partitur, nicht nur Wozzeck, sondern Georg Büchners Wozzeck. Die Kritiken waren zu einem beachtlichen Teil positiv, 57

»WOZZECK« IST K EIN E ZIGA R ET T E


wenn auch einzelne Rezensenten sich in ihrem Urteilsvermögen überfordert fühlten. Oscar Bie, der große Publizist und Kulturhistoriker, schrieb nach der Premiere euphorisch im Berliner Börsencourier: »Das Wesentliche ist: die Schöpfung ist gekonnt, ist sicher und beherrscht, ist kein Experiment, sondern Meisterschaft der Art, ernstes Gewissen, überzeugende Arbeit. Die Kunst der Partitur ist außerordentlich. Der Klang ist erreicht, die Suggestion geht aus, die Spannung erhöht sich, die Instrumente sprechen, ihre Kämpfe sind Erlebnisse, ihre Ballungen und Auflösungen seelischer Prozess.« Ein Jahr darauf wurde die Oper erfolgreich in Prag (in tschechischer Sprache) gegeben, unter anderem folgten – mit grandiosem Erfolg – St. Petersburg (1927), Oldenburg und Essen (1929), Wien, Düsseldorf, Lübeck, Königsberg, Köln, Gera (1930), Braunschweig, Darmstadt, Philadelphia, New York, Frankfurt, Leipzig, Zürich (1931), Brüssel, Brünn, Mannheim (1932). Für kleinere Theater wurde eine schlanker instrumentierte Fassung des Wozzeck erstellt. Der nach Opern benannten österreichischen Zigarettenmarken Jonny (nach Ernst Křeneks Jonny spielt auf) bzw. Heliane (nach Erich Wolfgang Korngolds Das Wunder der Heliane) wünschte Alban Berg eine Wozzeck-Zigarette (»eine ganz billige, die billigste Volkszigarette«) hinzuzufügen – eine Idee, der die Tabakindustrie allerdings nicht folgen wollte. Dennoch: Wozzeck gehörte zu den großen Erfolgsstücken seiner Zeit. Diesem Höhenflug setzte der Nationalsozialismus ein brutales Ende: Bergs Oper wurde, wie vieles andere, von den Spielplänen verbannt, die triumphale Wiederkehr konnte der Komponist, der bereits 1935 verstarb, nicht mehr erleben.

→ Eingangstür zu Alban Bergs Wohnung in Wien; das Namensschild entwarf der Komponist selber

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Daniel Ender

»... EIN STÜCK VON MIR...«

Alban Berg als Soldat, die Kriegsbegeisterung der Zeitgenossen und der Weg zu Wozzeck


↑ Alban Berg als als Kadett-Zugsführer der österreichischungarischen Armee

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»Drei Monate Krieg, in denen mehrere hunderttausend Wunden in ärztliche Behandlung genommen worden sind, haben bereits eine solche Summe von Erfahrungen gebracht wie noch nie ein Krieg zuvor.« Der Beitrag über »Die Behandlung der Wunden im jetzigen Kriege« in der Neuen Freien Presse vom 4. November 1914 bemühte sich um einen sachlichen Ton, betonte die guten Behandlungsmethoden der modernen Medizin – und konnte schließlich doch nicht umhin, die verheerenden Auswirkungen neuester Waffensysteme zu schildern. Genau diese aktuelle Ausgabe des bürgerlichliberalen Blatts hat Alban Berg vor sich, als er an ihrem Erscheinungstag mit der Bahn nach Villach fuhr und seiner Frau Helene berichtet: »die erste Zeit im Zug verbrachte ich Zeitunglesend. Habe 2 Zeitungen auswendig gelernt. Besonders interessant ist ein Artikel in der heutigen N. Fr. Presse (den ich Dir zu lesen empfehle) über Verwundungen im Krieg. Das Fürchterlichste ist ein Fliegerpfeil, der u.a. senkrecht auf einen Soldaten herabfiel, beim Schlüsselbein eindrang[,] durch Lunge, Zwerchfell, Gedärme gieng und bei der Kniekehle herausdrang. Tod nach einigen Minuten!« Es ist einer der vielen regelmäßigen Briefe an die Gattin des Komponisten, in dem er detailliert über das reichliche Mittagessen im Speisewagen berichtet, ebenso wie die vorbeiziehende Landschaft des Semmerings und des Raxplateaus – sowie seine übrigen Beobachtungen: So sieht er an diesem 4. November 1914 »einen Lastzug mit viel jungem Militär, das nach Serbien geht«, und kommt an »riesigen Gefangenenlagern« in der Steiermark vorbei. Gleichzeitig räsoniert er über die aktuellen Entwicklungen, teilt seine Gewissheit über einen baldigen Sieg – und denkt an eine eigene Teilnahme an den Kämpfen: »Ob ich da mittun werde können?!« Es ist vor allem der eigene GeDA N IEL EN DER


sundheitszustand, sein langjähriges asthmatisches Leiden, der ihn zweifeln lässt. Wie so oft findet Berg Zuflucht in seinem (bisweilen sehr schwarzen) Humor: »Ich werde mich als Freiwilliger melden unter der Bedingung, daß nur Nachmittag gekämpft wird, vormittags sitzende Beschäftigung.« Den Optimismus, mit der die Öffentlichkeit in der ersten Phase des am 28. Juli mit der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien begonnenen 1. Weltkriegs in die Zukunft blickte, teilte auch der damals 29-jährige Berg. Eine andere Einschätzung wäre auch auf Basis der zur Verfügung stehenden Informationen in der zeitgenössischen Presse kaum möglich gewesen. Von ihm nicht überliefert ist allerdings ein Ausdruck jener euphorischen Kriegsbegeisterung, den unzählige Geistesgrößen seiner Zeit – wie etwa Hermann Bahr, Georg Heym, Hugo von Hofmannsthal, Oskar Kokoschka, Rainer Maria Rilke, Georg Trakl oder Anton Wildgans – teilten. Im Gegensatz zu seinem pazifistischen Bruder Heinrich zeigte sich auch Thomas Mann durchdrungen vom Glauben an eine »reinigende« Kraft der Feldzüge, wie er bereits im August und September in seinen Gedanken im Kriege notierte: »Wir kannten sie ja, diese Welt des Friedens […]. Wimmelte sie nicht von dem Ungeziefer des Geistes wie von Maden? Gor und stank sie nicht von den Zersetzungsstoffen der Zivilisation? […] Wie hätte der Künstler, der Soldat im Künstler nicht Gott loben sollen für den Zusammenbruch einer Friedenswelt, die er so satt, so überaus satt hatte! Krieg! Es war Reinigung, Befreiung, was wir empfanden, und eine ungeheuere Hoffnung. […] Es war der nie erhörte, der gewaltige und schwärmerische Zusammenschluß der Nation in der Bereitschaft zu tiefster Prüfung – einer Bereitschaft, einem Radikalismus der Entschlossenheit, wie die Geschichte der Völker sie vielleicht bisher nicht kannte.« Viele deutsche und österreichische Intellektuelle sahen keinerlei Widerspruch zwischen ihrer Befürwortung des Krieges und ihrem eigenen moralischen Anspruch, sondern empfanden vielmehr beides im Gleichklang. So schrieb Robert Musil in seinem ebenfalls im August 1914 entstandenen Essay Europäertum, Krieg, Deutschtum: »Treue, Mut, Unterordnung, Pflichterfüllung, Schlichtheit, – Tugenden dieses Umkreises sind es, die uns heute stark, weil auf den ersten Anruf bereit machen zu kämpfen.« Und unter jenen Wissenschaftlern, Künstlern und Schriftstellern, die das im Oktober erschienene »Manifest der 93« unterzeichneten, waren etwa Gerhart Hauptmann, Engelbert Humperdinck, Max Liebermann, Max Planck – der sich später distanzierte –, Siegfried Wagner und Felix von Weingartner. In diesem »an die Kulturwelt« gerichteten »Aufruf« hieß es unter anderem: »Es ist nicht wahr, daß der Kampf gegen unseren sogenannten Militarismus kein Kampf gegen unsere Kultur ist, wie unsere Feinde heuchlerisch vorgeben. Ohne den deutschen Militarismus wäre die deutsche Kultur längst vom Erdboden getilgt. Zu ihrem Schutz ist er aus ihr hervorgegangen in einem Lande, das jahrhundertelang von Raubzügen heimgesucht wurde wie kein zweites. Deutsches Heer und deutsches Volk sind eins. Dieses Bewußtsein verbrüdert DA N IEL EN DER

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← Alban Berg bei der Arbeit

heute 70 Millionen Deutsche ohne Unterschied der Bildung, des Standes und der Partei. […] Glaubt uns! Glaubt, daß wir diesen Kampf zu Ende kämpfen werden als ein Kulturvolk, dem das Vermächtnis eines Goethe, eines Beethoven, eines Kant ebenso heilig ist wie sein Herd und seine Scholle. Dafür stehen wir ein mit unserem Namen und mit unserer Ehre!« Ähnlich dachte zunächst auch Bergs Kompositionslehrer und väterlicher Freund Arnold Schönberg, der erst im Nachhinein seine eigene »Kriegspsychose und die der anderen« durchschaute. 1950 stellte er es im US-amerikanischen Exil so dar: »Als der Erste Weltkrieg begann, war ich stolz, zu den Waffen gerufen zu werden, und als Soldat tat ich alle meine Pflichten mit Begeisterung als ein gläubiger Anhänger des Hauses Habsburg […].« Karl Kraus – einer der einflussreichsten österreichischen Intellektuellen und Bergs zweites großes Vorbild – hatte nach Kriegsbeginn lange Zeit geschwiegen und auch das Erscheinen seiner Zeitschrift Die Fackel vorübergehend ausgesetzt. Bevor er sich ab dem zweiten Kriegsjahr seinem Antikriegsdrama Die letzten Tage der Menschheit widmete, nahm er jedoch am 19. November 1914 in seiner Vorlesung mit dem Text In dieser großen Zeit, den er am 5. Dezember 1914 auch in der Fackel publizierte, Stellung gegen den Krieg. Alban Berg sammelte währenddessen beängstigende Eindrücke und fühlte sich von den Ereignissen hin- und hergerissen, wie er im Brief an seine 63

»... EIN ST ÜCK VON MIR...«


Transkription*: »V Aus dem Angriff entstanden Kopfschutz Mulde 1m Loch 30cm

Grundriss des Kopfschutzes oder

Unterhöhlung

noch Vertiefen zum Stehn des Schützen Auswürfe Hände

Schützengraben

Aufzug[¿] [Auftritt (Bankett)?]« Frau vom 8. November 1914 schilderte: »Heut sah ich einen großen Zug Verwundeter. Ich sag’ Dir, schrecklich!! Und kurz darauf einen Zug johlender frisch ins Feld ziehender Soldaten. Das sind auch so unauslöschliche Erinnerungen. Manchmal komm ich mir hier vor, als lebte ich außerhalb dieser Welt. Diese kleinlichen Interessen in diesem unerhörten Gewoge! Mein Kopf ist direkt zu klein, das alles zu fassen: Man liest ›Tsingtau [heute chinesisch Qingdao, ehemalige Kolonie des Deutschen Reichs] gefallen‹ – – und geht nach 5 Minuten zur Tagesordnung über – – statt hinauf in die Berge zu laufen, oder weit hinaus ins Meer zu schwimmen und sich auszuheulen – – oder was noch richtiger wäre das Gewehr zu nehmen.« Wenn Helene Berg für die 1965 erschienene Ausgabe Alban Berg. Briefe an seine Frau den letzten hier zitierten Halbsatz strich, nahm sie damit die spätere antimilitaristische DA N IEL EN DER

↑ Notizbucheintragungen Alban Bergs aus dem Ersten Weltkrieg

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Transkription*: »VI. Anlegung d[er] feldmäß[igen] Befestig[ung] unter Ausschluß des feindl. Feuers. II. Lichtung des Vorfeldes! IV (Drahthindernisse Auswürfe Verhaue Barret[¿] I.

1m

1m

2m Erd Kerne[¿] Traversen. 1m Erde Schutz gegen Inf. Feuer alle 12–16 x = 1 Schwarm ungefähr gegen Flankenangriff, u Artillerie Treffer[¿] [Rand links:] III Distanzen markieren«

Haltung ihres Mannes voraus, der sich seinerseits bald ein Ende des Krieges herbeiwünschte. An seinen Freund und Kollegen Anton Webern, der sich selbst durch seine eigenen Fronterlebnisse vom Kriegsbegeisterten zum Pazifisten wandelte, schrieb er am 18./19. Mai 1915: »Wünsche, daß Italien nicht losgeht, daß Schönberg bei der morgigen Musterung nicht behalten wird. […] Wünsche daß es endlich, endlich einmal regnet, damit die diesjährige Ernte nicht schlecht wird, oder was alles übertrifft: Wünsche – daß endlich, endlich, endlich Friede ist.« Es blieb diesbezüglich freilich beim frommen Wunsch: Berg wurde im *[¿] = Lesart unsicher Transkription: Sabrina Kollenz, Alban Berg Stiftung Wissenschaftliche Beratung: Klaus Lippe, Alban Berg Stiftung

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»... EIN ST ÜCK VON MIR...«


August 1915 einberufen und zur Ausbildung nach Bruck an der Leitha abkommandiert. Geländeübungen brachten ihn an die Grenze seiner Belastbarkeit – ebenso wie die zermürbenden Wachdienste, die er zu versehen hatte. Gegenüber seinem Schüler Gottfried Kassowitz klagte er darüber zu Weihnachten: »Das geht also von ½ 1 Uhr mittags bis ½ 1 Uhr mittags des folgenden Tages. In der Nacht kann ich vier Stunden schlafen, da es aber vor zehn Uhr nicht ruhig ist, eigentlich nur drei Stunden. Um ein Uhr muß ich von der Holzpritsche aufstehen und wieder den irrsinnigen Dienst versehen.« Für die Dauer seiner gesamten Dienstzeit beim Militär kämpfte Berg mit den Behörden. Im selben Brief an Kassowitz erzählt er: »Unlängst erkannte mich der Chefarzt (ein Zahnarzt) ganz einfach für ›dienstbar‹ und drohte noch, daß man alle diese Wachdienstler ganz einfach vor eine Kommission stellen wird und sie dann auch noch für felddiensttauglich erklären wird. Dieses fortgesetzte Unrecht muß man sich neben dem Dienstmachen ruhig gefallen lassen. […]«. Nach einem halben Jahr – und nach Interventionen aus seinem Umfeld – kam endlich eine ersehnte Erleichterung: Im Mai 1916 wurde Berg als Schreibkraft ins Kriegsministerium versetzt. In den folgenden Jahren konnte er zunehmend Urlaube erwirken und erhielt in den Sommern 1917 und 1918 jeweils mehrwöchige Atempausen, die es ihm auch möglich machten, unter anderem im Haus von Helenes Familie im steirischen Trahütten, an seinem Wozzeck zu arbeiten. Erst wenige Tage vor Kriegsende wurde er dauerhaft vom Dienst freigestellt. Aus Trahütten schrieb er am 7. August 1918 an Helene, nachdem die Eheleute schon wieder räumlich getrennt waren, über eine enge innere Verbindung zum Antihelden seiner Oper: »Ich selbst ging äußerst langsam bergaufwärts, rastete ›vorschriftsmäßig‹ des öfteren u. schließlich, wie ich so mit schweren Schritten vor mich hin ging, kam mir sogar – ohne daß ich zu arbeiten beabsichtigte – ein langgesuchter Ausdruck für einen Auftritt Wozzecks. Steckt ja […] auch ein Stück von mir in seiner Figur seit ich ebenso abhängig von verhaßten Menschen, gebunden, kränklich, unfrei, resigniert, ja gedemüthigt diese Kriegsjahre verbringe. Ohne diesen Militärdienst wäre ich gesund wie früher […]. Und nur so mag mir der musikalische Ausdruck bei jenem traurigen Heimweg gekommen sein.« Die drastischen gesundheitlichen Folgen der vergangenen Zeit beklagte Berg auch in einem Schreiben an Schönberg vom 30. November 1918: »Meine Gesundheit hat in den 3 1/2 Jahren meines Militärdienstes derart gelitten, daß ich jetzt Monate, ja vielleicht Jahre brauchen werde, um wieder annähernd so gesund zu werden, wie ich es vor dem Krieg – damals ebenfalls nach jahrelanger Schonung – war. […] So bedeutet z. Bsp. ein eiliger Gang durch die Stadt, die mehrmalige Ersteigung von 3, 4 Stockwerken, das Stehn in der Elektrischen während 2, 3 Viertelstunden u.s.w. schon geradezu Strapazen für meinen Körper u. ich muß Dir gestehn, daß ich, will ich dabei z. Bsp. einem Gespräch folgen, mich direkt verstellen muß, um meine Erschöpfung, die der andere für DA N IEL EN DER

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Interesselosigkeit od. Verschlafenheit deuten könnte, zu verbergen.« Diese Schilderungen verdeutlichen nicht nur den körperlichen Zustand Bergs, sondern lassen auch seine seelische Verfasstheit zu Kriegsende – und in den langen Jahren davor – erahnen. Es ist offenkundig, dass ein Teil der Verarbeitung dieser einschneidenden existenziellen Erfahrungen in der Komposition des Wozzeck stattfand. Obwohl die ersten Szenen der Oper bereits im Frühjahr 1914 und noch vor Kriegsausbruch entstanden, verband Berg selbst das Stück offenkundig mit seinem Dasein als Soldat. Jenes Bild, das ihn als Kadett-Zugsführer der österreichisch-ungarischen Landstreitkräfte zeigt, versah er auf der Rückseite mit der Notiz: »ca. 1917 Fotographie auf der milit[ärischen] Legitimationskarte v. A. B. als Zugsführer (als ich den Wozzeck zu komponieren begann)«.

→ Rückseite der militärischen Legitimationskarte Alban Bergs

Daniel Ender ist Generalsekretär der Alban Berg Stiftung.

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Theresa Steininger

EIN KLAVIERAUSZUG ODER 4 KILO KAFFEE Alban Bergs wirtschaftliche Lage zwischen Not und Wohlstand

Von Berg- und Talfahrten gekennzeichnet: So lässt sich die wirtschaftliche Situation beschreiben, die Alban Bergs Leben bestimmte. Mal war er verschuldet oder konnte nur durch Zuwendungen seiner Mutter und seines Schwiegervaters seinen Lebensstandard aufrechterhalten, mal fuhr er – als die Tantiemen zum Wozzeck gerade reichlich flossen – in seinem schicken Ford-Cabriolet durch die Gegend und kaufte das »Waldhaus« in Kärnten. Sah er sich ab und an genötigt, seine materiellen Hintergründe zu beschreiben, so betonte er aber sogar in guten Zeiten die pekuniär schwierige Lage, wie aus einigen Dokumenten in seinem Nachlass hervorgeht. Diesen auf das Genaueste erforscht haben Wilhelm Sinkovicz und Herwig Knaus für ihr 2008 erschienenes Buch Alban Berg: Zeitumstände – Lebenslinien. Sie setzen darin nicht nur Bergs Einkünfte in einer Zeit, in der die Kaufkraft stark variierte, in Relation. Sie drucken auch die von Berg und seiner Frau Helene penibel geführten Ausgabenlisten ebenso ab wie zahlreiche Briefe, die Aufschluss über die finanzielle Lage des Ehepaars geben. Dazu, seine Einkünfte selbst offenzulegen, sieht sich Berg beispielsweise 1916 genötigt, als die Steuerbehörde Zweifel äußert, wie er seinen aufwändigen Haushalt selbst bestreiten könne. Seine Antwort spricht von 275 Kronen durch Stundengeben, Einkommen aus Wertpapieren von 4.110,37 – und da er T HER E SA ST EIN INGER

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»von diesem Gesamteinkommen nicht leben kann«, gewähre ihm die Mutter »von Fall zu Fall Unterstützung in Form von Geldbeträgen, Naturalien und sonstigem im Wert von circa 3.000 Kronen«. Einkünfte übrigens, die Sinkovicz und Knaus mit denen eines Wiener Mittelschulprofessors dieser Zeit vergleichen. Über all die Jahre, vor allem aber zu Beginn, sind es die Zuwendungen seiner Mutter, die Alban Berg ermöglichen, sich der Musik zu widmen. Er stammt aus großbürgerlichen Verhältnissen, der Vater Conrad stirbt allerdings 1900, was die Mutter Johanna quasi über Nacht dazu nötigt, alle finanziellen Angelegenheiten der Familie zu übernehmen. Es gelingt ihr nicht, die lukrativen Geschäftsverbindungen ihres Mannes aufrechtzuerhalten, auch wenn sie die Devotionalienhandlung von Conrad Berg weiterführt. Die finanzielle Lage der Familie, die neben Alban und seiner Mutter noch aus Bruder Hermann, Bruder Karl/Charly und Schwester Smaragda besteht, ist alles andere als rosig. Alban kann die Realschule nur deshalb fortsetzen, weil seine Tante dies unterstützt. 1904 nimmt er eine Anstellung als Rechnungspraktikant im Amt der Niederösterreichischen Landesregierung an, zwar ist diese vorerst unbezahlt, doch die Mutter sieht in der Beamtenlaufbahn eine gute Möglichkeit, ihren Sohn zu versorgen. Eine erfreuliche Veränderung bringt eine Erbschaft, die die Mutter nach dem Tod ihrer Schwester aller materieller Sorgen entledigt. Und so ist auch für Alban der Weg frei, seine Beamtenstellung zu kündigen und sich der Musik zu widmen. Schon 1906 ist von »freiwilligen Unterstützungen« der Mutter von bis zu 3.000 Kronen als jährliche Apanage die Rede. Da die Mutter nun Liegenschaften besitzt, die jährlich einen Reinertrag von mehr als 31.000 Kronen abwerfen, ist der Lebensunterhalt auch für Alban gesichert, die Möglichkeit zur freien künstlerischen Entfaltung da. Als er heiratet, gilt es, den Lebensunterhalt für ihn und seine Frau Helene zu sichern, wiewohl auch sie nun eine Mitgift erhält, die in Wertpapieren angelegt ist und jährlich rund 4.000 Kronen abwirft. Allein von Einkünften aus Unterricht und Aufführungen kann Berg lange Zeit nicht leben. Erst gilt es, sich einen Namen zu machen – und die Gelegenheiten, neue Werke zu präsentieren, sind rar, die Einnahmen daraus zum Leidwesen des aufstrebenden Komponisten vernachlässigbar gering. Zwar wendet er sich auch der Unterrichtstätigkeit zu, wird aber gebeten, kein allzu hohes Honorar zu verlangen. Doch er knüpft Kontakt zum Wiener Musikverlag Universal Edition und schreibt Klavierauszüge, einen zu Schrekers Oper Der ferne Klang, einen weiteren zu Schönbergs Gurreliedern. Bald folgt der Auftrag, einen Führer zu Letzterem zu verfassen, wofür er 300 Kronen sofort und 300 Kronen nach dem Verkauf von 5.000 Exemplaren erhalten soll. Jedenfalls macht Alban Berg immer wieder gerne gegenüber anderen klar, dass große Sprünge nicht möglich sind. Als er um finanzielle Unterstützung für Arnold Schönberg gebeten wird, dem er Jahre zuvor 200 Kronen zukom 71

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men ließ, schreibt er, »jede andere finanzielle Unterstützung wäre bei meinen Einkommensverhältnissen vollständig ausgeschlossen.« Seine Einkünfte, inklusive jener mit Verwandtschaftshintergrund, sind Mitte der 1910er Jahre mit denen eines jungen Mittelschuldirektors oder eines österreichischen Bezirkshauptmanns vergleichbar. Immer wieder schreibt er von 5.000 bis 6.000 Kronen pro Jahr, die er zur Verfügung haben. Doch ab 1915 verschlechtert sich die Lebensmittelversorgung in Wien stetig, nahezu alle Waren sind einer starken Preiserhöhung ausgesetzt. Bände spricht hier ein Brief Alban Bergs an seinen Bruder Hermann, der ihm 1919 aus den USA Geld geschickt hat: »1.000 Kronen sind auch heute noch – für jemand der nichts hat – ein schönes Stück Geld. Man kann sich dafür in diesem kältesten aller Winter 1 Monatlang ein Zimmer heizen (1 kg Holz = 2 Kronen) oder man kann sich wertvolle Nahrungsmittel kaufen z. Bsp. 50 Öl Sardinenbüchsen, oder 7-8 kg. Edlen Cacaos etc. Also Du siehst, lieber Hermann, Du hast mir mit dem Geldgeschenk nicht nur eine große Freude, sondern auch einen großen Dienst getan.« Was Alban Berg nun für Stundengeben bekommt, hier ist von 400 bis 850 Kronen pro Monat die Rede, ist durch die Teuerung stark entwertet. Es ist die Zeit, in der Berg die Vollendung des Wozzeck vorantreiben will. Gleichzeitig versucht er sich als Musikschriftsteller im Verband der Universal Edition, als Organisator der Veranstaltungen von Schönbergs Verein für musikalische Privataufführungen, als Lehrer und als Komponist auf halbwegs sichere Beine zu stellen. Um Bergs Forderung nach mindestens 1.000 Kronen pro Monat für seine Tätigkeit nachzukommen, erhöht der Verein sogar die Mitgliedsbeiträge. Man merkt aber aus den Korrespondenzen auch, dass sich Berg nach und nach Verpflichtungen entledigen will, die ihn an Wien binden, um ungebunden und in der Provinz am Wozzeck weiterzuarbeiten. Dabei kann er sich zu dieser Zeit nicht einmal Opernkarten für die schlechtesten Plätze leisten, wie er wehmütig schreibt. Anfang der 1920er Jahre strebt die Inflation in Wien ihren Höhepunkt an, die Papierkrone verliert immer mehr an Kaufkraft. Als Berg 1923 bei Julius Meinl eine Lebensmittelbestellung macht, sind 92.000 Kronen für acht Dosen Sardinen und 28.000 Kronen für zwei Kilo Reis angeführt. Ein Reisekoffer, mit dem er zur Uraufführung der Wozzeck-Bruchstücke in Frankfurt fährt, kostet ihn 1.205.000 Kronen. Dem gegenüber steht der Klavierauszug von Wozzeck, der 1922 zum Preis von 150.000 Kronen herauskommt – um dieses Geld kann man sich zu dieser Zeit gerade mal vier Kilo Kaffee kaufen. Trotzdem geht der Verkauf nicht so gut wie erhofft. 1925 wird zwar die neue Währung eingeführt, nun kostet ein Laib Brot 82 Groschen anstatt 8.200 Kronen. Doch die erhoffte Erleichterung kommt für Berg weniger dadurch als durch den Tod seines Schwiegervaters, der ein Vermögen von 363.000.000 Kronen hinterlässt, wodurch seine Kinder je 6.806 Schilling erhalten. T HER E SA ST EIN INGER

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Generell geht es nun finanziell steil bergauf: Die Einnahmen für den Wozzeck und der bei der Universal Edition verlegten Werke belaufen sich beispielsweise 1927 auf 8.000 Schilling, wie Sinkovicz und Knaus schreiben. Auch von seinen Privatschülern kann er aufgrund seiner gestiegenen Reputation höhere Honorare verlangen, bis zu 250 Schilling pro Monat erhält er hier. Spätestens nach dem Erfolg von Wozzeck ist er eine der meistgesuchten Integrationsfiguren für die zeitgenössische Musik. Aber auch, wenn er für eine einzige Konzertarie (Der Wein) 5.000 Schilling als Honorar in Aussicht gestellt bekommt, scheint er vorsichtig – oder ein gebranntes Kind. Um eine Spende für Adolf Loos gebeten, verweist er noch immer auf sein geringes Einkommen und lehnt ab. Dabei fließen die Tantiemen nun reichlich, 1930 ist von einem Jahreseinkommen von mehr als 20.000 Schilling die Rede. Es ist der Erfolg von Wozzeck, der ihm die Sicherheit gibt, sich ohne finanzielle Sorgen seiner kompositorischen Tätigkeit zu widmen. Und da er dem Luxus keineswegs abgeneigt ist, wagt er nun sogar ein kostspieliges Unterfangen. 1930 kauft er sich ein 40 PS starkes Ford Sport-Cabriolet, dessen Erwerb oftmals direkt in Zusammenhang mit den Wozzeck-Tantiemen gebracht wird und das heute im Technischen Museum Wien steht. Mit diesem Wagen, den er Blauer Vogel oder mein liebster Freud nannte, macht er Ausflüge, von denen er wiederum Fotos an seine Freunde schickt. Helene nennt aber bei aller Begeisterung beider früh auch die Kehrseiten, man müsse nun »doppelt arbeiten, um sein 4rädiges Kind zu erhalten«, wie sie Alma Mahler schreibt. Die Freude ist nicht von langer Dauer, ab 1933 ist die Rede von zurückgehenden Einnahmen, und »der Wagen ruht, wir müssen sparen«, ja, »sehen besorgt in die Zukunft«. Das liegt einerseits an der Wirtschaftskrise, andererseits aber auch daran, dass Berg das »Waldhaus« erwirbt. Dies reißt ein Loch ins Budget, das sich nicht so rasch wie erhofft füllt, geht doch das Einkommen Bergs wegen sinkender Tantiemen stark zurück. Immer wieder ersucht er in dieser Zeit die Universal Edition um einen Vorschuss. Bergs Situation wird immer prekärer, die Einnahmen aus Deutschland sind aufgrund der politischen Entwicklungen versiegt. Bis zur Vollendung der Lulu leistet die Universal Edition zwar monatliche Vorauszahlungen, doch Berg sieht keinen anderen Ausweg, als das Waldhaus zu belehnen, das er erst kürzlich gekauft hatte. Hilfe kommt von der Witwe des verstorbenen Verlagsleiters der Universal Edition, Emil Hertzka, sie streckt Berg Geld vor und sichert ihm schließlich sogar eine monatliche Rente zu. Das Auto nutzt er nur mehr für Besorgungsfahrten, wie er und Helene schreiben. Vom Objekt der Freude ist es zu einer der Belastung geworden, weiß man doch nicht, wie das Geld für Benzin und Erhaltung aufgetrieben werden soll. Generell weisen die penibel geführten Aufzeichnungen der Bergs damals eine bescheidene Wirtschaftsführung des Ehepaars nach, als einziger kleiner Luxus scheinen Kinobesuche auf, ähnlich hoch wie die Ausgaben für 73

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den Haushalt sind aber jene für Medikamente (211,66 zu 283 Schilling). Vom Luxusleben, von dem manche glauben, dass er es führt, sei er mit nun sehr geringem Einkommen und Schulden weit entfernt, schreibt Berg an seinen Bruder, der ihm Geld schuldet. Schließlich bricht er die Verbindung zu ihm und auch zur Schwester Smaragda, die er unterstützte und die ihn um noch mehr finanzielle Unterstützung bat, ab. Gleichzeitig ist es auch die schwache Gesundheit, die ihn immer wieder viel kostet. Hier ein Sanatoriumsaufenthalt, dessen Kosten mit einem Viertel des Jahreseinkommens Bergs angegeben werden. Dort immer wieder vergleichsweise hohe Arztkosten. Letztlich ist auch seine Sparsamkeit mit für seinen Tod verantwortlich, lässt er doch ein Furunkel am Hinterteil von seiner Frau mit einer ausgekochten Schere behandeln, anstatt zum in seinen Augen teuren Arzt zu gehen. Dies dürfte eine Sepsis zur Folge gehabt haben, die letztlich zum Tod führte. Am 21. November 1935 erfährt Berg, dass sein Name auf der Liste jener Autoren steht, deren Werke in Deutschland nicht mehr aufgeführt werden dürfen. Damit sind alle deutschen Verdienstmöglichkeiten für den Komponisten endgültig verloren. Einen Monat später stirbt er an Blutvergiftung.

← Das stolze Ehepaar Berg mit ihrem Auto

Dieser Text basiert auf Alban Berg: Zeitumstände – Lebenslinien von Wilhelm Sinkovicz und Herwig Knaus, erschienen 2008 im Residenz Verlag.

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» Manchmal glaubʼ ich, ich werde wahnsinnig vor Schmerz – das anderemal tobsüchtig vor Wut! Und das infame Gefühl, ›es nützt mir alles nichts‹! Ich muss mir alles gefallen lassen!!! «

Alban Berg an Helene, 9. September 1908


Zsigmond Móricz

ARME LEUTE Alban Berg las 1916 die Erzählung Arme Leute des ungarischen Schriftstellers Zsigmond Móricz (1879-1942), die ihn tief beeindruckte. Móricz schildert in unerbittlich-hartem Realismus das Elend und die Armut der ungarischen Landbevölkerung und die Verrohung des Menschen aufgrund der Umstände. Waren denn Schulden wirklich eine so große Sache? Dieser Mensch hatte soviel Geld, dass er diese zwanzig Gulden nie im Leben ausgeben würde... Wozu brauchte er sie dann? ... Warum verlangte er sie unbedingt? Der war imstande, sie einem aus dem Fleisch herauszuschneiden... Er musste doch selbst wissen, dass die Frau das Geld nötig hatte, wenn ihr Mann schon sechsundzwanzig Monate weg war... Wie hätte sie sich und die drei Kinder erhalten sollen, während er an der Front war... und im Lazarett… und wieder an der Front… Er zog die Mütze tief ins Gesicht und sah sich mit blutunterlaufenen glotzenden Augen um... Wie soll der Mensch leben, wenn er nur deshalb lebt? ... Sechsundzwanzig Monate draußen sein, in solchen Zeiten, weder Gefangene noch Verwundete machen, nur Tote. Und das ist nun das Ergebnis... Das ist das Ende... Er trat durch das kleine Tor in den kleinen Hof. Da wohnte in einem Häuschen seine Frau mit den drei Kindern. Die Kinder spielten auf dem Hof mit einem Wägelchen, ein Garten gehörte nicht dazu; dieses armselige Haus war eine Art Kätnerhütte. »Warum bist du nach Hause gekommen?« fragte die Frau verwundert. Der junge Mann blieb stehen und sah sie still an. »Frag nicht viel, sondern komm!« »Wohin?« »Wirst schon sehn«, sagte er und wandte das Gesicht ab. »Auf den Markt.« »Auf den Markt?« »Ja.« Mehr sagte er nicht. Als er ins Haus hinein ging, sah er die Frau in Gedanken versunken an. »Was willst du kaufen?«, fragte sie und ging ihm nach. ZSIGMON D MÓR ICZ

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»Ich will einen Spaten kaufen, denn mit dem kann man nicht graben. Der taugt nichts für so harte Erde«, brummte er. »Im Sand gehtʼs noch an, aber in solcher Erde...« Die Frau erwiderte nichts, sie dachte, er hätte irgendwo einen Gulden erbeten, um sich den Spaten kaufen zu können. Auch schämte sie sich, weil sie den neuen Spaten ihres Mannes für zwanzig Kreuzer verkauft hatte. Das älteste der drei Kinder kam hereingelaufen und zwängte sich zwischen die Knie seines Vaters. »Vati!« »Na, mein Sohn...«, sagte der Soldat und wischte dem Kind mit dem Finger die Nase. Aber das Kind machte große Augen. »Was hast du an der Hand?«, fragte das Kind. »Was?« »Deine Hand ist rot.« »Was? Rot?« »Hast du dich geschnitten?« Auch die Frau sah hin. »Ich habʼ mich nicht geschnitten, mein Sohn, aber du. Du hast dich in die Hand geschnitten, nicht ich.« »Ich?«, fragte das Kind, sah seine Hand an und wunderte sich. Der Vater ließ nicht zu, dass das Kind sich lange seine Hand ansah, er nahm das kleine Händchen in seine große, starke Faust. »Warte mal, ich will dir die Hand verbinden.« In der Tasche hatte das Kind ein Tuch, das nahm er heraus und verband ihm damit sorgfältig die Hand. Das Kind schaute noch immer verwundert zu, sprach aber kein Wort, denn es erlaubte sich nie ein Urteil über die Taten seines Vaters; es nahm sie hin, das musste so sein. Gleich darauf ließ das Kind den Vater stehen und lief wieder hinaus. Der Mann saß lange und ruhig da, er sah zu, wie sich seine Frau, schweigend wie eine, die etwas nicht versteht, aber ruhig und gehorsam bereitmachte. Ach ja, zum Markt, fiel ihm ein. Er saß am wackligen Tisch, die Hände vor sich hingelegt. Er sah sanft seiner Frau zu, die sich lautlos im Zimmer bewegte; er sah ihr traurig zu. »Am Morgen, als ich zur Arbeit ging, traf ich unterwegs den alten Sóvágó.« Die Frau ließ den Kopf noch tiefer hängen. »Hat er das Geld verlangt?«, fragte sie schnell. »Und ob.« »Was hast du ihm gesagt?« »Dass ichʼs ihm bis Mittag bringe.« Die Frau sah erschrocken auf. »Bis Mittag?« »Ja.« »Es ist gleich Mittag.« »Ich habʼs ihm schon zurückgegeben.« Die Worte verpufften einzeln; inzwischen herrschte Stille und eine fürchterliche Spannung. 77

A R ME LEU T E


»Zurückgegeben?«, wiederholte die Frau tonlos. »Ja«, sagte der Mann mit gebeugtem Kopf. In seinem Herzen war ein tiefer Kummer, eine große Traurigkeit, aber als er das Gesicht seiner Frau sah, konnte er kaum ein Lächeln unterdrücken. Was wird sie erst sagen, wenn sie alles erfährt… Aber er stellte sich traurig und gebrochen… »Nicht alles«, sagte er später, als die Frau langsam die Schnur ihres Rockes zuband. »Nur zwanzig Gulden.« »Zwanzig Gulden?«, wiederholte die Frau. »Ja.« »Wo hast du sie hergenommen?« »Von Vargas.« Die Frau sah ihn nachdenklich an. »Von Vargas... «, sagte sie verwundert, ja mit geheimem Schreck. »Vargas sind zum Markt gefahren.« Der Mann nickte und sah sie nicht an. Er wagte es nicht, sie anzublicken. Er empfand weder Furcht noch Reue noch Rührung. Er hatte seine Frau lieb, aber er amüsierte sich über sie, er nahm sie nicht ernst, sie war eben doch nur eine Frau... Er hatte seine Frau lieb, hatte es nur ihretwegen getan, und jetzt musste er sich hüten zu lächeln wie bei einem Begräbnis am Grab; über eine so ernste und schwere Sache durfte man nicht lächeln... »Wie haben sie dir dann Geld gegeben?« Der Mann sah schweigend vor sich hin, dann hob er den Kopf und sprach. »Hör mal, ich habʼ sie ausgeraubt.« Die Frau sagte kein Wort, sie blieb stehen, wie sie war, und heftete ihre schwarzen Augen auf ihren Mann. Sie sah ihn an und schwieg. »Als ich mir gestern den Tagelohn holte... da nahmen sie das Geld vor mir aus dem Schrank... Und da dachte ich mir gleich... und daran dachte ich auch in der Nacht...« Die Augen der Frau erhellten sich: Sie begriff, was mit ihrem Mann in der Nacht los gewesen war und weshalb er nicht hatte schlafen können, wo er doch sonst so tief schlief, dass es geradezu eine Schande war... Wenn eins der Kinder erwachte, merkte er nie etwas... »Aber ich habʼ nicht geglaubt, dass man das wird tun müssen... nur, dass manʼs tun könnte... Aber dann am Morgen, als der alte Sóvágó soviel hin und her redete, dass Schulden so und Schulden so... Also da wusste ich schon, dass ich es tun werde.« Die Frau seufzte schwer und gequält. »Aber die Kinder haben sie zu Hause gelassen... Und die Tochter von András Szabó, die hat mit den Kindern gespielt...« Die Frau schaute und schaute, ihr Mund öffnete sich langsam. Da sagte der Mann, indem er die Worte zögernd hervorstieß: »Die ... mussten ... weg.« Die Frau stand noch immer wortlos da. »Du sprichst darüber zu niemandem; die Armut hat mich dahin gebracht«, sagte der Mann mit der Schlichtheit eines Sprichwortes. Dann erhob er sich. Aus: Arme Leute, 1916

ZSIGMON D MÓR ICZ

→ Christian Gerhaher als Wozzeck

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A R ME LEU T E


Georg Büchner

FRIEDE DEN HÜTTEN! KRIEG DEN PALÄSTEN!

Im Jahre 1834 siehet es aus, als würde die Bibel Lügen gestraft. Es sieht aus, als hätte Gott die Bauern und Handwerker am fünften Tage und die Fürsten und Vornehmen am sechsten gemacht, und als hätte der Herr zu diesen gesagt: »Herrschet über alles Getier, das auf Erden kriecht«, und hätte die Bauern und Bürger zum Gewürm gezählt. Das Leben der Vornehmen ist ein langer Sonntag: sie wohnen in schönen Häusern, sie tragen zierliche Kleider, sie haben feiste Gesichter und reden eine eigne Sprache; das Volk aber liegt vor ihnen wie Dünger auf dem Acker. Der Bauer geht hinter dem Pflug, der Vornehme aber geht hinter ihm und dem Pflug und treibt ihn mit den Ochsen am Pflug, er nimmt das Korn und lässt ihm die Stoppeln. Das Leben des Bauern ist ein langer Werktag; Fremde verzehren seine Äcker vor seinen Augen, sein Leib ist eine Schwiele, sein Schweiß ist das Salz auf dem Tische des Vornehmen. GEORG BÜCHN ER

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Im Großherzogtum Hessen sind 718.373 Einwohner, die geben an den Staat jährlich 6.363.436 Gulden, als

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Direkte Steuern Indirekte Steuern Domänen Regalien Geldstrafen Verschiedene Quellen

2.128.131 Fl. 2.478.264 Fl. 1.547.394 Fl. 46.938 Fl. 98.511 Fl. 64.198 Fl. 6.363.436 Fl.

Dies Geld ist der Blutzehnte, der vom Leib des Volkes genommen wird. An 700.000 Menschen schwitzen, stöhnen und hungern dafür. Im Namen des Staates wird es erpresst, die Presser berufen sich auf die Regierung, und die Regierung sagt, das sei nötig, die Ordnung im Staat zu erhalten. Was ist denn nun das für gewaltiges Ding: der Staat? Wohnt eine Anzahl Menschen in einem Land und es sind Verordnungen oder Gesetze vorhanden, nach denen jeder sich richten muss, so sagt man, sie bilden einen Staat. Der Staat also sind alle; die Ordner im Staate sind die Gesetze, durch welche das Wohl aller gesichert wird und die aus dem Wohl aller hervorgehen sollen. – Seht nun, was man in dem Großherzogtum aus dem Staat gemacht hat; seht, was es heißt: die Ordnung im Staate erhalten! 700.000 Menschen bezahlen dafür 6 Millionen, d.h. sie werden zu Ackergäulen und Pflugstieren gemacht, damit sie in Ordnung leben. In Ordnung leben heißt hungern und geschunden werden. Wer sind denn die, welche diese Ordnung gemacht haben und die wachen, diese Ordnung zu erhalten? Das ist die Großherzogliche Regierung. Die Regierung wird gebildet von dem Großherzog und seinen obersten Beamten. Die andern Beamten sind Männer, die von der Regierung berufen werden, um jene Ordnung in Kraft zu erhalten. Ihre Anzahl ist Legion: Staatsräte und Regierungsräte, Landräte und Kreisräte, geistliche Räte und Schulräte, Finanzräte und Forsträte usw. mit allem ihrem Heer von Sekretären usw. Das Volk ist ihre Herde, sie sind seine Hirten, Melker und Schinder; sie haben die Häute der Bauern an, der Raub der Armen ist in ihrem Hause; die Tränen der Witwen und Waisen sind das Schmalz auf ihren Gesichtern; sie herrschen frei und ermahnen das Volk zur Knechtschaft. Ihnen gebt ihr 6.000.000 Fl. Abgaben; sie haben dafür die Mühe, euch zu regieren; d.h. sich von euch füttern zu lassen und euch eure Menschenund Bürgerrechte zu rauben. Sehet, was die Ernte eures Schweißes ist! (…) Wehe über euch Götzendiener! – Ihr seid wie die Heiden, die das Krokodil anbeten, von dem sie zerrissen werden. Ihr setzt ihm eine Krone auf, aber es ist eine Dornenkrone, die ihr euch selbst in den Kopf drückt; ihr gebt ihm ein Zepter in die 81

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Hand, aber es ist eine Rute, womit ihr gezüchtigt werdet; ihr setzt ihn auf euern Thron, aber es ist ein Marterstuhl für euch und eure Kinder. Der Fürst ist der Kopf des Blutigels, der über euch hinkriecht, die Minister sind seine Zähne und die Beamten sein Schwanz. Die hungrigen Mägen aller vornehmen Herren, denen er die hohen Stellen verteilt, sind Schröpfköpfe, die er dem Lande setzt. Das L., was unter seinen Verordnungen steht, ist das Malzeichen des Tieres, das die Götzendiener unserer Zeit anbeten. Der Fürstenmantel ist der Teppich, auf dem sich die Herren und Damen vom Adel und Hofe in ihrer Geilheit übereinanderwälzen – mit Orden und Bändern decken sie ihre Geschwüre, und mit kostbaren Gewändern bekleiden sie ihre aussätzigen Leiber. Die Töchter des Volks sind ihre Mägde und Huren, die Söhne des Volks ihre Lakaien und Soldaten. Aus: Der Hessische Landbote, 1834

→ Sean Panikkar als Tambourmajor

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Knut Hamsun

HUNGER In seinem 1888 entstandenen Roman Hunger beschrieb Knut Hamsun den zwischen lebensbedrohender Not und (dadurch ausgelösten?) Wahnvorstellungen schwankenden Zustand eines verarmten Schriftstellers. Das Buch wurde zum Bezugspunkt einer ganzen Künstlergeneration, auch Alban Berg kannte und kommentierte es. Mein nervöser Zustand hatte völlig die Oberhand gewonnen, und wie sehr ich auch dagegen anzugehen versuchte, es half nichts. Da saß ich, eine Beute der absonderlichsten Phantasien, mir zuwispernd, Wiegenlieder summend, schwitzend von der Anstrengung, mich zu beruhigen. Ich starrte ins Dunkel, und ich hatte nie im Leben ein solches Dunkel gesehen. Es bestand kein Zweifel, dass ich mich hier einer besonderen Art von Dunkel ausgesetzt fand, einem desperaten Element, auf das niemand zuvor gestoßen war. Die lächerlichsten Gedanken bewegten mich, und alles machte mir Angst. Das kleine Loch in der Wand bei meinem Bett beschäftigt mich sehr, ein Nagelloch, das ich entdecke, ein Zeichen im Mauerwerk. Ich taste es ab, puste hinein und versuche, seine Tiefe auszumachen. Das war nicht irgendein unschuldiges Loch, ganz und gar nicht; das war ein richtig heikles und geheimnisvolles Loch, vor dem ich mich hüten musste. Und von dem Gedanken an dieses Loch besessen, ganz außer mir vor Neugier und Furcht, musste ich zuletzt vom Bett aufstehen und mein halbes Taschenmesser hervorsuchen, um die Tiefe auszumessen und mich zu vergewissern, dass es nicht ganz bis in die Nebenzelle reichte. Ich legte mich wieder hin, um zu versuchen einzuschlafen, doch in Wahrheit, um erneut mit dem Dunkel zu kämpfen. Der Regen draußen hatte aufgehört, und ich hörte keinen Laut. Eine Zeitlang machte ich damit weiter, nach Schritten auf der Straße zu horchen, und ich gab mich nicht zufrieden, ehe ich nicht einen Fußgänger vorbeigehen gehört hatte, einen Wachtmeister, dem Klang nach zu urteilen. (…) Aber mein Hirn geriet immer mehr in Verwirrung. Zuletzt sprang ich aus dem Bett, um die Wasserleitung zu suchen. Ich war nicht durstig, doch mein Kopf stand in Fieber, und ich spürte instinktives Verlangen nach Wasser. Als ich getrunken hatte, legte ich mich wieder hin und entschloss mich mit K N U T H A MSU N

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aller Gewalt, schlafen zu wollen. Ich machte die Augen zu und zwang mich, ruhig zu sein. So lag ich mehrere Minuten ohne jede Bewegung, ich fing an zu schwitzen und fühlte das Blut heftig durch die Adern pochen. Ich öffnete die Augen. Wie sollte ich sie denn nur geschlossen halten, wenn ich nicht schlafen konnte! Und dasselbe Dunkel brütete um mich her, dieselbe unergründliche schwarze Ewigkeit, gegen die sich meine Gedanken aufbäumten und die sie nicht fassen konnten. Womit konnte ich sie nur vergleichen? Ich unternahm die verzweifeltsten Anstrengungen, ein Wort zu finden, das schwarz genug war, mir dieses Dunkel zu bezeichnen, ein so grausam schwarzes Wort, dass es meinen Mund schwärzen würde, wenn ich es aussprach. Herrgott, wie dunkel es war! Und ich bin wieder gezwungen, an den Hafen zu denken, an die Schiffe, diese schwarzen Ungeheuer, die dort lagen und auf mich warteten. Sie wollten mich ansaugen und mich festhalten und mit mir über Land und Meer segeln, durch dunkle Reiche, die noch kein Mensch geschaut hat. Ich fühle mich an Bord, aufs Wasser gezogen, in den Wolken schwebend, sinkend, sinkend... Ich stoße einen heiseren Angstschrei aus und kralle mich fest ans Bett; ich hatte eine solch gefährliche Reise gemacht, war wie ein Bündel durch die Luft heruntergesaust. Wie errettet kam ich mir nicht vor, als ich die Hand auf die harte Pritsche schlug! So ist es zu sterben, sagte ich zu mir, jetzt stirbst du! Und ich lag ein Weilchen da und sinnierte darüber, dass ich nun sterben müsse. Da richte ich mich im Bett auf und frage streng: Wer hat gesagt, dass ich sterben muss? Ich hörte selbst, dass ich phantasierte, hörte es, während ich noch sprach. Mein Irrsinn war ein Delirium aus Schwäche und Erschöpfung, aber ich war nicht besinnungslos. Und mir schoss unmittelbar der Gedanke durchs Hirn, dass ich wahnsinnig geworden sei. Von Angst gepackt, fahre ich aus dem Bett. Ich torkle zur Tür, die ich aufzukriegen versuche, werfe mich ein paarmal dagegen, um sie aufzubrechen, ramme meinen Kopf gegen die Wand, jammre laut, beiße mich in die Finger, weine und fluche... Aus: Hunger, 1888

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H U NGER




Martin Schenk

SOZIALES FIEBERTHERMOMETER

Armut und soziale Prekarität in Österreich 2022


Wir treffen uns im Sozialmarkt in der Neustiftgasse. Harald muss günstigst einkaufen, damit er über die Runden kommt. Die Teuerung spürt er an Haut und Knochen. Lebensmittel ziehen im Preis nach oben. Die Energiekosten würden im zu-Hause-Modus der Coronazeit an sich schon in die Höhe fliegen, hätte die Inflation nicht noch ein Schäuferl draufgelegt. Die Mieten sind bereits seit Jahren ein Problem für mittlere Einkommen. Harald kann von einem mittleren Einkommen aber nur träumen, er muss zur Zeit zwischen Niedriglohnjob und Mindestsicherung pendeln. Viel Arbeit, wenig Geld, viel Stress, wenig Spielraum. Wir trinken einen Kaffee. Am Tisch liegen Zeitungen. Alle haben die Teuerung am Titelblatt. Harald blättert in zusammengehefteten Papieren, die eine Erhebung zur Krise aus Sicht von Armutsbetroffenen enthalten. Die kleinen Preissteigerungen haben die Befragten dort schon vor über einem Jahr bemerkt. Was ausschließlich Einkommensschwache aufgrund der engen Haushaltsbudgets spürten, war die geringfügige, aber stetige Preissteigerung bei Lebensmitteln, vor allem Obst und Gemüse, aber auch bei Versandhandel und Gastronomie. Armutsbetroffene weisen hier ein geschärftes Sensorium auf, weil sie aufgrund ihrer ausgesetzten Position in der Gesellschaft schon kleine Veränderungen am eigenen Leib zu spüren bekommen. Sie sind eine so verletzliche Gruppe, da kann jeder Euro mehr, den man ausgeben muss, für eine Existenzkrise sorgen. Sie sind eine Art soziales Fieberthermometer, an dem sich negative gesellschaftliche Entwicklungen, die später viele treffen, Monate vorab zeigen.

»Und wie’s wieder auf die Erd wollt, war die Erd ein umgestürzter Hafen« »Die Welt dreht sich halt weiter und ich komme irgendwie nicht nach.« Das sagt ein junges Mädchen, das unter der Armutsgrenze lebt. Eine Studie hat jetzt ihre Stimme und die Stimmen vieler anderer hörbar gemacht. Armutsbetroffene und Armutsgefährdete, Leiharbeiter und Ich-AGs, Leute mit Sozialhilfe und Notstandshilfe, Alleinerziehende und sozial benachteiligte Jugendliche sprachen über ihr Leben. Die körperliche Gesundheit, die sozialen Kontakte und vor allem das psychische Wohlbefinden waren die großen Probleme. Und auch das Wohnen in zu großer Enge ist Thema. Wir fanden zwei Gruppen. Eine hat vor der Krise in schlecht bezahlten Jobs gearbeitet, hat keine Ersparnisse und bezieht sehr niedriges Arbeitslosengeld. Diese Menschen sind tatsächlich durch die Corona-Krise und ihren Jobverlust in Armut geraten. Die zweite Gruppe hatte einen gut bezahlten Job, im Idealfall finanzielle Rücklagen und einen ausreichend hohen AMS-Bezug. Sie kamen besser über die Runden. Bei prekär Beschäftigten und »working poor« offenbarte sich aber ein Muster besonders klar: die finanziellen Probleme wirken auf andere in der Familie weiter und bringen diese in einer 89

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Art Kettenreaktion ebenfalls in existenzielle Schwierigkeiten. »Ich habe den Haushalt angeschaut und gedacht: schaffe ich nicht. Ich habe alles angeschaut. Ich sollte das machen, schaff ich nicht. Ich sollte dies machen, schaff ich auch nicht. Das war schon so richtig Scheiße irgendwie. Und dann noch Schlafstörungen dazu«, sagt Alina, die sich mit drei Jobs durchschlägt. Es sei wie ein »Hamsterrad im Kopf«, sagt die 30-Jährige, die mit ihren drei Kindern fast zwei Jahre am sozialen Limit leben musste. Den ganzen Tag quälen die Sorgen und das Getöse im Kopf: Miete, Heizkosten, Lebensmittel. Jetzt nur keinen Schulausflug, der was kostet! Und nichts was kaputt wird! Und ja nicht krank werden! Und bitte nicht noch ein Problem im Betrieb! 289.000 Menschen leben hierzulande in Haushalten, in denen der Verdienst trotz Erwerbsarbeit nicht reicht, um die eigene Existenz zu sichern. 146.000 dieser »Working Poor« sind Haushalte mit Kindern. Aus prekären oder zu gering bezahlten Jobs folgen nicht-existenzsicherndes Arbeitslosengeld und Pensionen. Wer sein Leben lang in prekären Jobs arbeitet, wird keine existenzsichernde Pension zusammenbekommen, das Arbeitslosengeld und die Notstandshilfe sind so gering, dass man im Falle von Jobverlust davon keinen Tag überleben kann. »Prekär« heißt ja wörtlich nicht nur »unsicher«, sondern lateinisch eigentlich »auf Widerruf gewährt«, »auf Bitten erlangt«. Da steckt der geringe Umfang an Kontrolle und Handlungsspielräumen bereits im Begriff.

»Den Puls Woyzeck, den Puls, klein, hart hüpfend, ungleich« Wenn ich mit der Straßenbahn vom ärmsten Wiener Gemeindebezirk, Fünfhaus, in den reichsten – nach Hietzing – fahre, dann liegen dazwischen einige Minuten an Fahrzeit, aber auch sechs Jahre an Lebenserwartung der jeweiligen Wohnbevölkerung. Die Bevölkerung unter der Armutsgrenze weist einen dreimal schlechteren Gesundheitszustand auf als hohe Einkommen und ist doppelt so oft krank wie mittlere Einkommen. Das unterste Fünftel der Einkommensbezieher weist mit 18,5% den höchsten Anteil an Depression Erkrankter auf. Im obersten Fünftel ist der Anteil Betroffener mit 3 % am niedrigsten. Rund 30.000 Personen sind in Österreich nicht krankenversichert. Da ist Frau K. in prekärer Beschäftigung, da ist Herr G. in einer schweren psychischen Krise, da sind Hilfesuchende wie Frau L., die ihren Mindestsicherungsanspruch aus Scham nicht einlöst, da ist Herr G., der hier unangemeldet am Bau arbeitet. Menschen unter der Armutsgrenze sind mit der Nicht-Leistbarkeit von Gesundheitsleistungen konfrontiert. Durch Selbstbehalte oder fehlenden Kostenersatz seitens der Krankenkassen sind etwa Heilbehelfe, Brillen, Schuheinlagen oder Hörgeräte nicht finanzierbar. Selbiges gilt für Zahnersatz und andere notwendige Zahnbehandlungen. Eine kaputte Brille oder M A RT IN SCHEN K

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ein kaputter Zahn können somit schon große Probleme hervorrufen, weil sie entweder gar nicht oder nur durch einen enormen finanziellen Aufwand adäquat ersetzt werden können. Getönte Brillengläser, um Kopfschmerzen zu vermeiden, eine Zahnspange für die Kinder oder ein moderner Rollstuhl, um auch außerhalb der Wohnung mobil zu sein, werden zum unleistbaren Luxus. Leiste ich mir den Selbstbehalt für neue Stiftzähne oder zahle ich die Miete für meine kleine Wohnung? Es sind Fragen wie diese, mit denen die Linzerin Sonja Taubinger öfters konfrontiert ist. Im Zweifelsfall entscheidet sie gegen ihre Gesundheit. Aus leicht nachvollziehbarem Motiv: »Was helfen mir die schönsten Zähne, wenn ich damit zurück auf die Straße muss?« Sonja Taubinger verkauft in Linz die Straßenzeitung Kupfermuckn. Sie weiß nur zu gut, wie schlimm es ist, obdach- und schutzlos zu sein.

»Aber wenn ich ein Herr wär und hätt ein Hut und eine Uhr und eine Anglaise, und könnt vornehm reden, ich wollt schon tugendhaft sein« »Es ist einfach demütigend. Am Magistrat hat eine Sachbearbeiterin zu mir gesagt: ›Warum suchen Sie sich keinen Mann, der Sie erhält?‹ « Das erzählt Christine, die von vielen Berg- und Talfahrten aus ihrem Leben berichten kann. Ihre Alltagserfahrung ist mit Demütigungen gepflastert. Beschämung ist nicht bloß ein harmloses persönliches Gefühl. Es ist eine Bedrohung, die leicht in der Luft, aber schwer auf Körper und Geist liegt. Beschämung ist eine soziale Waffe. Ich werde zum Objekt des Blickes anderer gemacht. Andere bestimmen, wie ich mich zu sehen habe. Wir sprechen von »Gesichtsverlust« und fühlen unser Ansehen bedroht. Man möchte im Erdboden versinken. Unsichtbar sein. Der Ökonom Adam Smith hat das bereits 1776 in seinem Klassiker Der Reichtum der Nationen festgehalten: Arm ist »being unable to appear in public without shame«. Es geht um die Freiheit, über die eigene Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit verfügen zu können. Beschämung ist eine Frage des Blickes und des Ansehens. Für den Philosophen Philipp Pettit heißt deswegen auch »gerechte Freiheit«, anderen auf Augenhöhe zu begegnen. Er schlägt hier den »Blickwechsel Test« vor: sich ohne Grund zur Angst oder Ergebenheit in die Augen schauen zu können. Denn Beschämung hält Menschen klein. Sie rechtfertigt die Bloßstellung und Demütigung als von den Beschämten selbst verschuldet. Das ist das Tückische daran. »Soziale Scham fordert zu ihrer eigenen Moralisierung auf, um eine Erklärung für den Sinn der Verletzung zu ergründen, die man zuvor erfahren hat«, so der Soziologe Sighard Neckel. Damit der Akt der Beschämung seinen Zweck erreicht, muss für den beschämenden Mangel die Verantwortlichkeit auf die beschämte Person selbst übertragen werden. »Meine Scham ist ein Geständnis«, formulierte Jean-Paul 91

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Sartre. Er beschrieb, dass Beschämung darauf beruhe, den anderen zum Objekt der eigenen Freiheit zu machen, der damit im gleichen Maße Freiheit und Autonomie verliert. »Es ist auch die ganze existenzielle Bedrohung, nie wissen, was entscheidet die Regierung, mich nicht mehr wehren können, weil ich nicht gesund werde, ich bin da komplett angewiesen«, das erzählt Christine angesichts der aktuellen Sozialhilfekürzungen.

»Still, alles still, als wär die Welt tot« »Da war ein Fenster offen und eine Geigerin spielt, irrsinnig schön, also Mozart und Bach. Dann waren immer mehr Leute, sie wollte schon aufhören. Eine Freundin von mir hat gesagt, bitte nicht aufhören, bitte noch eins spielen. Zu Hause ist alles still und zu Hause wartet niemand auf mich und zu Hause bin ich allein. Und sie hat dann noch gespielt, also mir sind total die Tränen gekommen.« Das erzählt eine Frau aus Graz. Sie lebt unter der Armutsgrenze. Einsamkeit bedeutet, sich von der Welt getrennt fühlen. Die Welt gibt es da draußen, aber ich bin nicht mehr mittendrin. Die Welt mag tönend, farbig, warm und frisch sein. Meine Welt ist es nicht. Die Welt ist fremd geworden zu einem selbst. Wer sich von allen guten Geistern verlassen fühlt, verliert auch das Vertrauen in die Welt rundum. Vertrauen heißt, sich der Welt zugewandt fühlen. »Den meisten kann man vertrauen. Stimmt das?«, fragt die Statistik Austria. Am wenigsten »Ja« darauf sagen können diejenigen, die schlechte Jobs haben, die unter der Armutsgrenze leben, die am sozialen Rand stehen. Einander zu erleben als welche, die Einfluss haben, deren Handeln Sinn macht, wird als »Selbstwirksamkeit« bezeichnet. Die Welt bekommt einen Sinn. Mit Ohnmacht vergeht dieser »Weltsinn«. Je geringer der soziale Status, desto eher erleben die Betroffenen Situationen der Ohnmacht, der Einsamkeit und der Beschämung. Achtung und Wertschätzung bedeuten, in der Welt gesehen zu werden. Christine sagt es so: »Dass ich jetzt nicht mehr wo hingehen muss für eine Beihilfe, für eine Unterstützung, nicht mehr betteln oder ansuchen zu müssen, das ist sehr viel wert. Das stärkt das Selbstwertgefühl unheimlich.« »Das Schlimmste an der Armut ist, dass man arm ist und weiter nichts«, hat der Soziologe Georg Simmel formuliert. Alina: »Eine arme Frau will ich ganz sicher nicht genannt werden. Arm sein, das klingt, als hätte ich nichts anderes zu bieten als die Tatsache, dass ich mit wenig Geld auskommen muss. Das einzige, das die anderen an mir sehen, ist meine Armut. Der Umstand der Armut definiert mich – und sonst nichts. Ich bin der Blick der anderen. Ich bin das Objekt der Anschauung. Ich bin Armut.« Die einen verwandeln so Menschen in Objekte sozialmoralischer Pädagogik, in defizitäre Unterschichtsdeppen, die nichts können. Die anderen betrachten sie als Objekte erobernder Fürsorge, als immerwährende Opfer, die alles brauchen. Niemals aber wird das sichtbar, was Menschen noch alles sind, was sie tun und was M A RT IN SCHEN K

→ Szenenbild

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sie sein können. Wie Alina beispielsweise handelt, als Person, als Frau, als Mensch, als Mutter, als Organisatorin, als Musikerin. »Ich erlaube mir, einen persönlichen Betroffenheitsbericht zu übermitteln, der zeigt, wie leicht man durch die Maschen des sozialen Netzes fällt«, so beginnt ein Brief, den mir eine 55jährige Frau geschrieben hat. Er schließt mit der Bitte: »Sollten Sie meinen Bericht verwenden, dann nennen Sie bitte meinen Namen nicht – ich bin leider noch nicht so weit, dass ich mich für meine Situation nicht schäme – auch wenn der Verstand mir sagt, dass ich nichts dafür kann.«

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SOZI A LE S FIEBERT HER MOMET ER


Sigmund Freud

AGGRESSION

Als letzten, gewiss nicht unwichtigsten Charakterzug einer Kultur haben wir zu würdigen, in welcher Weise die Beziehungen der Menschen zueinander, die sozialen Beziehungen, geregelt sind, die den Menschen als Nachbarn, als Hilfskraft, als Sexualobjekt eines anderen, als Mitglied einer Familie, eines Staates betreffen. Es wird hier besonders schwer, sich von bestimmten Idealforderungen frei zu halten und das, was überhaupt kulturell ist, zu erfassen. Vielleicht beginnt man mit der Erklärung, das kulturelle Element sei mit dem ersten Versuch, diese sozialen Beziehungen zu regeln, gegeben. Unterbliebe ein solcher Versuch, so wären diese Beziehungen der Willkür des Einzelnen unterworfen, d.h. der physisch Stärkere würde sie im Sinne seiner Interessen und Triebregungen entscheiden. Daran änderte sich nichts, wenn dieser Stärkere seinerseits einen einzelnen noch Stärkeren fände. Das menschliche Zusammenleben wird erst ermöglicht, wenn sich eine Mehrheit zusammenfindet, die stärker ist als jeder Einzelne und gegen jeden Einzelnen zusammenhält. Die Macht dieser Gemeinschaft stellt sich nun als »Recht« der Macht des Einzelnen, die als »rohe Gewalt« verurteilt wird, entgegen. Diese Ersetzung der Macht des Einzelnen durch die der Gemeinschaft ist der entscheidende kulturelle Schritt. […] Das gern verleugnete Stück Wirklichkeit hinter alledem ist, dass der Mensch nicht ein sanftes, liebebedürftiges Wesen ist, das sich höchstens, wenn anSIGMU N D FR EU D

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gegriffen, auch zu verteidigen vermag, sondern dass er zu seinen Triebbegabungen auch einen mächtigen Anteil von Aggressionsneigung rechnen darf. Infolgedessen ist ihm der Nächste nicht nur möglicher Helfer und Sexualobjekt, sondern auch eine Versuchung, seine Aggression an ihm zu befriedigen, seine Arbeitskraft ohne Entschädigung auszunützen, ihn ohne seine Einwilligung sexuell zu gebrauchen, sich in den Besitz seiner Habe zu setzen, ihn zu demütigen, ihm Schmerzen zu bereiten, zu martern und zu töten. Homo homini lupus; wer hat nach allen Erfahrungen des Lebens und der Geschichte den Mut, diesen Satz zu bestreiten? Diese grausame Aggression wartet in der Regel eine Provokation ab oder stellt sich in den Dienst einer anderen Absicht, deren Ziel auch mit milderen Mitteln zu erreichen wäre. Unter ihr günstigen Umständen, wenn die seelischen Gegenkräfte, die sie sonst hemmen, weggefallen sind, äußert sie sich auch spontan, enthüllt den Menschen als wilde Bestie, der die Schonung der eigenen Art fremd ist. Wer die Gräuel der Völkerwanderung, der Einbrüche der Hunnen, der sogenannten Mongolen unter Dschingis Khan und Timurlenk, der Eroberung Jerusalems durch die frommen Kreuzfahrer, ja selbst noch die Schrecken des letzten Weltkriegs in seine Erinnerung ruft, wird sich vor der Tatsächlichkeit dieser Auffassung demütig beugen müssen. Die Existenz dieser Aggressionsneigung, die wir bei uns selbst verspüren können, beim anderen mit Recht voraussetzen, ist das Moment, das unser Verhältnis zum Nächsten stört und die Kultur zu ihrem Aufwand nötigt. Infolge dieser primären Feindseligkeit der Menschen gegeneinander ist die Kulturgesellschaft beständig vom Zerfall bedroht. Das Interesse der Arbeitsgemeinschaft würde sie nicht zusammenhalten, triebhafte Leidenschaften sind stärker als vernünftige Interessen. Die Kultur muss alles aufbieten, um den Aggressionstrieben der Menschen Schranken zu setzen, ihre Äußerungen durch psychische Reaktionsbildungen niederzuhalten. Aus: Das Unbehagen in der Kultur, 1930

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AGGR E S SION



»Aber die Menschen wären doch gar nicht schlecht, wenn es ihnen nicht schlecht gehen tät. Es ist das eine himmelschreiende Lüge, dass der Mensch schlecht ist.«

Ödön von Horváth in Kasimir und Karoline


Melanie Unseld

VOM RÄTSEL ZUM NICHT-SEIN

Diskurse ums »Weib« zur Zeit der Wiener Morderne


»Du mußt mir sein, oh Fraue, ein unentwirrbar Rätselvolles!«, schrieb Peter Altenberg, und nach einer Anrufung der »Unverständlichkeit« fragt er weiter: »Wer löst mir dieses Rätsel meines schmerzlos gemordeten Selbsterhaltungstriebes?!?« Mit gutem Grund ließ sich in diesen wenigen Zeilen aus Altenbergs 1918 erschienenem Band Vita ipsa der Nucleus einer Zeitströmung erkennen, die (nicht nur in Wien) die intellektuellen und künstlerischen Eliten der Jahrhundertwende erfasst hatte: Schriftsteller, Bildende Künstler, Komponisten, Philosophen und andere Intellektuelle widmeten sich ausgiebig der Verrätselung des Weiblichen: Was »das Weib« sei, wie der Denkende es definieren, der Schöpferische es in den Kosmos seiner Darstellungsmöglichkeiten einfügen, wie der Empfindende ihm gegenübertreten könne… alles stand in Frage – während sich Schriftstellerinnen, Künstlerinnen, Schauspielerinnen oder auch Ehefrauen, Geliebte, Angebetete gerade dann mit diesem Phänomen konfrontiert sahen, wenn sie selbst Gegenstand solcher Verrätselungsambitionen wurden. Noch 1933 thematisierte Sigmund Freud dies in seiner Vorlesung »Die Weiblichkeit« paradigmatisch für seine Generation: »Über das Rätsel der Weiblichkeit haben die Menschen zu allen Zeiten gegrübelt: ›Häupter in Hieroglyphenmützen, Häupter in Turban und schwarzem Barett, Perückenhäupter und tausend andere Arme, schwitzende Menschenhäupter – – –‹ Auch Sie werden sich von diesem Grübeln nicht ausgeschlossen haben, insoferne Sie Männer sind; von den Frauen unter Ihnen erwartet man es nicht, sie sind selbst dieses Rätsel.« Dass Freud hier übrigens den wortgewandten Heinrich Heine zitierte, mag nicht weiter verwundern, es ist aber doch einer Bemerkung wert, dass Heine in seinem Gedicht aus dem Buch der Lieder den »Jüngling-Mann,/Die Brust voll Wehmuth, das Haupt voll Zweifel« nicht über die Frage der Weiblichkeit nachdenken ließ, sondern über die des Menschseins überhaupt: »Was bedeutet der Mensch? Woher ist er kommen? Wo geht er hin?« Freud aber spitzte zu: die »schwitzenden Menschenhäupter«, insofern sie Männer sind, grübelten über die Weiblichkeit, ebenso rast- wie ergebnislos. Der Begriff übrigens – das Weib – gehörte dabei geradezu inflationär in das Vokabular dieser Zeit, verband sich mit ihm doch die Idee der (und der Anspruch auf ) Allgemeingültigkeit – Weiblichkeit allgemein und das Frausein an sich. Zugleich ließ sich mit ihm, als poetischem Begriff, auch eine deutliche Grenzlinie zu den politischen Diskursen der Zeit ziehen, zu Frauenfragen, Frauenemanzipation, Frauenwahlrecht etc. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass die Idee, das Weib sei grundsätzlich unerklärlich, eine idée fixe der Jahrhundertwende und ihrer Akteure war. Und dies umso mehr, als das Gegenüber zu diesem unentwirrbar Verrätselten 99

MELA N IE U NSELD


selbst infrage stand: Für die Jahrhundertwende diagnostizierte der französische Kulturwissenschaftler Jacque Le Rider eine umfassende »Krise der Identität«, die insbesondere Künstler und Intellektuelle erfasst habe, die sich mit Männlichkeitsvorstellungen konfrontiert sahen, die mit ihren eigenen Identitätskonzepten kaum vereinbar waren: Militarismus, Kapitalismus und die damit verbundene Idee einer durchaus martialischen Dominanz, konnte vielfach kaum in Einklang gebracht werden mit den Vorstellungen einer jungen Generation von Männern, die die Friktionen der Moderne zweifelnd wahrnahm, kritisch hinterfragte und für ihre Zweifel ästhetische Ausdrucksformen suchte. Es wäre freilich unangemessen, diese männliche Identitätskrise als vorübergehende Mode oder als solipstische Selbstbespiegelung einer männlichen intellektuellen Elite zu verstehen. Sie war ebenso grundlegend wie weitreichend, was sich nicht zuletzt – und poetisch nur wenig verschlüsselt – in Altenbergs Frageausruf kundtut: es sei die Frau, die den Selbsterhaltungstrieb des Mannes – zwar schmerzlos, aber doch – ermorde. Die Begegnung mit dem »Weib« wurde also als existenzielle Schwelle gedacht. Von Mord und Totschlag, metaphorisch wie real, ist daher in diesen Auseinandersetzungen mit der Krise der Identität häufig die Rede. In einen veritablen Rausch von Darstellungen sterbender, toter oder todbringender Frauen begibt sich die Literatur und die Kunst der Jahrhundertwende. Zur jungen Generation der identitätskrisengeschüttelten Männer gehörte auch der Wiener Philosoph Otto Weininger. 1902 wurde er an der Universität Wien mit einer »biologisch-psychologischen Studie« promoviert, die 1903 unter dem Titel Geschlecht und Charakter – eine prinzipielle Untersuchung erschien, vom Datum des Erscheinens an eine ungemein breite Rezeption entfaltete und in kürzester Zeit zahlreiche Neuauflagen erfuhr. Weininger selbst erlebte diesen starken Nachhall seines Buches nicht mehr: Der 23-Jährige mietete sich im Oktober 1903 ein Zimmer in der Schwarzspanierstraße in Wien und beging dort, am Sterbeort des von ihm als Genie verehrten Ludwig van Beethoven, Suizid. Dieser Freitod erschütterte die Wiener Gesellschaft insofern, als man Weininger einerseits geistige Umnachtung, andererseits kompromisslose Genialität attestierte. Dass man dabei neuerlich und in der Nachfolge von Cesare Lombrosos, Max Nordau und anderen über den Zusammenhang von Genie und Wahnsinn diskutieren konnte, kam den Zeitgenossen äußert gelegen. Zugleich ließ sich eine unmittelbare Verbindung zu Weiningers Thesen ziehen: In Geschlecht und Charakter ging es Weininger um eine grundlegende Kategorisierung des Menschen, die für den Autor unhintergehbare Hierarchien begründete. Diese Hierarchie aber stürzte ihn selbst, da jüdischer Herkunft, in schwerste Identitätskrisen. Sich selbst als Genie imaginierend, konnte er nach seiner eigenen Theorie keiner sein: Weininger formulierte in Geschlecht und Charakter nicht nur eine zutiefst misogyne, sondern auch antisemitische Vorstellung vom Menschen. Das christliche, männliche Genie stehe an der Spitze der Gesellschaft, und sei im Grunde MELA N IE U NSELD

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einzig des Menschseins wertvoll. Argumentativ Hand in Hand mit dieser antisemitischen Grundhaltung geht die grundlegend misogyne Position von Geschlecht und Charakter einher. Weininger formulierte in seiner »prinzipiellen Untersuchung« eine Vorstellung von Geschlecht, deren Kern darin bestand, dem Mann allein Intellektualität, Genialität oder zumindest Tatkraft (»Mann der Tat«) zuzuschreiben, das »Weib« hingegen auf seinen Sexualtrieb zu reduzieren und ihm grundlegend Reflexionsfähigkeit, moralisches Bewusstsein und nicht zuletzt Identität abzusprechen. »Das absolute Weib hat kein Ich« so Weininger. Nike Wagner ist zuzustimmen, wenn sie Weininger als »größten Theoretiker der Misogynie« bezeichnet: Kaum ein Buch argumentiert derart weitschweifend den »Unwert« des »Weibes«, und kaum ein Autor ist, zumindest von seinen Zeitgenossen, derart breit als Theoretiker in Fragen des Geschlechts rezipiert worden. Auch die Künstler und Intellektuellen der Moderne lasen Weiningers Studie. Georg Trakl, August Strindberg, Stefan Zweig, Frank Wedekind und Ludwig Wittgenstein ließen sich von seinen Ideen anregen, Arnold Schönberg subsummierte ihn im Vorwort seiner Harmonielehre unter »alle, […] die ernsthaft gedacht haben«. »Für eine ganze Generation von ›Modernen‹ «, so Le Rider, »bedeutet Geschlecht und Charakter ein entscheidendes Datum, eine Begegnung mit sich selbst«. Auch Alban Berg las Geschlecht und Charakter in der für ihn typischen, gründlichen, annotierenden Art und Weise. Aufgrund dieser Annotationen lässt sich heute noch nachvollziehen, welche Passagen und Aussagen Weiningers für Berg offenbar des Merkens wert waren. Und es ist nicht schwer, sowohl in Wedekinds Dramen Erdgeist und Die Büchse der Pandora als auch in Bergs darauf basierender Oper Lulu – gerade auch in der Hauptfigur – deutliche Spuren von Weiningers Vorstellung vom »Weib« wiederzufinden. Doch auch das Figuren-Tableau aus Georg Büchners Dramenfragment Woyzeck schien prädestiniert, vor dem Hintergrund von Weiningers Konzept des Menschseins gelesen zu werden: Woyzeck selbst, dem der Arzt bescheinigt, dass er zu viel denke, gehört in Weiningers hierarchischer Anlage männlicher Typen ganz an den unteren Rand, während Arzt oder auch Tambourmajor zu den »Männern der Tat« zählen, und damit mediokre Charaktere sind, auf die kein Glanz der Genialität fällt. Vor allem aber ist Marie als Weininger’sche Figur »lesbar« – will heißen: Alban Berg konnte unmittelbare Anknüpfungspunkte zwischen Büchners Marie und Weiningers Konzept des »Weibes« erkennen. Marie lebt mit Woyzeck in einer Ehe ohne Trauschein, denn zum Heiraten fehlen ihnen Geld und obrigkeitliche Erlaubnis. Was Woyzeck stark als moralischen Makel empfindet, scheint Marie als Unausweichlichkeit ihrer Armut zu begreifen. Sie ist es auch, die dem vorüberziehenden Tambourmajor die Türe öffnet. Die Ohrringe, die sie von ihm geschenkt bekommt, sind für Woyzeck Symbol ihrer Untreue, sie selbst hingegen sieht in ihnen vor allem 101

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den Glanz der »großen Madamen«, sich für einen Augenblick in der Eitelkeit der großen Welt spiegelnd. Marie und Woyzeck bleiben bei Büchner »arme Leut«, die, aufeinander bezogen und doch einsam, die drastische Armut bewältigen – oder auch an ihr scheitern. Und Büchner kannte das Milieu gut, wusste, unter welchen Bedingungen eine Figur wie Marie lebt und dass ihre sexuelle Selbstbestimmung beständig infrage gestellt wird, ihre körperliche Unversehrtheit beständig in Gefahr ist. Auch in nächster Nähe ist Marie vor Übergriffen nicht sicher: »Rühr mich nicht an«, warnt sie Wozzeck. »Lieber ein Messer in den Leib, als eine Hand auf mich. Mein Vater hat’s nicht gewagt, wie ich zehn Jahr alt war…«. Büchner hatte sich intensiv mit dem Fall des Mörders Johann Christian Woyzeck auseinandergesetzt, er studierte die Gerichtsakten und die Gutachten, die über Woyzeck in Auftrag gegeben wurden, weil seine Zurechnungsfähigkeit in Frage stand. All diese Quellen, in denen viel über den Mörder, kaum etwas über das Mordopfer, die Witwe Johanna Christiane Woost, zu erfahren war, dienten Büchner als Vorlage und Inspirationsquelle zu seinem Drama. Denn für Büchner stand fest: Mit dem Fall Woyzeck war ein soziales Drama auf die Bühne zu stellen: Armut und soziale Unbehaustheit sah Büchner als Ursache für den Mord Woyzecks an Woost. In Weiningers Verständnis freilich ist nicht die soziale (Un)Ordnung ausschlaggebend für den Charakter oder die Handlungsmotivationen eines Menschen, sondern sein Geschlechtscharakter. So ist Wozzeck (in Bergs Lesart), ähnlich wie dies Altenberg poetisch fabulierte, durch seine untreue Marie in seinem Selbsterhaltungstrieb gemordet. Und für die Frau allgemein und die Figur der Marie im Besonderen bedeutet dies, dass sie qua Frausein verlogen, unkritisch und verführbar sei: »Es ist also richtig, daß das Weib keine Logik besitzt. […] Ihr mangelt das intellektuelle Gewissen. Man könnte bei ihr von ›logical insanity‹ sprechen«. Oder: »Wo also Täuschung seinen (oft unbewußten Wünschen entgegenkommt, dort wird das Weib gänzlich unkritisch, und verliert jede Kontrolle über die Realität.« Schließlich auch: »Das Weib hat kein Verhältnis zur Idee, es […] ist richtungslos, weder gut noch böse, weder Engel noch Teufel, nicht einmal egoistisch […], es ist amoralisch, wie es alogisch ist. Alles Sein aber ist moralisches und logische Sein. Die Frau also ist nicht.« Diese Sätze aus Weiningers Studie lassen sich nicht nur als Interpretationsfolie der Figur der Marie lesen – bis hin zur »Erklärung«, warum die Ermordung Maries gewissermaßen folgerichtig sei – »Die Frau also ist nicht« –, sondern diese Sätze sind (neben anderen Annotationen) von Berg in seinem Exemplar von Geschlecht und Charakter mit Bleistift angestrichen. Es sind offenbar Sätze, die Berg für nachdenkenswert erachtete, die damit auch als Interpretationsfolie für Marie zu denken sind. Auch deswegen war für Berg und seine Zeitgenossen jenes Dramenfragment aus den 1830er Jahren knapp 100 Jahre später wieder aktuell: die Figur der Marie bot sich an, als Verkörperung einer Idee von »Weib« gelesen zu werden, die um und nach 1900 in neuer Lesart noch immer hochaktuell war. MELA N IE U NSELD

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» O Helene, manchmal, und so jetzt im Augenblick, überkommt’s mich mit ungeheurer Gewalt: die Sehnsucht, Dich wenigstens eine Sekunde an meiner Seite zu haben – und liebend an Dir zu sterben –– den Liebestod. « Alban Berg an Helene, 30. Juli 1909


EINE GESELLSCHAFTLICHE VERÄNDERUNG TUT NOT

Im Gespräch mit Monika Jank und Isabel Haider


Regisseur Simon Stone betont durch die Verlegung der Wozzeck-Handlung in das Wien der Gegenwart die Aktualität des Stoffes. Dies betrifft nicht zuletzt auch das Thema Femizid, das er in der Ermordung Maries beispielhaft vorgeführt sieht. Diesem Gedanken folgend baten Oliver und Andreas Láng Monika Jank von der Wiener Interventionsstelle gegen Gewalt in der Familie und Isabel Haider vom Institut für Strafrecht und Kriminologie der Universität Wien zum nachfolgenden Gespräch. Versuchen wir eine Standortbestimmung: Was versteht man konkret unter Femizid? Eine einheitliche Definition ist schwer festzumachen, es kommt vielmehr auf den Kontext an, in dem der Begriff verwendet wird, aus welcher Perspektive man einen Fall betrachtet – aus einer soziologischen beispielsweise, einer psychologischen oder einer rechtswissenschaftlichen Sicht. Grundsätzlich verstehen internationale Organisationen Femizid als geschlechtsbezogene Tötung von Frauen, das heißt, eine Tötung, weil das Opfer eine Frau ist. Mit anderen Worten: Nicht jeder Frauenmord, wie etwa ein Erbschaftsmord, ist ein Femizid. Außerdem werden verschiedene Manifestationsformen unter diesem Begriff zusammengefasst, die in ihrem Vorkommen regionalen Unterschieden unterliegen. Tötungen in Intimbeziehungen beziehungsweise im Familienkontext sind Femizidformen, die weltweit vorkommen, aber dann gibt es kulturell bedingte Formen von Gewalt, die international sehr unterschiedlich ausgeprägt sind. Denken wir an die Genitalverstümmelungen von Frauen, die bei uns in Europa eine geringere Rolle spielen, aber in anderen Erdteilen durchaus viele Todesopfer zeitigen. Dazu kommt, dass die statistische Erfassung nicht einheitlich ist: In Österreich zeigt die Kriminalstatistik Kategorien auf, aus denen man zwar die Zahl der weiblichen und männlichen Opfer ablesen kann, nicht aber, ob zum Beispiel frauenfeindliche Motive eine Rolle gespielt haben oder welcher Beziehungskontext vorlag. Der Geschlechtsbezug von Gewalt gegen Frauen und die relevanten Genderdimensionen, setzen sich aus mehr Aspekten zusammen, als bloß dem Opfergeschlecht aus biologischer Sicht. Femizid wird, so traurig das auch ist, also auch im europäischen Kontext nicht als eigenes Kriminalitätsphänomen anerkannt. MONIKA JANK Da es an einer präzisen Definition und strukturierten Erfassung in Österreich, aber auch in anderen Ländern mangelt, wäre es wichtig, eine eigene, unabhängige Femizid-Kommission in jedem Land zu installieren, die im Nachhinein jeden der infrage kommenden Morde untersucht und analysiert: Nur so kann im Laufe der Zeit eine größere Klarheit auf diesem Gebiet geschaffen und das tatsächliche Ausmaß beziffert werden. Und nur wenn diese Klarheit erreicht ist, sind als Schlussfolgerung sinnvolle politische Schritte möglich. ISABEL HAIDER

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Es kann nämlich langfristig nicht nur darum gehen, Gewalt unmittelbar zu verhindern, sondern eine Gleichstellung und Geschlechterrollen zu schaffen, die verhindert, dass Männer zu Gewalt neigen und Frauen in Gewaltbeziehungen festsitzen. Nach wie vor bestehen Hemmungen, sich auf feministische Kriminalitätstheorien einzulassen, weil dann gesellschaftliche Veränderungen auf den Weg gebracht werden müssten, die politisch anscheinend nicht gewollt sind. IH

Wie weit ist Femizid in der Gesellschaft bereits als fixer Begriff angekommen? Man hat das Gefühl, dass er bei uns seit zwei, drei Jahren in Verwendung ist. Das ist schwer zu sagen. Femizid ist ja nur die Spitze des Eisbergs. Sicher ist, dass in den letzten Jahren die öffentliche und mediae Aufmerksamkeit in Bezug auf Gewalt gegen Frauen und Femiziden gestiegen ist, was sicherlich auch das diesbezügliche Bewusstsein vermehrt und geschärft hat. IH Der Begriff Femizid wurde übrigens von der US-Soziologin Diana Russell bereits 1976 in den medialen Diskurs eingeführt. Sie war der Meinung, dass es eine eigens benannte Kategorie braucht, da ansonsten diese Form der Gewalt in der allgemeinen Mordkriminalität untergeht – schließlich werden global gesehen deutlich mehr Männer ermordet als Frauen. Lediglich in Österreich ist es in den letzten Jahren diesbezüglich immer wieder umgekehrt gewesen. MJ

Warum? Als Erklärung wird angeführt, dass Österreich ein sicheres Land ist, es daher verhältnismäßig wenige Morde an Männern gibt und daher die Zahl der Frauenmorde im Vergleich dazu deutlicher herausstechen. Meine Frage ist nur: Wenn Österreich ein sicheres Land ist, warum ist dann die Zahl an Frauenmorden nicht niedriger? IH

In den Medien liest man des Öfteren, dass die Zahl der Femizide in Österreich höher ist als in anderen westlichen Staaten. Stimmt das? Vergleicht man die Zahl der weiblichen Mordopfer pro 100.000 Einwohner, weist Österreich im europäischen Vergleich keine höhere Zahl an Frauenmorden auf. Allerdings werden bei uns keine detaillierten Statistiken erhoben, die es erlauben würden, nicht nur Frauenmorde allgemein, sondern tatsächlich Femizide zu vergleichen. Es fehlt Beispielsweise bereits an der Kategorie Intimbeziehungsmorde – Österreich arbeitet IH

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lediglich mit der Kategorie Mord im Familienkontext. Mit anderen Worten: Alle Frauenmorde werden in einen Topf geworfen und keiner näheren Analyse unterzogen. Die in den Medien verwendeten Zahlen zu Femiziden des laufenden Jahres werden von den Autonomen Österreichischen Frauenhäusern auf Basis von Medienberichten gezählt und auf ihrer Webseite veröffentlicht. Behördlich gibt es keine präzise Femizidstatistik. Wie werden jene betreut, die sich an eine Organisation wenden, um der Gewaltsituation zu entfliehen? Welche Möglichkeiten für diese Frauen gibt es? Die meisten Klientinnen, die wir betreuen, kommen im Zusammenhang mit polizeilichen Meldungen, Betretungs- und Annäherungsverboten, Stalking- und anderen Strafanzeigen. Wir bieten Beratungen an und versuchen auf allen Ebenen zu helfen: Zunächst geht es ja darum, den Frauen zu vermitteln, sich als Opfer zu erkennen. Sie müssen verstehen, dass sie das Recht haben, ein gewaltfreies Leben zu führen, dass nicht sie Schuld daran haben, wenn ihnen Leid angetan wird. Wir unterstützen jene, die zum Beispiel in Frauenhäuser übersiedeln müssen, bieten Rechtsbeistand – sehr viele sind in so einer Situation überfordert. IH Und viele trauen sich nicht, aus einer Gewaltbeziehung auszubrechen oder können dies aufgrund ihres ungleichen Zugangs zu Ressourcen faktisch nicht. Manche haben Angst um sich und das Leben der Kinder, andere sind ökonomisch vom Mann abhängig, und dann kommen noch die ansozialisierten Geschlechterrollen hinzu: Für viele Frauen ist es Teil der Geschlechtsidentität, eine Familie zu gründen, diese zusammenzuhalten und nicht davonzulaufen, wenn Schwierigkeiten auftauchen. Gesellschaftliche Erwartungen entsprechend, fühlen sich viele Frauen verantwortlich dafür, die Probleme des Partners zu lösen. MJ

Inwieweit sind Femizide abhängig von einer gesellschaftlichen Klasse? Sind sie im Prekariat häufiger anzutreffen? Gewalt gegen Frauen und somit auch Femizide sind definitiv unabhängig vom sozialen Status. Es handelt sich vielmehr um ein gesellschaftliches Problem, das sich auf allen Ebenen und in allen Ländern äußert. Man muss sehr aufpassen, damit man nicht bestimmte Vorurteile – »in diesen Ländern, in diesen Schichten ist Femizid häufiger« – zementiert, da solche Klischeebildungen kontraproduktiv sind. IH Leider werden oft auch von der Politik ganz bestimmte Opferrollen kreiert, die die Vielzahl der Fälle nur bedingt abdecken. Wir alle kennen diese typischen Plakat-Abbildungen von trauernden Frauen, die in einem Eck kauern und aufgefordert werden, doch endlich zum Hörer MJ

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zu greifen. Nicht nur Frauen aus höheren Schichten, die im Berufsleben vielleicht sogar eine Chefinnenposition besitzen, aber dennoch zu Hause Gewalt ausgesetzt sind, erkennen sich in diesen Bildern nicht wieder. Theoretischen Annahmen folgend, ergibt sich ein Risiko von männlicher Gewalt in Intimbeziehungen, die in der Ressourcenanordnung von der kulturellen Definition des höhergestellten Mannes abweichen. Die Frau hat im Vergleich zum Mann vielleicht einen besser bezahlten oder prestigeträchtigeren Job, ist besser ausgebildet. Diese Konstellation kann in allen gesellschaftlichen Klassen auftreten, indem das Haushaltseinkommen beispielsweise zwar niedrig ist, Frauen mit ihrem Einkommen aber die Familie ernähren. Im Rahmen traditioneller Geschlechterideologien fühlen sich Männlichkeiten jedoch mitunter auch angegriffen, wo man von einem höheren Status der Frau weit entfernt ist, sondern sich die Frau im Auge des Mannes anderweitig nicht gemäß der ihr zugeschriebenen, unterwürfigen und dienenden, Rolle verhält. Ist ein Femizid vorhersehbar? Ist er der letzte Akt einer sich immer weiter aufbauenden Gewaltäußerung? Das lässt sich im Nachhinein oft nicht rekonstruieren. Ich habe an einer Untersuchung der Femizide des Jahres 2018 mitgearbeitet: Aus dieser geht hervor, dass in vielen Fällen im Intimbeziehungskontext die Polizei schon involviert war, ehe es zum Mord kam. Aber eben nicht in allen Fällen. Außerdem betreffen Femizide ja nicht den familiären Kontext allein und dann wird es noch schwieriger, diesbezüglich eine Aussage zu treffen, auch abhängig davon wieviel zum Vorleben bekannt wird. IH

Kommen wir zu Bergs Wozzeck: Er ist unentwegt Opfer, wird von allen schlecht behandelt, schließlich betrügt ihn auch seine Partnerin Marie, die für ihn den letzten Halt dargestellt hat – worauf er sie umbringt. Handelt es sich in diesem Fall um einen Femizid? Eindeutig: Ich erkenne hier eine Situation, die auch in der Realität vorkommt: Ein Mann glaubt – bewusst oder unbewusst –, der Frau gegenüber einen Besitzanspruch zu haben und erträgt es nicht, dass sie ihn betrügt oder verlassen will. Deshalb sind Trennungen oft so gefährlich und vermehrt mit Gewalt an Frauen verbunden. Es handelt sich also um ein gesellschaftlich-strukturelles Problem. Verstärkt wird diese Situation noch um einen weiteren Gedanken, den Sie eben erwähnten: Wozzeck ist immer und in allen Situationen unterlegen. Die einzige Person, über die er theoretisch selbst Macht und Einfluss ausüben könnte, ist Marie – auch wenn er ihr de facto ebenfalls unterlegen ist. In diesem Mord an ihr fokussiert er also offenbar all das, was ihm bis dahin angetan wurde. MJ

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Auch hier kommt eine anerzogene Geschlechterrolle zum Tragen: Fühlen Männer ihre Männlichkeit infrage gestellt – wenn die Geschlechtsidentität mit Stärke und Dominanz gleichgesetzt wird – üben sie mangelns Alternative häufig Gewalt aus, um sie wiederherstellen zu können. Auch die für ihn dann nachteilige Auseinandersetzung mit dem physisch überlegenen Tambourmajor, der ihm noch dazu Marie gewissermaßen weggenommen hat, ist Ausdruck davon und führt weiters dazu, dass er das Gefühl bekommt, einen Ausgleich schaffen zu müssen. Marie wird dafür bestraft die Geschlechterordnung in der Beziehung verletzt zu haben und von der von ihr erwarteten Weiblichkeit, der Rolle der ergebenen Frau abgewichen zu sein. Derartige Geschlechteridentitäten und -ideologien ergeben sich situativ und verändern sich daher je nach Kontext. IH

Wenn Wozzeck nicht sterben und vor Gericht gestellt würde, wäre sein bzw. das Argument der Verteidigung vermutlich, dass Marie durch ihr Verhalten Mitschuld an ihrem Tod trägt. Ähnliches wird ja bei Prozessen immer wieder versucht und leider funktioniert dies auch ein Stück weit, weil Denkweisen wie »sie hat sich so aufreizend angezogen, sie hat so viele wechselnde Sexualpartner, sie hat provoziert« selbst in unserer Gesellschaft weit verbreitet sind. Umso wichtiger ist es, den Opfern klar zu machen, dass sie nie schuld sein können, wenn ihnen Gewalt angetan wird. Dieses Phänomen der Schuldzuweisung bezeichnet man auch als Täter-Oper-Umkehr. MJ

Und könnte sich Wozzeck auch damit verteidigen, dass er anführt selbst auf allen Ebenen unterdrückt worden zu sein und der Mord gewissermaßen ein Ventil für all das Aufgestaute war? Es wäre fraglich, ob ein Täter, der gerade unbewusst seine Männlichkeit wiederhergestellt hat, vor Gericht und vielen Zuhörern aussagt, wie sehr er von anderen unterdrückt wurde. Es wäre natürlich sehr interessant, wenn in vergleichbaren Fällen die Beziehungsebenen des Mannes in seiner sonstigen Welt untersucht würde. Das könnte Aufgabe entsprechender Studien oder einer von Frau Jank vorhin angesprochenen Femizid-Kommission sein aber dafür fehlen derzeit leider sowohl das Interesse als auch die Ressourcen. Im Allgemeinen waren in den mir bekannten Akten im Zusammenhang mit einem Femizid zwei Richtungen vorherrschend: Entweder versucht der Täter, der Frau eine Mitschuld zuzuschieben, oder er gibt vor, nicht zu verstehen, wie der Mord hatte passieren können. IH

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Konrad Paul Liessmann

MONDNACHT Über die Unerbittlichkeit der Natur in Alban Bergs Wozzeck »Es war, als hätt’ der Himmel / Die Erde still geküßt, / Daß sie im Blütenschimmer / Von ihm nun träumen müßt’.« Joseph von Eichendorffs um 1835 entstandene Mondnacht gilt als paradigmatisches Gedicht der anhebenden späten Romantik. Die Natur scheint sich mit sich selbst zu versöhnen und wird zum utopischen Sehnsuchtsort des Menschen: »Und meine Seele spannte / Weit ihre Flügel aus, / Flog durch die stillen Lande, / Als flöge sie nach Haus.« Nahezu zeitgleich skizzierte Georg Büchner sein unvollendet gebliebenes Dramenfragment Woyzeck. An dem verhängnisvollen Abend führt Woyzeck Marie aus der Stadt hinaus, überwältigt noch einmal von seinem Begehren: »Heiß, heißer Hurenatem und doch möcht’ ich den Himmel geben sie noch einmal zu küssen.« Wenig später bemerkt Marie: »Was der Mond rot aufgeht«, und Woyzeck ergänzt: »Wie ein blutig Eisen.« Dann ersticht der Soldat seine Geliebte. Alban Berg übernimmt diese Episode als zweite Szene des dritten Aktes, präzisiert aber in der Regieanweisung: Waldweg am Teich. Es dunkelt. Als Wozzeck nach der Tat zurückkehrt, um das verräterische Messer zu suchen, ist die Szene lapidar überschrieben mit: Mondnacht wie vorher. Es scheint fast so, als hätte Alban Berg diese Szene in einen bewussten Kontrast zu Eichendorffs Mondnacht gesetzt. Das milde Licht des Mondes, das in einer romantischen Konstellation die Liebenden umfängt und zum Sinnbild einer tiefen Sehnsucht nach Harmonie wird, erstarrt zum blutigen, unheilschwangeren Eisen. Dieser Mond verleitet zu keinen seelischen Höhenflügen, er lässt dem verzweifelten Mörder keine Ruhe, sein Anblick treibt ihn immer tiefer in den Teich: »Aber der Mond verrät mich, der Mond ist blutig.« Wozzeck ertrinkt. Diese Mondnacht kennt keinen utopischen Konjunktiv mehr, sondern nur noch den brutalen Indikativ von Mord und Selbstmord. Drastischer als in dieser Gegenüberstellung lässt sich der Wandel des Naturbegriffs kaum denken. Eichendorff stand noch in einer Tradition, die maßgeblich von der Naturphilosophie der Frühromantiker, namentlich von Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, bestimmt war. In seiner 1797 entworfenen Einleitung zu seinen Ideen zu einer Philosophie der Natur postuliert der KON R A D PAU L LIE S SM A N N

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als Junggenie gehandelte Philosoph die ursprüngliche Einheit von Natur und Geist: »Die Natur soll der sichtbare Geist, der Geist die unsichtbare Natur sein.« Schellings Naturbegriff ist umfassend, er bezieht sich auf die produktive Kraft der Natur, auf ihre Dynamik, ihre großartigen Potenziale ebenso wie auf ihre Erscheinungen in der Welt: »Die Wurzel und das Wesen der Natur ist dasjenige, welches die unendliche Möglichkeit aller Dinge mit der Wirklichkeit der besondern verbindet und daher der ewige Trieb und Urgrund aller Zeugung ist.« Und dabei gilt: »Jedes organische Produkt besteht für sich selbst, sein Dasein ist von keinem anderen Dasein abhängig.« Schellings Naturbegriff ist weit entfernt von jenem der modernen, technisch orientierten Wissenschaft. Er kann noch schreiben: »Der höchste Genuß der Seele ist, durch die Wissenschaft bis zur Anschauung dieser vollkommensten, alles befriedigenden und in sich fassenden Harmonie gedrungen zu sein.« In dieser Philosophie küsst der Himmel tatsächlich die Erde und die Seele schwingt im selben Rhythmus. Wohl weiß Schelling um die aufbrechende Differenz von Mensch und Natur, aber er sieht in der Kunst jene Instanz, die »das Allerheiligste gleichsam öffnet, wo in ewiger und ursprünglicher Vereinigung gleichsam in Einer Flamme brennt, was in der Natur und Geschichte gesondert ist, und was im Leben und Handeln, ebenso wie im Denken, ewig sich fliehen muß […]. Was wir Natur nennen, ist ein Gedicht, das in geheimer wunderbarer Schrift verschlossen liegt.« Diese berühmt gewordenen Sätze aus Schellings System des transzendentalen Idealismus aus dem Jahre 1800 markieren einen Höhe- und Wendepunkt der romantischen Naturphilosophie. Wohl kann der angehende Mediziner Georg Büchner in seiner 1836 gehaltenen Züricher Probevorlesung Über Schädelnerven entfernt daran anknüpfen: »Die Natur handelt nicht nach Zwecken, sie reibt sich nicht in einer unendlichen Reihe von Zwecken auf, von denen der eine den anderen bedingt; sondern sie ist in allen ihren Äußerungen sich unmittelbar selbst genug.« Die Einheit mit dem Menschen aber ist verloren gegangen. Die Natur wird nun zum Objekt einer messenden, experimentierenden, rücksichtslos neugierigen Wissenschaft, und die Kunst hört auf, diese Einheit zu offenbaren, sie protokolliert vielmehr die ungeheure Zerrissenheit, die sich auch gegen den Menschen selbst richtet. Davon handelt Büchners Woyzeck. Büchner hatte den Stoff für seine Szenenfolge einem Gerichtsakt entnommen. Der Soldat Johann Christian Woyzeck war des Mordes an seiner Geliebten Johanna Christiane Woost angeklagt, verurteilt und 1824 in Leipzig öffentlich hingerichtet worden. Entscheidend für das Todesurteil war das Gutachten des Mediziners Johann Christian August Clarus, der an Woyzeck eine »moralische Verwilderung« diagnostizierte und ihn trotz seiner Wahnvorstellungen für voll zurechnungsfähig erklärte. In der Figur des Doctor hat Büchner den Zynismus dieses Naturwissenschaftlers porträtiert. Der Doctor vertritt dabei eine zwiespältige Position: Einerseits ist er fasziniert von 113

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den Möglichkeiten der experimentellen Erforschung der Natur, auch der des Menschen. Die grausamen Versuche, die er bei Büchner mit Woyzeck anstellt, demonstrieren dies. Andererseits war er kein moderner Determinist, sondern ein platter Idealist, der durch seine Versuche beweisen wollte, dass die natürlichen Bedürfnisse, Reflexe und Triebe des Menschen dem Geist unterworfen sind und von diesem nach Belieben gesteuert werden können. Woyzecks Unvermögen, seinen Harndrang zu kontrollieren, erweist den Soldaten in den Augen des Mediziners als schwach und unfrei. Woyzeck taugt nicht zur Bestätigung der Lieblingsthese des Arztes: dass der Körper dem freien Willen zu gehorchen hat. Im Verhältnis des Doctor zu Woyzeck nimmt der Begriff der Natur schillernde Farben an. Für den Wissenschaftler ist Natur doppelt beherrschbar: Einmal durch die empirisch-analytische Zugangsweise, einmal als Objekt des freien Willens. An Woyzeck jedoch zeigt sich Natur als Schicksal, dem der Einzelne nicht zu entrinnen vermag. Die prekäre soziale Lage, in der sich der arme Rekrut befindet, verstärkt dieses existenzielle Ausgeliefertsein noch. Der Einzelne – der Mensch so wie das Tier – ist in keinen Sinnzusammenhang eingebettet, die Natur kennt kein Ziel, kein Telos, auf das sie gerichtet wäre und von dem aus die Handlungen und Gefühle der Organismen eine übergeordnete Bedeutung bekommen könnten. Büchner hatte sich stets scharf gegen solche »teleologischen« Konzepte der Naturphilosophie gewandt. In der Wirtshausszene des Woyzeck ist es der Erste Handwerksbursch, der als Karikatur dieses teleologischen Denkens auftritt: »[…] von was hätte der Landmann, der Weißbinder, der Schuster, der Arzt leben sollen, wenn Gott den Menschen nicht geschaffen hätte? […] von was der Soldat, wenn er ihn nicht mit dem Bedürfnis sich totzuschlagen ausgerüstet hätte?« Der betrunkene Bursche, dessen »Seele« nach »Branntewein« stinkt, hält noch an Gott als Urheber zweckmäßiger Verhältnisse fest, die Sache wird aber nicht besser, ersetzt man diesen durch die Natur. Die Natur verleiht weder Sinn noch Ordnung, sie ist unerbittlich. Alban Berg hat diese Grausamkeit der Natur betont, im wahrsten Sinn des Wortes. Genauer als Büchner schreibt Berg vor, in welcher Landschaft sich die entscheidenden Ereignisse abspielen, welche Naturstimmung vorherrscht. Präzise ist jede Szene mit der Angabe der Tageszeit versehen. Damit werden auch exakt die bühnentechnisch notwendigen Lichtverhältnisse definiert, die bei Georg Büchner fehlen. Im zweiten Akt etwa liest sich dies wie folgt: Mariens Stube. Vormittag. Sonnenschein. Danach: Strasse in der Stadt. Tag. Dann: Strasse vor Mariens Wohnungstür. Trüber Tag. Noch später: Wirtshausgarten. Spät abends. Und schließlich: Wachstube in der Kaserne. Nachts. Die Abfolge der Tageszeiten und die hereinbrechende Dunkelheit korrespondieren mit den sich dramatisch zuspitzenden Ereignissen. Die Sonnenstrahlen, die in Mariens Stube einfallen, symbolisieren zwar ihre Freude über die glänzenden Ohrringe, mit denen sie sich im Spiegel betrachtet, aber dieses Vergnügen währt nur kurz. Der Schein trügt. Er präludiert ein Verhängnis, das sich wie KON R A D PAU L LIE S SM A N N

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→ Nächste Seiten: Anja Kampe als Marie und Christian Gerhaher als Wozzeck

eine Naturgewalt über alle Beteiligten legt. Die wechselnden Lichtverhältnisse können als Reflexe der inneren Gestimmtheit der Protagonisten aufgefasst werden. Natur wird in Alban Bergs Wozzeck zu einer Chiffre für den Bann, dem seine Figuren unterliegen. Die Freiheit, die der Doktor behauptet, ist eine zynische Illusion. Die »armen Leute« sind der äußeren und ihrer inneren Natur ausgeliefert. Wozzecks berühmter Stoßseufzer »Aber wenn einem die Natur kommt« bezieht sich nicht nur auf die mangelnde Souveränität gegenüber seinen Körperfunktionen, sondern beschreibt die Maxime seines Verhaltens. Die Demütigungen, die Eifersucht, der Hass – all das, was sich aufstaut und im nächtlichen Mord an Marie entlädt, wäre unter diesem Satz zu fassen. Machtlos steht die gequälte Kreatur ihrer Natur, ihren Trieben und Begierden, ihren Affekten und Emotionen gegenüber. Berg komponierte den Wozzeck in einer Zeit, in der Sigmund Freuds Psychoanalyse die Menschen über die Geheimnisse ihres unbewussten Trieblebens schon aufgeklärt hatte. Freuds Programm, diese innere Natur in das helle Licht des Bewusstseins zu holen, bleibt Wozzeck verwehrt. Der krasse, dumpfe Naturalismus seines Schicksals gewinnt durch Bergs Musik allerdings eine Expressivität, die imstande ist, alle Facetten eines degradierten Gemüts zu entfalten. Deshalb konnte Theodor W. Adorno Bergs Wozzeck das »erste Modell einer Musik des realen Humanismus« nennen. Die äußere Natur fungiert dabei als Spiegelung der inneren Pein und der Umstände, die keinen anderen Ausweg mehr zulassen. Diese Natur ist unwirtlich, kalt und voll böser Anzeichen. Wozzeck leidet an ihr ebenso wie unter der Gesellschaft der Menschen, das »freie Feld«, in dem Wozzeck und Andres Stöcke schneiden, »ist verflucht«, die untergehende Sonne kann nur ein Unheil verkünden: »Ein Feuer, das fährt von der Erde in den Himmel […] Still, alles still, als wäre die Welt tot.« Wozzeck »philosophiert« über diese Natur und ihr Ende: »[…] wenn die Natur aus ist, wenn die Welt so finster wird […].« Der Doktor deutet diese apokalyptischen Fantasien als willkommenes Anzeichen einer »aberratio mentalis partialis, zweite Spezies«, deren Entdeckung seinen wissenschaftlichen Ruhm begründen soll. Tatsächlich sind die schweigende Natur, das Feld, der Weg, der Teich, der Mond keine Ingredienzien eines romantischen Landschaftsbildes, sondern die genaue Entsprechung der Seelenzustände eines gepeinigten Menschen. Der rote Mond, der mit dem blutigen Messer zusammenfällt, wacht über eine Nacht, die für Marie und Wozzeck keinen Morgen kennt. Dies spüren sogar der Hauptmann und der Doktor, als sie am ertrinkenden Wozzeck vorbeigehen: »Unheimlich! Der Mond rot, und die Nebel grau.« Die Schlussszene von Alban Bergs Wozzeck, in der Mariens Kind von seinen Spielkameraden erfährt, dass seine Mutter tot ist, spielt hingegen am hellen Morgen: Sonnenschein. Ob dies die blutige Mondnacht konterkariert oder nur ein neues Verhängnis andeutet – wer wüsste es zu sagen? Die letzte Regieanweisung zumindest lautet: Leere Bühne. Mit den Menschen ist auch die Natur verschwunden. Alles ist still.

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Andreas Láng

MIT GLÜCK ÜBER DEN BERG

Die Enttäuschung vieler, dass die erste Oper des Wieners Alban Berg nicht in seiner Geburtsstadt, sondern in Berlin zur Uraufführung gelangte, wurde dadurch abgemildert, dass die hiesige Erstaufführung »nur« fünf Jahre später, am 30. März 1930 über die Bühne der Wiener Staatsoper ging. (Bergs Lulu kam erst 1968 zu offiziellen Staatsopernehren!) Ausschlaggebend dafür war ein Direktionswechsel. Denn mit dem Dirigenten Clemens Krauss übernahm 1929 einer der bedeutendsten Größen der damaligen Musikwelt das Haus am Ring. (Dass er später die Wiener Staatsoper verließ um dem Ruf ins nationalsozialistische Deutschland zu folgen, wirft allerdings einen bleibenden Schatten auf seine menschliche Größe.) Nicht nur, dass Krauss den Wozzeck gleich in seiner ersten Spielzeit ins Programm nahm, er rührte, seine ganze Autorität einbringend, laut die Werbetrommel, um schon vorab auf die Bedeutung dieser Premiere hinzuweisen. Bei einer eigenen Pressekonferenz bezeichnete er Wozzeck sogar »als eines der bedeutendsten Werke der neueren Opernliteratur« und sorgte dafür, dass dies sowohl im In- wie im Ausland in diversen Zeitungen und Zeitschriften entsprechend gemeldet wurde. Und A N DR EAS LÁ NG

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es wäre nicht Krauss gewesen, wenn die musikalisch Vorbereitung nicht mit der größten Vehemenz und Akkuratesse betrieben worden wäre. Schon im November 1929 lud er alle Beteiligten zu einem Vorspiel in die Oper, bei der der Komponist und Dirigent Wilfried Zillig, der Wozzeck bereits von den Aufführungen in Berlin und Oldenburg her kannte, das gesamte Stück mustergültig am Klavier vorspielte und dazu auch noch die Vokalparts sang. Für die eigentliche Einstudierung nahm man sich dann bewusst viel Zeit – für das Orchester gab es sogar, ganz gegen jede Gepflogenheit, nach Stimmgruppen geteilte Proben. Die Herausforderungen schienen so groß zu sein, dass sich im Haus ein Wortspiel mit dem Namen des Komponisten herausbildete: »Mit Glück kommen wir über den Berg!« Und man kam über den Berg – zur großen Enttäuschung der rechtsextremen Deutschösterreichischen Tageszeitung, die noch einen Tag vor der Premiere zum Angriff auf das Werk und den Komponisten blies und eine »gebührende Antwort« des Publikums prophezeite. Doch die Zuschauerinnen und Zuschauer bereiteten dem Werk, der Aufführung in der Inszenierung Lothar Wallersteins und den Ausführenden einen unvorstellbar gewaltigen Triumph, der sogar weit über dem lag, was die größten Optimisten zu hoffen gewagt hatten. Weniger einheitlich waren dann die Besprechungen, die vom größten Lob bis zu wirklichen Verrissen reichten. So resümierte etwa Julius Korngold in der Neuen Freien Presse: »Wenn das die Musik der Zukunft sein soll, dann hat es nie eine gegeben«, wohingegen es beispielsweise im Interessanten Blatt hieß: »Die Aufführung an der Wiener Staatsoper bemüht sich das wiedergutzumachen, was Wien an Berg versäumt hat.« Zweieinhalb Jahre und 14 Aufführungen lang konnte sich der erste Wiener Wozzeck im Spielplan halten, ehe das Werk für mehr als 20 Jahre von dieser Bühne Abschied nehmen musste. Noch vor der Wiedereröffnung des im Zweiten Weltkrieg zerstörten Hauses am Ring erfolgte am 9. Februar – anlässlich des Geburtstags Alban Bergs – die zweite Produktion der Staatsoper im Ausweichquartier Theater an der Wien. Am Pult stand Heinrich Hollreiser, für die Inszenierung war, wie so oft in den Nachkriegsjahren, Oscar Fritz Schuh verantwortlich. Wobei es sich in Wahrheit um keine echte Premiere handelte, da diese schon einige Monate zuvor in Salzburg stattgefunden hatte. Die dortigen Aufführungen standen unter der Leitung Karl Böhms – übrigens auch jene zwei Gastspielvorstellungen, die die Wiener Staatsoper im Spätfrühling 1952 am Pariser Théâtre des Champs-Elysées absolvierte: Offenbar empfand man Wozzeck mittlerweile als typisch Wiener Kulturgut, das man international präsentieren wollte! Entsprechend nimmt es auch nicht Wunder, dass Wozzeck im November 1955 Teil des Wiedereröffnungsreigens wurde, mit dem man die Auferstehung der Wiener Staatsoper am Ring feierte. (Im Gegensatz zur Erstaufführung von 1930 existiert glücklicherweise ein vom Österreichischen Rundfunk aufgezeichneter Mitschnitt mit dem jungen Walter Berry in der Titelpartie, Christl Goltz als Marie und abermals Karl Böhm am Pult.) Und diesmal entwickelte 119

MIT GLÜCK Ü BER DEN BERG


sich das Werk zu einem echten Repertoirestück, das 30 Jahre lang nahezu durchgehend zu erleben war und auf 54 Aufführungen kam. Und: Zwischen der letzten Aufführung dieser Inszenierung und der ersten Aufführung der nächsten vergingen nicht mehr als zwei Jahre – ein geradezu vernachlässigbares »Interregnum«. Die neue Produktion von 1987 gehört zu den Glanzlichtern der zwar sehr ambitionierten, progressiven, aber unterm Strich dennoch glücklosen Direktionsära Claus Helmut Dreses. Drese selbst erinnert sich in seinen Memoiren … aus Vorsatz und durch Zufall… an die vom Fernsehen übertragene Premiere mit den Worten: »Die epochale Bedeutung, die Alban Bergs Vertonung des Woyzeck-Fragments von Georg Büchner gewonnen hat, liegt nicht nur im Bekenntnis zum sozialen Milieu, sondern auch in der Benutzung der verschiedensten symphonischen Formen, die er mit höchster Kunstfertigkeit zitiert und variiert. Und gerade diese musikalische Substanz des Werkes wurde in der unübertroffenen Interpretation durch Claudio Abbado zum Erlebnis. Das Orchester der Wiener Staatsoper zeigte, dass Alban Berg diese Klangkultur im Ohr gehabt haben musste, als er die filigranen Finessen seiner Partitur zu Papier gebracht hatte. Die Inszenierung von Adolf Dresen bemühte sich um Detailgenauigkeit, das Bühnenbild von Herbert Kapplmüller verschloss sich nicht den Naturstimmungen des Werkes. Franz Grundheber als Wozzeck und Hildgard Behrens als Marie wussten um die Dimension ihrer Gestalten.« Zugegeben, das Lob über den Regisseur und die beiden wichtigsten Interpreten klingt etwas nobel verhalten, in Wahrheit boten Grundheber und Behrens sensationelle Leistungen, die auch entsprechend gewürdigt wurden und es dauerte doch wieder einige Jahrzehnte, ehe man gewahr wurde, dass an Dresens Inszenierung der Zahn der Zeit genagt hatte. Die Premiere der aktuellen Produktion in der Inszenierung von Simon Stone ging am 21. März 2022 über die Bühne. Unter der Leitung von Musikdirektor Philippe Jordan sangen unter anderem Christian Gerhaher (Wozzeck), Anja Kampe (Marie), Sean Panikkar (Tambourmajor), Dimitry Belosselskiy (Doktor) und Jörg Schneider (Hauptmann). Der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, dass die Wiener Staatsoper 2014 – diesmal unter der Leitung von Franz Welser-Möst – Wozzeck erneut auf ein (konzertantes) Gastspiel mitnahm: in die Carnegie Hall in New York im Rahmen des Festivals »Vienna – City of Dreams«.

→ Christian Gerhaher als Wozzeck

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Die OMV ist seit langem Generalsponsorin der Wiener Staatsoper und wir sind stolz, diese herausragende österreichische Kulturinstitution mit voller Energie zu unterstützen. Wir freuen uns mit Ihnen auf die bewegenden Inszenierungen. Alle Sponsoringprojekte finden Sie auf www.omv.com/sponsoring


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Impressum Alban Berg WOZZECK Spielzeit 2021/22 (Premiere der Produktion 21. März 2022)

Nachdruck nur mit Genehmigung der Wiener Staatsoper GmbH / Dramaturgie

HERAUSGEBER Wiener Staatsoper GmbH, Opernring 2, 1010 Wien Direktor: Dr. Bogdan Roščić Musikdirektor: Philippe Jordan Kaufmännische Geschäftsführerin: Dr. Petra Bohuslav Redaktion: Sergio Morabito, Andreas Láng, Oliver Láng Gestaltung & Konzept: Fons Hickmann M23, Berlin Layout & Satz: Julia Pötsch Bildkonzept Cover: Martin Conrads, Berlin Druck: Print Alliance HAV Produktions GmbH, Bad Vöslau

Rechteinhaber, die nicht erreicht werden konnten, werden zwecks nachträglicher Rechteabgeltung um Nachricht gebeten.

TEXTNACHWEISE Andreas Láng: Die Handlung (englische Übersetzung: Andrew Smith) – Oliver Láng: Über dieses Programmbuch – Anna Mitgutsch: Es ist ein Schweigen in der Welt (Übernahme aus dem Programmheft der Wiener Staatsoper 2013) – Andreas Láng im Gespräch mit Simon Stone: Ein scharfer Blick auf die soziale Realität – Philippe Jordan: Über die Wozzeck-Musik – Constantin Floros: Der »Epilog« der Oper als »Bekenntnis des Autors«, in: Alban Berg: Musik als Autobiographie, Breitkopf & Härtel, 1992 – Barbara Meier: Suite, Motiv, Kammermusik, in: Alban Berg, Königshausen, 2018 – Theodor W. Adorno: Zur Charakteristik des Wozzeck, in: Der Meister des kleinen Übergangs, Suhrkamp, 1977 – Christian Gerhaher: Eine perfekte Oper – Oliver Láng: »Wozzeck« ist keine Zigarette – Daniel Ender: »… ein Stück von mir...« - Theresa Steiniger: Ein Klavierauszug oder 4 Kilo Kaffee - Zsigmond Móricz: Arme Leute, in: Arme Leute, Corvina, 1961 – Georg Büchner: Friede den Hütten! Krieg den Palästen, in: Der Hessische Landbote, 1834 – Knut Hamsun: Hunger, in: Hunger, List, 2010 – Martin Schenk: Soziales Fieberthermometer – Sigmund Freud: Aggression, in: Das Unbehagen in der Kultur – Melanie Unseld: Vom Rätsel zum Nicht-Sein – Oliver Láng und Andreas Láng im Gespräch mit Monika Jank und Isabel Haider: Eine gesellschaftliche Veränderung tut not – Konrad Paul Liessmann: Mondnacht – Andreas Láng: Mit Glück über den Berg BILDNACHWEISE Coverbild: Monica Bonvicini, The Beauty You Offer Under the Electric Light, 2016. White lacqueur on bronze, 10,8 x 6,2 x 2,2 cm, ed. 5/5 + 2AP, Courtesy of the artist & Galerie Krinzinger, © Bildrecht, Wien 2022 Alle Szenenbilder: Michael Pöhn / Wiener Staatsoper GmbH Peter Mayr: Bilder aus der Wohnung Alban Bergs (Seite 20, 26, 27, 45, 59) Alban Berg Stiftung: Seite 61, 63, 67, 74 Österreichische Nationalbibliothek: Seite 64, 65

Kürzungen werden nicht extra gekennzeichnet.

Mit freundlicher Unterstützung von


Generalsponsoren der Wiener Staatsoper


→ wiener-staatsoper.at

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