CHARLES GOUNOD
ROMÉO ET JULIETTE
INHALT
S.
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DIE HANDLUNG S.
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ÜBER DIESES PROGRAMMBUCH S.
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HYMNE FÜR DIE VERDAMMTE JUGEND ADRIAN MOURBY S.
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WARUM DAS PUBLIKUM GESCHICHTEN MIT TRAGISCHEM ENDE SO GERNE SIEHT MONIKA WOGROLLY S.
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EINE INSZENIERUNG DER BESONDEREN ART EIN GESPRÄCH MIT JÜRGEN FLIMM & PATRICK WOODROFFE S.
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CHARLES GOUNOD
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DER BRÜCKENSCHLAG ZWISCHEN DEN GENRES GAVIN PLUMLEY S.
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SHAKESPEARES ROMEO – WIE GESCHAFFEN FÜR DIE MUSIK HANS ULRICH BECKER S.
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JULIETTE... ET ROMÉO SABINE COELSCH-FOISNER S.
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GOUNOD UND WIEN – STATIONEN EINES ERFOLGES MICHAEL JAHN S.
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IMPRESSUM
Que le sort qui de toi me sépare, plus que la mort est cruel et barbare ! Dieses Schicksal, das von dir mich trennt, ist grausamer als der Tod. ROMÉO & JULIETTE, 4. AKT
CHARLES GOUNOD
ROMÉO ET JULIETTE DRAME LYRIQUE in fünf Akten und einem Prolog Text JULES PAUL BARBIER & MICHEL FLORENTIN CARRÉ nach WILLIAM SHAKESPEARE
ORCHESTERBESETZUNG 2 Flöten (2. auch Piccolo), 2 Oboen (2. auch Englischhorn), 2 Klarinetten, 2 Fagotte, 4 Hörner, 2 Trompeten, 3 Posaunen, Pauken, Schlagwerk, 2 Harfen, Violine I, Violine II, Viola, Violoncello, Kontrabass
AUTOGRAPH Verbleib unbekannt URAUFFÜHRUNG 27. APRIL 1867 Théâtre-Lyrique, Paris (1. Fassung) 20. JÄNNER 1873 Opéra-Comique, Salle Favart, Paris (2. Fassung) 28. NOVEMBER 1888 Opéra, Salle Garnier, Paris (3. Fassung) ERSTAUFFÜHRUNG IM HAUS AM RING 30. MAI 1869 Wiener Hofoper
SPIELDAUER
3H
INKL. 1 PAUSE
DIE HANDLUNG Roméo, ein Mitglied der mit den Capulets verfeindeten Familie der Montagues, besucht heimlich in Verkleidung ein Fest der Capulets. Dort begegnet er Juliette, der Tochter des Hauses, und verliebt sich in sie. Im Garten, unter Juliettes Balkon, gesteht er ihr seine Liebe, die von ihr erwidert wird. Sie beschließen zu heiraten. Bruder Laurent vollzieht die heimliche Trauung, weil er sich dadurch eine Aussöhnung der beiden Familien erhofft. Doch kurz danach kommt es auf den Straßen Veronas abermals zum Streit. Juliettes Cousin Tybalt fordert Roméo zum Kampf, auf den dieser zunächst nicht eingeht. Doch als Tybalt Roméos Freund Mercutio tödlich verletzt, greift auch er zur Waffe und ersticht Tybalt. Vom Fürsten von Verona wird er daraufhin verbannt. Noch einmal sucht Roméo heimlich Juliette auf, um von ihr Abschied zu nehmen. In Anwesenheit von Bruder Laurent verkündet Capulet am nächsten Morgen seiner Tochter, dass sie Graf Paris heiraten müsse. Doch Laurent gibt ihr einen Schlaftrunk, der sie in einen scheintoten Zustand versetzt. Während der Hochzeitsfeierlichkeiten bricht Juliette zusammen und wird in der Familiengruft beigesetzt. Die Nachricht, dass es sich nur um einen Scheintod handele, erreicht Roméo allerdings nicht. Er glaubt Juliette tot, dringt in die Gruft der Capulets ein und nimmt Gift. Da erwacht Juliette, den sterbenden Roméo an ihrer Seite. Als sie begreift, was vorgefallen ist, ersticht sie sich.
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ANDREA ROST als JULIETTE
DIE HANDLUNG
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ÜBER DIESES PROGRAMM- BUCH Roméo et Juliette – damals noch auf Deutsch als Romeo und Julie gegeben – war nach Don Giovanni die zweite Oper, die 1869 im damals neuen Haus am Ring erklungen ist. Das Werk war ein Liebling des Wiener Publikums – auch wenn paradoxerweise eine große, Jahrzehnte währende Wiener Aufführungslücke zu verzeichnen ist. Der Musikhistoriker Michael Jahn beleuchtet ab Seite 66 die Wiener Aufführungsgeschichte dieser berühmten Oper, die hier erst 2001 erstmals in ihrer Originalsprache erklang. Sogar noch berühmter als die Vertonung ist das der Oper zugrundeliegende Schauspiel von William Shakespeare: Über die Stoffgeschichte dieses Meisterwerks, seine Quellen, Wandlungen und Variationen schreibt der britische Dramaturg und Autor Adrian Mourby (ab S. 10). Gavin Plumley beleuchtet in seinem Essay ab Seite 34 das Paris des Charles Gounod: Politik, Oper und Gesellschaft, Konkurrenzen und Opernrepertoire. Der Dirigent der Wiederaufnahme 2024 – Bertrand de Billy – erzählt ab Seite 24 im Interview mit Andreas Láng unter anderem über Alleinstellungsmerkmale Gounods, ROLANDO VILLAZÓN als ROMÉO
den Einfluss der Kirchenmusik auf das Werk und Rückgriffe auf die Musik des Barocks und der Renaissance. Es ist eine alte Frage, warum Zuschauerinnen und Zuschauer eine tragisch endende Geschichte offenbar gerne, und immer wieder, erleben wollen. Die Psychologin Monika Wogrolly geht ab Seite 18 diesem Phänomen nach und legt Fährten zum Verständnis dieses Verhaltens. Sehr vielschichtig setzte sich Sabine Coelsch-Foisner ab Seite 46 mit der Transformation des Romeo und Julia-Stoffes zwischen Shakespeare und Gounod auseinander. Aufführungsfotos der Produktion, die 2001 ihre Premiere feierte, zeigen in Schlaglichtern, dass die Staatsopern-Besetzungen auch dieser Oper sich wie ein Who’s Who lesen.
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ADRIAN MOURBY
HYMNE FÜR DIE VERDAMMTE JUGEND Der großartige, mit einem Oscar ausgezeichnete Miramax-Film Shakespeare in Love erweckt den Eindruck, dass Romeo und Julia einer autobiografischen Leidenschaft entsprangen, die den titelgebenden englischen Dichter überwältigte – und ich bin sicher, viele von uns wünschten sich, dass es wirklich so war. Diese Illusion trug dazu bei, dass der Film 1999 mit dem Oscar für den besten Film ausgezeichnet wurde, was für eine Komödie eine Seltenheit ist. Shakespeare in Love möchte uns glauben machen, dass es Will Shakespeare nach seinen frühen Historiendramen und den Zwillingskomödien – Two Gentlemen of Verona (1593) und Love’s Labour’s Lost (1594) – an Inspiration mangelte, bis er sich in eine junge Frau verliebte, die in Hosen für die Rolle des Romeo aus dem Hause Montague in der neuen, rasant entstehenden Tragödie (1595) vorsprach. In Wirklichkeit entstand hier kein neues und originales Werk aus einer autobiografischen Liebesaffäre. Der Dramatiker aus Warwickshire adaptierte
eine bereits existierende italienische Romanze, deren Ursprung Hunderte von Jahren vor der Renaissance zurückreichte. Ovids Pyramus und Thisbe (8 n. Chr.) und Chaucers Troilus and Criseyde (um 1380 n. Chr.) gehören zu demselben weit verbreiteten Quellenmaterial, in dem es um eine zum Scheitern verurteilte, junge Liebe geht. Einer der frühesten Erwähnungen der Familien Montague und Capulet finden sich in Dantes Divina Commedia, wo wir im Canto VI des Purgatorio (ca. 1321) von den einander bekriegenden Montecchi und Cappelletti lesen. Die früheste bekannte direkte Quelle der Romeo-und-Julia-Erzählung ist jedoch eine Novelle des sorrentinischen Autors Masuccio Salernitano mit dem Titel Mariotto e Ganozza (1476). Salernitano ließ seine Geschichte in Siena spielen und behauptete, die Ereignisse hätten sich zu seinen Lebzeiten zugetragen. In seiner Version dessen, was zu Shakespeares so bedeutsame Geschichte wurde, gibt es die verfeindeten Familien, die heimliche Heirat, den
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Mönch, der das Paar unterstützt, die Tätlichkeiten, bei denen ein prominenter Bürger getötet wird, die Verbannung Mariottos, die Zwangsheirat unserer Heldin Ganozza sowie den Kräutertrunk und die entscheidende Botschaft, die nicht wie geplant ankommt. In Salernitanos Version gibt es jedoch keine Selbstmorde; Mariotto wird in der Familiengruft gefasst und enthauptet, und Ganozza stirbt vor Kummer. Vielleicht hat sich das im fünfzehnten Jahrhundert in Siena tatsächlich so zugetragen, aber die Auflösung ist bei Weitem nicht so emotional befriedigend wie jene von Shakespeare. Fast 50 Jahre später, im Jahr 1524, adaptierte Luigi da Porto (1485-1529) diese kurze Geschichte als Giulietta e Romeo und nahm sie in seine Historia novellamente ritrovata di due nobili amanti (Eine neu entdeckte Geschichte zweier edler Liebender, 1531) auf, die posthum in Venedig veröffentlicht wurde und uns erstmals zwei Namen präsentierte, die über die Jahrhunderte nachhallen sollten. Da Porto griff auf Pyramus und Thisbe und auf Elemente aus Boccaccios Decamerone sowie auf Salernitanos Mariotto e Ganozza zurück. Es ist auch möglich, dass seine Version ein autobiografisches Element enthält. Da Porto behauptete, er sei am 26. Februar 1511 als Soldat bei einem Ball in einer Residenz des Savorgnan-Clans in Udine bei Venedig zugegen gewesen. An diesem Tag wurde ein Friedensvertrag zwischen den Strumeri und den Savorgnans unterzeichnet, doch da Porto verliebte sich während der Feierlichkeiten in Lucina (Julia), eine Tochter der Savorgnans. Die Feindseligkeit zwischen den Familien machte seinem Werben um Lucina ein jähes Ende, und
am nächsten Morgen griffen die beleidigten Savorgnaner die Strumeri an, es gab viele Tote. Jahre später, noch immer halb gelähmt von einer Wunde, die er an jenem Tag erlitten hatte, schrieb Luigi da Porto Giulietta e Romeo und widmete die Novelle der »bellissima e leggiadra« (der schönen und anmutigen) Lucina Savorgnan. Eine Übersetzung dieses bedeutsamen Textes, The Tragical History of Romeus and Juliet, wurde 1562 von Arthur Brooke auf Englisch veröffentlicht und 1567 von William Painter in Palace of Pleasure in Prosaform nacherzählt. Dreißig Jahre später lehnte sich Shakespeare stark an all diese Autoren an, erweiterte jedoch die ursprüngliche Handlung, die er von Brooke und Painter übernommen hatte, durch die Entwicklung einer Reihe von Nebenfiguren, insbesondere von Romeos bestem Freund Mercutio und Julias Cousin Tybalt. Das sich daraus ergebende Duell zwischen Mercutio und Tybalt im dritten Akt beschleunigt den katastrophalen Verlust jungen Lebens in dieser Geschichte. Shakespeare schuf auch die Figur von Julias Amme mit ihrer schlüpfrigen Ausdrucksweise, um die Komik zu steigern. Das Stück war zu Shakespeares Zeiten sehr beliebt und wurde, als die Londoner Theater nach der Wiederherstellung der Monarchie unter König Karl II. (1660) wiedereröffnet wurden, häufig in überarbeiteten Versionen aufgeführt. Die Regisseure William Davenant (im 17. Jahrhundert) und David Garrick (im 18. Jahrhundert) änderten mehrere Szenen und strichen Material, das damals als unanständig galt. Thomas Otways Adaption aus dem Jahr 1679, die am längsten gespielte Version des Stücks, wurde nach der Restauration
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in The History and Fall of Caius Marius umbenannt und die Handlung im alten Rom angesiedelt. Shakespeares Liebespaar wurde in Marius und Lavinia umbenannt, und das Stück legte mehr Wert auf die Darstellung der politischen Probleme in einem gespaltenen Staat. Die Oper kam 1776 ins Spiel: In Georg Bendas Romeo und Julie, einem deutschen Singspiel in drei Akten, wurde ein Großteil der ursprünglichen Handlung weggelassen, damit es ein Happy End geben konnte. Dankenswerterweise wurde bei den Aufführungen des 19. Jahrhunderts, u. a. unter der Regie der amerikanischen Schauspielerin Charlotte Cushman, der Originaltext wiederhergestellt und der Schwerpunkt auf mehr historischen und emotionalen Realismus gelegt. Sir John Gielguds Londoner Inszenierung im Jahr 1935 hielt sich sehr eng an Shakespeares Text und verwendete elisabethanische Kostüme. Trotz vieler dem jeweiligen Zeitgeschmack geschuldeter Änderungen ist Romeo und Julia nie aus der Mode gekommen. Die Gleichung aus Liebe und Tod erwies sich über Generationen hinweg als wirkungsvoll. Die unbeabsichtigte Tötung von Mercutio, als Romeo ihn zu retten versucht, Romeos Mord an Tybalt im Rausch der Schuldgefühle, die Aubade zum Abschied zwischen zwei jugendlichen Liebenden im Schlafgemach, das missliche Ende des anständigen Grafen Paris, der zufällig zur falschen Zeit in der falschen Gruft war, der tränenreiche Selbstmord des Romeo und der sexuell konnotierte Selbstmord der Julia – mit dem Schrei »Hier ist deine Scheide, hier roste und lass mich sterben!« – schaffen eine Welt, in der die Zwillingsimpulse von Eros und Thanatos nur um Haaresbreite voneinander entfernt sind.
So überrascht es nicht, dass Romeo und Julia heute nicht nur eines der meistgespielten Stücke Shakespeares ist, sondern auch immer wieder aufgegriffen und neu erfunden wird. Shakespeare selbst war einer der ersten, der nur ein Jahr später in seinem Sommernachtstraum (1596) wieder zum Thema der unglücklich Liebenden zurückkehrte. Hier sind die Liebenden, Lysander und Hermia, nicht nur enttäuscht von der Entscheidung von Hermias Vater, sie mit einem Mann seiner Wahl zu verheiraten (den sie nicht liebt), das Paar beschließt auch, gemeinsam aus Athen zu fliehen, wie Romeo und Julia aus Verona. Dabei stoßen sie im Athener Wald auf Laienschauspieler, die eine von Shakespeares Vorlagen für Romeo und Julia proben, nämlich Die höchst beklagenswerte Komödie und der höchst grausame Tod von Pyramus und Thisbe. Glücklicherweise retten die Waldelfen die Liebenden und bringen sie zu Herzog Theseus, der von seiner neuen Braut Hippolyta zur Milde überredet wird. (Hermias Vater verlangte den Tod seiner Tochter, weil sie sich für Lysander statt für Demetrius entschieden hatte, aber er kann sich damit der Milde gegenüber nicht durchsetzen). Die melodramatische »höchst beklagenswerte Komödie« bildet den Abschluss dieses Stücks, das ein Jahr nach Romeo und Julia Shakespeares Meistertragödie in eine schlecht gespielte Komödie verwandelt. Es überrascht nicht, dass seit Bendas Singspiel von 1776 mindestens 24 Opern auf Romeo und Julia basieren. Die bekannteste ist Gounods Roméo et Juliette aus dem Jahr 1867 (Libretto von Jules Barbier und Michel Carré), die bei ihrer Uraufführung in Paris ein großer Erfolg war und heute häufig wiederaufgeführt wird.
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Bellinis früheres Werk I Capuleti e i Montecchi (1830) wird ebenfalls von Zeit zu Zeit wiederaufgenommen, wurde aber wegen seiner vermeintlichen Freiheiten gegenüber Shakespeares Text oft negativ beurteilt. Fairerweise muss man sagen, dass Bellini und sein Librettist, der große Felice Romani, auf der Grundlage italienischer Quellen arbeiteten – Romanis Libretto basierte hauptsächlich auf Giulietta e Romeo von Nicola Vaccai – anstatt Shakespeares Stück direkt zu adaptieren. Zu den empfehlenswerteren späteren Opern gehört Heinrich Sutermeisters Romeo und Julia aus dem Jahr 1940, das sich eng an das Stück hält, aber mit einer Schlussszene endet, in der ein himmlischer Chor die Vereinigung der beiden Liebenden im Tod feiert. Prokofjews meisterhaftes Ballett Romeo und Julia (1935) und Tschaikowskys lyrische Ouvertüre-Fantasie (1870) sind zwei der populärsten Instrumentalfassungen der Geschichte. Tschaikowskys Paukenwirbel ganz am Ende soll seine Wut darüber widerspiegeln, dass die beiden Häuser Montague und Capulet es wagen konnten, sich nach so vielen Verlusten an jungen Menschenleben miteinander zu versöhnen. Zu den weniger bekannten Werken gehört Roméo et Juliette von Berlioz, eine Symphonie dramatique in drei Teilen für Solostimmen, Chor und Orchester, die 1839 uraufgeführt wurde. 1901 wiederum vollendete der englische Komponist Frederick Delius A Village Romeo and Juliet, die vierte seiner sechs Opern. Das Libretto basierte nicht direkt auf Shakespeare, sondern auf der Erzählung Romeo und Julia auf dem Dorfe des Schweizer Schriftstellers Gottfried Keller. In diesem Fall sind die Liebenden die Nachkommen von zwei verfeindeten Bauern. Die Wahl der Namen
der Liebenden spiegelt jedoch verstärkt die Anlehnung an Shakespeare wider. Das Stück hat häufig die populäre Musik beeinflusst, wie wir bei The Supremes, Bruce Springsteen, Tom Waits, Lou Reed und Taylor Swift hören können. Die vielleicht berühmteste dieser indirekten Hommagen ist Romeo and Juliet (1981) von Dire Straits. Julia, when we made love, you used to cry You said, “I love you like the stars above, I’ll love you ‘til I die” There’s a place for us, you know the movie song When you gonna realize, it was just that the time was wrong? Die berühmteste Adaption von Romeo und Julia ist jedoch zweifellos – und zu Recht – West Side Story mit Musik von Leonard Bernstein, Texten von Stephen Sondheim und dem bahnbrechenden Buch von Arthur Laurents. Laurents verlegte den Schauplatz in das Manhattan der Mitte des 20. Jahrhunderts und machte aus den einander bekriegenden Familien verfeindete ethnische Gangs. West Side Story wurde 1957 am Broadway uraufgeführt und zweimal – 1961 und 2021 – verfilmt. In Laurents’ New Yorker Welt sind alle Erwachsenen verschwunden, bis auf die tölpelhaften Polizisten und Doc, einem Bruder Lorenzo entsprechenden Drugstorebesitzer, der versucht, die jungen Gangmitglieder zu beruhigen. Im Spielberg-Remake (2021) wird Doc durch seine gealterte Witwe Valentina ersetzt und die optimistische Hymne Somewhere von Tony (Romeo) und Maria (Julia) aus dem Jahr 1961 wird von Valentina als zaghaftes Gebet für mehr Toleranz interpretiert, während auf der
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West Side des Central Park schon die Abrisskommandos der Immobilienentwickler zugange sind. Die größte Neuerung, die Laurents in Shakespeares Original einbrachte, war der Verzicht auf die Idee der »unglücklichen« Liebenden. Hier sterben Romeo und Julia nicht, weil ein aufklärender Brief von Bruder Lorenzo an den im Exil lebenden Romeo zu spät eintrifft – eine grundlegende Handlungsschwäche des Originals und seiner Quellen. Sie sterben, weil die Nachricht, wonach Maria in Sicherheit ist und die Anita (die Vertraute von Maria/ Julia) Tony/Romeo überbringt sollte, so nie überbracht wird. Der Grund dafür ist, dass Tonys Bande versucht, Anita zu vergewaltigen, und sie aus Rache faucht: »Sag Tony, Chino hat es herausgefunden und sie umgebracht.« In einer so starken Geschichte wie jener von Romeo und Julia sollte niemals eine verspätete Briefzustellung den Angelpunkt bilden. Laurents hat auch die emotionale Handlung gestrafft, indem er Tybalt, einen rüpelhaften Cousin, der von der Ehre der Familie Capulet besessen ist, in den geliebten älteren Bruder Bernardo verwandelt, um den Maria/Julia wirklich trauert, nachdem Tony/Romeo ihn getötet hat. 1996 war Jonathan Larsons zeitgenössisches Broadway-Musical Rent ein großer Erfolg. Es spielt im New Yorker Stadtteil East Greenwich und wurde als Romeo und Julia-Geschichte bezeichnet, weil die verliebte Heldin beinahe stirbt, basiert aber in erster Linie auf La bohème von Giacomo Puccini und nicht auf Shakespeare. Der Bezug zu Romeo und Julia ist dennoch bezeichnend. Selbst der große Puccini kann Shakespeare als Schöpfer des archetypischen
Liebespaares der Welt nicht von seinem Sockel stoßen. Baz Luhrmann griff das Thema der zum Scheitern verurteilten jugendlichen Liebe in seinem brillanten Filmmusical Moulin Rouge auf, wobei hier die erzählerischen Parallelen eher zu Dumas’ La Dame aux Camélias passen und Luhrmann selbst behauptete, an Orpheus und Euridike gedacht zu haben. Shakespeares Original wurde in sehr unterschiedlichen Versionen verfilmt: ein Beispiel ist George Cukors etwas statischer Film Romeo und Julia (1936) mit dem Engländer Leslie Howard und der Kanadierin Norma Shearer in den Rollen des nicht mehr so jugendlichen Liebespaares und Basil Rathbone, dem ehemaligen Meisterfechter der britischen Armee, als Tybalt. Dann gab es noch Franco Zeffirellis großartige italienische AlfreskoProduktion (1968), die mit Leonard Whiting und Olivia Hussey die Poesie der Leidenschaft opferte (die beiden Hauptdarsteller versuchten später, Paramount Pictures wegen kurz aufblitzender Pobacken und Brustwarzen in der Schlafgemachszene im dritten Akt zu verklagen). Danach kam Baz Luhrmanns punkige Version Romeo + Julia (1996) mit einem babygesichtigen Leonardo DiCaprio und Claire Danes in den Hauptrollen. Diese Fassung spielt in einer dystopischen US-Stadt namens Verona Beach, in der »Captain Prince« versucht, den Frieden zwischen zwei verfeindeten Punk-Mafiosi-Familien zu wahren. In jüngerer Zeit verfilmte Carlo Carlei den Stoff in Romeo und Julia (2013) nach dem Drehbuch von Julian Fellowes (Downton Abbey), dieser folgte Shakespeares Handlung – verwendete aber leider zu wenig von dessen Dialogen.
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Dass sich der Stoff auf jugendliche und nicht auf erwachsene Sexualität konzentriert, hat manche Regisseure auch veranlasst, einen Subtext der Homosexualität auszuloten. In Zeffirellis 1968 gibt es viel Filmmaterial, das die Interpretation stützt, dass der Cousin des Fürsten, Mercutio (John McEnery), in Romeo verliebt ist, was seine irre Königin-Mab-Rede und seine halsbrecherische Verteidigung von Romeo gegen Tybalt (Michael York) – die ihn das Leben kostet – erklären soll. Noch expliziter ist das amerikanische Bühnenstück Starcrossed (2019) von Rachel Garnet, in dem Tybalt aus dem Hause Capulet und Mercutio, ein Verbündeter des Hauses Montague, im Verona des 16. Jahrhunderts heimlich ein Liebespaar sind, das aufgrund seiner öffentlichen Loyalitäten zur gegenseitigen Vernichtung verdammt ist. In dem rezenten Jukebox-Musical & Juliet (2019) geht es um die Folgen, die daraus entstehen, dass Julia den Selbstmord von Romeo überlebt hat, und um ihre Bemühungen, sich wieder in eine nicht-binäre Welt zu integrieren. Meine eigene Kurzgeschichte Whatever Happened to Romeo? (Souvenir Press, 1997) handelt von Rosamunds Verzweiflung darüber, dass Romeo, nun in mittleren Jahren, immer noch von der jugendlichen Julia besessen ist – der einzigen Frau, die jemals für ihn gestorben ist. Die nicht endende Anziehungskraft von Romeo und Julia – etwas, das all diese Inszenierungen und Adaptionen bestätigen – ist die irrsinnige, schmerzvolle Situation, dass jugendlicher Optimismus, egal, ob homo- oder heterosexuell, durch den lange bestehenden Groll, den ältere Männer gegeneinander hegen, zunichte gemacht wird. In jeder Version und jeder Inszenierung hat
man auf halbem Weg das Gefühl, dass die Vereinigung dieser beiden Jugendlichen in blinder sexueller Anziehung den Schaden, den einander frühere Generationen sinnlos zugefügt haben, wieder gutmachen könnte. Ein weiterer Reiz liegt in der Art und Weise, in der die junge Generation versucht, ihre Welt mit sehr wenig Hilfe von seiten der Erwachsenen in Ordnung zu bringen. In Shakespeares Original müssen Montague und Capulet zwar den Fürsten treffen, um die jüngsten Handgreiflichkeiten unter den Bürgern zu besprechen, aber seine Jugendlichen lösen die Probleme im Wesentlichen auf ihre eigene, geradezu übermütige Art und Weise; so läuft die Geschichte leichtfüßig dahin, auch wenn sie auf die sichere Katastrophe zusteuert. In West Side Story hat niemand Eltern, in der Spielberg-Version gibt es nicht einmal eine einzige Zeile, die von Marias Vater aus dem Off gesprochen wird, was Bernsteins Meisterwerk zur ultimativen, zeitlosen Hymne auf die zum Scheitern verdammte Jugend macht.
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MONIKA WOGROLLY
WARUM DAS PUBLIKUM GESCHICHTEN MIT TRAGISCHEM ENDE SO GERNE SIEHT Schon einmal darüber nachgedacht, was uns an Tragödien fasziniert, noch dazu, wenn es um fiktive Charaktere, um Fremde geht, und wir den Ausgang der Tragödie schon kennen? Eigentlich sollte uns das Schicksal anderer ja nichts angehen, oder? Kehre jeder lieber vor der eigenen Tür. Und doch. Gerade das ist das Anziehende, Wohltuende, Erleichternde, Erfrischende. Von Schicksalsgeschichten anderer betroffen zu sein. Emotional mitzuschwingen. Sich dabei als soziales und zu Empathie fähiges Wesen zu erfahren. Somit wenig erstaunlich mutet an, dass es uns, wie beim Klassiker von William Shakespeare Romeo und Julia, eigentlich ja nichts angeht, was die jungen Leute machen, aber eben doch. Zentral dabei ist: Wir wissen schon vorneweg, worauf wir uns einlassen, wenn wir zu einer Neuauflage eines theatralischen Evergreens in die Oper gehen. We are prepared; aber eben auch für Überraschungen. Eigentlich könnte jemand zu Beginn der Vor-
stellung auf der Bühne wie vor dem Abflug in ferne Landen dem Publikum einen guten emotionalen Höhenflug wünschen. Man könnte eine Expertin der menschlichen Psyche durch die Ränge und Logen schweifen lassen, um Ihre passende innere Haltung bei Start, Flug und Landung zu sichten. Ähnlich wie beim Fliegen bewegen Sie sich während der Oper im Denken und Empfinden fort, sind von der Bühnenhandlung hin- oder zumindest mitgerissen und heben möglicherweise im Rausch der Gefühle zeitweilig vollkommen ab. Ja, wider besseren Wissens, wenngleich alles »nur gespielt« ist, kullern mithin sogar Tränen als Ausdruck von Betroffenheit und Anteilnahme. Oder entspannen wir uns auf paradoxe Weise, je aggressiver die Bühnenhandlung wird. Es können Turbulenzen auftreten. Die sind sogar vorprogrammiert. Wir sind bereit und startklar auf unseren Plätzen, um in die emotionale Achterbahn anderer einzutreten.
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Im Folgenden wenden wir uns ein paar Überlegungen zu, warum uns ein jugendliches Liebesdesaster, umrahmt von einem chaotischen Familiensystem, so sehr emotional abholt, dass wir uns buchstäblich an diesem Genre nicht satt sehen können. Haben wir nicht genug Krisen in – im Sinne der anthropologischen Medizin – Zeiten des Umbruchs und der Veränderung im eigenen Sein? Was vielen nicht bewusst ist: Wir blicken dabei durch unterschiedliche Erkenntnisbrillen. Das hatte ich zuvor mit dem Checkup Ihrer Startposition oder inneren Haltung gemeint: Sehen Sie sich eine Liebestragödie mit einer Forscherinnen-Brille an, emotional distanziert wie eine Zahnärztin bei der Weisheitszahn-Operation, oder eher als unmittelbar betroffenes und buchstäblich mitleidendes Liebesopfer? Meine Ausgangsvermutung lautet, die allgemeine Faszination von Schicksalstragödien hat mehrere Gründe. Irgendetwas muss attraktiv daran sein, vielleicht das Belohnungszentrum aktivieren. Zartbitterschokolade für die Seele, die am Gaumen explodiert und im Abgang ein Gefühl von »Hab ich’s doch gewusst, das endet schlimm« und paradoxerweise Erleichterung, auch Sicherheit vermittelt. Nun gut, zuerst ein kurzer Blick durch die eher verschwommene empirisch-analytische Brille. Da sieht man auf das naturwissenschaftliche Phänomen der eruptiven Hormonausschüttung, wenn wir als Zuschauerinnen und Zuschauer in den Bann gezogen sind vom Grauen oder schwankenden Glück der Bühnenfiguren. Adrenalin und Endorphine überschwemmen uns, wonach ein stetes Verlangen bis hin zur Sucht entstehen kann.
Als Romeo-und-Julia-Effekt wird in der Wissenschaft bezeichnet, wenn sich Personen ungeachtet eines sozialen Drucks, der ihre Entscheidungen – zum Beispiel für die Liebe – sabotiert, umso mehr ins Zeug legen, autonom und unabhängig von systemischen Dynamiken zu leben und zu lieben. Dies kennt man auch als Trotzverhalten, als Reaktanz. Das Reaktanz-Phänomen stellt sich ebenso ein, wenn es eine limited Edition bestimmter Produkte gibt, die dann erst recht gewollt werden. Oder wenn eine Liebesbeziehung tabuisiert und dadurch umso stärker wird. Was passiert aber mit dem Publikum? Neben hormonellen Prozessen sehe ich die prototypische Zuschauerin zunächst im Zuschauerinnensessel regredieren. Das bedeutet, sie ist für die Zeit der Opernaufführung nicht nur auf einen früheren Entwicklungsstand zurückgeworfen. Sie ist von ihren eigenen Alltagsprozessen, Beziehungskisten und Konflikten für eine Zeitlang wie losgelöst. Freigespielt von sich selbst zu sein bedeutet zumindest teilweise dissoziiert zu sein. Die Dramatik der Aufführung verhilft ihr zu einer intensiven Dissoziation, dem Gegenteil der Assoziation, wobei sie freilich Elemente der Handlung, wenn nicht rational, so doch umso mehr emotional verknüpfen kann. In der Art von: »Kenne ich auch.« »Hab ich auch schon erlebt.« Sowie mit weisen Vorhersagen à la »Oh nein, bitte nicht, das wird übel enden«. Und all das, obwohl die Zuschauerin ja schon weiß, worauf sie sich eingelassen hat. Und genau weiß, Romeo und Julia schaffen es nicht. Gerade die Vergeblichkeit ihres Strebens hat etwas vielleicht gleichermaßen Aufwühlendes und Beruhigendes. Und
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wenn wir dann nach dem Opernbesuch aus dem Uterus des Publikumsraums wie neugeboren, zwischendurch am Pausenbuffet gestillt durch ein Glas Sekt und Brötchen, wieder am Boden der Tatsachen, austreten, schlagen sich uns der Pferdeapfelgeruch der Fiaker und die Wiener Luft anders um die Ohren als zuvor. Wir sind wie neu, weil wir wieder heil davongekommen sind und mehr zu schätzen wissen, was das Leben bereithält. So ähnlich fühlt es sich mithin für Menschen an, die eine Psychotherapie- und Philosophische Praxis unterhalten, wohin viele reale Schicksalsgeschichten mit inneren und äußeren Konflikten getragen werden. Gerade Menschen mit sozialer Verantwortung suchen Erleichterung durch starke Außenreize, um einmal abzuschalten. Somit tragen Romeo und Julia nicht nur zur Unterhaltung an einem spannungsreichen Opernabend bei. Sie zeigen auch, was ohne rechtzeitig erfolgte Familientherapie schieflaufen kann. Irrtümer, Missverständnisse und Fehlinterpretationen sind am häufigsten ursächlich verknüpft mit Trennungen und Verlusterfahrungen. Durch die phänomenologische Brille betrachtet, handelt es sich bei Liebenden stets um Personen in einem existenziellen Ausnahmezustand. Aber dennoch tragen Shakespeares Protagonistinnen zur allgemeinen Psychohygiene bei. Wir verlassen in uns selbst stabiler den Ort der Tragödie. Unser Safe Place im Publikumsraum umfängt uns wie in einer Umarmung. Das Kollektiv der anderen, die säuglingshaft schauen, klatschen und am Ende womöglich begeistert pfeifen, schreien, trampeln, wirkt beruhigend. Was wollen wir mehr? Ein Gruppengefühl; die Möglichkeit, aufgestaute Emotionen zu entladen all inclusive.
Die Zwischenbilanz: Unser »Gewinn« ist das Empfinden eines sicheren Ortes im Dunkel des Publikumsraums. Das Versinken in einer durchaus entlastenden Regression, was unser Inneres Kind jubilieren macht, es nährt und sättigt. Der Fokus liegt auf Musik und Handlung. In der Rolle als Zuschauerinnen fühlen wir uns fast wie im Dämmerschlaf einer Julia, aus dem wir letztendlich geweckt werden, wenn alle sich vorne verneigen und der kollektive Applaus uns von der dissoziativen Benebelung befreit. Und dies ist ebenso wie beim Autofahren, bei dem wir dank Routine schon automatisiert das Richtige machen, aber eben im dissoziativen Flow. So ein Flow umhüllt uns wie eine Kuscheldecke, wenn auf der Bühne aussichtslos geliebt, verwechselt, intrigiert, gekämpft und gestorben wird. Während bei der Autofahrt ähnlich wie in der Slowfood-Kultur präzise Kilometer im Kilometer abgearbeitet wird, haut uns die Bühnenhandlung regelrecht aus den Latschen. Das heißt, wir sind abrupt in einer surrealen Welt, die alles, was es wirklich gibt, von uns abrücken macht, als könne uns das nicht passieren. Wer hat noch nicht diesen Psychose nahen Zustand der Idealisierung und selektiven Wahrnehmung erlebt und erlitten? Somit bestätigt sich die Hypothese, dass Heldinnen tragischer Schicksale, Opfer schicksalhafter Verstrickungen und Irrtümer wohl zu unserer Psychohygiene, zur Ordnung im Kopf beitragen; Emotionen klären, sortieren und glätten wie Textilien in einer Kleiderreinigung. Wir sehen, was uns erspart bleibt, wir sind die, die gewarnt sind, die es besser wissen – wie bei Kasperl und Krokodil den originären Weitblick haben. Wir sind Zaungäste des Schei-
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terns anderer, somit privilegiert. Wir finden uns in und verschmelzen mit der Handlung, um uns anschließend und spätestens in der Pause zu sammeln und von allem tragisch Schicksalhaften zu erholen. Das Warten am Buffet mag dabei fast therapeutisch und erdend wirken, zur Einsicht verhelfen: »Alles gut.« »Nichts ist g’scheh’n«. Wir können uns mit Gleichgesinnten fachlich austauschen, die empirisch-analytische und hermeneutische mit der dialogischen und phänomenologischen Erkenntnisbrille beliebig tauschen. Wie in der Hochschaubahn im Prater geht es am Ende nach all den gefühlten Turbulenzen für uns, nicht aber für die Bühnenfiguren gut aus. Wir können aber aus ihrer »Dummheit«, Verirrung und Liebespsychose Schlüsse ziehen. Und: Mit der nach dem griechischen Götterboten benannten hermeneutischen Erkenntnisbrille fragen Sie Ihre Partnerin oder Ihren Partner am nächsten Morgen, ob Sie nicht miteinander oder gar mit den Schwiegereltern zu einer Psychotherapie, womöglich einer Familienaufstellung gehen könnten. Oder auch ohne Anhang, der so etwas ablehnen würde
und lieber in der Oper für geistige Klarheit sorgt, wo wir schon wissen, was wir an Erlebniswerten bekommen. Und dass es sich gerade nach Schicksalskrisen und Tragödien noch besser anfühlt, am Leben zu sein und autonom zu entscheiden, wo die Grenzen der Belastbarkeit und von Nähe und Distanz liegen. Und wo wir alle – und hier noch die allerwichtigste dialogisch-dialektische Erkenntnisbrille – aus unserem sozialen Dämmerschlaf noch rechtzeitig aufwachen und wieder miteinander reden. Ob in unserem unmittelbaren Bezugssystem oder auch global, von Mensch zu Mensch wieder in Kontakt kommen und Missverständnissen vorbeugen. Fehldeutungen auflösen, damit die reale Tragödie nicht mit Schreckensnachrichten, Vertrauensschwund und Zukunftsängsten endlos so weitergeht. Die phänomenologische Erkenntnisbrille verhilft uns zum kindlich vorurteilsfreien und wertneutralen Staunen. Nur das mit dieser Erkenntnishaltung begonnene, offene und wertschätzende Gespräch kann uns retten, und das auch nur ohne schon vorab zu wissen, was dabei herauskommt.
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I WA N T U RG E N J E W
DAS ERSCHEINEN EINER MUSIKALISCHEN PERSÖNLICHKEIT WIE GOUNOD IST SO SELTEN, DASS MAN IHN NICHT VON HERZEN GENUG BEGRÜSSEN KANN.
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KOPFZEILE
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RALPH LARMANN IM GESPRÄCH MIT JÜRGEN FLIMM & PAT R ICK WOODROFFE
EINE INSZENIERUNG DER BESONDEREN ART Neue Wege zu beschreiten, bedarf Mut, insbesondere in so konservativen Gefilden wie der Oper. Doch Regisseur Jürgen Flimm suchte geradezu nach neuen Wegen und Formen der Darstellung. Hatte er eine Idee, findet er einen Weg sie zu realisieren. So geschehen in Wien: Gounods Oper, die im Wesentlichen auf Shakespeares Drama basiert, ließ Jürgen Flimm in der Gegenwart spielen. So trat Julia, in hautengen Jeans, mit einem Mikrofon in der Hand, einem Tattoo auf der Schulter und im Takt swingend auf. Romeo war mit schwarzen Jeans und einem lässig heraushängenden
Hemd bekleidet. Und die Mitspieler des berühmtesten Liebespaares der Weltliteratur erinnerten an Mitglieder von Straßen-Gangs. Doch war eine zeitnahe Darstellung in diesem Fall nicht das wirklich neue und spannende, in Wien erregte der Verzicht auf die sonst aufwendig gestalteten Kulissen die Gemüter. Ersetzt wurden sie von einer faszinierende Lichtkulisse, die Akteure und Bühne außergewöhnlich und emotional exzellent in Szene setzte. Natürlich hatte Jürgen Flimm einen Meister seines Fachs für die Lichtgestaltung engagiert: Patrick Woodroffe.
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waren die Kulissen ein echtes Problem. Für Roméo et Juliette entschloss ich mich frühzeitig mit einer Bühne ohne Kulissen zu arbeiten. Als ich mit meiner Frau Susie 1999 die Show meines Freundes Westernhagen sah, ( Jürgen FIimm ist seit über dreißig Jahren mit Westernhagen befreundet) sagte ich zu meiner Frau: »Susie, das könnte eine
Was war der inspirative Anstoß zu dieser Art von Inszenierung? jf Als Shakespeare seine Stücke erstmals aufführte, hatte er keine großartig gestalteten Kulissen. Die Theateraufführungen fanden meist unter freiem Himmel statt. Nur die Sonne lieferte das Licht. Ich habe bereits einige Shakespeare-Stücke inszeniert und jedes Mal Vorige Seite: KS ELĪNA GARANČA als STÉPHANO
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Möglichkeit sein, Roméo et Juliette in Wien zu gestalten: mit Licht!«. Anschließend rief ich Westernhagen an, und bat ihn, Herrn Woodroffe zu fragen, ob er sich vorstellen könne, mit mir eine Oper zu inszenieren. Marius rief Patrick an, fragte ihn, und rief anschließend mich an: »Patrick kann sich vorstellen mit dir eine Oper zu inszenieren!« Er gab mir Patricks Nummer. Sofort rief ich Patrick an und fragte: »Herr Woodroffe, sind sie interessiert mit mir eine Oper zu realisieren?« Er fragte: »Wer ist der Designer?« Ich sagte: »Sie sind der Designer!« Darauf Patrick: »Lassen Sie mich darüber nachdenken.« Weniger als eine Stunde später, sehr wahrscheinlich, nachdem er sich umgehört hatte, wer ich eigentlich bin, rief er mich zurück und gab mir die Zusage. Und unsere Zusammenarbeit begann. Das ist nun zirka zwei Jahre her. pw Dazu muss man sagen, dass sich Jürgen bereits vor dem auslösenden Westernhagen-Konzert einige Zeit mit dem Thema Roméo et Juliette beschäftigt hatte. Das Lichtdesign dieser Westernhagen-Show, das übrigens von Günter Jäckle und mir erstellt wurde, brachte ihn letztendlich darauf, die Oper mit Licht als Kulisse zu inszenieren. Bei unserem ersten Meeting in Hamburg kam mir bereits die Idee, auf der Bühne bewegliche Lichttürme einzusetzen. rl Gab es Momente, in denen Zweifel aufkamen, ob die Lichtkulisse für das Publikum nachvollziehbar ist? pw Bereits zu Beginn unserer Zusammenarbeit machte ich Jürgen darauf aufmerksam, dass wir uns absolut sicher sein müssen, dass die Inszenierung ausschließlich mit Licht funktioniert. Das Schlimmste, was passieren konnte, wäre gewesen, wenn wir während der
Proben hätten feststellen müssen, dass es nicht funktioniert. Da wären wir ohne Kulissen und nur mit Licht dagestanden. Aber Jürgen sagte nur: »Don’t worry, I will be the one pushing you to make more things!« jf In der Planungsphase gab es einige Momente, in denen Patrick geneigt war Kulissen einzusetzen. Da musste ich ihm klar machen, dass es absolut verboten war irgendwelche Kulissen zu verwenden, sei es das Projizieren von Kirchenfenstern auf die Rückwand oder das Hochfahren eines Balkons. Wenn man einmal anfängt mit Kulissen zu arbeiten, nimmt das kein Ende. pw Ich glaube der fehlende Balkon ist für die Leute die revolutionärste Veränderung in dieser Oper. Die Akteure probten einen Monat auf dieser schwarzen Bühne. Sicherlich waren sie ein wenig nervös, aber sie vertrauten Jürgen. Er konnte sie davon überzeugen, dass es fantastisch aussehen wird. rl Wie hast du dich auf dieses Projekt vorbereitet? pw Was immer man tut, man muss vom Geschehen auf der Bühne ausgehen. Ich kann nicht einfach eine Lightshow abziehen, die mit der Handlung einher läuft, aber keinerlei Bedeutung hat. Das Licht dient dazu, etwas auszudrücken. Ich habe mich über zwei Jahre intensiv mit der Musik Gounods beschäftigt, ihre Harmonien und ihre Dynamik sehr genau studiert. Mit den Harmonien und der Dynamik wechselt die Emotion. Ich möchte mit dem Licht das Publikum auf diese Veränderungen aufmerksam machen. Mein Ziel ist die Emotionen der Musik zu unterstützen und die Verständlichkeit der Musik zu erhöhen. Für mich war es ungemein spannend erstmals an einer Oper zu arbeiten.
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Jürgen erwähnte, dass du anfangs Kulissen mit Licht simulieren wolltest. Wie ist das zu verstehen? pw Als ich an den ersten Skizzen für die Szene im Kloster arbeitete, habe ich ein aus Licht geschaffenes Kirchenfenster entworfen. Das aber war der falsche Weg. Denn ein Fenster oder Julias berühmter Balkon sind mit herkömmlichen Bühnenbildern besser darzustellen. Dafür benötigt man kein Licht. Mit Licht sollte man vielmehr die Emotionen interpretieren. Denn die Möglichkeiten, die mir das Licht bietet, sind enorm. rl Wie wurdest du von den Mitarbeitern der Wiener Staatsoper aufgenommen? pw Es war großartig, mit welcher Begeisterung sich der damalige technische Direktor Robert Stangl, der Beleuchtungsinspektor Rudolf Fischer und alle anderen Mitarbeiter auf die Inszenierung einließen. Sicherlich war ich vor sechs Monaten, als ich begann hier zu arbeiten, wesentlich nervöser als die Leute von der Oper. Ich komme aus einer ganz anderen Arbeitswelt. Ich wollte ein Teil ihrer Welt werden und nicht meine Welt der Welt der Oper aufdrücken. Natürlich wollte ich meine Erfahrungen einbringen und sehen, was man gemeinsam realisieren kann. Das entscheidende für mich ist, dass es funktioniert hat. Und ich bin mir sicher, dass alle Mitwirkenden aus der hieraus resultierenden Erfahrung für neue Inszenierungen profitieren werden. rl Wie viele verschieden Bühnenbilder hast du für Roméo et Juliette entworfen. pw Insgesamt sind es in fünf Akten zwanzig verschiedene Bilder. Im Unterschied zu einer Rockshow muss jedes
Bild in absoluter Harmonie zur Musik und zu den Kostümen sein. Farben und Formen des Lichts haben in der Oper eine tragende, starke Bedeutung. rl Wie viel Zeit hast du mit Proben in Wien verbracht? pw Insgesamt zwanzig Tage. Ich muss jedoch dazu sagen, dass meist nicht mehr als fünf Stunden am Tag für die Proben zur Verfügung standen, da in der Wiener Staatsoper nahezu jeden Tag eine Vorstellung stattfindet. Somit musste für jede Probe das komplette Setup neu an den Start gebracht werden. Damit waren jedes Mal 70 Leute beschäftigt. Lediglich einmal hatte ich die Möglichkeit zwölf Stunden am Stück zu Proben. Das war das erste Mal in der Geschichte dieses Hauses, dass man jemanden diese Möglichkeit gab. Allerdings musste es sein, da ich sonst keinen kompletten Durchlauf hätte realisieren können. rl Wie hast du die Premiere erlebt? pw Die letzte Kostümprobe fand drei Tage vor der Premiere statt. Also fuhr ich nach dieser Probe für drei Tage nach Budapest, um etwas Abstand zu gewinnen. Am Tag der Premiere kam ich mit dem Zug in Wien an und fragte mich, ob ich irgendetwas verändern würde, hätte ich die Möglichkeit. Natürlich kann man immer etwas verändern. Das ist umso leichter, hat man die Inszenierung einmal komplett erlebt. Allerdings hatte ich nicht das Gefühl etwas verändern zu wollen. Diese Produktion ist so anders und außergewöhnlich, dass in der Entstehung eins zum anderen kam und somit letztendlich jede Szene eine gewisse Gültigkeit hat. Natürlich konnte es passieren, dass das Publikum diese Form nicht mochte. Doch aufgrund der ungewöhnlichen Zusammensetzung von Parametern, die jeder von uns dazu
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gegeben hatte, war ich überzeugt, dass unsere Inszenierung ein Erfolg wird. Das Bühnenbild wurde vom Publikum positiv aufgenommen. Mit meiner Familie beobachtete ich die Szenerie aus einer dieser Logen. Zwei oder drei technische Fehler brachten Moving Lights dazu sich im falschen Moment zu bewegen. Darüber hinaus war die Vorstellung ohne weitere Fehler. In der Pause spürte man eine positive Stimmung jedoch konnte man nicht voraussehen, wie das Ganze endet. Als die Vorstellung endlich zu Ende war, fegte ein wundervolle, begeisterte Reaktion des Publikums wie ein angenehmer Wind auf die Bühne. Es war ein wahr-
haft magischer Moment. Nie zuvor habe ich so etwas erlebt und gespürt. Diese Akzeptanz und Begeisterung belohnten die vielen Tage und Nächte der Arbeit in denen mich nicht selten Selbstzweifel ergriffen. Einen schöneren Lohn konnte ich für meine Arbeit nicht bekommen. Jürgen hatte mir immer gesagt, dass das Publikum vielleicht buhen würde. Aber das wäre nicht wichtig, solange wir davon überzeugt sind, das Richtige getan zu haben. Doch für mich war es wichtig diese Verbindung von Publikum, Künstlern und Crew zu fühlen. Es war ein wunderbares Gefühl!
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CHARLES GOUNOD Charles François Gounod wurde am 17. Juni 1818 in Paris geboren. Er stammte aus einer Künstlerfamilie und studierte am Konservatorium u.a. Kontrapunkt bei Halévy, dem Komponisten von La Juive. Mit 22 Jahren gewann er den begehrten Prix de Rome und damit ein mehrjähriges Stipendium nach Rom. 1842 verlebte er einige Monate in Wien, wo er in der Karlskirche Messen aufführen ließ. Nach Paris zurückgekehrt, spielte Gounod mit dem Gedanken, Geistlicher zu werden. Seine Briefe unterzeichnete er mit »Abbé Gounod«. 1848 holte ihn die Sängerin Pauline Viardot aus dem Kloster und brachte ihn dem Theater näher. Für sie komponierte er die ersten Opern. Sapho wurde 1851 als erstes Bühnenwerk aufgeführt. 1852 heiratete er Anne Zimmermann, die Tochter eines Pianisten und Konservatoriumlehrers. Im selben Jahr wurde er Direktor des »Orphéon de la Ville de Paris« – einer hervorragenden Gesangsvereinigung. Neben Kirchenmusik – die 1852 verfassten Méditations sur le premier prélude de Bach für Violine, Klavier und Orgel, 1857 für Solostimme, Chor und großes Orchester als Ave Maria erschienen, wurden besonders populär – schrieb Gounod Schauspielmusiken zu Molières Le bourgeois gentilhomme und Ponsards Ulysse. Weitere Opern waren nicht erfolgreich: La Nonne sanglante (1854) und Le médécin malgré lui (1858). 1855 machte Gounod KS RAMÓN VARGAS als ROMÉO
die Bekanntschaft mit seinen späteren Librettisten Jules Barbier und Michel Carré. Mit Faust – 1859 im ThéâtreLyrique uraufgeführt – schuf er das Werk, das seinen Weltruhm begründen sollte. Die nächsten Bühnenwerke hatten wenig Erfolg: Philémon et Baucis (1860), La reine de Saba (1862), Mireille (1864) und La Colombe (1866). Im April 1865 fuhr Gounod in den Süden nach Saint-Raphael, um dort an seinem nächsten Projekt, der Oper Roméo et Juliette, zu arbeiten. »Ich bin in ein kleines Haus eingezogen … und hier arbeite ich mit Liebe.« Er komponierte sehr schnell. Wegen einer Krankheit musste er nach Saint-Cloud gebracht werden, wo er seine Arbeit beendete. Roméo war im Juli 1866 fertig orchestriert und wurde im August der Hauptdarstellerin, Madame Carvalho, überreicht. Am 27. April 1867 feierte Gounod einen großen Erfolg mit dieser neuen Oper im Théâtre Lyrique. Der deutsch-französische Krieg von 1870/71 vertrieb Gounod aus Paris; er ging nach London und gründete dort einen Chorverein, aus dem die heutige Royal Choral Society entstand. In London lernte er die Sängerin Georgina Weldon kennen, die 1875 Gounods Autobiographie herausgab. Seine Familie kehrte 1871 nach Paris zurück (1856 wurde ihm der Sohn Jean, 1863 seine Tochter Jeanne geboren). Freunde konnten ihn 1875 überreden,
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ebenfalls nach Frankreich zurückzukehren. Er trennte sich von Georgina Weldon und schrieb mehrheitlich nur noch geistliche Werke. Während der Arbeit an seinem zweiten Requiem erlitt er einen Schlaganfall und am 18. Oktober 1893 starb Charles Gounod in Saint-Cloud. Zehn Tage später fand ein Staatsbegräbnis statt.
ROMÉO ET JULIETTE UND SEINE ENTSTEHUNG Im Unterschied zu den anderen Vertonungen von Shakespeares Tragödie lehnten sich Barbier und Carré eng an die Vorlage an. Trotz dieser Nähe zum Original ergaben sich aber dramaturgische Lücken, da Kürzungen unumgänglich waren. So ist zum Beispiel die Exposition recht unvollständig: Es bleibt unklar, wie Juliette erfährt, dass Tybalt im Kampf mit Roméo tödlich verwundet worden ist; auch weiß man nicht, wie der angebliche Tod Juliettes Roméo zu Ohren gekommen ist. Darüber hinaus hat die Oper eine starke religiöse Ausrichtung: Im III. Akt gestaltete Gounod eine bei Shakespeare nur angedeutete kirchliche Trauung. Generell zieht durch die Oper ein religiöser Ton, der in dem an Gott gerichteten Bittruf um Vergebung (»Seigneur, pardonnez-nous!«) kulminiert. Als Drame lyrique, als »Interieur privater Tragödien« (Carl Dahlhaus), verzichtet das Werk auf große Tableaus, Massenansammlungen und historische Geschehnisse, so wie sie in der Grand opéra seit Giacomo Meyerbeer üblich waren, und ist auf den privaten Konflikt konzentriert. Im Zentrum stehen folglich die vier großen Duette des Liebespaares: »Ange adorable« im I. Akt beim ersten Zusammentreffen,
»O nuit divine je tʼimplore« in der Balkonszene im II. Akt, »Va ! Je tʼai pardonné« im IV. Akt beim Abschied nach der Liebesnacht sowie »Dieu ! Quelle est cette voix« unmittelbar vor dem Tod. Verschiedene Erinnerungsmotive, unter ihnen eine Art Liebesmotiv, stiften musikalisch den dramaturgischen Zusammenhang: Wenn zum Beispiel Juliette am Schluss mit den Worten »Ô joie infinie et suprême de mourir avec toi« von ihrem Glück singt, mit Roméo sterben zu dürfen, erklingt als Reminiszenz an die Liebesnacht im Pianissimo erneut jenes Motiv, das im Fortissimo Roméos Entschluss kommentierte, trotz Todesgefahr bis zum Tagesanbruch bei Juliette zu bleiben. Im Unterschied zu Faust konnten in Roméo et Juliette nur wenige Nummern zu »Schlagern« werden: Mercutios »Ballade de la reine Mab«, Juliettes Valse-ariette (diese Arie wurde von Gounod erst später als Zugeständnis an Madame Carvalho hinzugefügt) sowie Stéphanos Chanson »Depuis hier je cherche mon maître«. Mit seinem Verzicht auf Vergegenwärtigung der Umstände, die zu der privaten Tragödie geführt haben (die Familienfehde ist zumindest musikdramaturgisch wirkungslos), setzte Gounod die in den Werken Jules Massenets kulminierende Entwicklung der französischen Oper vom Historiengemälde zum Seelendrama als deren bedeutendster Vertreter fort. Roméo et Juliette, deren Premiere Caroline Carvalho und Pierre Jules Michot sangen, war Gounods letzter großer Bühnenerfolg. Die Presse reagierte größtenteils mit Begeisterung: »Faust hat sein ebenbürtiges Gegenstück gefunden. Die Romeo-Kompositionen Bellinis und Vaccais existieren nicht
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mehr und werden für immer im Schatten verschwinden.« (Henri Moréno, in: Le Ménestrel, 4. Mai 1867). Der Erfolg des Werks auch über Frankreich hinaus wurde durch den Umstand begünstigt, dass Paris anlässlich der Weltausstellung 1867 von Besucherinnen und Besuchern aus aller Welt überschwemmt war. Noch im Jahr der Premiere wurde das Werk am Théâtre-Lyrique über 100mal gegeben. Als erste nichtfranzösische Bühne brachte Her Majestyʼs Theatre London 1867 die Oper in italienischer Sprache heraus (mit Adelina Patti). Im selben Jahr folgten Mailand, Brüssel und Dresden. Da das Théâtre-Lyrique seine Tore schon im folgenden Jahr schloss, war Gounod gezwungen, seine Oper einer
anderen Bühne anzubieten. Von London aus beauftragte er Georges Bizet, das Werk für die Opéra-Comique neu einzurichten. Die bemerkenswerteste Änderung dieser 2. Fassung betrifft den Schluss des III. Akts, wo die Intervention des Herzogs von Verona gestrichen ist. Für die Opéra-Comique stellte diese Aufführung insofern eine Sensation dar, als sie die erste ohne gesprochene Dialoge war. In dieser Fassung wurde das Werk bis 1887 nahezu alljährlich gegeben. Für die 3. Fassung an der Opéra fügte Gounod den Auftritt des Fürsten wieder ein, ebenso ein Ballett, wie es die Tradition des Hauses verlangte. An der Opéra brachte es Roméo et Juliette auf über 600 Aufführungen.
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DER BRÜCKENSCHLAG ZWISCHEN DEN GENRES RIVALITÄT UND REPERTOIRE IN GOUNODS PARIS
In den 1860er-Jahren waren Pariser Kultur und Politik untrennbar miteinander verbunden. Als am 27. April 1867 Charles Gounods Roméo et Juliette im Pariser Théâtre-Lyrique uraufgeführt wurde, war die Oper als musikalische Gattung zu einem wichtigen Wettbewerbsfaktor geworden. Bis dahin hatte die Opéra – offiziell die Académie Royale (oder Impériale) de Musique – fast eine Monopolstellung gehabt, obwohl es auch Konkurrenzensembles gab, die ihr diesen Status streitig machten. Die Tatsache, dass diese Veränderungen mit dem gesellschaftlichen Wandel vom Ancien Régime zur Revolution und von der Republik zum Kaiserreich einhergingen, machte Fragen von Geschmack und Thematik, Individualität und Intention noch komplizierter. Identitätspolitik war daher in der fran-
zösischen Opernkunst des 19. Jahrhunderts allgegenwärtig, und Roméo et Juliette war eines der Produkte dieses Wandels. Mit seinen fünf Akten, der historischen Kulisse, den integrierten Tanzszenen sowie der wichtigen Rolle des Chors und dem Einsatz von Rezitativen (ursprünglich Dialogen) verwendete Gounod in seinem größten Erfolg nach Faust (1859) Elemente, die sich oberflächlich betrachtet mit der Grand opéra assoziieren ließen. Dieses Genre, das oft parodiert wurde, zeichnete sich durch historische Handlungen, große Besetzungen, prächtige Inszenierungen und eine komplexe Bühnenmaschinerie aus. Gioachino Rossinis Le Siège de Corinthe (1826) und Daniel Aubers La Muette de Portici (1828) waren die Vorläufer der Grands opéras, die für die
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DER BRÜCKENSCHLAG ZWISCHEN DEN GENRES
Herrschaft von Louis-Philippe (183048) typisch waren. Giacomo Meyerbeer (Robert le diable, Les Huguenots und Le Prophète) und Fromental Halévy (La Juive, La Reine de Chypre und Charles VI ) waren die wichtigsten Vertreter dieses Genres; sie stellten eine subtile allegorische Verbindung zwischen Historientheater und zeitgenössischen gesellschaftspolitischen Themen – dazu gehörte auch die Legitimität der Monarchie – her, wobei sie ein zunehmend wohlhabendes Bürgertum gleichzeitig bedienten und herausforderten. Die Werke, die in den Anfängen der Julimonarchie von Louis-Philippe entstanden, dienten als Vorbild für jene, die den Trend später übernahmen, darunter Gaetano Donizetti mit La Favorite, Les Martyrs und Dom Sébastien, alles Werke, die in den 1840er-Jahren an der Opéra zu sehen waren, und Giuseppe Verdi mit Les Vêpres siciliennes, uraufgeführt 1855. Wie für Rossini war Paris für diese beiden Italiener besonders fruchtbarer Boden, und zwar nicht nur an der Opéra, sondern auch an der Bühne mit dem passenden Namen, dem Théâtre-Italien (dort wurde bis 1878 gespielt). Es war aber auch die Zeit, in der der junge Gounod auf den Plan trat, mit Sapho (1851) und La Nonne sanglante (1854), einem offen an Meyerbeer angelehnten Stück, das – nicht ganz erfolgreich – versuchte, sich den mittelalterlichen Mantel von Robert le diable umzuhängen. Zu der Zeit, als Gounods Werke an der Opéra uraufgeführt wurden, hatte sich die politische Identität Frankreichs nicht nur einmal, sondern gleich zweimal geändert: durch die Revolutionen von 1848 und den Beginn des Zweiten Kaiserreichs vier Jahre später. Für den Komponisten mag der Aufstand
durchaus einen Einfluss auf seine Entscheidung gehabt haben, sich nicht zum Priester weihen zu lassen. Gounod gab seinen katholischen Glauben nicht auf, er ging aber mit dem Wechsel vom Priesterseminar in den Salon, wo er von der einflussreichen Familie Viardot aufgenommen wurde, ein Risiko ein – es sollte sich lohnen. Im Gegensatz zu erklärten Radikalen wie Hector Berlioz und Jacques Offenbach, von Wagner ganz zu schweigen, hatte Gounod Gespür für Eleganz und Ausgewogenheit, wie sie unmittelbar zur Ästhetik der postrevolutionären Herrschaft Napoleons III. passten, einer Epoche, die von den neuen Prachtstraßen des Barons Haussmann und schließlich vom Bau des Palais Garnier geprägt war. Als die Bauarbeiter im August 1861 den ersten Spatenstich für die »Nouvel Opéra de Paris« setzten, war allen in Paris klar, dass die Opernkunst für die Identität der Stadt von zentraler Bedeutung sein würde. Der eklektische Historismus von Charles Garnier, nicht unähnlich der zeitgleich entstehenden Ringstraße und der Hofoper in Wien, mag auf eine imaginäre Vergangenheit des Barock, der Renaissance und des Klassizismus zurückgeblickt haben; ein Rückschluss auf die Werke, die schließlich darin aufgeführt werden würden, war daraus jedoch nicht abzuleiten. Tatsächlich waren die 14 Jahre, in denen das Gebäude errichtet wurde – die Zeit, in der Faust und Roméo et Juliette einen festen Platz im Repertoire einnahmen –, von noch größerer Heterogenität und Rivalität geprägt. Um die Vielfalt der musikalischen Bestrebungen im Paris der 1860erJahre zu verstehen, ist es wichtig, die verschiedenen Ensembles und Aufführungsorte, aber auch die Genres und
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die Schöpfer der Musik voneinander abzugrenzen. Während Garniers großes Glaubensbekenntnis bauliche Form annahm, blieb die Oper eine peripatetische Kunst. Die Opéra als Institution war ab den 1820er Jahren in der Salle Le Peletier beheimatet und blieb dort, bis das Gebäude durch einen Brand im Jahr 1873 zerstört wurde. Mit 1.954 Plätzen war es das größte Opernhaus der Stadt. Dennoch hatte es mit dem Théâtre de l’Opéra-Comique (in der Salle Favart) und dem Théâtre-Italien sowie mit den Boulevardtheatern – dem Théâtre des Variétés, dem Théâtre du Palais-Royal und den Bouffes-Parisiens, die alle Offenbachs Heimat waren – bedeutende Konkurrenten. Das Théâtre-Lyrique war für Gounod der wichtigste Spielort, es bot sowohl Faust als auch Roméo et Juliette eine Bühne. Wie alle Pariser Ensembles durchlief es mehrere Phasen, doch gerade die Vielfalt seines Repertoires trug dazu bei, lange gültige Auffassungen zu verändern, vor allem die Trennung von Institution und Genre. Während bestimmte Werke aufgrund von Edikten, die auf Napoleon I. zurückgingen, exklusiv der Opéra vorbehalten waren, wurde dies vom Théâtre-Lyrique deutlich infrage gestellt. Ebenso wie der zeitgenössische Salon des Refusés Gemälde und Skulpturen ausstellte, die von der konservativeren Académie des Beaux-Arts als ungeeignet erachtet wurden, bot das Théâtre-Lyrique auch den von anderen Ensembles abgelehnten Werken eine Bühne. Während des Zweiten Kaiserreichs wurde die Peripherie schnell zum Zentrum. Das 1847 von Adolphe Adam als Opéra-National gegründete ThéâtreLyrique machte sich zunächst einen Namen, indem es bekannte Werke in
neuen Fassungen wieder aufführte, darunter Berlioz’ Version von Glucks Orphée und Verdis Pariser Adaption von Macbeth. Es war jedoch die Geschicklichkeit, mit der die Direktion neue Talente förderte, die den Ruhm des Hauses festigte. Adam inszenierte natürlich seine eigenen Opern, bevor die aufeinanderfolgenden Intendanzen von Léon Carvalho und Charles Réty die Karrieren von Gounod und Georges Bizet in ihren Anfängen förderten. Durch die Verbindung von Elementen der Grand opéra – insbesondere ihrer literarischen und historischen Bezüge – mit der kontinuierlichen Weiterentwicklung musikalischer Formen konnte das ThéâtreLyrique unter Carvalhos feinsinniger dramaturgischer Führung eine eigene Ästhetik entwickeln. Der Erfolg eines jeden Ensembles in Paris mag auf dieser Individualität beruht haben, doch mussten sich alle auch an andere Trends anpassen, die im In- und Ausland entstanden. Ein kurzer Überblick über die Werke, die in den 1860er-Jahren aufgeführt wurden, zeigt, wie groß die Herausforderung war. An einem Ende des Spektrums steht die Grand opéra mit fünfaktigen Werken wie Gounods La Reine de Saba (1862), Meyerbeers L’Africaine (1865), Verdis Don Carlos (1867) und Ambroise Thomas’ Hamlet (1868), die alle in der Salle Le Peletier aufgeführt wurden. An der Opéra-Comique, an der auch Offenbachs Robinson Crusoé (1867) aufgeführt wurde, hatte Thomas mit seinem Dreiakter Mignon (1866) ebenfalls Erfolg. Die größten Erfolge Offenbachs in den 1860er-Jahren – La Belle Hélène (1864), La Vie Parisienne (1866), La Grande-Duchesse de Gérolstein (1867) und La Périchole (1868) – wurden jedoch auf Konkurrenzbühnen aufgeführt.
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Die Gegenüberstellung von drei zeitgenössischen Werken aus dieser illustren Liste ist besonders hilfreich, um die Vielfalt des damaligen Angebots zu verstehen. Während Gounods Roméo et Juliette für den literarischen Geschmack des Théâtre-Lyrique typisch ist – dem Theater, in dem auch Bizets Walter-Scott-Adaption La Jolie Fille de Perth und Gounods okzitanische Tragödie Mireille aufgeführt wurden – bedient sich Verdis von Schiller inspirierter Don Carlos der Kostüme und Usançen der Grand opéra. Immerhin verlangte die Salle Le Peletier noch eine fünfaktige Struktur, ein Ballett und den Einsatz von Rezitativen. La Grande-Duchesse de Gérolstein stand natürlich am anderen Ende des Spektrums und sorgte für noch mehr Abwechslung und noch mehr Lacher, als das Stück – wie Roméo et Juliette und Don Carlos – während der Weltausstellung 1867 in Anwesenheit der gekrönten Häupter Europas aufgeführt wurde. Nicht nur, dass Gounod eine Brücke über die Kluft zwischen den so unterschiedlichen Genres der französischen Oper schlug; nicht nur, dass er die berühmteste Tragödie aller Zeiten zum Sujet wählte – er schuf ein Vorzeigewerk, das seine Talente ebenso herausstellte wie die Stadt, in der er arbeitete. Zu einem Zeitpunkt, als Paris von Besuchern aus aller Welt überschwemmt wurde, wurde seine Oper vor ausverkauften Häusern gespielt und eroberte von da an in rasantem Tempo die Bühnen in aller Welt. Leider blieb dem Théâtre-Lyrique langfristig der Erfolg versagt, denn es ging 1872 bankrott. Gounod war jedoch wie gewohnt schnell bereit, sich anzupassen. Nach dem Vorbild des Faust, der bereits 1869 in einer aufwändigen Neuinsze-
nierung mit Ballett zur Opéra übergewechselt war, fand Roméo et Juliette an der Opéra-Comique eine neue Heimat. Auch hier sorgte Gounod für einen reibungslosen Spielort- und Genreübergang, indem er das Ende des ersten Akts kürzte und mehrere Änderungen am dritten Akt vornahm. Und als das Werk 1888 weiter an die Opéra wechselte, die nun im Palais Garnier beheimatet war, adaptierte Gounod die Partitur ein weiteres Mal und sorgte auch für das obligatorische Ballett. In Anbetracht der politischen und künstlerischen Wechselfälle zu Lebzeiten des Komponisten ist es ein Wunder, dass überhaupt jemand in der Lage war, die lokalen Erwartungen zu erfüllen. Gounod, 1818 unmittelbar nach den Napoleonischen Kriegen geboren, stellte sich den Herausforderungen. Auch wenn Faust und Roméo et Juliette lokal und international erfolgreich waren, so sollte Paris während des Deutsch-Französischen Krieges, als Gounod mit seiner Familie nach Großbritannien floh, und der Gründung der Dritten Republik doch unmittelbar leiden. Als Gounod, der Wagner um ein Jahrzehnt überlebte, im Jahr 1893 verstarb, war die Welt eine ganz andere. In einer Zeit von klerikalen und antiklerikalen Auseinandersetzungen, der Dreyfus-Affäre und erneut drohendem Krieg begann die Ära von Debussy, Puccini, Massenet und anderen kühneren Persönlichkeiten, die in einer zerrissenen, post-wagnerianischen Welt auf ihre Chance warteten. Faust und Roméo et Juliette behielten ihren Platz im Repertoire, auch wenn Gounods Ruhm verblasste und er mit Werken wie Cinq-Mars (OpéraComique, 1877), Polyeucte (Opéra, 1878) und Le Tribut de Zamora (Opéra, 1881)
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nicht an frühere Erfolge anknüpfen konnte. Dank seiner Anpassungsfähigkeit und seiner Geschicklichkeit im Aneignen von Genres und Formen war er – wie Debussy sagte – zu dem Vertreter der französischen Sensibilitäten geworden, vor dem Aufkommen des Wagnerismus, den Gounod ablehnte, und des Verismo, den er in Mireille vorausgesagt hatte. Niemand konnte allen alles bieten, doch Gounod gelang es, die Pariser Ansprüche der 1860erJahre zugleich widerzuspiegeln und zu beeinflussen. Der Kritiker und Musikwissenschaftler Camille Bellaigue stellte 1910 fest, dass Gounod, der sich ganz der Mode verschrieben hatte, zum Maß aller Dinge geworden war: »Gounods Oper war poetischer und tiefgründiger als die Opéra comi-
que seiner Zeit, intimer als die Grand opéra. Letztere war kein Genre für einen Künstler. [...] Gounod ist kein Komponist der bombastischen Spektakel, Zeremonien und Prozessionen. Marguerites Garten und Juliettes Schlafgemach waren seine bevorzugten Refugien. Er vertrieb die Menschenmassen aus den Kathedralen, die Komponisten wie Meyerbeer gerne füllten. Was dieser Musik an Breite fehlte, machte sie an Tiefe wett. [...] Reich an eigenen Ressourcen, strotzte sie nur so vor innerem Leben.« Indem er mit beeindruckender Verve und Wandlungsfähigkeit auf die Vielfalt und die Zerrissenheit von Paris im 19. Jahrhundert reagierte, sorgte Gounod dafür, dass Faust und Roméo et Juliette immer und überall begeistert aufgenommen würden.
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SHAKESPEARES ROMEO – WIE GESCHAFFEN FÜR DIE MUSIK Als Fromental Halévy, mit dem RomPreis ausgezeichnet, 1822 den mit seinem Preis verbundenen obligatorischen Wien-Aufenthalt absolviert, hat er die Gelegenheit, Beethoven aufzusuchen und sich mit der Stadt Wien vertraut zu machen. Noch lässt in seinen Arbeiten nichts auf das künftige Meisterwerk La Juive (1835) schließen. Charles Gounod kommt, als Schüler Halévys sicher mit dessen persönlichen Hinweisen versehen, 1842/43 nun seinerseits als Rom-Preisträger nach Wien; er lernt Otto Nicolai (als Dirigenten der Zauberflöte) kennen und dirigiert persönlich in der Wiener Karlskirche. Der 24-Jährige ist, anders als Halévy, aber bereits zu diesem frühen Zeitpunkt mit den Stoffen in Berührung gekommen, die seinen Weltruhm begründen sollten: Er hat Goethes Faust (in französischer Übersetzung) gelesen und zu Roméo et Juliette bereits erste Szenen komponiert. Gounods Interesse für den Shakespeare-Stoff steht im Zusammenhang mit anderen Bearbeitungen von Werken des englischen Dramatikers, wie sie gerade in Frankreich im Zuge der romantischen Shakespeare-Bearbeitungen (Stendhals SZENENBILD
Racine et Shakespeare, 1823/25, Tourneen englischer Theatertruppen; Erscheinen von Übersetzungen usw.) an Boden gewinnen. Zwei Komponisten seien genannt: Hatte Hippolyte Chélard mit seinem Macbeth (1827) an der Pariser Opéra noch geringen Erfolg, so konnte Rossinis Otello in Paris (ab 1825 auch in französischer Version) einen länger andauernden Erfolg verbuchen. Gounod hörte Otello um 1835. Das französische Interesse für den Romeo-Stoff manifestiert sich aber schon im 18. Jahrhundert, lange vor der Wiederentdeckung Shakespeares durch die Romantik, in Bearbeitungen für Sprechbühne und Musiktheater. JeanFrançois Ducis (1733-1816), Mitglied der Académie française, präsentiert 1772 seine Bühnenversion von Roméo et Juliette. Er bringt damit gleichsam den Stoff wieder nach Frankreich zurück, wo Shakespeare – in Boisteaus Version der erfolgreichen Novelle von M. Bandello (gest. 1560), Bischof von Agen – die Quelle seiner Inspiration gefunden hatte. Auf den gleichen Ducis und seine Othello-Version greift übrigens der Textautor von Rossinis Otello zurück.
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HANS ULRICH BECKER
Greifen wir aus der Stoffgeschichte die Versionen heraus, die – direkt oder indirekt – mit Gounods Oper in Verbindung gebracht werden können: a) Jean-François Ducis – Roméo et Juliette (Schauspiel, Paris 1772) b) Nicolas Dalayrac – Tout pour lʼamour ou Roméo et Juliette (Opéra comique, Text: J. Monvel, Paris 1792) c) Daniel Steibelt – Roméo et Juliette (Opéra comique, Text: J. de Ségur, Paris 1793) d) Nicola Zingarelli – Giulietta e Romeo (Tragedia per musica, Text: G. Foppa, Mailand 1796) e) Nicola Vaccai – Giulietta e Romeo (Oper, Text: F. Romani, Mailand 1825) f) Vincenzo Bellini – I Capuleti e i Montecchi (Tragedia lirica, Text: F. Romani, Venedig 1830) g) Hector Berlioz – Roméo et Juliette (Symphonie dramatique, Text: E. Deschamps, Paris 1839) Gounod hatte Gelegenheit, einige dieser Romeo-Versionen in Paris zu hören [e-g]; er hebt hervor, wie sehr ihn gerade die Komposition von Berlioz beeindruckte (mit dem Scherzo de Mab). Hector Berlioz seinerseits unterstreicht in einer späteren Veröffentlichung die Qualitäten von Steibelts Werk [c], das er 1822 in Paris gesehen haben dürfte. Viel spricht dafür, dass Gounods bereits erwähnte frühe Skizzen von Zingarelli [d] inspiriert sind. Zingarelli, der Lehrer Bellinis, stand dem gleichfalls zwischen Kirchenmusik und Oper schwankenden Gounod jedenfalls näher als etwa Vaccai. Nur bei Zingarelli findet sich übrigens, wie später bei Gounod, die Szene der Hochzeit
Romeos und Julias. Der Librettist Zingarellis, Foppa, wählte als eine seiner Vorlagen Ducis [a], doch gibt es Hinweise, dass ihm auch die Texte Monvels [b] bekannt waren. Gounods vermutlich letzte Begegnung mit dem Stoff, bevor er mit der eigenen Komposition beginnt, ermöglicht die Pariser Opéra, die Roméo et Juliette 1859 in französischer Version von Charles Nuitter und mit Musik von Bellini und Vaccai auf die Bühne bringt, kurioserweise in Bühnenbildern von Halévy-Opern (La Magicienne, Le Juif errant u.a.). Nur wenige Monate nach Faust (mit den Librettisten Jules Barbier und Michel Carré) wird Gounod an sein zweites großes Projekt erinnert: an den Roméo-Stoff (laut Berlioz »wie geschaffen für die Musik«). Barbier und Carré, etwa gleichzeitig mit dem Libretto für Hamlet (1868) von Ambroise Thomas und der französischen Version von Nicolais Lustigen Weibern (1866) beschäftigt und Verdis französische Fassung von Macbeth (1865) vor Augen, adaptieren 1864/66 für Gounod als weiteres ShakespeareStück Roméo et Juliette, nicht für die Opéra, sondern für das Théâtre-Lyrique in Paris bestimmt. Wohl angeregt durch die 1859 gespielte Bellini- Oper, sehen sie auch eine Hosenrolle vor: die des Stéphano (bei Bellini ist es Romeo). Aber ihre Oper mit der Musik von Gounod, die am 27. April 1867 ihre Uraufführung erlebt, wird nicht nur an der Bellini-Version des Stoffes gemessen; sie muss sich auch gegen Berliozʼ Symphonie dramatique von 1839 behaupten (die auch Wagner bei der Arbeit an seinem Rienzi studierte). Nicht zu unterschätzen aber auch die fast gleichzeitige Präsentation von Gounods Oper und Offenbachs Grand-Duchesse de Gérolstein,
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SHAKESPEARES ROMEO – WIE GESCHAFFEN FÜR DIE MUSIK
und dies während der Pariser Weltausstellung von 1867, was die rasche Verbreitung beider Werke nach ihrem Premierenerfolg sehr begünstigte. Ist Offenbach mit seiner Parodie der Grand opéra, der Aufzüge und Schwerterweihen, seiner Linie treu geblieben (die sogar den Meister Meyerbeer gelegentlich in früheren Werken belustigte), stellte sich das Publikum zu Gounod, dem preisgekrönten und seit Faust populären Komponisten, eine andere Frage: Wie geht es fünf Jahre nach dem Tod Halévys und zwei Jahre nach der posthumen Uraufführung von Meyerbeers Africaine mit der französischen Oper weiter (zumal der seit Langem verstummte Rossini bereits 75 Jahre alt ist)? Wird Gounod die Linie der großen, historischen Oper fortführen oder neue Akzente setzen? Dabei ist sicher auch der oft unausgesprochene Wunsch von Bedeutung, nun einmal einen Franzosen als erfolgreich und stilbildend zu sehen. Dieser Gedanke, der Gounod fremd ist und von eher nationalistischen Kreisen vertreten wird, hat neue Nahrung gefunden, als Wagner mit seinem Tannhäuser 1861 vernehmlich – wenn auch zunächst erfolglos – um die Anerkennung des Pariser Opernpublikums warb. Fortsetzung oder neue Akzente? Hatten nicht bereits Meyerbeer (mit seiner Dinorah 1859, auf ein Libretto von Barbier und Carré) und Halévy (u.a. mit La Magicienne) neue Stoffbereiche erschlossen? Aber Gounod geht den Weg noch weiter: Mit Roméo et Juliette entfernt er sich von der historischen Oper mit klar definiertem Kontext und politischer Relevanz (und hierzu passendem Libretto; Meyerbeer lehnte Stoffe der Weltliteratur grundsätzlich für sein
»Gesamtkunstwerk« ab! Halévy hatte sich einmal mit La Tempesta, 1850, an Shakespeare versucht). Vom Stofflichen her war auch schon Rossinis Guillaume Tell die Vertonung einer weltweit verbreiteten, überall verständlichen Legende mit allgemein im Bewusstsein verankerten Symbolen (z.B. der »Apfel« bei Tell, der »Balkon« bei Roméo). Gounod entscheidet sich aber für einen intimeren Charakter seiner Oper, für den Verzicht auf Massenszenen, für psychologische Vertiefung, auch und gerade bei der weiblichen Hauptrolle. Er geht später wieder andere Wege (und bleibt nach 1867 ohne nennenswerten Erfolg), aber jüngere Komponisten wie Bizet und besonders Massenet orientieren sich an Gounods Ansätzen: So widmet Massenet seine Manon 1884 Caroline Miolan-Carvalho, der ersten Juliette, und würdigt damit auch Gounods Vorbildfunktion. Als Halévy-Schüler und Meyerbeer-Bewunderer (noch 1875 berichtet er von seiner Begeisterung bei der Premiere des Prophète; auch ist das Duett Roméo/Juliette, IV/1, sicher nicht ohne Anklänge an das Duett Raoul/Valentine im 4. Akt von Meyerbeers Huguenots!) ist Gounod nicht gerade prädestiniert, der Grand opéra den Rücken zu kehren.
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CHARLES GOUNOD
ES GIBT NUR EINEN ORT, AN DEM SICH EIN KOMPONIST EINEN NAMEN MACHEN KANN: DAS THEATER. 45
SABINE COELSCH-FOISNER
JULIETTE ... ET ROMÉO Nach seinem ersten großen Opernerfolg mit Faust 1859 griff Charles Gounod eine der großen Liebesgeschichten der Weltliteratur auf: Romeo und Julia. Beeindruckt hatte ihn der Stoff bereits, als er 1839 als 21-jähriger Student in Paris Hector Berlioz’ dramatische Symphonie Roméo et Juliette gehört hatte; drei Jahre später sah er in Italien Vincenzo Bellinis Oper I Capuleti e i Montecchi und 1865 Wagners Tristan und Isolde – einen großen Bühnentod, der für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts prägend war. Jules Barbier und Michel Carré lieferten Gounod das Libretto: 1867 wurde Roméo et Juliette am Théâtre-Lyrique in Paris uraufgeführt. Das Publikum war begeistert, und bereits in der ersten Saison wurden 102 Vorstellungen gespielt. Die Oper reiste um die Welt: London, Dresden, Mailand, Brüssel, Wien, New York. Offensichtlich war es gelungen, die alte Geschichte einer jungen Liebe für das Kunstgefühl des späten 19. Jahrhunderts neu zu interpretieren. Denn obgleich eng angelehnt an François-Victor Hugos Shakespeare-Übersetzung, Gounods Oper ist dem Geist der Shakespeare’schen Tragödie fremd. Textraffungen und szenische Veränderungen sowie die Einführung
einer grandiosen Ballszene und von Chorpassagen, einer Hosenrolle (Stéphano – Roméos Page) und einer Walzerarie für Juliette (»Je veux vivre«) lassen sich nicht nur als Notwendigkeiten der musikalischen Umsetzung im Stile sowohl der Grand opéra als auch der Opéra comique erklären, sondern sind Ausdruck einer neuen Ästhetik und Geisteshaltung: Gounods Roméo et Juliette ist die radikale Umdeutung der Elisabethanischen Tragödie in ein spätromantisches Gefühlsdrama. Roméo und Juliette sterben gemeinsam in der Überzeugung, dass der Tod die Erfüllung ihrer zur Ewigkeit bestimmten Liebe ist. Der Tod entreißt die Liebenden der realen Welt, aber er trennt sie nicht! Nur das Publikum geht nach Hause, ins irdische Leben zurück, wo Capulets und Montagues – im übertragenen Sinn – weiterstreiten und Generationen einander auch heute nicht verstehen. Statt die Menschheit symbolisch zu versöhnen und das Publikum kathartisch zu entlasten, wie das Shakespeare tut, schafft Gounods Roméo et Juliette die für das 19. Jahrhundert typische Kluft zwischen Kunst und Wirklichkeit, Bühne und realer Welt, Mensch und Gesellschaft. Damit wur-
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den Form und Wirkung der Tragödie grundlegend verändert. Shakespeares Romeo and Juliet gründet in der Gewissheit, dass Individuum und Universum ein Ganzes bilden und alles menschliche Handeln Konsequenzen für die Welt hat. Der Mensch existiert nicht für sich allein und was ihm gelingt oder misslingt, wurzelt in einer tiefen Weltverbundenheit. Das betrifft auch die Liebe. In der Spätromantik ist dieses Weltganze zerfallen. Die Antwort auf Leid und Unrecht ist nicht Reinigung – Katharsis, worauf die Tragödie nach aristotelischem Vorbild abzielt –, sondern Weltflucht. Roméo und Juliette geraten immer mehr in eine Traumwelt, einer Sehnsucht folgend, die sich im irdischen Leben nicht erfüllen kann. Der Traum bedeutet Verinnerlichung und Abkapselung von der Welt, er ist auch die Vorstufe zum Tod, der letzten Rettung für die Liebenden. Mehr: Der Liebestod ist die Erfüllung eines religiös-ästhetischen Ideals, wie es typisch ist für die Mitte des 19. Jahrhunderts. Gounods Oper konzentriert sich fast ausschließlich auf die Liebenden und folgt nach romantischem Vorbild einem Weltdeutungsmuster, das das Subjekt, die individuelle Liebe, den individuellen Glauben und den individuellen Tod in den Vordergrund rückt. Der Romantiker ist ein Einzelgänger und Schwärmer, er versteht die Welt nicht, er zieht sich in sein Gefühlsinneres zurück und strebt nach Einheit mit einem höheren Sein. Die romantische Liebe ist gelebter Widerstand gegen die Gesellschaft und Ausdruck einer überirdischen Sehnsucht. Roméo und Juliette sprechen bzw. singen miteinander nur über sich und ihre Gefühle, so, als gäbe es um sie herum keine Welt, dafür aber einen Himmel, der sich über
die ganze Oper wölbt. Die musikalische Umsetzung ihrer Zweisamkeit ist das Duett, ein Muss in der Operntradition des 19. Jahrhunderts. So wurde das Liebesduett als Höhepunkt von Gounods Oper Faust umjubelt; das Publikum verlangte nach mehr, und Léon Carvalho, der Direktor des Théâtre-Lyrique, setzte auf Publikumserfolg. Für Roméo et Juliette komponierte Gounod gleich vier Duette, symmetrisch auf die Oper verteilt: das Kennenlernen im ersten Aufzug, die Beteuerung der Liebe im zweiten, die Hochzeitsnacht im vierten und der gemeinsame Tod im fünften Aufzug. Rossini meinte schlichtweg: Roméo et Juliette ist ein Duett in drei Teilen, eines davor, eines während, und eines danach.« Und Verdi bedauerte, dass die Oper zu glatt geschliffen sei – ein einziges, langes Duett. Roméo und Juliettes Liebe steht im Zeichen romantischer Weltferne, die sich zu einer eigentümlichen Verschränkung von Liebe, Tod und religiöser Ekstase hochschaukelt. Man kann sich diese spätromantische Liebesmystik so erklären: Weil das Subjekt ohnehin im Widerspruch zur Gesellschaft lebt, verliert der Tod das Trennende und wird sublimiert als Vollendung innerer Werte: Liebe, Reinheit, Treue und totale Hingabe an einen Menschen. Im Fin de Siècle affimiert sich dann eine wahre Todessehnsucht. Ganz soweit sind wir noch nicht bei Roméo et Juliette, nur ästhetizistische Grundtendenzen lassen sich bereits erkennen – dafür hat schon François-Victor Hugos Übersetzung gesorgt – und Juliettes Walzerarie (»Je veux vivre«) ist voll von Todesahnung und Bildern der Vergänglichkeit: »Dann kommt die Stunde, in der man weint […] und das Glück entflieht ohne Wiederkehr. Dem verdrießlichen Win-
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ter fern lass mich schlummern und den Duft der Rose atmen, […] bevor sie welkt«. Auch Roméo hat eine dunkle Vorahnung, noch ehe er Juliette beim Ball erblickt. Voraussetzung für die Sinnverlagerung vom Tod als Ende zum Tod als Erfüllung war ein gezielter Eingriff in die Shakespear’sche Textvorlage. Das betrifft den Bauplan des Stücks, Handlung und Charaktere. Barbier und Carré haben Shakespeare nicht umgeschrieben, vielmehr haben sie den Text gefiltert und im Spiegel des 19. Jahrhunderts interpretiert. So entsteht auch ein neues Frauenbild: Juliette. Shakespeares Julia ist eine facettenreiche, kühne und aktive Frau im Sinn des humanistischen Welttheaters, die ihre Anhänger und Gegner hat; Gounods Juliette ist eine weibliche Idealfigur, die an dramatischem Potenzial verloren hat, dafür aber dem Stilisierungsbedürfnis der Spätromantik voll entspricht und unangefochtene Sympathieträgerin ist. Was es dazu braucht, hat sie von Shakespeares Protagonistin geerbt: Sie ist jung, schön und dem Tode geweiht. Ich möchte diese Eigenschaften in der Stoffgeschichte, der Dramaturgie und im ideengeschichtlichen Kontext des 19. Jahrhunderts zeigen. Denn das Besondere an einem Werk wird immer am deutlichsten im Vergleich. Romeo und Julia gehört zu den wirkungsmächtigsten Stoffen der Weltliteratur und zu den Spitzenreitern in der Oper: von Georg Benda 1776 (Libretto: F.W. Gotter), Johann Gottfried Schwanenberger 1776 (Libretto: C. Sanseverino), Nicolas Dalayrac 1792, Daniel Steibelt 1793, Niccoló Antonio Zingarelli 1796, Pietro Carlo Guglielmi 1810, Nicola Vaccai 1825, Vincenzo Bellini 1830 (Libretto: Felice Romani), Filippo Marchetti 1865, Charles Gounod 1867, Paul Xavier
Desiré d’Ivry 1878, John Edmund Barkworth 1916, Riccardo Zandonai 1922, Heinrich Sutermeister 1940, Leo Spies 1942 und Boris Blacher 1950, um nur einige zu nennen. Neben Ballettfassungen und Orchesterwerken über Bühnen- und Filmmusiken (allein zwischen 1900 und 1924 entstanden 15 Stummfilme), reicht die Palette bis zu Leonard Bernsteins Musical West Side Story 1957 und Kultfilmen, wie Zeffirelli 1968 oder Baz Luhrmann 1996, Romeo + Juliet. Die Tiefenstruktur liefert die Geschichte von Pyramus und Thisbe, erzählt im vierten Buch von Ovids Metamorphosen, 4-8 n. Chr. Die beiden verlieben sich und fliehen, weil ihre Elternhäuser verfeindet sind. Sie verfehlen einander am vereinbarten Ort, Thisbe versteckt sich vor einer Löwin und verliert ihren Schleier. Als Pyramus diesen blutbefleckt findet, glaubt er, sie sei tot und ersticht sich auf den bloßen Verdacht hin. Das Blut spritzt wie eine Fontäne aus seiner Wunde und färbt die Früchte des Maulbeerbaums rot. Thisbe muss ein wahres Blutbad vorgefunden haben. Dennoch küsst sie seine bereits kalten Lippen. Medizinisch betrachtet ist der Tod bereits eingetreten. In einer spätmittelalterlichen Übersetzung lesen wir sogar »frosty mouth«. Dann tötet sich Thisbe mit Pyramus Schwert, das noch warm von seinem Blut ist. Folgerichtig muss sie es aus seiner Wunde gezogen haben. Für ein Liebesdrama könnte das eine unappetitliche Szene abgeben. Anders gesagt: Ovid ist nicht bühnen- oder opernfähig, aber Ovid ging es nicht um Psychologie oder Emotion, er will schlicht erklären, warum die Früchte des Maulbeerbaums rot sind. Der Tod des Liebespaares steht im Dienst einer aitiologischen Welterklärung: Ein
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Naturphänomen wird durch eine Geschichte begründet. Im christlichen Mittelalter funktioniert diese Naturdeutung nicht mehr, deshalb wirkt die Schilderung der Wunde, aus der das Blut spritzt, in der mittelalterlichen Rezeption oft ungewollt komisch. Problematisch ist vor allem der Doppelselbstmord des Liebespaares geworden. Also triumphieren Pyramus und Thisbe als Märtyrer der höfischen Liebesreligion (religio amoris). Thisbe erscheint als Liebesheilige. Alles irdische Leid ist vorläufig und wird in der ewigen Seligkeit einer Existenz nach dem Tode aufgehoben. Das Leben im Diesseits ist lediglich Vorbereitung für das Leben nach dem Tod. Geoffrey Chaucer folgt diesem Modell in seiner Legend of Good Women (ca. 1372-86), verlagert die Erzählung jedoch handfest ins Alltagsleben: Die Liebenden kennen einander durch den Klatsch der Nachbarweiber. Das ist ein wichtiger Schritt in der Stoffgeschichte, weil dem Bild der reinen, schönen, sich opfernden Frau ein weniger attraktives Frauenbild gegenübergestellt wird. Wohl bringt der Vergleich die Tugend der Heldin besser zur Geltung, der Dichter hat aber auch Gelegenheit – wenn er will, und Chaucer wollte das –, die anderen Frauen herabzuwürdigen. Frauenlob und Frauenfeindlichkeit gehen Hand in Hand, wie so oft in der Geschichte der westlichen Literatur. Shakespeare entwirft eine ganze Reihe an Frauenbildern und positioniert Julia gegenüber der Amme, Rosaline, in die Romeo am Anfang des Stücks unsterblich verliebt ist, Lady Capulet und der Feenkönigin, die Romeos Freund Mercutio in einer Ballade besingt, und die übrigens Gounod übernimmt. Das Ergebnis bei Shakespeare
ist eine höchst komplexe Julia, die vom unerfahrenen Mädchen, das der Mutter ergeben ist, zur willensstarken Frau reift und durch die Leidenschaft in allen Tiefen ihres Wesens verwandelt wird – binnen weniger Tage. Shakespeares Julia war immer ein Problem für jene, die in ihr den Prototyp der selbstvergessenen woman in love sehen wollten. Mit 13 lernt sie auf einem Ball einen jungen Mann kennen, lässt sich nach dem ersten Wortwechsel bereits von ihm küssen, gesteht ihm spontan ihre Liebe, heiratet ihn tags darauf heimlich und begehrt ihn lautstark. Damit widersetzt sie sich dem Willen des Vaters, ignoriert den Rat der Mutter, der Amme und des Bruder Lorenzo, der wiederholt vor einer überstürzten Bindung warnt: Übereilte Liebe verblasse schnell und verderbe den Appetit: »Therefore love moderately; long love doth so. / Too swift arrives as tardy as too slow.«, und wer zu schnell rennt, der stolpert: »They stumble that run fast«. Die schöne Julia verkörpert auch die ungezähmte Wilde, die gesellschaftliche Konventionen von weiblicher Zurückhaltung und Gehorsam über Bord wirft. In der berühmten Balkonszene hat entschieden sie die Hauptrolle: 97 Verse, während er nur 46 hat. Zudem ist ihre Rede praktisch. Sie fragt Romeo direkt, wer er sei und was er wolle, erteilt Befehle und kommt rasch zur Sache: »Wenn du es ernst meinst, sag mir, wann und wo wir morgen heiraten können«, während Romeo in poetischen Bildern spricht: If that thy bent of lovebe honourable, Thy purpose marriage, send me word tomorrow, By one that I’ll procure
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to come to thee, Where and what time thou wilt perform the rite … Noch dazu bezeichnet Julia ihn als ihren Falken, entgegen rollentypischen Metaphern, die die Frau mit dem Animalischen assoziierten, denn das Tier muss gebändigt werden. Darauf spielt z.B. Julias Vater an, wenn er sagt: »fettle your fine joints …«, «Graze you where you will, you shall not house with me«. Romeo erscheint bei Shakespeare jedenfalls als der zu zähmende, nicht Julia. Shakespeare spielt mit den stereotypen Geschlechterrollen von weiblicher Schwäche und männlicher Stärke. Mit Julia skizziert er eine Entwicklung, die man je nach Sichtweise als blinde Leidenschaft (Sturm und Drang) interpretieren kann oder als Weg von der Fremdbestimmung zur Selbstbestimmung der Frau, die allein ihre Entscheidung trifft. Am Ende des Stücks ist Julia allein, ohne das soziale Netzwerk, in dem wir sie anfänglich sehen; sie muss für sich entscheiden und die Folgen ihrer Entscheidung tragen. Umgekehrt lernen wir einen Romeo kennen, der ein Verhalten an den Tag legt, das ein Diener zu Beginn des Stücks dem weiblichen Geschlecht zuordnet: »Women, being the weaker vessels«. Er heult und schluchzt und ist irrational, sodass ihn Bruder Lorenzo fragt, ob er denn überhaupt noch ein Mann sei. Denn Mann sei er nur mehr seiner Gestalt nach: Art thou a man? Thy form cries out thou art. Thy tears are womanish, thy wild acts denote The unreasonable fury of a beast.
Sogar Romeo selbst sieht sich als »effminate«. Shakespeares Liebespaar birgt widersprüchliche Lesarten, aber es sind gerade solche Kanten und Zweideutigkeiten, die seine Charaktere so lebensnah und modellierbar für die Nachwelt gemacht haben. Im 19. Jahrhundert schwankt die Rezeption von Romeo und Julia zwischen rigider Moralzensur und morbidem Lustgewinn. Julia wurde entweder als abschreckende Rebellin inszeniert – die schöne Wilde –, oder in das Korsett weiblicher Selbtsaufopferung gezwängt und beweint, weil sie hilflos männlicher Gewalt ausgeliefert ist: Der Vater nötigt sie zur Heirat. So drückt Helen Faucit, Lady Martin in ihrem Erlebnisbericht einer Viktorianischen Schauspielerin ihr Bedauern für Julia aus, weil diese ohne elterliche Liebe aufwächst, vom Vater gedemütigt und zur Heirat mit einem Mann, den sie nicht liebt, gezwungen wird und sich schließlich noch für ihre Liebe hinopfert. Größe konnte diese Julia nur durch Ergebenheit, Folgsamkeit und grenzenlose Duldsamkeit erlangen. Das entsprach ganz der Tendenz des 19. Jahrhunderts, die Frau in zwei extreme Rollenbilder zu polarisieren: einerseits die reine, tugendhafte Frau, die zur Madonna erhoben wurde; andererseits die gefährliche, verführerische Sirene, die im Extremfall als Männer verschlingende Vampirfrau, oder femme fatale dämonisiert wurde: Heilige und Hure. Schön sind beide, doch die eine bringt Segen, die andere Verderb. Die eine ist Opfer, die andere Täterin. Durch ein besonderes Deutungsmanöver verschmelzen die beiden zur Personalunion der sogenannten »weltlichen Madonna« – ein Schönheitsideal, das zugleich Projektionsfläche für reli-
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giöse Sehnsüchte und erotische Fantasien war. Dieses ambivalente Frauenbild ist die Schöpfung der Spätromantik und begegnet uns im 19. Jahrhundert in unterschiedlichen Gewichtungen quer durch Europa. Gounods Juliette ist ein Produkt ihrer Zeit: Sie ist eindeutig mit dem Madonnentyp verwandt. Romeo sieht sie verklärt als »heiligen Engel«, »schönen Engel«, »engelsgleiche Schönheit«, »bezaubernden Stern« und »himmlischen Schatz«. Anders als bei Shakespeare ist sie zur strahlenden Heldin geworden, konkurrenzlos und ohne weibliche Gegenbilder. Der (nur mehr) angedeutete Vergleich mit Rosaline bestätigt ihre herausragende Stellung, und gleich zwei Chöre besingen ihre überwältigende Schönheit, als sie den Ballsaal betritt: Zuerst die Männer, dann die Frauen: »Oh, wie schön sie ist«. Juliette scheint ganz dem pseudomittelalterlichen Marienkult des 19. Jahrhunderts und Gounods religiöser Grundstimmung zu entsprechen. Gounod wollte ursprünglich Priester werden, studierte Theologie bis 1848 und komponierte bis dahin ausschließlich sakrale Musik. Juliette ist aber nicht die Jungfrau Maria noch ist sie die unerreichbare Angebetete, wie es das höfische Liebesideal im Mittelalter verlangte. Sie liebt ihren Roméo mit Seele und Leib. Durch den Vollzug der Ehe hatte bereits Shakespeare einen folgenschweren Bruch mit dem höfischen Frauenbild initiiert und die Liebe verweltlicht. Julias leidenschaftliche Hingabe ist der pure Kontrast zur unerreichbaren, hartherzigen Rosaline, von der der liebeskranke Romeo schwärmt, bevor er Julia kennenlernt. Mit Julia hat Shakespeare die Frau vom Himmel geholt, mit Juliette hebt sie Gounod wieder hinauf,
aber in einen Himmel, wie ihn sich eben die Spätromantik vorstellt – heilig und sinnlich zugleich. Julias Monolog im Garten – die berühmte Balkonszene – muss für das späte 19. Jahrhundert eine wahre Offenbarung gewesen sein. Julia bekennt ihre Leidenschaft und entschuldigt sich dafür: »Schelte nicht mein Herz, dessen Geheimnis du kennst, dass es leichtfertig sei und nicht zu schweigen wusste«. Ohne langes Werben sind sie tags darauf vereint. Auch der vorgetäuschte Tod mochte im Kontext der Spätromantik Assoziationen mit der Verstellkunst der Verderb bringenden Frau geweckt haben (die femme fatale ist eine, die sich verwandelt, verkleidet und täuscht). Obgleich Julia oder Juliette selbst keine Schuld trifft – Bruder Lorenzo hatte ihr den Trunk verabreicht –, so wird Romeo doch der Anblick ihres toten Körpers zum Verhängnis: »Ich glaubte dich tot und habe dieses Gift getrunken!«. Aus Shakespeares Julia konnte Gounod wunderbar die für die weltliche Madonna typische Verknüpfung von Reinheit, Schönheit, Sinnlichkeit und Tod/Verderb herausfiltern. Das Opernpublikum des 19. Jahrhunderts hätte sich nie mit Ovids blutbeflecktem Schleier begnügt. Pyramus sah nur den Schleier, nicht Thisbe und hatte keine Gelegenheit, eine (scheinbar) tote Frau zu beschreiben. Shakespeare ändert den Befund: Als Romeo vom vermeintlichen Tod Julias hört, zieht er zu ihr, beschreibt ihre unvergleichliche Schönheit und küsst sie ein letztes Mal. »Thus with a kiss I die«. Viele der großen Monologe von Shakespeares Helden gelten der Schönheit eines geliebten Frauenkörpers – vorzugsweise schlafend, todesähnlich, scheintot oder tot – Hauptsache, sie
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bewegt sich nicht und schweigt. Das ist zweifellos ein Grund, warum sich Shakespeares tragische Heldinnen solcher Beliebtheit im 19. Jahrhundert erfreuten: Julia, Desdemona, Ophelia, Imogen stehen der Kameliendame, la Traviata, Carmen, Mimì in nichts nach. Die Darstellung der toten Frau ist ein Zentralmotiv spätromantischer und in der Folge ästhetizistischer Weiblichkeitskonstruktion. Auch auf der Bühne hat der Tod Hochkonjunktur. Gounod widmet der aufgebahrten Juliette einen ganzen Aufzug. Dahinter verbirgt sich nicht automatisch Mordlust oder Lustmord; selbst, wenn Todesfantasien wuchern und die Literatur des späten 19. Jahrhunderts tatsächlich viele Frauenmorde vorzuweisen hat und pervers-groteske Blüten treibt wie etwa in Robert Brownings dramatischen Monologen. In Porphyrias Liebhaber erdrosselt ein Mann seine Geliebte mit ihren eigenen Haaren und verbringt die Nacht mit ihr, und in unzähligen Geschichten und Gedichten lieben Männer tote Frauen, z.B. Dante Gabriel Rossettis The Blessed Damozel (1856). Der Kult der toten Frau wurzelt in der Kunstverliebtheit der Spätromantik, die sich Edgar Allen Poes Definition von »poetical« zu eigen gemacht hat – in England und am Kontinent: »[…] the death, then, of a beautiful woman is, unquestionably, the most poetical topic in the world – and equally is it beyond doubt that the lips best suited for such topic are those of a bereaved lover.« [Der Tod einer schönen Frau ist zweifellos der poetischste Gegenstand der Welt – und zweifellos sind die Lippen des Liebenden am besten geeignet, darüber zu sprechen.] Verherrlicht wird nicht der vitale Körper, sondern der weibliche Körper als Kunstobjekt,
nicht das blühende Leben, sondern das stille Siechtum. Der Tod steht ihr gut. Es gilt die Formel: Schöne = Tote = Kunstwerk. Ein kleines Beispiel mag dies verdeutlichen: Während Shakespeares scheinbar tote Julia noch »crimson« – rote Lippen und Wangen hat – Romeo sagt ausdrücklich, dass ihr Körper noch nicht von der Blässe des Todes gezeichnet ist (»Death’s pale flag is not advanced there«) –, so sind die Farben des Lebens aus Gounods Juliette geschwunden: »fahles Licht« und »bleicher Tod, und Lorenzo erklärt die Wirkung des Tranks: »bald wird eine geisterhafte Blässe / das Rot auf Euren Lippen und Wangen löschen«. Mit derart subtilen Kunstgriffen wird Shakespeares Julia zum spätromantischen Frauenbild in enger Anlehnung an die weltliche Madonna umgedeutet. Juliette ist »toter« als Juliet. Wie verhält sich Juliette als Braut des Todes zur Dramaturgie des Stoffs? Werfen wir nochmals einen kurzen Blick zurück in die bewegte Geschichte von Romeo und Julia alias Guiscardo und Ghismonda (bei Boccaccio, Decamerone IV, 1. Tag), Giannozza und Mariotto (bei Salernitano), alias Pyramus und Thisbe, alias Hero und Leander. Shakespeare konnte nicht nur auf Boccaccio und Chaucer zurückgreifen sondern auf Arthur Goldings erste englische Übersetzung von Ovids Metamorphosen (1565). Um die gleiche Zeit erschien in England ein langes Gedicht von Arthur Brooke mit dem Titel The Tragicall Historye of Romeus and Juliet (1562) und eine Prosafassung von William Painter in seiner Sammlung Palace of Pleasure (1567). Vorbild dafür waren wiederum Pierre Boaistuaus französische Adaptionen mit dem Titel Histoires Tragiques (1559) von italienischen No-
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vellen: Masuccio Salernitanos 33. Erzählung von der Liebe zwischen Giannozza und Mariotto in Novellino, einer Sammlung von 50 Geschichten, erstmals 1483 in Mailand veröffentlicht, Luigi da Portos Geschichte von zwei edlen Liebenden (Hystoria novellamente ritrovato di due nobili amanti), 1524 verfasst und wahrscheinlich 1531 erstmals veröffentlicht, in der die Liebenden zum ersten Mal unter den Namen Giulietta und Romeo auftauchen, und Matteo Bandellos Adaption in einer seiner 214 Novellen, die zwischen 1554 und 1573 veröffentlicht wurden. Shakespeare hat Romeo und Julia also keineswegs erfunden, vielmehr lag eine Fülle an Bearbeitungen und Übersetzungen am Kontinent und in England vor. Wenn ich meine Ausführungen über das Frauenbild der Juliette an den Namen aufhänge, dann ist das nicht bloße Spielerei, denn der Titel ist seit jeher instabil. So lautet er etwa in einer späteren Bearbeitung von Da Portos Novelle (1539) nur La Giulietta. Spätere Opernbearbeitungen vertauschen die Namen: Niccolò Antonio Zingarrelli (1796), Niccola Vaccai (1825) und Riccardo Zandonai (1922) nennen ihre Opern Giulietta e Romeo. Mehrere Filme und Fernsehspiele im 20. Jahrhundert folgen dem Namenswechsel: Frank Millers Komödie (1923), Riccardo Fredas Film Giulietta et Romeo (1964), Zdenek Smetanas Film (1971), David Pinners Fernsehspiel Juliet and Romeo (1976), Rudolf Kelterborns Kammeroper Julia (1991),und Cathy Marston, die für ihre Ballettfassung ( Juliet and Romeo, 2009) die Geschichte aus der Perspektive der sterbenden Julia erzählt. Auch bei Shakespeare wird im Schlusswort des Fürsten der Titel um-
gedreht: »For never was a story of more woe / Than this of Juliet and her Romeo.« Dem Wortmagier Shakespeare wäre gewiss eine andere Lösung eingefallen, wäre es ihm nur um den Reim »woe – Romeo« gegangen. Die Schlussverse legen eine Verschiebung des Kräfteverhältnisses zwischen Romeo und Julia nahe, denn sie ist am Schluss die Starke und hat die letzte Entscheidung zu treffen. Geschlechterrollen unterliegen auch Konventionen des Theaters. Im Renaissancetheater haben ausschließlich Männer oder Knaben Frauenrollen gespielt. Zingarelli, Vaccai und Bellini komponierten Romeo für weiblichen Mezzosopran, weil die Rolle des Titelhelden damals noch nicht vom castrato zum Tenor übergegangen war. In vielen Theaterbearbeitungen des 19. Jahrhunderts wurde Romeo von einer Frau gespielt: Als 1845 die amerikanische Schauspielerin Charlotte Cushman als Romeo brillierte, schrieb die Presse: »Miss Cushman is a very dangerous young man«. Als Gounod Roméo et Juliette komponierte, lagen so viele musikalische und dramaturgische Spielarten des Stoffs vor, dass im Grunde fast alles möglich geworden war: Der Schauplatz war von Boccaccios Ravenna und Salernitanos Siena, nach Verona bei Da Porto, Brooke und Shakespeare bis Rom bei Thomas Otway (1679) verlegt worden. Gounods Oper spielt wie bei Shakespeare in Verona. Der Schluss war einmal komisch, einmal bitter, dann bittersüß. Bereits Shakespeare entwarf fast parallel zwei konträre Versionen: die tragische mit Romeo und Julia und eine parodistische mit dem Sommernachtstraum, wo der elterliche Widerstand gleich zweimal thematisiert wird: in der Haupthandlung – Hermia darf Lysander nicht heiraten und
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flieht deshalb mit ihm in den Wald –, und im Maskenspiel Pyramus und Thisbe, das eine Handvoll tölpelhafter Handwerker beschließt, anlässlich der Hochzeit von Hippolita und Theseus aufzuführen. Mit ihrem schauspielerischen Untalent verwandeln sie den tragischen Stoff in eine der Glanzstunden der Renaissancekomödie. So wie Shakespeare mit dem Stoff gespielt hat, haben das auch Librettisten nach ihm getan und sich keineswegs verpflichtet gefühlt, Romeo und Julia sterben zu lassen. Im 18. Jahrhundert beherrscht das lieto fine, das happy end, die Bühne. Bei Schwanenberger singen Romeo und Julia gemeinsam mit Benvolio ein fröhliches Schlusstrio – es ist die einzige Nummer für mehr als zwei Personen in der drei-Personen-Oper. Auch die Charaktere haben erstaunliche Metamorphosen durchgemacht: allen voran Bruder Lorenzo und Julias Amme, die einmal als Laura, dann als Cécile, Matilda, Bianca, Marta, Isabella in Erscheinung tritt; bei Gounod heißt sie Gertrude, wie Hamlets Mutter. Alle Charaktere außer Romeo und Julia wurden in der einen oder anderen Bearbeitung ausgetauscht oder einfach weggelassen. Bei Gounod wird auf die Familie Montague verzichtet, die Diener der Capulets werden reduziert, der Prinz wird zum Fürsten und hat nur einen Auftritt, als er nämlich im dritten Akt Romeo verbannt. Einzige Konstante ist die verhängnisvolle und unerschütterliche Liebe zweier junger Menschen. Ihr widmet Gounod alle Aufmerksamkeit. In fünf Akten wird das Wachsen der Liebe von der ersten Begegnung über Schwärmerei und Liebesschwüre zur Eheschließung und Hochzeitsnacht bis hin zum Liebestod dramaturgisch und musikalisch umgesetzt. Gounod
sah im Libretto eine »schöne Entwicklung«. Wie bei Shakespeare bildet der Chor den Anfang, der im Zeitraffer die Handlung skizziert. Dann folgt ein schwungvoller Wechsel zum Maskenball ganz im pompösen Stil der Grand opéra, wo sich Roméo und Juliette auf den ersten Blick ineinander verlieben; der zweite Aufzug gilt der Balkonszene, in der die beiden ihre Liebe beteuern; der dritte Aufzug ist geteilt in die Hochzeitsszene und den Straßenkampf, der Roméos Verbannung zur Folge hat; es ist der einzige Auftritt des Fürsten, der bei Shakespeare das zentrale Strukturelement bildete; der vierte Aufzug ist analog zum dritten Aufzug in zwei Bilder geteilt: zuerst die Brautnacht, dann spiegelbildlich die Hochzeit mit Paris, bei der Julia gerade noch rechtzeitig zu Boden sinkt, ehe die Trauringe getauscht werden können; im fünften Aufzug sind die beiden für sich allein. Der Rückzug ins Private entspricht der zunehmenden Intimität der Schauplätze, wobei der Handlungsradius immer enger wird. Den einzigen gemeinsamen öffentlichen Auftritt haben Roméo und Juliette beim Maskenball im ersten Aufzug; dann folgt der Garten, wo sie noch von Dienern gestört werden; Bruder Lorenzos Zelle, wo noch Bruder Lorenzo und die Amme anwesend sind; dann Julias Zimmer und die Einsamkeit der Gruft. Die Topographie ist zutiefst romantisch: Finstere, verborgene Orte, enge und eingeschlossene Schauplätze vermitteln neben Intimität auch eine Ästhetik des Schauerns und des Todes, die sich in unterschiedlichen romantischen Gattungen abzeichnen: vom Nacht- und Totengedicht bis hin zur Gothic. Auch dazu gibt es Ähnlichkeiten. Schließlich hatte sich Gounod in einer frühe-
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ren Oper La Nonne sanglante (1854) dem Autor der Gothic gewidmet: dem Briten Monk Lewis. So erscheint Juliette, als sie Lorenzos Trank nimmt, die Gruft zunächst grauenvoll: Was wird aus mir in jener Finsternis, an jenem Ort des Todes und der Seufzer, den die Jahrhunderte mit Knochen füllten? Wo Tybalt, noch aus seiner Wunde blutend, nahe bei mir in finsterer Nacht schlafen wird, Gott, meine Hand Wird die seine berühren! Die schöne Frau wird in der Gothic als passives, hilfloses Opfer patriarchaler Machtansprüche dargestellt und sie ist häufig eingesperrt, ohnmächtig, regungslos. Auch bei Gounod ist der Hass der Elternhäuser ein Hass unter Männern, während die Frauen erleiden, und im Finalakt werden die toten Liebenden in der Gruft gewissermaßen als statisches Bühnenbild fixiert. Gounods Oper folgt einem ästhetischen Prozess, der das Leben – auch wenn es ein gespieltes Leben ist – in Kunst überführt. Auch Shakespeare verwandelt die Liebenden am Schluss in Kunst – als nämlich Montague eine goldene Statue von Julia in Verona errichten lassen will und Capulet ihm folgt. Doch ihr Vorhaben ist politisch motiviert: Montague und Capulet sind Vertreter der Stadt, und die Statuen der Liebenden sind ein öffentliches Denkmal zum Zeichen der Versöhnung. Sie symbolisieren politische Macht, Reichtum, Ansehen und das für die Tragödie typische Zusammenspiel von Einzel-
mensch und überindividueller Weltordnung. Durch Romeos und Julias Tod bricht für Verona eine neue Ära des Friedens an. Bei Shakespeare hat die Gesellschaft das letzte Wort: Die Leichen werden entdeckt vom Pagen in Begleitung von Wächtern; es kommen der Fürst, Capulet und Montague; Bruder Lorenzo klärt in einem langen Monolog den Tathergang auf, und Romeos Abschiedsbrief wird übergeben. Der Tod ist ein Ereignis, das öffentlich kommuniziert wird und Bedeutung für die Gesellschaft hat. Bei Gounod hingegen werden alle Szenen gekürzt oder gestrichen, die den gesellschaftspolitischen Hintergrund zum Inhalt haben, so z.B. die ersten drei Szenen (bei Shakespeare bildet die Ballszene bereits die vierte und fünfte Szene des ersten Akts), ebenso wie die Verzweiflung der Liebenden nach der Kampfszene und die Beruhigungsversuche von Amme und Bruder Lorenzo am Schluss des dritten Akts. In der Öffentlichkeit treten Roméo und Juliette nach dem Ball nur mehr getrennt auf: in der Straßenschlacht im dritten Akt und bei der vereitelten Hochzeit mit Paris im vierten Akt. Beide Szenen enden mit der Isolierung der Liebenden: Roméo wird verbannt, Juliette wird ohnmächtig. Konsequent werden die beiden aus dem gesellschaftlichen Kontext herausgelöst. Die romantische Liebe ist Privatsache ohne Nachhaltigkeit. Gounod verzichtet auf die Versöhnung der verfeindeten Häuser, wie übrigens alle Opernkomponisten, die das tragische Ende beibehalten – mit Ausnahme von Barkworth (1916) und Blachers »szenischem Oratorium« (1950). (Berlioz hatte die Schlussszene beibehalten.) Deshalb hat auch der Fürst bei Gounod
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seine Funktion verloren und erscheint nur mehr im dritten Akt – also jenem Akt, in dem die Liebenden kein Duett singen. Liebe und Gesellschaft schließen einander aus. Die Gesellschaft ist bei Gounod lediglich eine dramaturgische Notwendigkeit, um das Bühnengeschehen anzukurbeln. Aber sie liefert kein komplexes Sozialgefüge, das unterschiedliche Sichtweisen der Liebe legitimieren würde, wie das bei Shakespeare der Fall ist. Die Behauptung, Shakespeares Romeo and Juliet wäre die romantischste aller Liebestragödien, erweist sich spätestens im Vergleich mit Gounods romantischer Oper als problematisch, weil die Liebe der beiden aus unterschiedlichen, ja, konträren Perspektiven beleuchtet wird. Romantisch ist sie bei Shakespeare nur aus dem Blickwinkel der Liebenden. In den Augen der anderen handeln sie überstürzt, unvernünftig und wider alle Norm. Shakespeares Tragödie hat enorme Stör- und Bruchlinien, weil seine Welt eben nicht auf einer Weltsicht beruht, sondern den Aufbruch der Renaissance aus der großen christlichen Narration bedeutet und unterschiedliche Individuen unterschiedliche Auffassungen von Liebe vertreten: Romeo, Julia, Bruder Lorenzo, die Amme, Julias Vater, Julias Mutter, Mercutio, Benvolio, Tybalt und Paris. Gounod verwandelt Shakespeares Anatomie der Liebe in eine Psychologie der Liebe. Es gibt nur eine Sicht, eine unzertrennliche Gefühlsgemeinschaft, die ihren Sinn in Gott hat und für die Ewigkeit bestimmt ist: »Das Schicksal hat mich / unauflöslich mit dir verbunden«. Alle Gegenstimmen sind verstummt. Für Gounods Ästhetik der totalen Verinnerlichung ist es nicht erforderlich, dass Roméo und Juliettes Tod etwas be-
wirkt für die Gesellschaft. Mit der ekstatischen Apotheose der Liebenden hat sich die Welt um sie herum scheinbar aufgelöst. Das Publikum hat am Schluss alle Figuren aus den Augen verloren. Nur die Liebe hat Bestand: »Die Liebe, die himmlische Flamme, / bleibt auch noch im Grab bestehen!«. Das erklärt, warum die Liebesszenen verlängert werden, z.B. der Abschied in der Balkonszene, weil Grégorio und andere Diener kommen, um den Garten zu durchsuchen. Markant verändert wird die Heirat von Romeo und Julia, die bei Shakespeare nur angedeutet wird, als Bruder Lorenzo am Schluss des zweiten Akts nüchtern sagt: »Come, come with me and we will make short work«. Die Segnung des Ehebundes bedeutet bei Shakespeare ein Auflehnen gegen die Elterngeneration und wird kritisch kommentiert vom Trauvater. Es klingt schon fast wie eine böse Vorahnung, wenn Lorenzo betet, dass kein Leid diesem heiligen Akt folgen möge: »So smile the heavens upon this holy act / That after-hours with sorrow chide us not!«. Gounod hingegen inszeniert eine christliche Trauungszeremonie, mit der sich die Hoffnung auf Frieden unter den verfeindeten Häusern verbindet: »Möge eure junge Liebe den ewigen Hass / zwischen euren Häusern verlöschen lassen!«. Roméo und Juliette schließen eine durch und durch bürgerliche Ehe, die als Lebensgemeinschaft gedacht ist: Kinder sollen sie bekommen und alt sollen sie werden: Lass sie im Alter glücklich sein, lass ihre Kinder auf deinem Wege gehen und ebenso die Kinder ihrer Kinder!
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Die Vorstellung des gemeinsamen Alterns ist Shakespeare fremd. Man stelle sich vor: Romeo und Julia lebten glücklich bis ins hohe Greisenalter! Nur als »star-crossed lovers«, wie sie der Chor im Prolog bezeichnet, also schicksalhaft den Mächten von Liebe und Tod ausgesetzt, konnten sie solches Wirkungspotenzial entfalten. Ihre Liebe ist vom Anfang an »vom Tod gezeichnet« (»deathmarked love«). Bei Gounod wird das Tragische ins Sentimentale verwandelt. Bruder Lorenzo betet: »Möge dieses reine, in Treue vereinte Paar / das ewige Leben erlangen / und in das Himmelreich eingehen!«. Er ahnt nicht, dass das schon am nächsten Tag sein wird. Der Liebestod ist die größte Änderung, die Gounod gegenüber Shakespeares Drama vornimmt: Romeo leert den Giftbecher und stirbt. Zu spät erwacht Julia aus ihrem Schlaf und kann nur mehr einen toten Romeo küssen, damit das Gift auch sie töte; doch die Zeit reicht nicht, sie ergreift Romeos Dolch und ersticht sich. Warum trinkt Romeo Gift, statt sich wie Pyramus zu erdolchen? Shakespeare schlachtet seine Liebenden nicht hin oder verstümmelt ihre Körper, sondern bewahrt sie füreinander und lässt sie »schön« sterben. Die Nachwelt mag Blut vorfinden, nicht die Liebenden wie bei Ovid. Das ist übrigens auch der ausdrückliche Grund, warum Otello Desdemona erdrosselt und nicht ersticht. Gounods Roméo trinkt ebenso das Gift im Glauben, dass Juliette tot sei. Aber wie alle französischen und italienischen Romantiker hält er Roméo lange genug am Leben, damit er ein Abschiedsduett mit Julia singen kann. Der schnelle Tod ist nichts für den Spätromantiker, er bevorzugt das langsame KS ANNA NETREBKO als JULIETTE
Sterben, besonders in der Oper. Eine Abschiedsszene gab es aber bereits in den frühen italienischen Novellen; erst Pierre Boaistuau ließ seine Julia zu schnell für einen Abschied sterben. Hier fließen also wiederum alte Traditionen herein. Auch der Pygmalion-Mythos schimmert durch, als Roméo Juliette ins Leben zurückholt. Bei da Porto wird sogar der Vergleich mit Pygmalion gezogen. Es sind Sekunden, die Gounods Roméo und Juliette das Leben retten könnten: Er hat soeben das Giftfläschchen geleert, als sie aufwacht: »Wo bin ich?« Romeo greift »schaudernd« nach ihrer Hand. Sie wundert sich, welch »süße Stimme« zu ihr spricht. Die Liebenden umarmen sich und beklagen die Hartherzigkeit ihrer Familien. Anders als bei Ovid und Shakespeare klären sie jetzt selbst das Missverständnis auf, zumal es keinen gesellschaftlichen Rahmen mehr gibt für ihren Tod: »Ich glaubte dich tot und habe dieses Gift getrunken!«. Der große Dialog zwischen Shakespeares Romeo und Julia im dritten Akt, ehe er sie nach der Liebesnacht verlassen muss – »Es war die Nachtigall und nicht die Lerche, die dein Ohr durchbrach« (»It was the nightingale and not the lark / That pierc’d the fearful hollow of thine ear« –, wird bei Gounod in der Todesszene wiederholt. Juliette ersticht sich auch nicht mit Roméos Waffe, sondern mit einem Dolch, den sie selbst unter ihrem Gewand verborgen hatte. Damit geht Shakespeares sexuelle Symbolik und die Doppelbedeutung von »die« (Sterben und Liebesakt) verloren. Es folgt der letzte Kuss, dann richten sich beide noch einmal auf und bitten um Vergebung. Ende. Bei Shakespeare erfahren die Liebenden nicht, dass sie wegen eines Irrtums sterben. Nur das Publikum kennt
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das Ausmaß der Tragödie und weiß, dass Romeo für Julia und Julia für Romeo stirbt. Bei Gounod sterben sie gemeinsam, im Wissen, dass jeder für den anderen bereit war/ist zu sterben. Damit beweisen sie nicht nur dem Publikum, sondern einander ihre bedingungslose Hingabe. Das macht psychologisch und wirkungsästhetisch einen gewaltigen Unterschied. Der Tod hat ausschließlich Bedeutung für die Liebenden. Für das Funktionieren des Dramas braucht es sozusagen kein Publikum. Wir wissen nicht mehr, begreifen nicht mehr als die Liebenden, sondern werden lediglich Zeugen eines intimen Todes. Das entspricht dem verinnerlichten Sprechen, wie wir es im lyrischen Gedicht – der bevorzugten Ausdrucksform der Romantik – vorfinden und das keinen Adressaten hat. Roméo und Juliette entziehen sich unserer Welt, in absoluter Verbundenheit miteinander und mit Gott. Der Liebestod ist nicht tragisch, sondern melodramatisch und sentimental. Der Liebestod geschieht nicht im Wahnsinn, er ist heilig. Deshalb erflehen die beiden auch die Gnade Gottes, um nicht als Selbstmörder oder Verzweiflungstäter dazustehen. Shakespeare hingegen war ein Meister des Wahnsinns. Intensive Gefühle wie Rache, Verzweiflung und Eifersucht, Gefühlswandel, exzessive oder unnatürliche Leidenschaft (z.B. zwischen Titania und Bottom mit dem Eselskopf) und der Freitod werden häufig im Rückgriff auf Magie oder nach der galenischen Pathologie erklärt. Bei Romeo and Juliet schwingen beide Diskurse mit. Anspielungen auf »madness« begleiten ihren Tod: Romeo bezeichnet sich gegenüber Paris als »madman«, Julia war »too desperate« [zu verzweifelt], um das Grab zu verlassen und tö-
tet sich in diesem Seelenzustand: »did violence on herself«. Zuvor wurden sie als »bewitched« [verhext] bezeichnet, und Mercutios Ballade von der Königin Mab, mit der er Romeo hänselt, bringt einen Volksglauben ins Spiel, wonach die Feenkönigin in einer Haselnussschale durchs Feenreich gezogen wird, sich in die Träume schleicht und den Menschen Fantasien vorgaukelt. Der Traum ist der Gegenpol zur Vernunft – im Sommernachtstraum und in Romeo und Julia. Ständige Anspielungen auf die Unvernuft der Liebenden haben Robert Burton dazu veranlasst, Romeo und Julia in seiner Anatomy of Melancholy 1621 krank zu schreiben. Die Diagnose lautet: Liebesmelancholie. Sie lieben unweise. Die Symptome sind emotionale Instabilität, Reue, Verlust des Verstands, Selbstzerstörung und gewaltsamer Tod. Der liebesmelancholische Mann wird durch Zureden von Freunden geheilt; für die liebeskranke Frau hingegen gibt es nur ein Allheilmittel: die Ehe – deshalb soll die in den Augen des Vaters unvernünftige Julia auch Paris heiraten. Die Pathologisierung einer ungewöhnlich jungen, überstürzten Liebe, die mit dem Tod endet, geht seit der Frühmoderne eng einher mit moralkritischen Auslegungen. In seiner Tragicall Historye of Romeo and Juliet (1562) schiebt Arthur Brooke den beiden die Schuld für ihren tragischen Tod zu: Eine heimliche Heirat, Schande und Skandal verdienen nichts anderes. Damit liegt er ganz im Trend seiner italienischen Vorläufer, die den Tod der Liebenden als gerechte Strafe darstellten. Der Romeo-und-Julia-Stoff gehörte damals noch zu den VanitasDarstellungen, die vor den Folgen der Gier warnten. Eine Umbewertung der
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Liebe durch Autoren und Publikum erfolgte erst um 1600. Das erklärt, warum es in Shakespeares Tragödie noch Sympathiegegner gibt und widerläufige Liebesdiskurse ineinanderlaufen, obgleich Romeo und Julia Heldenstatus erlangt haben. Im 18. Jahrhundert hatte David Garrick, der Shakespeare-Darsteller, Julias Alter auf 18 angehoben, um sie zu rehabilitieren, denn die Kritik war hartnäckig. 1775 lesen wir etwa bei Mrs. Griffith, dass der Tod »die poetische Gerechtigkeit für eine unerlaubte Heirat« sei. Im 19. Jahrhundert gerieten Romeo und Julia in die Fallstricke Viktorianischer Moralisten. So wird im Westminster Review 1845 berichtet, dass wohlmeinende Mütter ihre Töchter zu einer Aufführung von Romeo und Julia mitnahmen – als Warnung vor den Gefahren einer heimlichen Ehe und eines eventuellen Widerstands gegen elterlichen Willen. Shakespeares Drama wurde zum Lehrstück gegen jugendlichen Überschwang und Ungehorsam. Das tragische Liebespaar wandelte sich von »star-crossd lovers« zu unfolgsamen Kindern, die als abschreckendes Beispiel für unfolgsame Kinder auf die Bühne gebracht wurden. Julia traf die Kritik am härtesten. Als mildernde Umstände wurden gelegentlich ihr Alter und die Tatsache, dass sie Italienerin war, genannt: Die Italiener waren bekannt für zügellosen Sex. So Mrs. Elliott 1885: «We cannot dispute the fact that under Southern skies the conditions of physical and moral development are vastly different to what they are in the cold North«. Die Dämonisierung des katholischen Italien im Renaissance-England dürfte diese Stereotypen noch verstärkt haben. Roger Ascham berichtete, dass er während
eines neuntägigen Aufenthalts in Venedig mehr »libertie to sinne« gesehen habe als in neun Jahre in London. Gounod tat also gut daran, Juliettes Alter zu verschweigen und sie in die Nähe der Madonna zu rücken. Romeo und Julia galten immer als ein außergewöhnliches Paar, und weil sich das Außergewöhnliche nicht mit dem Herkömmlichen beschreiben lässt, wurden sie entweder pathologisiert und moralisiert oder emotionalisiert und ästhetisiert. Gounods Oper bewegt sich in diesem Spannungsfeld. Beide Tendenzen – Moralisierung und Ästhetisierung – prägen das Bild der schönen, reinen, aber leidenschaftlich liebenden Juliette. Diese ist weniger das Opfer eines gnadenlosen Schicksals wie in der Tragödie als vielmehr das Opfer einer Epoche, die die tote Frau als Kunstobjekt verehrte und ihren Körper dem Blick des (männlichen) Betrachters freigab: als sie den Ballsaal betritt und zuerst Roméo, dann die gesamte Ballgesellschaft ihre Schönheit beschreiben; als sie bei der geplanten Trauung mit Paris vor den Augen der Hochzeitsgäste zusammenbricht; als sie aufgebahrt vor Roméo daliegt. Roméo hingegen ist kein Anschauungsobjekt bei Gounod. Juliette wird von Roméo gleichsam ins Bewusstsein zurückgeholt und erhält keine Gelegenheit, ihn zu beschreiben. Bei Ovid und Shakespeare betrachten und beschreiben Thisbe und Julia sehr wohl den toten Körper des geliebten Mannes, und im Sommernachtstraum liefert Thisbes Beschreibung des toten Pyramus eine der größten Klamaukszenen der Komödie. Die Ästhetisierung des Todes im 19. Jahrhundert hat etwas spezifisch Weibliches. Juliette trägt den Tod von Anfang an in sich: So sagt sie gleich,
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als sie beim Ball erfährt, dass Roméo ein Montague ist: »Wenn ich ihm nicht gehören darf, / wird der Sarg mein Brautbett sein!«. Wenn Shakespeares Liebende über den Tod sprechen, dann spielen sie auf Verwesung und Fäulnis des toten Körpers an. Für den Spätromantiker ist weder der sich zersetzende Körper noch das blühende Leben von Interesse. Er erschafft einen Zwischenzustand und projiziert den Tod ins Leben und die Liebe in den Tod. Juliette hat sich bereits den Dolch ins Herz gestochen und singt: »Ach! Dieser Augenblick ist Glück! Oh höchste, unendliche Freude, / mit dir zu sterben! Komm! Einen Kuss! Ich liebe dich!« Der Schluss von Gounods Oper ist ein Balanceakt zwischen spätromantischer Totenschau, religiöser Ekstase und Melodramatik: Roméo besingt die scheinbar tote Juliette in der Gruft, aber er stirbt mit ihr. Der Liebestod widerlegt letztlich die Geschlechterpolarisierung und Geschlechterhierarchie des 19. Jahrhunderts, die wir symbolisch im Rollenverhältnis von passivem weiblichem Kunstobjekt (die schöne Tote) und männlichem Betrachter gesehen haben. Der Blick des Mannes auf die tote Frau geht auf das Publikum über. Denn sichtbar sind Gounods Roméo und Juliette nur mehr für das Publikum, nicht für die Gesellschaft. Vollzieht sich bei Shakespeare in Julias Tod die für die Tragödie unabdingbare Rückbindung des Todes an die Gesellschaft, so bezeichnet Juliettes Tod die totale Verinnerlichung und den Rückzug aus der Gesellschaft. Bei Shakespeare wird Julia, die anfänglich im ummauerten Garten behütet lebt, in die Sphäre der Öffentlichkeit, also in die männliche Domäne, geholt – nicht zuletzt als Statue in Verona. Bei Gounod beschreitet
Roméo den Weg Juliettes und wird wie sie aus dem Weltgeschehen gelöst, um in die Sphäre der Ewigkeit, also der zeitlosen Kunst einzugehen. Diese Sphäre hatte das 19. Jahrhundert als weiblich umschrieben. So gesehen wird die Männerrolle dem Frauenbild angeglichen: Juliette et Roméo.
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KS ANGELIKA KIRCHSCHLAGER als STÉPHANO
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GOUNOD UND WIEN – STATIONEN EINES ERFOLGES Als Gounod am 5. Februar 1868 nach der Wiener Erstaufführung von Roméo et Juliette, welche er selbst dirigierte, den frenetischen Applaus des Publikums entgegennahm, so bedeutete dies wohl den Höhepunkt der Beziehung zwischen dem Komponisten und der Donaumetropole. Die ersten Impressionen von Wien sammelte Gounod jedoch bereits 26 Jahre früher. Gounods erster Aufenthalt in Wien datiert in das Jahr 1842: Von Venedig fuhr der junge Komponist mit dem Dampfschiff nach Triest, wo er die nach Graz fahrende Postkutsche bestieg. Über Kärnten – hier malte er (wie seiner Autobiographie zu entnehmen ist) »das Kärntner Gebirge mit seinen zackigen Umrissen« – kam er nach Graz, darauf nach Olmütz, von wo er die Eisenbahn nach Wien benutzte. Der Eindruck des Komponisten von der ersten »deutschen« Stadt, die er in seinem LeVorige Seiten: SZENENBILD
ben besuchte, war ein hervorragender: »Wien ist eine lebendige Stadt. In ihrer Lebhaftigkeit sind die Wiener beinahe mehr französisch als deutsch: sie sind ein munteres, stets aufgelegtes, gutmüthiges und heiteres Völkchen.« Gounod brachte für Wien kein einziges Empfehlungsschreiben mit, er kannte hier niemanden. So bald wie möglich eilte er zu der Hofoper (Kärntnertortheater) und sah Die Zauberflöte angekündigt: »Ich nahm einen billigen Platz, hoch oben, den ich, so bescheiden er auch sein mochte, nicht für ein Königreich hingegeben hätte.« Gounod war von der Aufführung begeistert. Einige der allerersten Kräfte des Hauses waren an diesem Abend beschäftigt: Otto Nicolai dirigierte, von den Sängern hinterließen Marie van Hasselt-Barth (Königin der Nacht) und Josef Staudigl (Sarastro) den nachhaltigsten Eindruck, und »die übrigen Rollen waren ebenfalls aus-
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gezeichnet besetzt«. Gounod wurde auf seinen Wunsch den Künstlern vorgestellt, eine wirkliche Unterhaltung scheiterte aber an seinen nicht vorhandenen Deutschkenntnissen. Durch einen Hornisten des Opernorchesters, welcher der französischen Sprache mächtig war, machte Gounod mit dem Präsidenten des Orchestervereines, dem Grafen Stockhammer, Bekanntschaft. Der Graf veranlasste eine Aufführung einer von Gounod während seines RomAufenthaltes geschriebenen Messe in der Karlskirche, eine Aufführung, welche solchen Eindruck hinterließ, dass man sofort für Allerseelen ein Requiem bei ihm bestellte. Eine einzige Probe war notwendig, um die Aufführung des Requiems (ebenfalls in der Karlskirche) zu einer hervorragenden zu gestalten. Besonderen Eindruck hinterließen bei dem Komponisten die Schulknaben, welche ihre Partien mit Leichtigkeit vom Blatt zu singen vermochten. Das Requiem hatte solchen Erfolg, dass ein zweiter Kompositionsauftrag für die Karlskirche (einer Vokalmesse für die Fastenzeit) folgen sollte. Nach der Beendigung dieser Arbeit reiste Gounod sofort aus Wien ab.
MARGARETHE (FAUST) Zwanzig Jahre später, am 8. Februar 1862, fand Faust (unter dem Titel Margarethe) als erste Oper Gounods den Weg an das Kärntnertortheater. Der Komponist wohnte dieser Aufführung, welche nicht den erwarteten Erfolg brachte, bei, dirigierte jedoch nicht selbst. Nach den ersten beiden Akten erklang nur mäßiger Beifall, der sich jedoch nach dem dritten Akt, welcher allgemein als der Höhepunkt des Werkes bewertet wurde, steigerte. Zwie-
spältig waren auch die Reaktionen der Musikkritik: Während sich einige Rezensenten über die Behandlung des Goetheʼschen Faust als Opernlibretto empört zeigten (von einem »schandhaften Machwerk« und einer »Eselei« ist zu lesen), stießen sich andere Kritiker nur an einzelnen Szenen, besonders an der Darstellung Gretchens als »leidenschaftliche« Frau im Finale des dritten Aktes. Obwohl die Direktion (auch in der Besetzung der Hauptrollen) alles darangesetzt hatte, dem Werk zu einem Erfolg zu verhelfen, hielt sich der Jubel des Publikums in Grenzen, nur der beliebte Tenor Alois Ander (Faust) konnte begeistern. Matteo Salvi, der Direktor der Hofoper, wurde für die übermäßigen Ausgaben, welche man für die Inszenierung der Margarethe getätigt hatte, sogar bedauert, da angenommen wurde, dass das Werk diese Auslagen nicht einspielen könne. Dies sollte sich schon bald als Fehleinschätzung erweisen, denn mit der dritten Aufführung (am 12. Februar) setzte bereits der (lang anhaltende) Erfolg der Margarethe ein: Einige Kürzungen hatten stattgefunden (die Premiere überschritt mit 3 Stunden Spieldauer die gewohnten Wiener Verhältnisse), die Sänger, unter ihnen anerkannte Größen wie Louise Dustmann (Margarethe) und Carl Schmid (Mephisto), wurden sicherer, und das Publikum nahm die Aufführung nun sehr freundlich auf. Margarethe wurde zu einem besonderen »Zugstück« des Wiener Opernrepertoires.
ROMEO UND JULIE (ROMÉO ET JULIETTE) Nachdem Margarethe bereits seit sechs Jahren die Wiener begeisterte, wurde
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die nächste Gounod-Premiere am Kärntnertortheater im Jahre 1868 mit Spannung erwartet. Wieder wurden die ersten Kräfte des Hauses eingesetzt, um der Erstaufführung von Romeo und Julie entsprechenden Glanz zu verleihen – und diesmal entsprach die gesamte Besetzung den hohen Anforderungen. Als Julie engagierte man Ilma von Murska, eine der führenden KoloraturSopranistinnen jener Zeit. Sie hatte im August 1864 als Martha an der Hofoper debütiert und war von 1865 bis 1867 Ensemblemitglied des Hauses. Ihren größten Erfolg erlebte sie als Dinorah in der Erstaufführung des Meyerbeerʼschen Werkes (1865), sie war der Oscar in der deutschsprachigen Erstaufführung des Maskenball (1866) und die erste Ines in der Afrikanerin (1866). Paraderollen der Murska die Lucia, die Amina in Sonnambula und die Königin der Nacht. Zur Zeit der Romeo und Julie-Premiere war die Künstlerin bereits aus dem Ensemble ausgeschieden und trat an der Wiener Oper »als Gast« auf. Mit Gustav Walter stand der Hofoper beinahe eine Idealbesetzung des Romeo zur Verfügung. Seit 1856 im Ensemble, waren die Erstaufführungen, in welchen er mitwirkte, beinahe unüberschaubar. Ob Wagner (Walther von der Vogelweide 1858, Erik 1860), Lortzing (Baron Kronthal im Wildschütz 1860), Rubinstein (Die Kinder der Haide 1861), Schubert (Die Verschworenen 1861), David (Lalla Rookh 1863), Meyerbeer (Vasco de Gama 1866) oder Thomas (Wilhelm Meister 1868), Gustav Walter war stets ein geschätzter Interpret schwieriger Tenorpartien. Er war auch der erste deutschsprachige Manrico im Troubadour (1859) und Richard im Maskenball (1866). Sein eigentliches Fach blieb jedoch lange Zeit jenes des
lyrischen Tenors, daher seine besondere Eignung für den Romeo. Dies hinderte ihn jedoch nicht, die Partien des Walther von Stolzing (1870) und des Loge (1878) in Wien zu interpretieren. Auch die kleineren Partien waren exquisit besetzt: Marie von Rabatinsky (Stephano) war 1866 an das Haus engagiert worden und wurde bald zur Nachfolgerin der Murska im Koloraturfach. 1871 war sie die erste Wiener Irene in Rienzi. Louis von Bignio (Mercutio), aus Budapest gebürtig und dort in der Uraufführung von Erkels Bánk Bán (1861) beschäftigt, war von 1863 bis 1883 Ensemblemitglied der Wiener Hofoper. Seine Paraderollen waren Don Giovanni, Wilhelm Tell und Don Carlos (Ernani). Die beiden führenden Bässe des Ensembles, Hans Freiherr von Rokitansky (der von 1864 bis 1893 eine glanzvolle Karriere in Wien erlebte) und Carl Schmid, von 1855 bis zu seinem Tod 1873 im Ensemble, interpretierten den Bruder Lorenzo und den Grafen Capulet. Den Fürsten von Verona sang Franz Hrabanek (1859 der Graf Luna in der deutschsprachigen Erstaufführung von Verdis Troubadour), den Tybalt Julius Prott, den Benvolio Julius Campe, die Gertrude Ernestine Gindele und den Grafen Paris Angelo Neumann, der später als Theaterdirektor Berühmtheit erlangen sollte. Die Dekorationen stammten von den k. k. Hoftheater-Malern Carlo Brioschi und T heodor Jachimovicz, die Kostüme von Franz Gaul. Diese ausgezeichnete Besetzung trug viel zur guten Aufnahme des Werkes seitens des Publikums bei. Die Sängerinnen und Sänger erhielten wohlverdienten Beifall, Gounod wurde umjubelt. Der Komponist erwies sich als »gewandter« Dirigent und war Mittel-
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AIDA GARIFULLINA als JULIETTE KS JUAN DIEGO FLÓREZ als ROMÉO
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punkt »vielfacher, ebenso aufrichtig als herzlich gemeinter Ovationen, die in wiederholter Hervorrufung nach jedem Acte und sonstigen Beifallskundgebungen ihren Ausdruck fanden«. Das Orchester »übertraf sich selbst« und auch den Chören gebührte »volles Lob«. Die Kostüme zeichneten sich durch Reichtum und historische Treue aus, die Inszenierung bewies »reifen Geschmack«. Von Gounod selbst wurde in den Rezensionen ein Ausspruch zitiert, wonach die Leistungen der Wiener Sänger und des Orchesters den Pariser Kräften weit überlegen seien, wie auch die Inszenierung keinen Vergleich mit jener der Uraufführung zu scheuen hätte. Weniger beeindruckt zeigten sich die Rezensenten von dem Werk selbst. Der berühmteste Wiener Kritiker, Eduard Hanslick, stellte noch Jahre nach der Premiere fest, dass Romeo und Julie in Wien einen entschiedenen Erfolg gehabt hätte und diesen ungeschwächt weiter behaupte; er schränkte jedoch ein, man merke es dem Wiener Publikum deutlich an, dass es sich zu dieser Musik bei Weitem nicht so stark und unmittelbar angezogen fühle wie von Gounods Faust. Das Hauptproblem von Romeo und Julie sei der ausgesprochen lyrische Charakter des Werkes; einige Kritiker gingen sogar soweit, Romeo und Julie als schwächeres Seitenstück zu Faust zu sehen. Ausgesprochen gelobt wurde aber die Instrumentierung, welche die Sänger nie zum Forcieren der Stimme zwinge, ganz im Gegenteil: Gounod habe die Form der »Flüsteroper« erfunden: »In Romeo und Julie stimmlich loszulegen, ist geradezu unmöglich; der Sänger würde vor jedem seiner eigenen allzu lauten Töne erschrecken.« Die Sänger wurden (beinahe) durchgehend gelobt: Walter habe als Romeo kei-
nen Rivalen zu scheuen, die Rabatinsky sei ein vortrefflicher Page, von Bignio ein ebensolcher Mercutio, die Herren Schmid und Rokitansky würdige Repräsentanten der Basspartien. Der einzige Einwand betraf die Murska: Ihr liege die Partie der Julie zu tief, einsamer Höhepunkt ihrer Leistung sei der Walzer gewesen, für den Rest der Partie fehle es an »Empfindung und Leidenschaft«. Dieses Manko wurde beseitigt, als Bertha Ehnn am 14. Mai 1868 erstmals als Julie vor das Wiener Publikum trat. Die Künstlerin, welche erst wenige Monate vorher am Kärntnertortheater als Margarethe in Gounods Oper debütiert hatte (sie blieb bis 1885 in den Diensten der Hofoper), konnte zwar den Walzer nicht so effektvoll vortragen wie ihre Vorgängerin, bestätigte aber sonst, dass sie keineswegs eine Zweitbesetzung darstellte. Ihr ausdrucksvolles Spiel und die »seelenhafte« Empfindung zeichneten sie gegenüber der Premierendarstellerin aus.
DIE NEUE HOFOPER Die Ehnn und Gustav Walter waren die Darsteller des Liebespaares, als Romeo und Julie (in neuen Dekorationen) am 30. Mai 1869 als zweite Oper (nach Don Giovanni) an das neue, soeben erst eröffnete Opernhaus übernommen wurde; ihre gesanglichen Leistungen wurden »mit Auszeichnung« erwähnt. In den nächsten Jahrzehnten traten immer wieder berühmte Größen in den Werken Gounods an der Wiener Hofoper vor das Publikum. Einer der gefeierten Darsteller des Romeo sollte der angesehene Tenor Georg Müller (Ensemblemitglied von 1868 bis 1897) werden. In der italienischen Staggione des Jahres 1876 glänzte die weltberühmte Adelina Patti gleich
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in zwei Gounod-Opern: als Giulietta in Romeo e Giulietta und in der Erstaufführung von Mirella (Mireille). Ihr Partner war in beiden Opern Ernest Nicolini. 1878 wurde Philemon und Baucis mit Bertha Ehnn und den Herren Walter und Rokitansky erstaufgeführt, 1883 Der Tribut von Zamora (mit Pauline Lucca). Im Jahre 1909, als Romeo und Julie in der Regie von Wilhelm von Wymetal neu einstudiert wurde, glänzte die umjubelte Selma Kurz als Julie, Vernon Stiles war der Romeo. Die damals letzte Aufführung
des Werkes fand am 14. November 1918, ebenfalls mit der Kurz, statt. Ihr Partner war diesmal Alfred Piccaver. Auffallend bleibt die Tatsache, dass Roméo et Juliette zwar zu einem ausgesprochen beliebten Werk an der Hofoper wurde (die Aufführungszahlen bis 1918 beweisen dies), jedoch nie einen bleibenden Eingang in das Repertoire eines anderen Operntheaters in Wien fand. Mit der Neuinszenierung des Jahres 2001 brachte die Staatsoper das Werk in Wien erstmals in französischer Sprache zur Aufführung.
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IMPRESSUM CHARLES GOUNOD
ROMÉO ET JULIETTE SPIELZEIT 2024/25 PREMIERE DER PRODUKTION AM 22. DEZEMBER 2001 Herausgeber WIENER STAATSOPER GMBH, Opernring 2, 1010 Wien Direktor DR. BOGDAN ROŠČIĆ Musikdirektor PHILIPPE JORDAN Kaufmännische Geschäftsführerin DR. PETRA BOHUSLAV Redaktion SERGIO MORABITO, ANDREAS LÁNG & OLIVER LÁNG Gestaltung & Konzept EXEX Layout & Satz ROBERT KAINZMAYER Lektorat MARTINA PAUL Druck PRINT ALLIANCE HAV PRODUKTIONS GMBH, BAD VÖSLAU TEXTNACHWEISE / ORIGINALBEITRÄGE Adrian Mourby: Hymne für die verdammte Jugend / Monika Wogrolly: Warum das Publikum Geschichten mit tragischem Ende so gerne sieht / Gavin Plumley: Der Brückenschlag zwischen den Genres ÜBERNAHMEN AUS DEM PREMIERENPROGRAMMHEFT Ralph Larmann im Interview mit Jürgen Flimm & Patrick Woodroffe: Eine Inszenierung der besonderen Art, in Lighting For Romeo and Juliet , Entertainment Technology Press, 2002. /2001: Charles Gounod, teilweise aus: Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters, Band 2, S. 532f, Beitrag von Sabine Henze-Döhring und Thomas Schacher, München 1986 / Hans Ulrich Becker: Shakespeares Romeo – Wie geschaffen für die Musik / Der Text Juliette ... et Roméo von Sabine Coelsch-Foisner entstand im Rahmen der Festspiel Dialoge 2010. /Michael Jahn: Gounod und Wien – Stationen eines Erfolges BILDNACHWEISE Coverbild: © Luc Borho / Bildkonzept Cover: Martin Conrads, Berlin. Szenenbilder: Michael Pöhn / Wiener Staatsoper GmbH (S. 2-3, 16-17, 39, 40, 44, 64-65, 69, 72-73). Axel Zeininger / Wiener Staatsoper GmbH (S. 5, 6, 8-9, 23, 28, 32-33, 53, 58, 63). Nachdruck nur mit Genehmigung der Wiener Staatsoper GmbH / Dramaturgie. Rechteinhaber, die nicht erreicht werden konnten, werden zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten.
Kultur bewegt uns alle. Die OMV und die Wiener Staatsoper verbindet eine jahrelange Partnerschaft. Unser Engagement geht dabei weit über die Bühne hinaus. Wir setzen uns aktiv für Jugend und Nachwuchsprojekte ein und ermöglichen den Zugang zu Kunst und Kultur für junge Menschen. Gemeinsam gestalten wir eine inspirierende Zukunft. Alle Partnerschaften finden Sie auf: omv.com/sponsoring
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