Programmheft »Il ritorno d'Ulisse in patria«

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IL RITORNO D’ULISSE IN PATRIA Claudio Monteverdi


INHALT

Handlung

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Synopsis in English

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Über dieses Progammbuch

8

Irrtum → Albrecht Fabri

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Kampf ohne Ziel → Simone Weil

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Aus den ›Troerinnen‹ des Euripides 16 Spontaneität und Farben → Pablo Heras-Casado im Gespräch mit Oliver Láng

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Ein äußerst vielschichtiges Werk → Jossi Wieler und Sergio Morabito im Gespräch mit Andreas Láng

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Über das Partiturmanuskript → Nicola Usula

32

Im Zeichen der Klangrede → Monika Mertl

42

Der homerische Krieger → Hans-Thies Lehmann

51

Penelope erzählt → Sándor Márai

52

An den Küssen sollst du mich erkennen! → Nicolò Minato

56

Eurykleia → Margaret Atwood

62

Überrest der Asche, Abfall des Sterbens → Sergio Morabito

68

Ulysses’ Gaze → Tobias Dusche

78

Im Fadenkreuz der Macht → Sergio Morabito

84

Seilhüpflied → Margaret Atwood

90


Um deinetwillen lerne ich, die vergangenen Qualen zu segnen. Penelope (III, 10)


IL RITORNO D’ULISSE IN PATRIA → Dramma in musica in einem Prolog und drei Akten Musik Claudio Monteverdi Text Giacomo Badoaro

nach den Gesängen XIII–XXIV aus der Odyssee (um 700 v. Chr.) von Homer Orchesterbesetzung des Originals Streicher (fünfstimmig), Basso continuo Orchesterbesetzung der Erstaufführung an der Wiener Staatsoper 5 Erste Violinen, 5 Zweite Violinen, 3 Bratschen, 6 Gamben, 2 Kontrabässe, 2 Blockflöten, 2 Dulziane, 2 Fagotte, 2 Zinken, 4 Posaunen, Gitarre, 2 Salterii, Harfe, 3 Chitarroni, 2 Cembali, Orgel, Schlagwerk Spieldauer ca. 3 1/2 Stunden inklusive einer Pause Uraufführung Frühjahr oder Herbst 1640, Teatro di San Cassiano, Venedig Erstaufführung an der Wiener Staatsoper 2. April 2023 Die einzig erhaltene Partiturabschrift (entstanden Mitte des 17. Jahrhunderts) wird in der Österreichischen Nationalbibliothek aufbewahrt.




HANDLUNG Prolog Die menschliche Zerbrechlichkeit ist der Zeit, dem Zufall und der Liebe preisgegeben.

1. Teil In Ithaka wartet Penelope seit zwanzig Jahren auf die Rückkehr ihres Mannes Ulisse, der nach dem Trojanischen Krieg verschollen ist. Ericlea, Ulisses alte Amme, glaubt fest an seine Rückkehr. Die Magd Melanto hat sich in Eurimaco, einen der Freier Penelopes, verliebt. Eurimaco verlangt von ihr, Penelopes »diamantenes Herz« wieder für die Liebe zu öffnen. Gegen Neptuns Verbot haben die Phäaken seinen Todfeind Ulisse nach Ithaka gebracht. Neptun prangert die menschliche Freiheit an, die Götter- und Schicksalsglaube eine Absage erteilt. Jupiter gestattet Neptun, sich an den Phäaken zu rächen. Ulisse erwacht in Ithaka, ohne seine Heimat wiederzuerkennen. Er flucht dem Schlaf, sich selbst und den vermeintlich treulosen Phäaken. Die Göttin Minerva erscheint. Um nach dem Sturz Trojas ihr Rachewerk zu vollenden, will sie Ulisse wieder als Herrscher von Ithaka einsetzen. Sie weiht ihn ihren Plan ein. Melanto malt Penelope die Freuden der Liebe aus. ↑

Eumete wirft Iro, der die Zeche nicht bezahlen kann, aus seiner Taverne. Vorige Seiten: Nigl als Der gealterte Ulisse kehrt in die Taverne ein. Er wird von Eumete nicht erkannt. Georg Ulisse, Andrea Minerva entführt Ulisses und Penelopes Sohn Telemaco von Sparta nach Ithaka und konfrontiert ihn mit seinem Vater, den er nie kennenlernen konnte. DIE H A N DLU NG

Mastroni als Antinoo und Kate Lindsey als Penelope


Die drei Freier Antinoo, Eurimaco und Pisandro bedrängen Penelope. Eumete berichtet von der Ankunft Telemacos und der möglicherweise bevorstehenden Rückkehr Ulisses. Die Freier beschließen, eine neue Eheschließung Penelopes mit großzügigen Geschenken voranzutreiben. Minerva entwirft den Schlachtplan zur Abrechnung Ulisses mit den Freiern.

2. Teil Telemaco peinigt seine Mutter mit einer Liebeserklärung an die schöne Helena, die am Trojanischen Krieg Mitschuld trägt. In Eumetes Taverne kommt es zu einem Kräftemessen zwischen dem unerkannten Ulisse und Iro. Die Freier präsentieren ihre Geschenke für Penelope. Penelope revanchiert sich mit der Aufforderung zu einer Bogenprobe: Wer Ulisses Bogen zu spannen vermag, soll sein Reich und seine Frau erhalten. Die drei Freier scheitern. Ulisse spannt mit Hilfe der Götter den Bogen und ermordet mit ihm die drei Freier. Iro bringt sich selbst um. Penelope weigert sich, in dem Mörder ihren Mann wiederzuerkennen. Minerva, Juno und Jupiter bewegen Neptun, seiner Rache an Ulisse zu entsagen. Sie demonstrieren dadurch den Sterblichen, wie erzürnte Götter durch Gebete zu besänftigen sind. Penelope spürt in dem ihr Fremden einen Funken jenes Ulisse glühen, der sie vor zwanzig Jahren verließ, um in den Krieg zu ziehen. DIE H A N DLU NG


SYNOPSIS

Prologue Human Frailty is subject to Time, Fortune and Cupid.

Part 1 Penelope has been waiting for twenty years for the return of her husband, lost after the Trojan war. Ericleia, Ulysses’ old nurse, is convinced that he will return. The maid Melantho has fallen in love with Eurimachus, one of Penelope’s suitors. Eurimachus presses her to open Penelope’s »heart of diamond« to love again. Against Neptune’s command, the Phæacians have brought Ulysses, his mortal enemy, to Ithaca. Neptune rails against human boldness in rejecting belief in the gods and Fate. Jupiter allows Neptune to revenge himself on the Phæacians. Ulysses wakes in Ithaca, but does not recognize his homeland. He curses sleep, himself and the apparently faithless Phæacians. The goddess Minerva appears. To complete her revenge after the fall of Troy, she intends to restore Ulysses as ruler. She reveals her plan to him. Melantho describes the pleasures of love to Penelope. Eumæus throws Irus out of his tavern, as he is unable to pay his tab. Eumæus does not recognize the disguised Ulysses as he returns. Minerva brings Telemachus, son of Ulysses and Penelope, to Ithaca and confronts him with his father, who he never had time to get to know.

SY NOPSIS


The three suitors Antinous, Amphinomus and Peisander harass Penelope. Eumæus reports the return of Telemachus and possible impending return of Ulysses. The suitors resolve to hasten a new wedding for Penelope with lavish gifts. Minerva conceives the plan for Ulysses to settle with the suitors.

Part 2 Telemachus plagues his mother with a declaration of love for the fair Helen, who shares in the guilt for the Trojan war. There is a trial of strength in Eumæus’s tavern between the unrecognized Ulysses and Irus. The suitors present their gifts to Penelope. She responds by challenging them to a trial with the bow. The one who can draw Ulysses’ bow will be rewarded with his wife and his kingdom. The three suitors fail, and only the disguised Ulysses manages to draw the bow, with the help of the gods. He uses it to kill the three suitors. Irus kills himself. Penelope refuses to recognize the murderer as her husband. Minerva, Juno and Jupiter persuade Neptune to abandon his revenge on Ulysses. Penelope feels a spark in the stranger of the Ulysses who left her to go to war twenty years before. SY NOPSIS


ÜBER DIESES PROGRAMMBUCH Mit der Premiere von Il ritorno d’Ulisse in patria gelangt das dritte und letzte vollständig überlieferte Opernwerk Claudio Monteverdis (1567–1643) zur Erstaufführung an der Staatsoper. Wie bei den vorangegangenen Schwesterwerken wirkt der Concentus Musicus Wien als jenes Originalklang-Gastorchester mit, das unter seinem Gründer Nicolaus Harnoncourt Entscheidendes zur Rückeroberung von Monteverdis Opernschaffen ins Kernrepertoire der Opernhäuser geleistet hat, wie Monika Mertls Beitrag ab S. 42 dokumentiert. Der Musikalische Leiter Pablo Heras-Casado skizziert ab S. 22 seine Sicht auf das Werk. Der Weg des 1640 erstaufgeführten Ulisse zurück auf die Opernbühnen unserer Zeit war ein umwegsamer. Das Werk scheint kaum Folgeaufführungen erlebt zu haben. Die Aufführungsmaterialien verschwanden in Bibliotheken und Archiven, wo sie bald unauffindbar waren und lange als verschollen galten. 1878 wies der österreichische Musikhistoriker August Wilhelm Ambros auf eine anonyme Handschrift unbekannter Provenienz aus der Musiksammlung des Kaiserhauses hin, in der er Monteverdis Ulisse identifizieren zu können glaubte. Doch erst im 20. Jahrhundert hat sich die Ansicht von der Echtheit des Ritorno allgemein durchgesetzt, wobei es, wie Nicola Usula in seiner ab S. 32 nachzulesenden Studie über den Quellenbefund darlegt, bei einem philologischen Indizien-Beweis bleiben muss. Monteverdi hat seiner Oper einen Prolog vorangestellt, der die Allegorie der menschlichen Zerbrechlichkeit in ihrem Ausgeliefertsein an die Gewalten der Zeit, des Zufalls und der Liebe zeigt. Die Erfahrung menschlicher Gefährdung steht auch im Zentrum des musiktheatralen Interesses der beiden Regisseure Jossi Wieler und Sergio Morabito (S. 26). Ihrer Bühnen- und Kostümbildnerin Anna Viebrock ist ein Beitrag von Sergio Morabito gewidmet, der ab S. 84 weitere Aspekte ihrer gemeinsamen Werksicht auffächert. Tobias Dusche erläutert das in Videoprojektionen vergegenwärtigte historische Filmmaterial ab S. 78. Margaret Atwood war nicht die erste, die aus der Überzeugung heraus, dass »die Geschichte, wie sie in der Odyssee erzählt wird, nicht wasserdicht ist«, den Impuls zu einer literarischen Überschreibung empfing (S. 62 und 90); voraus ging ihr – neben zahllosen anderen – der Romanautor Sándor Márai (S. 11 und 52). Weitere Texte von Albrecht Fabri, Euripides, Nicolò Minato, Simone Weil und Hans-Thies Lehmann runden das Pro- → Isabel Signoret als Minerva grammbuch ab. ÜBER DIESES PROGR A M MBUCH

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Sándor Márai

Rechts am Arm das Seil gelockert. Er streckte sich. Aus der Nähe kam der Gesang. Er horchte. Jetzt merkte er: Sie sangen da, die Sirenen. Heiser, lüstern und verführerisch. Seine Gefährten schliefen. Wachs klebte in ihren Ohren. Sie träumten. Dass sie heimkehrten, und dass die Jungen oder die Alten Rache nähmen! Er stöhnte auf, ohnmächtig. Na, wo bist du jetzt, Pallas Athene? Wasser klatschte ans Floß, das graue Meer sperrte den schrecklichen Schlund auf. Das Lied verklang in der Ferne. Die Segel kreischten laut. Plötzlich kam die Angst. Arme und Beine gaben nach – Er stöhnte auf. Und fürchtete, er käme heim nach Ithaka.


Albrecht Fabri

IRRTUM Variation über ein Wort

Irrtum: eigentlich der Zustand dessen, der weder Haus noch Ziel hat. Irrt, wer zwar geht, aber nirgendwohin. Das Irren dessen, der nur abkommt vom Weg, ist demgegenüber akzidentell und reparabel, denn für ihn gibt es Wege und Orte: für den, der im Irrtum lebt, nicht. Er bewegt sich im Weg- und Ortlosen trotz ihrer. Man könnte auch sagen: Eben weil er irrt, kann er nicht mehr irren. Irrtum als Gegensatz zur Wahrheit jedenfalls gibt es nur außerhalb des Irrtums. Irrtum absolut ist die Alternative zur Alternative wahr – unwahr. NB. Irrtum ist statisch. Das Wesen des Irrtums ist die Tautologie. Seine Wahrheiten sind dementsprechend doppelte Negationen, zum Beispiel: Ich habe kein Haus ist falsch, denn auch das habe ich nicht. Ich habe kein Ziel ist falsch, denn auch das habe ich nicht. Auch was ich nicht habe, habe ich nicht . . . Irrtum ist a-instrumental; Irrtum lässt sein: schont. Siehe noch einmal oben: Ich habe nicht kein Haus. Ich habe nicht kein Ziel: ich bewohne bzw. verfolge den Weg, der, weil ich nicht ihn gehe, sondern mein Gehen, genauso wenig Weg ist, wie die Orte, zu denen er führt, Orte sind; sodass ich, wenn ich von A nach B gehe, weder von A aufbreche, noch in B ankomme: Aufbrechen und Ankommen sind Kategorien des Fortschritts, und Fortschritt setzt voraus: Bleiben. A LBR ECH T FA BR I

↑ Vorige Seite: Georg Nigl als Ulisse → Georg Nigl als Ulisse

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Simone Weil

KAMPF OHNE ZIEL

In der gesamten Menschheitsgeschichte lässt sich zeigen, dass die erbittertsten, wahrhaft beispiellosen Konflikte diejenigen sind, die kein Ziel haben. Die Bedeutung der Schlacht misst sich nun an den Opfern, die sie fordert, und da genau deshalb die schon gebrachten Opfer unentwegt neue Opfer erfordern, gäbe es keinen Grund, je mit dem Töten und Sterben aufzuhören, kämen die menschlichen Kräfte nicht glücklicherweise irgendwann an ihr Ende. Dieses Paradox ist so gewaltig, dass es sich der Untersuchung entzieht. Dennoch kennen alle sogenannten gebildeten Menschen das Idealbeispiel dafür; doch fatalerweise lesen wir es, ohne es zu verstehen. Zehn Jahre lang metzelten sich Griechen und Trojaner wegen Helena einst gegenseitig nieder. Keiner von ihnen, außer der Amateurkrieger Paris, hing auch nur im Geringsten an Helena; alle waren sich einig in dem Wunsch, sie wäre nie geboren worden. Ihre Person stand so offensichtlich in keinerlei Verhältnis zu dieser gigantischen Schlacht, dass sie in den Augen aller bloß das Symbol des wahren Einsatzes war; doch diesen wahren Einsatz bestimmte niemand, und er konnte auch nicht bestimmt werden, da er gar nicht existierte. Auch messen konnte man ihn nicht. Man stellte sich seine Bedeutung schlicht anhand der bereits Gefallenen und der noch zu erwartenden Gemetzel vor. Diese Bedeutung musste folglich jede zuweisbare Grenze überschreiten. Hektor sah voraus, dass seine Stadt zerstört, sein Vater und seine Brüder abgeschlachtet, seine Frau durch Versklavung, die SIMON E W EIL

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schlimmer war als der Tod, entwürdigt werden würde; Achill wusste, dass er seinen Vater dem Elend und den Demütigungen eines schutzlosen Alterns aussetzen würde; die meisten wussten, dass ihre Heime durch eine so lange Abwesenheit zerstört werden würden; keinem war der Preis zu hoch, da alle ein Nichts verfolgten, dessen Wert sich allein an dem zu zahlenden Preis bemaß. Indem sie die Leiden ihrer toten Kameraden heraufbeschworen, glaubten Minerva und Odysseus ein hinreichendes Argument gefunden zu haben, um jeden Griechen zu beschämen, der vorschlug, heimzukehren. Hinter dieser finsteren Hartnäckigkeit, mit der unnütze Trümmer angehäuft werden, vermutet die populäre Vorstellungskraft zuweilen Verschwörungen der Wirtschaftsverbände. Doch es gibt keinen Grund, so weit zu gehen. Zu Zeiten Homers hatten die Griechen weder organisierte Bronzehändler noch ein Komitee von Kunstschmieden. Zwar wurde die Rolle, die wir mysteriösen Wirtschaftsoligarchien zuschreiben, im Geiste der Zeitgenossen Homers von den Göttern der griechischen Mythologie übernommen. Aber um die Menschen in die absurdesten Katastrophen zu treiben, braucht es weder Götter noch geheime Verschwörungen. Die menschliche Natur genügt. Für jemanden, der zu sehen weiß, gibt es heute kein beängstigenderes Symptom als den irrealen Charakter der meisten ausbrechenden Konflikte. Sie besitzen noch weniger Wirklichkeit als der Konflikt zwischen den Griechen und den Trojanern. Im Zentrum des Trojanischen Kriegs stand zumindest eine Frau, zudem noch eine außerordentlich schöne Frau. Für unsere Zeitgenossen sind es mit Großbuchstaben dekorierte Worte, die Helenas Rolle einnehmen. Wenn wir eines dieser von Blut und Tränen aufgedunsenen Worte greifen und versuchen, es festzuhalten, stellen wir fest, dass es keinen Inhalt hat. Worte, die einen Inhalt und einen Sinn haben, sind nicht tödlich. Doch sobald man bedeutungsleeren Worten Majuskeln verleiht, wenn nur die Umstände es erlauben, vergießen die Menschen Ströme von Blut, türmen Ruinen über Ruinen auf, diese Worte unablässig wiederholend, ohne tatsächlich je etwas zu erlangen, das diesen entspräche; nichts Reales kann ihnen je entsprechen, weil sie nichts aussagen. Erfolg definiert sich dann ausschließlich über die Vernichtung derjenigen Menschengruppen, die sich auf feindliche Worte berufen; denn es ist eine weitere Eigenschaft dieser Worte, dass sie in Gegensatzpaaren existieren. Selbstverständlich sind diese Worte nicht immer aus sich selbst heraus ohne Sinn; einige unter ihnen besäßen einen, wenn man sich die Mühe machte, sie ordentlich zu definieren. Doch ein so definiertes Wort verliert seine Majuskel, es kann weder als Flagge dienen noch im Gerassel verfeindeter Parolen seine Stellung behalten; es ist nur noch ein Verweis, der helfen soll, eine konkrete Realität oder ein konkretes Ziel oder eine Handlungsmethode zu erfassen. So merkwürdig es auch erscheinen mag: Die Begriffe zu erhellen, die ursprünglich leeren Worte zu diskreditieren, den Gebrauch der anderen durch präzise Untersuchungen festzulegen, ist eine Arbeit, die Menschenleben erhalten könnte. 15

K A MPF OHN E ZIEL


AUS DEN »TROERINNEN« DES EURIPIDES

Deutsch von Johann Jakob Christian Donner


Das Lager der gefangenen Frauen vor dem Hintergrund der Stadt Troja. POSEIDON

Der Gott Poseidon komm ich her aus salzigen Aigaiermeeres Tiefen, wo den schönen Fuß der Chor der Nereiden schwingt im Reigentanz. Denn seit Apollon und ich selbst um dieses Land der Troer hier die felsenfesten Türme rings nach rechtem Maß aufführte, schwand aus meiner Brust niemals die Liebe, welche mich zu Troja zog, das nun zerstiebt in Asche, das von Argos’ Heer erobert sinkt in Trümmer; denn der Phokier Eipaios vom Parnassos schuf durch Pallas’ Kunst ein Ross, von Waffen schwanger, sandt’ in Priamos’ getürmte Mauern die verderbenschwere Last. Drum nennen’s spät’re Menschen einst das Lanzenross, dieweil es heimlich Lanzen trug in seinem Schoß. Die öden Haine triefen rings von Blut, und rings die Göttertempel; an des Hausbeschirmers Zeus Altaresstufen sank ermordet Priamos. Viel Gold und Phrygerbeute wird hinweggeführt zu Hellas’ dunklen Schiffen, und auf guten Wind am Steuer harren, dass sie froh im zehnten Jahr Gemahl und Kinder wiedersehn, die Danaer, die wider diese Troerstadt ins Feld gerückt. Doch ich, besiegt von Hera, Argos’ Göttin und von Pallas, die verbunden diese Stadt zerstört, verlasse Trojas stolze Stadt und meinen Herd. Denn wenn ein Land zur grauenvollen Öde ward; krankt auch der Dienst der Götter, niemand ehrt sie mehr. Nun fahre wohl, mein Troja, Stadt, so glücklich einst, ihr schönen Festen! Hätte dich Athene nicht, Zeus’ Kind, vertilgt: du ständ’st in deinem Grunde noch!

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ATHENE

Die Troer, die ich hasste, will ich jetzt erfreu’n, und bitt’re Heimkehr bringen auf Achaias Heer.

POSEIDON

Warum springst du von einer so zur andern Art und liebst und hassest ohne Maß, auf wen du triffst?

ATHENE

Du weißt: verhöhnt ward unser Heiligtum und wir.

AUS DEN »T ROER IN N EN« DE S EU R IPIDE S


POSEIDON

Als Aias dir Kassandra mit Gewalt entriss.

ATHENE

Und nichts erlitt er, hörte nichts deshalb vom Heer!

POSEIDON

Und doch zerstört’ es Ilion durch deine Macht.

ATHENE

Drum will ich ihnen übeltun, mit dir vereint.

POSEIDON

Ich bin zu deinem Dienste; doch was wirst du tun?

ATHENE

Heimkehr verhäng ich über sie, verderbenschwer.

POSEIDON

Und wo? Zu Land hier oder auf des Meeres Flut?

ATHENE

Sobald sie heimwärts sich gewandt von Ilion. Und Regen sendet Vater Zeus und nächtlichen Orkan und grausen Hagelschlag aus Äthershöhn; und mir verheißt er seinen Blitz, die Danaer hinabzuschmettern und die Schiff’ in wilder Glut. Du schaffe dann das Deine: wühl die Meeresflut in wilden Strudeln zehenfach getürmt empor und füll Euboias hohle Bucht mit Toten an, dass Hellas’ Söhne fürderhin mein Heiligtum verehren lernen und der andern Götter Macht!

POSEIDON

So sei es! Keiner langen Rede braucht die Gunst. Aigaiermeeres Fluten wühl’ ich stürmend auf und Mykonos’ Gestade, Delos’ Felsenhöhn, und Skyros, Lemnos, auch Kaphareus’ Vorgebirg umschwimmen viele Tote, die das Meer entseelt. So eile zum Olymp denn, und nachdem du dort der Blitze Strahlen aus des Vaters Hand empfingst, wart ab, bis Argos’ scheidend Heer die Segel spannt. O töricht, wer in Trümmer Städt’ und Tempel stürzt, und Gräber, die der Toten heilige Stätten sind, in Wüsten wandelt und zuletzt selbst untergeht!

Beide entschwinden.

AUS DEN »T ROER IN N EN« DE S EU R IPIDE S

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HEKABE

Und wessen Magd ward ich, die des dritten Fußes, des Stabes bedarf für die greise Hand?

TALTHYBIOS

Du ward’st Odysseus zugeteilt, dem Ithaker.

HEKABE

Weh! Zerschlage dein geschor’nes Haupt, und mit den Nägeln zerfleische beide Wangen! O weh mir, weh! Dem verruchten, dem listigen Manne warf mein Los mich zu, dem rechthassenden Scheusal, dem Gesetzesfeind, der Alles dort und Alles hier mit doppelter Zung’ arglistigem Wort feindlich hin und her bewegte, in Hass wandelnd, was zuvor freundlich war. Beklagt mich, Troerfrauen: unselig fahr ich hin, hin bin ich Arme, die dem unglückseligsten Lose verfallen ist!

KASSANDRA

Wie? Nach Odysseus’ Hause, so behauptest du, soll meine Mutter? Der Arme weiß nicht, welches Unheil ihn bedroht: Ihm wird dereinst noch mein Geschick und Trojas Not als Gold erscheinen; denn er kommt allein nach Haus, bestand er zehen Jahre noch zu diesen hier, da, wo des Felsen engen Pfad das Ungetüm bewohnt, Charybdis, und der rohverschlingende Kyklop, wo Kirke, Zauberin der Eber, haust, wo grauser Schiffbruch seiner harrt im salz’gen Meer, des Lotos’ Reiz, die heiligen Sonnenrinder auch, aus deren Fleische Brüllen einst erschallen wird, ein Schreck Laertes’ Sohne. Sag ich’s kurzgefasst: Zum Hades geht er lebend, und der Meeresflut entronnen, trifft er tausendfaches Leid daheim.

AUS DEN »T ROER IN N EN« DE S EU R IPIDE S



Homer, Odysse, XIII, 290–296

Der wäre Meister des Vorteils, Meister im Hehlen und wäre selbst er ein Gott, der dich überböte in sämtlichen Schlichen! Hinterhältiger, ewiger Planer, du schwelgst ja im Truge! Wolltest du gar in der eigenen Heimat das Täuschen nicht lassen, nicht deine Sucht nach Schwindelberichten. Du liebst sie ja freilich seit deinem ersten Schritt. Doch davon nun nichts mehr!


SPONTANEITÄT UND FARBEN Der Dirigent der Ulisse-Premiere, Pablo Heras-Casado, im Gespräch

Ulisse ist wie Poppea ein Spätwerk Monteverdis. Wie lässt sich der Stil des Komponisten in dieser Schaffens- und Lebensphase beschreiben? Gegen Ende seines Lebens folgt Monteverdi einem allgemeinen kulturellen Trend in Venedig und befasst sich mit rhapsodischen Strukturen, wobei er eklektische Elemente einsetzt und mischt, um Ideen verwirklichen zu können – und er stellt lieber Fragen, als Aussagen zu tätigen. Wir finden in seinem Schaffen mehr Impulsivität und Spontaneität. Er absorbiert alle ihm zur Verfügung stehenden Stile und passt mit enormer Flexi­ bilität die musikalische Sprache an die dramaturgischen Notwendigkeiten an. PH

Inwiefern unterscheidet sich Ulisse von der etwa zwei Jahre später uraufgeführten Oper L’incoronazione di Poppea? Poppea ist eindeutig »desorganisierter«, radikaler in dem Sinne, den Sängerinnen und Sängern mehr »Redefreiheiten« zuzugestehen. Die Oper Ulisse, die einer sehr berühmten Mythos-Handlung folgen muss, hat eine klarere Dramenstruktur, auf welche Monteverdi musikalisch ↑Vorige Seite: reagiert. Dennoch basiert – wie bei Poppea – die Auseinandersetzung trotz Georg Nigl als und Isabel des »Konstruktionsaspekts« auf einer Spannungs- und konstanten Licht-/ Ulisse Signoret als Minerva Schatten-Dramaturgie. PH

PA BLO HER AS- CASA DO

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Ulisse wird im Gegensatz zu Poppea und Orfeo stiefmütterlich behandelt. Warum? Vermutlich, weil Orfeo und Poppea extremer sind und daher »klarer« in ihrer Identität. Bei Ulisse ist es schwierig zu erkennen, wo die Komödie und wo die Tragödie beginnen, die Grenzen sind verschwommener, alles ist mehrdeutiger. Ulisse wurde bisher seltener gespielt und ist daher einfach weniger vertraut. Ich bin sicher, dass sich das in Zukunft ändern wird und wir dieses geniale Meisterstück häufiger auf der Bühne erleben werden. PH

1637 wurde in Venedig das erste öffentliche Opernhaus gegründet. Ist bei Ulisse der Einfluss dieser öffentlichen Oper spürbar? Im Gegensatz zum höfischen Musiktheater? Natürlich. Es gibt zahlreiche Tanzfragmente, szenische Effekte, karikatureske Bezüge innerhalb einer ungewöhnlichen Struktur. Das führt ständig zu Überraschungen und Kontrasten. Die bewegte Handlung, die Lebendigkeit der Musik, die Menschlichkeit der Figuren und die emotionale Wirkungskraft rissen das Publikum mit. PH

Die erhaltene Partitur besteht überwiegend aus nur zwei Notenzeilen. Wie erschafft man daraus eine Instrumentation? Die erhaltene Notation war eine damals übliche, und die Musiker waren natürlich in der Lage, sie unmittelbar umzusetzen. Man muss beim Musizieren ganz im Augenblick und aufmerksam sein: Künstlerische Impulsivität und Kreativität sind für diese Musik enorm wichtig – und genau dazu lädt uns Monteverdi ein. Wir haben übrigens ein sehr mächtiges Instrument, von dem Monteverdi nur träumen konnte: einen großen Klangkörper, der es mir erlaubt, zahllose Farben und Texturen zu präsentieren. Schließlich wissen wir, dass Monteverdi für die wichtigen Produktionen und Feste große Ensembles bevorzugte. Wir kennen seinen Geschmack und seine klanglichen Vorlieben. So erwarb er beispielsweise zwei Psalterien für die Basilika San Marco – und darum verwenden wir sie auch. Es gibt Gemälde aus der Zeit, die verraten, welche Art von Ensemble und Instrumenten er zur Verfügung hatte. Und wir haben Aufzeichnungen über die Rechnungen, die Instrumentalisten in San Marco stellten, aber auch aus den ersten öffentlichen Theatern, die Hinweise auf die Orchesterbesetzungen liefern. PH

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SPON TA N EITÄT U N D FA R BEN


PH

Welche Instrumente werden als Basso continuo verwendet?

In unserer Produktion haben wir eine umfangreiche Continuo-Gruppe, die meiner Meinung nach Monteverdis Wunsch nach Vielfalt entspricht: Viola da Gamba, Gitarre, drei Chitarroni, zwei Kontrabässe, zwei Fagotte, zwei Cembali, Orgel, Harfe und zwei Psalterien. Die Zusammensetzung und die Kombination dieser Gruppe ändert sich nicht nur von Szene zu Szene, sondern manchmal sogar von Phrase zu Phrase, von Wort zu Wort! In gewisser Weise ist das wie Malen und Skulpturieren. PH

In Ulisse gibt es mehrere Ebenen: Götter, Allegorien, Menschen. Werden diese einzelnen Bereiche musikalisch unterschiedlich behandelt?

Ja, sie unterscheiden sich deutlich in der Art, wie sie musikalisch ausgeführt werden. Monteverdi benützte nicht nur das zu seiner Zeit vorhandene musikalische Vokabular, sondern erfand auch neue Wege, für die Gesangsstimme zu schreiben. Damit baute er die theatralen Möglichkeiten aus, überraschte und »schockierte« die Zuhörerschar mit Effekten und Tricks. PH

Wie beschreibt Monteverdi seine Figuren musikalisch? Die Götter, die Protagonisten – aber auch Charaktere wie Iro?

Iro ist eine eindeutige Buffo-Figur – sogar die erste in der Geschichte der Oper! Die Partie ist voller starker Gegensätze, zahlreicher Unterbrechungen, er wechselt vom Singen in die natürliche Stimme. Eumete, der Hirt, zeigt einen sehr ehrlichen und einfachen Gesangsstil. Melanto und Eurimaco demonstrieren Leidenschaft, Einfachheit und (Stimmungs-)Kontraste, wie sie diesem jugendlichen Paar entsprechen. Die Götter haben die virtuosesten und anspruchsvollsten Gesangsrollen, die bis dahin geschrieben wurden: Sie zeigen ihre Macht durch extreme Tessitura-Wechsel, endlose Koloraturpassagen, Ornamente, lange Phrasen. Interessanterweise navigiert Ulisse durch viele unterschiedliche Stimmungen und Gesangsstile, je nach den Notwendigkeiten des Dramenmoments – er kann klingen wie die Hirten, aber auch wie die Götter. PH

Penelope wird von einem Mezzosopran gesungen – ist das ein Hinweis darauf, dass sie nach zwanzig Jahren Warten keine ganz junge Frau mehr ist?

Das ist nicht notwendigerweise eine Frage der Jahre. Ich denke, dass die Wahl dieser Stimmlage eher damit zu tun hat, dass Penelope von Anfang an eine Situation analysiert, Abstand hält: eben auch musikalisch mit der Lage und der Tessitura ihrer Stimme, die ihr diesen »Ernst« geben. PA BLO HER AS- CASA DO

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PH

Und gibt es eine musikalische Trennung von Hauptrollen und komischen Rollen?

Ich bin überzeugt, dass Monteverdi nicht in diesen Kategorien gedacht hat. Jede einzelne Person hat eine große Bedeutung in diesem Drama. Es ging vor allem um das Theater, und alles, was die Aufführung lebendig machte, war wichtig. PH

Die Übergänge zwischen Rezitativen und Arien sind oftmals fließend. Ist das eine Herausforderung, weil es dadurch weniger formale Strukturen gibt?

Ganz und gar nicht. Gerade das Fließende ist die Grundlage einer besonderen Art der Auseinandersetzung, vor allem bei Ulisse, wo nichts klar ist. Eine Arie erscheint aus dem Nichts und verschwindet wieder – das entspricht genau dem Thema: sich zu verlieren, um sich selbst zu finden. Ein weiterer herausfordernder und wichtiger Aspekt besteht darin, die Tanzrhythmen, die in der Mitte einer Phrase auftauchen und wieder verschwinden, zu integrieren. All das macht den musikalischen und dramatischen Fluss interessant und anregend. PH

Das finale Duett der Oper – lässt es sich mit jenem in Poppea vergleichen?

Auf den ersten Blick, in Bezug auf die Handlung, ist es vergleichbar: Das Hauptpaar beendet die Oper. In Poppea zeigt dieses Duett (das wahrscheinlich von Ferrari stammt und von Monteverdi eingefügt wurde) den klaren Triumph der Liebe – jeder Art von Liebe. In Ulisse ist dieses Duett zweideutiger. Die Textaussage ist zwar grundsätzlich positiv, aber sie meint auch: »Meine vorangegangenen Qualen führten zum Segen«, also: Glück entsteht aus Leiden. Monteverdi zeigt diese bittere Aussage durch komplexe Modulationen, asymmetrische Konstruktionen und durch eine Isolation der beiden Stimmen: erst ganz am Ende des Duetts singen Penelope und Ulisse gemeinsam. Der Eindruck ist, dass beide nicht mehr wissen, wer sie sind, aber die Kraft haben, nach vorne zu blicken. Die Musik eröffnet ihnen einen Lichtstreif am Horizont. Das weiche, schöne und zarte (wenn auch etwas rätselhafte) Ende setzt ein Fragezeichen.

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SPON TA N EITÄT U N D FA R BEN


EIN ÄUSSERST VIELSCHICHTIGES WERK Jossi Wieler und Sergio Morabito im Gespräch mit Andreas Láng

Die »Odyssee« ist Teil des Mythenschatzes der Menschheit. Inwieweit liest man als Regieteam diesen Mythos zusammen mit dem, was Monteverdi und sein Librettist Badoaro in »Il ritorno d’Ulisse in patria« geschaffen haben? Mythos ist kein ungebrochen positiver Begriff. Wir leben nach wie vor in mythischen Zeiten, in denen unsere menschliche Zerbrechlichkeit irrationalen Mächten und Gewalten ausgesetzt ist. Mythen auf unsere heutigen Erfahrungen hin transparent zu machen, verstehen wir als zentrales Movens unserer Theaterarbeit. Nicht anders als die antiken Tragiker, die allgemein bekannte mythische Erzählzusammenhänge auf die Bühne brachten, um sie zu desakralisieren und auf die eigene Gegenwart und deren Nöte und Konflikte transparent zu machen. Es geht also darum, in den kulturell tradierten Mythen unsere Ängste, Nöte, Schmerzen, Hoffnungen zu reflektieren. SM

Monteverdi und Badoaro wählen für diese Oper bereits eine ganz eigene Perspektive auf das überlieferte Heldenepos, die unsere Aufmerksamkeit auf die menschliche Zerbrechlichkeit lenkt. Der der Handlung vorangestellte Prolog leitet eine Handlung ein, in der alle Charaktere – seien sie nun Menschen oder Götter – brüchig und mit großen Fragezeichen versehen sind. Natürlich behält man bei der Arbeit die Homer’sche Erzählung im Hinterkopf, das geht gar nicht anders, aber entscheidend ist, dass diese in der Oper nicht einfach nacherzählt, sondern auf ihre Widersprüche und ihr Schmerzpotential hin abgeklopft wird. Wir dürfen nicht den Fehler begehen, das uns bekannte mythische Geschehen vom Ergebnis, also sozusagen »von hinten aus« zu verstehen, sondern wir müssen die ständigen Risse und Brüche in der vermeintlichen Kontinuität dieses Geschehens registrieren. JW

JOS SI W IELER U N D SERGIO MOR A BITO IM GE SPR ÄCH

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Die Oper heißt »Il ritorno d’Ulisse in patria« – auf dem Wort »ritorno« scheint ein besonderer Fokus zu liegen. Warum dieser komplexe Titel, warum nicht nur »Ulisse«? Es ist schon sehr auffallend: Da wird eine gar nicht so kurze Oper geschrieben, in der es um nichts anderes geht als um den Moment der Rückkehr der Titelfigur und ihrer Wiederbegegnung mit der Gattin Penelope. Nicht die vergangenen zwanzig Jahre, die sein überliefertes Heldentum begründet haben, sind das Thema, sondern ausschließlich der allerletzte innere Schritt, den er noch gehen muss, nachdem er äußerlich bereits zu Beginn in seiner Heimat angekommen ist. Wer ist Ulisse an diesem Punkt seines Lebens? In den zwanzig Jahren seiner Abwesenheit – zehn Jahre Krieg, zehn Jahre Irrfahrt – hat er sich nicht nur altersmäßig verändert, sondern auch durch das, was er getan, geleistet und verbrochen hat. Seine Irrfahrt, aber auch sein Nichterkennen der Heimat am Beginn der Oper ist in einem existentiellen Sinn zu verstehen. Physisch mag er in Ithaka gelandet sein, aber sein Selbst ist ihm fremd und unbegreiflich geworden. Die Heimat ist gewissermaßen der Spiegel, in der er die Differenz zu sich selber wahrnimmt. Darum zögert er etwa nach seiner Begegnung mit seinem Sohn Telemaco, mit ihm gemeinsam Penelope aufzusuchen, was die humanste und naheliegendste Reaktion wäre. Ein Psychologe würde hier wohl von Schuldgefühlen sprechen, die ihn davon abhalten. JW

Diese Nichtidentität des Ulisse wird auch Penelope bis zum Finale des Stückes umtreiben. Bei Homer ist sie fast eine Randfigur, in der Oper erscheint sie deutlich aufgewertet. Ihr Klagemonolog am Beginn des ersten Aktes markiert gleich einen ersten Höhepunkt. Wir erleben eine im Inneren zutiefst verletzte und traumatisierte Frau, die die lange Abwesenheit Ulisses als Liebesverrat empfindet. Penelope verweigert sich den Freiern, weil sie nicht noch einmal eine vergleichbare seelische Verletzung erfahren möchte. Das zeigt auch die Größe einer Liebe, die nicht vernarben kann. Auch deshalb braucht sie so lange, bis sie den Heimgekehrten, der ein anderer geworden ist, als der, den sie einst geliebt hat, als ihren Mann anerkennt. SM

Anerkennt ist das wichtige Wort: Dass es sich um Ulisse handelt, erkennt sie in Wahrheit auf den ersten Blick. Als er dann unter ihren Freiern ein Blutbad anrichtet, wird sie Zeugin seiner kriegerischen Verrohung und Brutalität. Die Entfremdung der beiden wird entsprechend differenziert auch musikalisch bis in kleinste Verästelungen ausformuliert. JW

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Haben wir am Ende der Oper nun ein Happy End vor uns? Ich glaube, dieses Werk ist zu vielschichtig, um es auf einen eindeutigen Nenner herunterzubrechen. Ich würde lieber von einem offenen Ende sprechen. Ein Zurück zur ursprünglichen Beziehung ist unmöglich, aber vielleicht eine neue Form der Annäherung – denn man kann aus ihren Körpern und Seelen nicht all die Morde und Traumatisierungen herausoperieren. Vielleicht werden sie auf andere Art glücklich werden. JW

Was ermöglicht dieses neuerliche Aufeinanderzugehen? Es hat damit zu tun, wie er in seiner Verzweiflung über ihre Zurückweisung die Dinge bei der stückfinalen Begegnung zu formulieren versucht. Man könnte seine Worte irrtümlicherweise heldisch lesen. Aber in Wahrheit sagt Ulisse zu Penelope: »Ich bin ein Produkt dieses Krieges, ein Mensch, der mythischen Gewalten ausgeliefert war, der überleben wollte.« Dieses Eingeständnis der eigenen Ohnmacht und der eigenen Täterschaft zugleich ermöglicht es Penelope, auf ihn wieder zuzugehen.

SM

Sie spürt – und das zeigen wir auch –, dass da etwas wie eine Verschalung abblättert, dass ein Schmerz sichtbar wird. Ermöglicht wird dieser Prozess allerdings erst durch das Singen eines Liedes. JW

Genau genommen verlässt Penelope die rezitativisch-deklamatorische Ausdrucksweise in der ganzen Oper nur an zwei Stellen. Wir haben also nicht die Opernkonvention späterer Zeiten vor uns, in der der Vorgang des Singens selbst gar nicht mehr thematisch ist. Dadurch erhalten diese besagten zwei Momente eine besondere szenische Gewichtung. Penelope gleicht hier gewissermaßen der Schauspielerin eines ShakespeareStückes, die in einer bestimmten szenischen Situation ein Lied singt. Und dieses Lied bricht Ulisses Verkrustung auf.

SM

Die Opernhandlung weist zahlreiche Ortswechsel auf. Wie sind Sie mit dieser szenischen Herausforderung umgegangen? Es ist sogar noch komplexer: Zu den Ortswechseln kommt hinzu, dass vieles in der Handlung simultan passiert. Die großen Monologe von Ulisse und Penelope werden zwar hintereinander gezeigt, aber in Wahrheit ereignen sie sich gleichzeitig. Wir erleben also eine lange Strecke des Stückes hindurch die beiden Paralleluniversen der Ehepartner in einer Art Zusammenschau, in der sie sich erst allmählich bis zur wechselseitigen Wahrnehmung aufeinander zubewegen.

SM

JOS SI W IELER U N D SERGIO MOR A BITO IM GE SPR ÄCH

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Ebenso wenig wie bei Shakespeare kann es darum gehen, jede Lokalisation nachzubauen und zu dekorieren. Anna Viebrock hat – unter anderem inspiriert von einer Kunstinstallation Martin Kippenbergers – ein Bühnenbild geschaffen, auf dem in ihrem Erscheinungsbild stark fragmentierte und reduzierte Objekte versammelt sind. Das alles ist auf eine Drehbühne gestellt, die immer neue Konstellationen ermöglicht. JW

Dadurch verlieren wir die einzelnen Handlungspunkte nie aus dem Blick. Man sieht, was sich parallel entwickelt und auflädt, nicht zuletzt sind Ulisse und Penelope bereits von Anfang an simultan anwesend, auch wenn sie einander noch gar nicht begegnet sind. SM

Das zentrale Element dieses Bühnenbildes ist der aus dem Epos bekannte Webstuhl der Penelope. Weshalb wird genau dieses Detail so markant und sichtbar aufgegriffen? Der große Webstuhl symbolisiert einerseits die Welt von Ithaka, andererseits zeigt er, wie Penelope ihren Schmerz in einen kreativen Schaffensprozess zu transformieren versucht – ohne sich ganz von ihm befreien zu können. SM

Durch seine zentrale Lage auf der Achse der Drehbühne markiert der Webstuhl zudem das Innere eines Labyrinths, zu dem Ulisse, der aus seinem Seelengefängnis nicht herausfindet, vordringen möchte. Der Webstuhl ist also auch das Symbol der Suche nach der eignen Identität. JW

In dieser Produktion werden Projektionen gleich mehrfach und auf unterschiedliche Weise eingesetzt. Eine der Projektionsflächen ist der Webstuhl Penelopes beziehungsweise das Webstück, an dem Penelope arbeitet. Der Videokünstler Tobias Dusche bearbeitet hier eine filmgeschichtlich bedeutende Sequenz, in der die Manaki-Brüder, zwei Pioniere der Stummfilmära, ihre Großmutter beim Spinnen aufgenommen haben. In unserem Zusammenhang erzählt diese Projektion etwas vom Vergehen der Zeit und vom Älterwerden und dokumentiert zugleich eine bestimmte Frauenrolle in einem patriarchalen System. SM

Die Projektionen, die auf dem über der Bühne aufgespannten Segel zu sehen sind, werden hingegen von einer Live-Kamera generiert. Sie zeigt die Sicht der Götter auf die Welt der Menschen, auf durchaus ironisch gebrochene Weise. JW

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EIN ÄUS SERST V IELSCHICH T IGE S W ER K


Die Welt der Götter bildet eine eigene Ebene in diesem Werk. Insbesondere Minerva nimmt entscheidenden Einfluss auf die Geschehnisse. Wer oder was sind die Götter in dieser Produktion? Unsere konzeptuellen Überlegungen gehen davon aus, dass die abgehobenen Götter, die in Fliegersitzen der Business Class unterwegs sind, ihre angestammte Macht verloren haben und danach trachten, diese zurückzugewinnen. Ulisse wird für dieses Vorhaben gewissermaßen missbraucht und gefügig gemacht – ganz besonders von Minerva.

JW

Positiv gelesen, kann die Gestalt des Ulisse auch als Aufklärer verstanden werden, der die überkommenen Grenzen der Heimat überschritten und sich in unbekannte Welten hinausgewagt hat. Doch letztlich gelingt es den Göttern, diese Entwicklung umzudrehen und die Menschen erneut ihrer Macht zu unterwerfen. Ein Phänomen, das wir im übertragenen Sinn heute wieder erleben, wenn autokratische Systeme und Gewalten sich selbst sakralisieren.

SM

Man könnte Il ritorno d’Ulisse in patria auf den ersten Blick als einfache Heimkehrer-Oper deuten. Das so zentrale Thema der menschlichen Fragilität und jenes der antiaufklärerischen Kräfte verraten aber, dass wir es mit einem deutlich vielschichtigeren Werk zu tun haben.

JW

→ oben: Andrea Mastroni als Antinoo, Kate Lindsey als Penelope, Hiroshi Amako als Eurimaco und Katleho Mokhoabane als Pisandro unten: Jörg Schneider als Iro, Robert Bartneck als Eumete und Georg Nigl als Ulisse

EIN ÄUS SERST V IELSCHICH T IGE S W ER K

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Nicola Usula

ÜBER DAS PARTITURMANUSKRIPT VON »IL RITORNO D’ULISSE IN PATRIA« Bei der Entscheidung, eine Opernaufführung zu besuchen, zählen der Titel des Werks und der Name des Autors zu den wesentlichen Motivationen der Zuschauer. Im Fall von Il ritorno d’Ulisse in patria greift diese Regel nicht ganz. Nach seiner Erstaufführung 1640 am Teatro Ss. Giovanni e Paolo in Venedig wurde dieses dramma in musica im Laufe des 17. Jahrhunderts zumindest zweimal wiederaufgeführt: im Juni 1640 in Bologna (Teatro Guastavillani) N ICOLA USU LA

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→ Le glorie della Musica celebrate dalla sorella Poesia (Bologna, Biblioteca Comunale dell’ Archiginnasio)

a) Titelseite

b) Sonett, S. 7.

und im Jahr darauf wieder während des Karnevals in Venedig (Teatro Ss. Giovanni e Paolo). Dreizehn Quellen sind für diese Oper erhalten: zwölf handschriftliche Libretti, aber nur eine Partitur, die zur Notensammlung von Kaiser Leopold I. in der Österreichischen Nationalbibliothek zu Wien gehört. Die Namen beider Autoren können wir nur dank einer Sammlung von Sonetten erschließen, die anlässlich der Wiederaufführung der Oper in Bologna 1640 ediert wurde. Sie trägt den Titel Le glorie della Musica celebrate dalla sorella Poesia (Die Herrlichkeiten der Musik, gefeiert von ihrer Schwester, der Poesie). Dort finden wir ein Sonett mit der eindeutigen Überschrift Per l’Ulisse, dramma dell’illust.mo sig. Giacomo Badoero e musica del signor Claudio Monteverdi (Für den Ulisse, Drama des berühmten Hrn. Giacomo Badoaro mit Musik von Hrn. Claudio Monteverdi), unterzeichnet von einem unbekannten »Clotildo Artemij« (siehe Abb. a und b). Obwohl die erhaltene Partitur keinen Komponisten angibt, dürfen wir daher annehmen, dass Il ritorno d’Ulisse in patria von Badoaro verfasst und von Monteverdi in den Jahren 1639/1640 vertont wurde. Monteverdi schrieb nur drei neue Opern für Venedig – Il ritorno d’Ulisse in patria, Le nozze d’Enea con Lavinia, und L’incoronazione di Poppea –, wobei nur für die erste und letzte musikalische Quellen erhalten sind. Dessen ungeachtet wirft die einzige erhaltene Partitur für Il ritorno – ebenso wie die beiden Partituren der Poppea – seit ihrer Entdeckung zu Beginn des neunzehnten 33

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Jahrhunderts Fragen auf. Es ist kein Autograf, und Text und Struktur stimmen mit den zwölf erhaltenen handschriftlichen Libretti nicht durchgängig überein. Außerdem durchlief die Quelle einen komplexen Notationsprozess: Aufgrund wechselnder Tinten in unterschiedlichen Farben ist unübersehbar, dass die Abschrift in mehreren Phasen erstellt wurde. Offenbar wurde die Musik für Il ritorno in der erhaltenen Abschrift für eine Aufführung kopiert und modifiziert; aber wir haben keine Anhaltspunkte, ob sie im Zusammenhang mit einer der drei uns bekannten Produktionen der Oper steht oder nicht. Auf den folgenden Seiten sind die Ergebnisse einer unlängst zu der in Wien erhaltenen Partitur durchgeführten Untersuchung zusammengestellt.

Von Venedig aus … Der erste Hinweis auf die Partitur von Il ritorno in der Nationalbibliothek zu Wien scheint 1825 erfolgt zu sein, als das erste bekannte Verzeichnis der Notenbände der Privatbibliothek von Leopold I erstellt wurde, höchstwahrscheinlich unter Leitung von Graf Moritz von Dietrichstein, der von 1819 bis 1845 für die Hofbibliothek zuständig war. Laut diesem handschriftlichen Katalog hat der Band mit Il ritorno weder Titel noch Zuschreibung. Einige Jahre später erkannte Raphael Georg Kiesewetter (1773–1850) ihn als Quelle für Monteverdis Werk, und erst August Wilhelm Ambros (1816–1876) veröffentlichte diese Information im vierten Band seiner Geschichte der Musik. 1899 erschien die Abschrift schließlich im zehnten Band des Handschriftenkatalogs der Österreichischen Nationalbibliothek, der von Josef Mantuani herausgegeben wurde. Hier erhielt die Partitur ihre aktuelle Signatur Mus. Hs. 18763, und Mantuani bestätigte die Zuschreibung an Monteverdi unter Angabe einiger Daten bezüglich der Erstaufführung, wie er sie in einem der handschriftlichen Libretti gefunden hatte. Nach Entdeckung der Partitur schien es zunächst, als sei Wien ihr ursprünglicher Bestimmungsort, sodass auch heute noch manche Gelehrte ihre Zuordnung zum Wiener Kontext betonen. Im Allgemeinen wird jedoch eine venezianische Herkunft angenommen, obwohl die Tatsache, dass dieses Manuskript eine venezianische Oper aus den frühen 1640er Jahren dokumentiert, noch keine Gewissheit über ihren Herstellungsort bietet. Manches scheint darauf hinzuweisen, dass das Manuskript dem Wiener Kontext fremd ist, etwa die Einhaltung struktureller und grafischer Merkmale zeitgenössischer venezianischer Musikhandschriften wie Format, grafische Gestaltung und Wasserzeichen.

Format, Anlage und Wasserzeichen Die Partitur ist im Querformat, wohingegen die in Wien kopierten Gesangspartituren der Sammlung Leopolds I. in der Regel Hochformat haben. AndeN ICOLA USU LA

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rerseits konnte ich unter den Beständen Leopolds I. vierzehn querformatige Bände mit Wiener Kompositionen identifizieren, die höchstwahrscheinlich in Wien kopiert wurden und von denen vier von Antonio Draghi, dem »Leopoldinischsten« unter den Hofkomponisten, stammen. Ein weiteres Kriterium bei der Provenienzforschung von Musikhandschriften ist die grafische Anlage der Seiten. Venezianische Partituren weisen meist seitliche vertikale Linien auf, die zur Abgrenzung der Länge der Notenzeilen mit der Feder gezogen wurden. Die Quelle von Il ritorno weist dieses besondere Merkmal auf; trotzdem können Partituren aus Wien im Querformat ebenfalls seitliche vertikale Linien aufweisen, wie zum Beispiel das Manuskript für das höchstwahrscheinlich zwischen 1663 und 1664 in Wien komponierte »componimento drammatico« L’invidia conculcata dalla virt ù mit Text von Antonio Draghi und Musik von Pietro Andrea Ziani. Wenn einerseits das Format und die seitlichen, mit der Feder gezogenen vertikalen Linien eine italienische Herkunft nahelegen, aber nicht bestätigen, so liefert das Wasserzeichen dieses Manuskripts einen konkreteren Beweis. Die Folios der Monteverdischen Quelle weisen nur ein Wasserzeichen auf: drei Halbmonde gepaart mit einem Kleeblatt zwischen den Großbuchstaben »I« und »F«. Dieses Wasserzeichen erscheint auch in drei Autografen von Francesco Cavalli aus der Sammlung Contarini der Biblioteca Nazionale Marciana in Venedig: La Calisto, L’Orione und L’Artemisia (kopiert 1651/52, 1653 bzw. 1656/57). Der Vergleich zwischen den Wasserzeichen bestätigt, dass die Partitur von Il ritorno auf dem gleichen venezianischen Papier kopiert wurde. Jedoch ist auch dieses Indiz nicht eindeutig. Papier mit Wasserzeichen in der Form von Halbmonden und in der Form eines Kleeblatts zwischen Buchstaben finden sich auch in Manuskripten aus Wien, da es aus Italien importiert wurde.

Ein venezianischer Kopist Die Identifizierung der venezianischen Ursprünge der Partitur von Il ritorno ergibt sich aus der Triangulation aller bisher dargelegter Daten, zuzüglich der Ergebnisse der Analyse der Handschrift des Kopisten. Die Wiener Partitur von Il ritorno wurde vorwiegend von einer Hand kopiert, die bisher noch in keiner anderen Musikhandschrift des siebzehnten Jahrhunderts nachgewiesen wurde, außer – vielleicht – in der Partitur von Gli amori di Apollo e Dafne von Giovanni Francesco Busenello (dem Librettisten von L’incoronazione di Poppea) und Francesco Cavalli (Venedig, Teatro S. Cassiano, 1640). Es scheint, als hätte dieselbe Hand Il ritorno und den poetischen Text unter den Noten der allerersten Folios von Gli amori di Apollo e Dafne kopiert, doch da diese Partitur schwierig zu datieren ist, trägt diese Ähnlichkeit nicht zur Datierung der Abschrift von Il ritorno bei. 35

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Allerdings tauchte die Hand der Wiener Partitur unlängst in einer anderen Musikhandschrift der Leopoldinischen Sammlung auf. Dieser Band enthält dreizehn kurze Kompositionen für Gesang und Continuo ohne Angabe der Autoren, kopiert auf Lagen unterschiedlicher Herkunft, die während der Regentschaft Leopold I. zusammengebunden wurden. Außer einem venezianischen Wasserzeichen findet sich in der ersten Lage dieses Manuskripts bei neun Stücken aus der Oper Muzio Scevola von Nicolò Minato und Francesco Cavalli (Venedig, Teatro S. Salvatore, 1665) dieselbe Handschrift. Dass dieselbe Hand einige Arien einer in Venedig uraufgeführten Oper ebenso wie Il ritorno kopiert hat, noch dazu auf Papier, das höchstwahrscheinlich aus dem Veneto stammt, stützt die Hypothese der venezianischen Ursprünge der Monteverdischen Quelle. Die bisher gesammelten Daten geben Indizien zum Zeitrahmen, innerhalb dessen Il ritorno kopiert wurde. Aus grafischer Sicht erscheint die Handschrift des Kopisten rasch, flüssig und sicher; deshalb war er, in den Worten von Alan Curtis, bereits »gereift« (»mature«) bzw. routiniert, als er Il ritorno kopierte. Zudem verraten viele der von ihm hinzugefügten Hinweise und Anmerkungen, dass er in einen Revisionsprozess involviert war, dem die Oper unterzogen wurde. Er war kein Anfänger mehr, als er an dieser Partitur arbeitete, und es ist unwahrscheinlich, dass er fast 25 Jahre nach der Arbeit an der Monteverdischen Partitur um die Kopie irgendwelcher ariette aus Muzio Scevola gebeten wurde. Daher liegen die Zeitpunkte der Erstellung der Abschriften von Il ritorno und der Ariensammlung wohl nicht allzu weit voneinander entfernt. Das Wasserzeichen scheint diese Hypothese zu bestätigen. Wenn man die Hand unseres Kopisten auf einem Manuskript identifiziert, dessen terminus post quem zweifellos 1665 ist (Arien aus Muzio Scevola) und das für Il ritorno verwendete Papier in Musikhandschriften findet, die von 1650 bis 1657 datiert sind (Cavallis Autografe), liegt es nahe, dass die Wiener Partitur zwischen den 50er und 60er Jahren des Jahrhunderts kopiert wurde, d. h. lange nach Erstaufführung der Oper.

… in die kaiserliche Sammlung

← Robert Bartneck als Eumete

Der Einband der Partitur von Il ritorno belegt ihre Zugehörigkeit zur kaiserlichen Musiksammlung. Wie andere Partituren, die in Wien im Auftrag des Kaisers gebunden wurden, ist ihr Umschlag aus weißem Pergament, verziert mit dem gekrönten und von Lorbeer umrahmten Porträt Leopold I. in Goldpressung (in einigen Varianten) sowie anderen pendants, am häufigsten Adler. Die Partitur von Il ritorno zeigt das Porträt auf dem vorderen Einband, auf dem hinteren findet sich ein Medaillon mit den Symbolen seines Mottos »Consilio et Industria,« das er ab 1654 verwendete. Auf ihm strahlt ein Auge (Gottes) mit seinem Licht auf eine bekrönte Erdkugel, auf der zwei Arme stehen, die ein Zepter und ein Schwert halten.

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Das mit dem Motto des Kaisers verbundene Symbol erscheint hauptsächlich auf Musikmanuskripten, die zwischen 1680 und 1690 komponiert wurden, aber auch auf zwei sehr frühen Partituren: Il ritorno und L’Egisto von Giovanni Faustini und Francesco Cavalli. Das Manuskript mit L’Egisto ist die zweite erhaltene Partitur für Cavallis Oper (Teatro S. Cassiano, 1643), und obwohl diese wie Il ritorno in den frühen Vierzigerjahren in Venedig Premiere hatte, wurde die Partitur höchstwahrscheinlich um 1650–52 kopiert, größtenteils von Cavallis Ehefrau, Maria Sozomeno, die 1653 verstarb. Die beiden Partituren von Il ritorno und L’Egisto haben nicht nur die Dekoration auf dem hinteren Einband gemeinsam, sondern auch das für die Bindung verwendete Papier, das dasselbe kaiserliche Wasserzeichen in Form des Großbuchstabens »L« in einem bekrönten Schild aufweist. Daher kann man davon ausgehen, dass beide ohne Bindung in die Sammlung des Kaisers gelangt sind, oder dass sie später aus irgendeinem Grund neu gebunden werden mussten. Ein weiteres Indiz im Hinblick auf die Umstände, unter denen die Partitur von Il ritorno und Egisto nach Wien gekommen sind, ergibt sich aus ihrer Typologie. Sie entstammen beide einem performativen Kontext und waren nicht als Geschenke gedacht: Il ritorno bietet eine mehrschichtige Kompilation und eine Reihe von Modifikationen für eine geplante Wiederaufführung, während das Manuskript von Egisto direkt aus Cavallis Kopierbetrieb kommt und wie eine Produktionspartitur mit entsprechend vorläufiger Redaktion anmutet. Höchstwahrscheinlich war es Cavalli, der beide Partituren über die Alpen brachte, als er sich 1660 auf seinem Weg nach Paris am erzherzoglichen Hof in Innsbruck aufhielt. Nach dem Tod der Erzherzöge Ferdinand Carl (1662) und Sigismund Franz (1665) verließen die Tiroler Buchkollektionen Innsbruck in Richtung Wien, möglicherweise einschließlich der Partituren zu Il ritorno und L’Egisto.

Zu Lebzeiten Monteverdis? Die hier angeführten Hypothesen basieren auf den Ergebnissen einer Reihe von Vergleichen, mit deren Hilfe man Partituren aus geografischen und chronologischen Gesichtspunkten voneinander abgrenzen oder aufeinander beziehen kann. Erschwert wird die Fragestellung dadurch, dass im 17. Jahrhundert venezianische und Wiener Kontexte auf vielen Ebenen miteinander verbunden waren, da nicht nur venezianisches Papier in den Ländern des Heiligen Römischen Reichs weit verbreitet war, sondern auch am Habsburger Hof italienische Kopisten angestellt waren. Doch die Entdeckung ein und derselben Handschrift in der Partitur von Il ritorno und einer Sammlung venezianischer Arien von Cavalli (und vielleicht auch noch in der Partitur von Cavallis Gli amori d’Apollo e di Dafne) scheint die venezianischen Ursprünge N ICOLA USU LA

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der Partitur zu bestätigen. Da andererseits Muzio Scevola 1665 uraufgeführt wurde und die Arien dieses Werks von jemandem kopiert wurden, der sowohl beim Kopieren als auch bei seiner Überarbeitung von Il ritorno großes Können beweist, liegt es nahe, das hypothetische Datum der Kopie der Monteverdischen Partitur frühestens um die 50er bzw. 60er Jahre anzusetzen. Meiner Meinung nach kann also die einzige erhaltene Musikquelle zu Il ritorno nicht mehr zu Lebzeiten Monteverdis erstellt worden sein. Das soll nicht heißen, dass die Musik in der Partitur von Il ritorno nicht von größtem künstlerischem und historischem Wert ist. Sollte die überlieferte Musik nicht in ihrer Gesamtheit von Monteverdi stammen oder sogar keine einzige ihrer Noten von dem großen Cremonesen verfasst sein, hätten wir es trotzdem mit einem Meisterwerk der Oper des 17. Jahrhunderts zu tun, denn zahllose Passagen zählen zu den künstlerisch bemerkenswertesten, die aus dieser Zeit überliefert sind. Die Bedeutung von Monteverdis Autorenschaft in Bezug auf die Partitur von Il ritorno zu verabsolutieren, hieße, die Bedeutung der venezianischen Musikoffizin reflexhaft zu leugnen, die unter anderem auch L’incoronazione di Poppea hervorbrachte. Der Wunsch, dass die überlieferte Musik zu Il ritorno integral von Monteverdi komponiert wurde, ignoriert sowohl den inneren Wert des Werks als auch seinen ästhetischen. Wer würde heute das großartige Schlussduett »Pur ti miro/Pur ti godo« der Poppea beanstanden, das lange als Höhepunkt von Monteverdis Schaffen gepriesen wurde, obwohl es mittlerweile einem anderen Pionier der venezianischen Oper, Benedetto Ferrari, zugeschrieben wird?Sándor Márai, in: Die Frauen von Ithaka

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Monika Mertl

IM ZEICHEN DER KLANGREDE

Im Mai 2021 feierte der Concentus Musicus mit L’incoronazione di Poppea sein Debüt an der Staatsoper. 2022 folgte mit L’Orfeo das älteste von Monteverdis erhaltenen Musiktheaterwerken. Nun rundet sich der Zyklus mit Il ritorno d’Ulisse in patria: Auf die »Favola in musica«, die 1607 am Hof von Mantua erstmals erklang, folgt das »Dramma in musica«, uraufgeführt 1640 in einem öffentlichen Opernhaus in Venedig. Auch den Ulisse hat der Concentus Musicus bereits in seinen Anfängen erforscht. Auf der Grundlage der in Wien erhaltenen Abschrift hatte Nikolaus Harnoncourt 1967 eine Aufführung für ↑ Seiten: die Rundfunkstation Sveriges Radio Stockholm erarbeitet. 1971 erfolgte die Vorige Kate Lindsey als Penelope Einspielung im Rahmen der Teldec-Reihe »Das alte Werk«. MON IK A MERT L

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Die optimale Wirkung der Dichtung Harnoncourt gab sich damals gründlich Rechenschaft über die Eigenart des Ulisse und dessen musikgeschichtlichen Stellenwert, über den Unterschied zwischen »Favola« und »Dramma«, die im Abstand von 33 Jahren komponiert wurden – eine Zeitspanne, in der sich in der Kunst die Entwicklung von der Renaissance zum Barock vollzog, aus der uns von Monteverdis reichem Schaffen aber kaum etwas überliefert ist. »In den beiden Spätopern Ulisse und Poppea haben sich die musikalischen Schwerpunkte, die beim Orfeo noch in den Madrigalen lagen, bereits verschoben«, so Harnoncourt. »Monteverdis Anliegen ist hier die optimale Wirkung des Wortes, die Musik darf niemals davon ablenken, niemals Selbstzweck sein, sie muss, deutend und mitreißend, die Wortbedeutung untermalen und verstärken, sodass der Zuhörer gleichsam über zwei Antennen erreicht wird. Natürlich kann es in diesen Opern keine Arien geben, überhaupt keine abgeschlossenen Musikstücke, da sie ja den Hauptzweck – die optimale Wirkung der Dichtung – nur stören würden.« Somit ist Ulisse im Prinzip als ein einziges großes Rezitativ aufzufassen, gegliedert von den Zwischenspielen des Orchesters – sehr im Unterschied zur Barockoper mit ihrer Abfolge von Arien und Rezitativen, die wenig später ihren Siegeszug antrat. »Hier war der jeweilige Sänger Attraktion und Angelpunkt zugleich; das Wort, die dramatische Handlung verloren dabei immer mehr an Bedeutung«, heißt es bei Harnoncourt, der in diesem Zusammenhang auch auf die Qualität der Libretti verweist, die Monteverdi mit besonderer Sorgfalt auswählte, »einerseits nach der Schönheit der dichterischen Sprache, andererseits nach ganz bestimmten Affekten und Kontrasten, die er musikalisch darstellen wollte«. Den Stoff des Ulisse hat Librettist Giacomo Badoaro überdies aus Homers Odyssee abgeleitet und damit einen der großen Mythen der Weltliteratur für das Musiktheater gestaltet.

Terrassenplätze für die Musiker Im Mai 1971, noch vor Beginn der Plattenaufnahme, unternahm der Concentus Musicus mit dem Ulisse auch seinen ersten Ausflug auf die Opernbühne – ins Theater an der Wien, im Rahmen der Wiener Festwochen. Es war nicht leicht gewesen, das unkonventionelle Projekt beim damaligen Intendanten Ulrich Baumgartner durchzusetzen, der aus wirtschaftlichen Überlegungen eher auf Gastspiele berühmter ausländischer Ensembles setzte als auf ein exotisch anmutendes Spezialprojekt der umstrittenen »Darmsaitenritter«. An die Überzeugungsarbeit, die er im Vorfeld dafür zu leisten hatte, erinnerte sich Harnoncourt Jahrzehnte später in einem Gespräch, das er mit Milan Turkovic für die Concentus-Biographie Die seltsamsten Wiener der Welt führte: »Ich weiß nicht, wie oft ich bei Baumgartner war, um ihm ein Loch in 43

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den Bauch zu reden. Es ging ja um ein Stück, das völlig unbekannt war, das aber eine enge Beziehung zu Wien hatte, weil die einzige Quelle in der Wiener Nationalbibliothek liegt.« Als es schließlich soweit war, versicherte er sich, in Bühnenprojekten noch völlig unerfahren, der Partnerschaft mit einer »vertrauten Person«: Federik Mirdita, der Schulfreund aus Graz, wurde für die Inszenierung verpflichtet. Riko hatte sich ← Terrassenplätze bereits in Jugendtagen für die Musiker: Das Bühnenbild als Mitstreiter bei Nikovon Hannes laus’ legendärem MarioRader bot optimale nettentheater bewährt Voraussetzungen und war mittlerweile ein im Sinne der »Klangrede«. erfolgreicher Regisseur. Und Riko wusste, worauf es ankam: Da Nikolaus die Aufführung wie üblich vom Instrument aus leiten würde – in diesem Fall war es die Tenorviola –, musste für das Orchester eine entsprechende Lösung gefunden werden. So erschien der Concentus bei seinem Operndebüt gleich in prominenter Position: kostümiert und ins Bühnenbild integriert. »Das war das einzige Mal, dass ich ein Bühnenbild als eine Terrassenlandschaft für das Orchester bauen ließ«, gab Mirdita später zu Protokoll. »Für jeden einzelnen Musiker wurde vom Bühnenbildner Hannes Rader ein spezieller Terrassenplatz so konstruiert, dass der direkte Blickkontakt für alle Mitwirkenden gegeben war.« Im Concentus mit dabei war übrigens die damals siebzehnjährige Tochter von Alice und Nikolaus Harnoncourt, Elisabeth, die Blockflöte studierte und bereits kurz vor dem Diplom an der Musikakademie stand; es versteht sich, dass sie für ihre Mitwirkung ein ganz professionelles Aufnahmeverfahren mit einem Probespiel vor Jürg Schaeftlein absolvieren musste. Franzi, dem Jüngsten, kam hingegen die Aufgabe zu, bei der Orgel die Bälge zu ziehen. Parallel zur Aufführungsserie entstand die Plattenaufnahme, die Rollen von Ulisse und Telemaco wurden dafür aus dispositionellen Gründen umbesetzt. »Orgel, Regal, Cembalo pendeln zwischen Theater an der Wien und MON IK A MERT L

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Casino Zögernitz«, berichtet Nikolaus in dem von Alice Harnoncourt aus dem Nachlass herausgegebenen Erinnerungsband Wir sind eine Entdeckergemeinschaft. »Besondere Raffinesse: Trotz meines ausgeklügelten Aufnahme-Netzplanes vergessen wir fünf Takte des aus Kopenhagen angereisten Kai Hansen (Telemaco). Zur Korrektur muss er extra noch einmal kommen. Es wird eine tolle Aufnahme. Am Ende großer Heuriger mit Heinrich Weritz von der Teldec und allen Beteiligten.«

Ein Heimkehrerschicksal? Die Festwochen-Produktion des Ulisse bedeutete einen wichtigen Durchbruch. »Das Publikum tobt wie bei einer gesunden Verdi-Oper«, notierte Harnoncourt im Rückblick. Auch die aus Deutschland angereisten Kritiker waren begeistert, man apostrophierte Harnoncourt gar als »künstlerisches Gewissen der leichtlebigen Stadt Wien«. Die heimische Presse hingegen reagierte zwiespältig, nicht nur, weil der intellektuelle Witz von Mirditas »brechtisch« distanzierter Inszenierung für hiesige Verhältnisse ein wenig zu avanciert anmutete und unter den Solisten keine opernrelevanten »Namen« zu finden waren. Es war vor allem der fremde, verfremdende Effekt des reichen Obertonspektrums der alten Instrumente, dem man »starre Schönheit« und »abweisende Härte« attestierte und an den man sich hierzulande lange nicht gewöhnen mochte. Da hatte manch einer wohl das philharmonische Klangbild der von Karajan initiierten Poppea im Ohr, die bis 1970 an

→ Die Grazer Sopranistin Rotraud Hansmann (Mitte) zählte zu den wichtigsten Vokalsolisten der frühen Concentus-Zeit. Sie sang die Minerva in der FestwochenProduktion des Ulisse.

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der Staatsoper gespielt worden war. »So war das Heimkehrerschicksal, wie Heimkehrerschicksale zumeist zu sein pflegen: trist«, lautete ein ironischpointiertes Resümee: »Ulisse wird wohl bald wieder reisen. In die Archive.« Harnoncourt selbst trug die Aufführung sein erstes und einziges Engagement an der Mailänder Scala ein, wo er sich Ende 1972 nolens volens ans Dirigentenpult begeben musste, um dem italienischen Orchester die Klangrede zu vermitteln. 1977 feierte Ulisse seine glanzvolle Premiere im Rahmen des Zürcher Monteverdi-Zyklus in der Regie von Jean-Pierre Ponnelle. Und als das Opernhaus Zürich am Beginn des neuen Jahrtausends einen neuen Monteverdi-Zyklus mit seinem Orchestra la Scintilla herausbrachte, hat Harnoncourt sich noch ein weiteres Mal mit dem »Dramma in musica« auseinandergesetzt. In der Inszenierung von Klaus Michael Grüber, mit jungen Singschauspielern wie Vesselina Kasarova, Dietrich Henschel und Jonas Kaufmann, war Homers Heimkehrer endgültig in der Gegenwart angelangt. Mit dem Concentus Musicus hat Harnoncourt den Ulisse hingegen kein weiteres Mal erarbeitet. Für Erich Höbarth, den Konzertmeister dieser Aufführung, ist es daher die erste Begegnung mit diesem Werk – freilich nicht mit dem Komponisten, hat er doch 1993 an der Salzburger Poppea mitgewirkt. »Die zentrale Aufgabe kommt in diesen Stücken dem Continuo zu, das Orchester gestaltet nur die Ritornelle«, sagt er. »Aber es ist ein sehr spannender Prozess, wie diese beiden Instrumental-Teile im Verlauf der Proben zusammenwachsen.« Sándo

Wie das Klangbild entsteht Als Continuo bezeichnet man jene kleine Gruppe innerhalb des Orchesters, der die Aufgabe zukommt, den Generalbass praktisch umzusetzen. Die Komponisten jener Zeit beschränkten sich darauf, gewissermaßen das intellektuelle Gerüst ihres Werks aufzuschreiben und die Akkorde für die Instrumentalbegleitung als »bezifferten Bass« zu notieren, dessen Ausführung dem Geschick und dem Geschmack der jeweiligen Musiker überlassen blieb – wobei auch finanzielle Rahmenbedingungen eine Rolle spielten. Die Tatsache, dass Monteverdis Ulisse in einem öffentlichen Opernhaus uraufgeführt wurde, lässt darauf schließen, dass die instrumentale Ausstattung ursprünglich weitaus sparsamer war als jene des Orfeo, für den am Hof zu Mantua ganz andere Mittel zur Verfügung standen. »Die Uraufführung muss man sich wahrscheinlich sehr puristisch vorstellen, nur mit einfachen Streichern und wenigen, den Bass unterstützenden Bläsern«, meint Reinhard Führer, der Cembalist und Organist des Concentus. »Aber wir versuchen, den Klangluxus auch für dieses Werk herzustellen. Bei Orfeo haben wir das Glück, dass zwei gedruckte Partituren überliefert sind, in denen Monteverdi die gewünschte Instrumentation angegeben hat. Daran orientieren wir uns.« MON IK A MERT L

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Die charakterisierende Funktion der Instrumente spielt dabei eine wichtige Rolle. Den drei verschiedenen Sphären, in denen die Handlung angesiedelt ist – Götter, Allegorien, Menschen – sind die entsprechenden Klangsphären zugeordnet. »Bei den Göttern wird man meist die Orgel mitgehen lassen, das ist auch eine eher sakrale Musik, in einem strengeren Satz komponiert«, erläutert Führer. »Die Klangwelt der Allegorien ist dagegen hoch und prickelnd, das sind die quirligen Sopranstimmen, begleitet von Harfe und Salterio.« Ganz im Irdischen angesiedelt ist hingegen die tragikomische Figur des Schmarotzers Iro: »Dazu passt der gesamte tiefere Zupf-Bereich, Chitarroni für den Rhythmus, viel Cembalo und Dulzian. – Das Continuo funktioniert im Prinzip wie eine Orgel: Man zieht nach Bedarf das entsprechende Register.« Generell beruht es auf individuellen Entscheidungen, wie ein Charakter oder eine Szene instrumental umgesetzt werden soll. »Dabei darf man aber nicht orthodox vorgehen«, betont Führer. »Das Wichtigste ist, den jeweiligen Affekt zu transportieren. Wir werden zum Beispiel das Duett zwischen Telemaco und Ulisse, eine sehr zarte, intime Begegnung, nicht mit dem ganzen Apparat begleiten.« Reinhard Führer und der Lautenist Hubert Hoffmann waren von Anbeginn in die szenischen Proben integriert. Während die Sängerinnen und Sänger, korrepetiert am Bösendorfer, ihr vokales Miteinander erarbeiteten, sondierte Hubert die möglichen Anwendungsbereiche eines Lauten-Consorts, den er sich ausgedacht hatte, um den Handlungsablauf und die Figuren dramaturgisch zu unterstützen. Als Consort bezeichnet man in der Renaissancemusik ein Ensemble aus mindestens zwei bis fünf oder mehr Instrumenten, wobei die Art des Instruments in der Komposition nicht festgelegt ist. Die Wahl blieb vielmehr den Ausführenden überlassen; oft wurden für das Consort-Spiel ganze Instrumentenfamilien, etwa Gamben oder Flöten, vom Sopran- bis zum Bassregister eingesetzt, aber auch gemischte Besetzungen sind möglich. Für die Continuo-Gruppe des Ulisse hat Hubert Hoffmann ein dreistimmiges Lauten-Consort zusammengestellt. Die große Theorbe, die mit Korpus und Hals ungefähr zwei Meter misst, ist in G gestimmt und hat die Funktion, den Bass zu verstärken, wo sie auch mit virtuosen Läufen auftrumpfen kann; der etwas kürzere Chitarrone steht in A und steuert hauptsächlich die Akkorde bei; die kleinere Erzlaute, wiederum in G, übernimmt die Oberstimme und hat melodische Funktion. Dieses Lauten-Consort, in dem Hoffmann selbst das mittlere Instrument spielt, erklingt stets gemeinsam und bildet mit seiner Fähigkeit zur feinsten dynamischen Differenzierung den akustischen Kontrast zu den Cembali. »Lauten können wirklich laut, aber auch sehr leise sein«, erläutert Hoffmann, »sie sind daher sowohl für dramatische Akzente als auch für die subtile Zeichnung von Situationen einsetzbar, etwa wenn Ulisse an der heimischen Küste erwacht.« Darüber hinaus haben sie eine wichtige dramaturgische Aufgabe: Sie begleiten speziell jene beiden Figuren 47

IM ZEICHEN DER K LA NGR EDE


der Oper, die keine Typen, sondern genau differenzierte Charaktere sind, die im Verlauf der Handlung eine Wandlung erleben und dem Publikum die Identifikation ermöglichen – Penelope und Ulisse. Reinhard hingegen zerbrach sich den Kopf, wie die Bezifferung des Generalbasses möglichst eindrucksvoll zu gestalten wäre. »Damit muss man sehr viel Zeit verbringen, da gibt es sehr viel Freiraum für Inspiration, weil man sich eben kaum an Originalquellen orientieren kann. Man sitzt stundenlang über drei Takten und überlegt, ob da am Schluss ein Dur- oder ein Moll-Akkord stehen soll. Es ist eine richtige Nerd-Arbeit«, sagt er in fröhlichem Ton, der beweist, dass er dabei ganz in seinem Element ist. Mit Monteverdis Ulisse hatte er außerdem schon Erfahrung. Als er bei Jesper Christensen an der Schola Cantorum in Basel sein zweijähriges Masterstudium für Generalbass absolvierte, war er an einer Aufführung am Theater in Luzern beteiligt. »Wir von der Schola waren da als Continuo-Gruppe dabei. Für diese Erfahrung bin ich sehr dankbar, davon zehre ich immer noch. Und ich finde es toll, das Werk jetzt wieder zu spielen.« Führer hat in gleicher Weise auch an den Produktionen von Poppea und Orfeo mitgewirkt. Wie fühlt sich das Musizieren in der Staatsoper an? »Die Distanzen zur Bühne, die wir in dem riesigen Raum beim Hören überbrücken müssen, sind ein Wahnsinn«, beschreibt er das einschüchternde Erlebnis, wenn man von der Probebühne erstmals in den Saal wechselt. Aber das geschulte Ohr verfügt über ungeahnte Möglichkeiten der Imagination. Und sobald sich die Abläufe eingespielt haben, eröffnen sich die schönsten Freiheiten für kreatives Miteinander. »Wir spielen jede Vorstellung ein bissel anders, das machen wir unmittelbar vorher kurzfristig aus, das funktioniert auf Zuruf«, sagt Führer. »Jeder Abend ist ein individuelles Ereignis.«

→ Jörg Schneider als Iro und Robert Bartneck als Eumete

IM ZEICHEN DER K LA NGR EDE

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Il ritorno d’Ulisse in patria, 2. Akt, 13. Szene

AUF ZUM STERBEN, ZUR SCHLACHT, ZUR VERNICHTUNG!


Hans-Thies Lehmann, Theater und Mythos

Buchstäblich umfängt der Wellenschlag des Epos Körper, Menschen, Dinge, Ereignisse und Reden in der Flut des gleichmäßig dahinströmenden Hexameters. In seinem geschichtsphilosophischen Versuch über die Formen der großen Ethik hat Lukács die mythisch-epische Wirklichkeit idealisierend als »selig daseiende Totalität des Lebens« aufgefasst. Nur verkennt diese romantische Projektion, dass die Bruchlosigkeit der homerischen Helden eine Identität des Krieges ist: nicht nur im Sinne des konkreten Schlachtgetümmels, sondern auch wegen der unbefragt hingenommenen Machtordnung eines mythischen Zwanges, der trotz der ästhetischen Erhellung durch Homers Kunst die Struktur eines Wahnsinns erkennen lässt, der aller Ungebrochenheit innewohnt. Der homerische Krieger, dessen Pathos der Ehre ihn leicht zum offenen Wahnsinn treibt, wenn es verletzt ist oder scheint, weist latent schon immer jenen Wahnsinn auf, der in Blutrausch, unmäßiger Rache, Erbarmungslosigkeit und kleinlichem Streit manifest wird. Es ist übrigens wohl diese Raserei des Kriegers, die der mythischen Figur der versteinernden Gorgo das reale Modell lieferte, das sie übersteigert. Das verzerrte Gesicht des schreienden und nach dem blutigen Gemetzel dürstenden Kriegers, der aufgerissene Mund und die erschreckenden, todverkündend blitzenden Augen, das wehende Haar – all dies zeigt an, dass der Kämpfer vom Kriegswahn ergriffen ist, dem μένος. Diese jenseits von Bewusstsein und Individualität unwiderstehliche Besessenheit übt auf den Gegner versteinernde, erschreckende Wirkung aus.


Sándor Márai

PENELOPE ERZÄHLT


Ich wusste, dass er wieder log Um ihn zu erkennen, musste ich nicht die Narbe an seinem Knie sehen. Von dem Augenblick an, in dem er auf die Insel kam, wusste ich, dass er wieder hier war, in greifbarer Nähe. Mit dem Verstand wusste ich es vielleicht nicht, aber mit dem Herzen, dem Bauch, der Haut. Seine Verkleidung, seine Maskerade konnte mich nicht täuschen. Ich lachte über ihn, als er wimmernd den armen Wanderbettler mimte und erzählte, er komme von Kreta, wo er, der Wanderer, Odysseus bewirtet hätte, der gerade auf dem Weg nach Troja war. Wie naiv ein Mann doch ist, sogar ein schlauer und kluger Mann, wenn er zu einer Frau spricht! Vom ersten Augenblick an, als er das Haus betrat, füllte er unser Leben aus. Er traf bei Neumond ein. Eumaios glaubte nicht, dass er noch in diesem Jahr heimkommen konnte, der Herbst war fast schon vorüber, die Zeit der Wintersonnenwende nahte, und das Meer ließ sich nicht mehr gut befahren. Eumaios wagte es nicht einmal mehr, sich bei den Wanderern nach meinem Mann zu erkundigen, seit ihn ein Aitolier einmal irregeführt hatte. Aber ich wusste, in der Neumondnacht, als unsere Hunde ihn verbellten, dass er wieder da war. Alles, was später darüber gesungen und erzählt wurde, ist reine Erfindung. Ich bin nicht zu ihm geeilt, denn ich wartete und gab acht, was für ein Theater er uns wohl vorspielen würde. Demütig und zerlumpt kam er an. Er verstellte sich und schauspielerte. Ich wartete, und mein Herz füllte sich mit Zorn und Angst. Denn niemand in Ithaka zweifelte daran, dass der Lichtbringer morden würde, wenn er einmal heimkäme. Der Seher Theoklymenos, der damals in meinem Hause wohnte, warnte meine Freier vergeblich. Als der freche Bursche Eurymachos den Lichtbringer wegen seiner Kahlköpfigkeit verspottete, die – so sagte es mein Mann später – Athene über ihn gelegt hatte, wusste ich, dass das Theater, das der Heimkehrer uns vorspielte, schrecklich enden würde, so wie die schmetternden Dramen der Griechen. Er verzieh es nie, wenn man über sein Aussehen spottete. Er war sehr eitel. Er war also kahl, als er heimkam. Ich weiß nicht, ob dieser Kahlkopf tatsächlich Athenes Werk war. Im Dunklen streckte ich die Hand aus und betastete unter dem Deckmantel der Zärtlichkeit den Körper meines Mannes. Reglos und stumm duldete er es. Ich streichelte seine Brust, die der bitteren Gischt des Meeres ausgesetzt gewesen war, und dann betastete ich kühn seinen ganzen kahlen Kopf ... Er setzte sich auf der Liege auf. »Ich werde alt«, sagte er kalt und sah mich nicht an. »Aber nein, mein Lieber«, sagte ich. »Du hast nur Haarausfall.« Ich weiß nicht, welch böser Dämon in meinem Busen wohnte, als ich das sagte. Vielleicht hatte sich eines von Hekates oder Proserpinas hundeköpfigen Unterweltscheusalen in meinem Schlafgemach versteckt. In der Nacht von Ulysses’≠ Heimkehr, bei Vollmond, hatte ich vergessen, den Käsefladen als Opfer für Hekate in die Mitte der Straßenkreuzung zu legen, und in den 53

SÁ N DOR M Á R A I


vergangenen Monaten hatte ich Proserpina nicht einen einzigen Hund geopfert. Ich hatte mich überschätzt. Er nahm den dicken, selbst gewebten Nachtumhang um die Schultern und stand auf. »Ich weiß«, sagte er. »Man kann nicht ohne Folgen tage- und nächtelang auf dem Meer treiben, Penelope. Das bittere Wasser schadet den Haarwurzeln.« Er ging zum Tisch, auf dem die Weinkanne und der Mischkrug standen. Jetzt trank er viel mehr als früher. Ich konnte nicht mehr schweigen. Der Dämon bellte in meinem Herzen. Ich beugte mich aus meinem Bett und rief: »Man kann nicht ohne Folgen zwanzig Jahre in der Welt herumstreifen. Das schadet nicht nur den Haarwurzeln.« Mit ruhigen Bewegungen mischte er sich den Wein. Das silberne Mondlicht floss ihm über die Schultern wie ein Mantel. In dem kalten Licht prüfte er die Farbe des Weines. Beiläufig sagte er: »Ich habe gekämpft. Mich rief die Ehre.« Ich wusste, dass er wieder log.

Jetzt war er eifersüchtig »Du hast mich betrogen«, sagte er heiser. Damit hatte ich nicht gerechnet. Vor Schreck versagte mir die Stimme. Ich wollte schreien, aber der Schrei blieb mir in der Kehle stecken. Dass Ulysses eifersüchtig war, überraschte mich. Im ersten Augenblick wollte ich um Hilfe rufen. Vielleicht – so dachte ich – ist er wirklich verrückt geworden ... In diesem Moment sah ich wie im Traum, so wie ein Sterbender die zurückliegenden Ereignisse des vergänglichen Lebens ablaufen sieht, meinen Mann in all seinen Facetten. Ich sah ihn als den jungen Mann, der in Sparta scherzhaft und erhaben einen Wettkampf um Helena und mich bestritt und dann mich heimführte; der die voreingenommene, stolze und verliebte Frau in seine Heimat, das felsige und unwirtliche Ithaka, mitnahm. Ich sah ihn als jungen Ehemann und Hausherrn, der zufrieden unseren kleinen Sohn Telemachos unterrichtete. Ich sah, wie er sich vor Palamedes verstellte, und vielleicht hatte er schon damals – als er den Verrückten spielte – beschlossen, diesen verdächtigen Freund zu verraten, zu betrügen und umbringen zu lassen. Ich sah ihn, wie er den Bogen spannte, den er von Iphitos bekommen hatte, um den Pfeil durch die Ösen der zwölf Äxte zu schießen und dann die Freier zu töten. Ich sah ihn im Traum als Adler, der über zwanzig Gänsen kreist. Ich sah ihn in den Armen fremder Frauen: bei Kalypso und Kirke, bei der lispelnden Nausikaa, bei der verdächtig hilfsbereiten Leukothea und immer, auf ewig, in Sparta bei der schändlichen Helena. Ich sah, wie er mit Leukotheas Rettungsgürtel um den Bauch mit Poseidons wütenden Wellen rang und um sein Leben kämpfte. Ich hörte seine Stimme, wie er log und damit prahlte, er sei der »Bettgenosse der schönsten Frauen« gewesen. Ich sah, wie er im SÁ N DOR M Á R A I

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Bauch des Holzpferdes die Hand ausstreckte, um Menelaos und Antiklos den Mund zuzuhalten, als sie Helena antworten wollten, weil das Weibsbild die Stimmen der fernen Frauen der argeischen Helden so gut nachahmte ... und wie er zusammenfuhr, als Helena meine Stimme imitierte. Ich sah ihn als Krämer, der seinen Gastgebern und Reisegefährten Gold und Silbergeschenke abschwindelte, ich sah ihn als Helden, der mit seinem langen Schwert alles um sich herum furchtlos niedermähte... Als all das und noch vieles mehr sah ich ihn in diesem Augenblick. Das ganze Leben, meinen Mann sah ich. Und es war, als legte sich Nebel auf meine Augen. Ich begriff, dass dieser Mann in Wirklichkeit nur so wahrnehmbar war wie das sich immerfort verändernde Wasserungeheuer Proteus, das manchmal aus den Wassern von Chalkidike aufsteigt, um die Menschen mit seinen ewigen Verwandlungen zu verwirren. Jetzt war er eifersüchtig. Der Mann, über dessen Untreue damals schon auf allen bevölkerten Inseln lange Dichtungen gesungen wurden! Mein Mann, der nach anfänglichem – vorgetäuschtem – Zögern in den Krieg gezogen war, um seine alte Geliebte wiederzuerobern! Der Mann, über dessen frivole Abenteuer und olympschreiende Lügen die Wald- und Wasserwesen in den Höhlen der Nymphen lachend tuschelten! Dieser Mensch, mein Mann, der Städtezerstörer und Lichtbringer, stand nach zwanzig Jahren vor mir, war eifersüchtig und bezichtigte mich der Untreue.

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PEN ELOPE ER ZÄ HLT


Nicolò Minato

AN DEN KÜSSEN SOLLST DU MICH ERKENNEN!

1670 wurde am Wiener Kaiserhof Penelope aufgeführt, ein tragikomisches dreiaktiges ›dramma per musica‹ aus der Feder von Nicolò Minato in einer Vertonung von Antonio Draghi: Der nach zwanzigjähriger Abwesenheit heimgekehrte Odysseus gibt sich seiner Frau Penelope nicht zu erkennen, da er in der Verkleidung als Bettler ihre Treue prüfen will. Als Penelope durch Odysseus’ Diener über dessen wahre Identität informiert wird, beschließt sie, sich für seine grundlose Eifersucht zu rächen. Dafür täuscht sie die Liebe zu einem gewissen Olmiro vor, der in Wahrheit die verkleidete Orisbe ist, die in Männerkleidung nach Ithaka gereist ist, um ihren Verlobten Acrisio zurückzugewinnen; dieser hatte sie verlassen, um Penelope als ein weiterer ihrer zahlreichen Freier den Hof zu machen. Minatos Dichtung wurde auch ins Deutsche übertragen: PENELOPE. Gesungene Vorstellung zu Glorwürdigsten Geburths-Tag Ihrer Mayestät Frawen ELEONORA Verwittibten Römischen Kayserin […] In Sing=Kunst verfasset Von Antonio Draghi / Höchstgedachter Kayserlichen Mayestät Capellmeistern. Da diese Fassung kaum eine Vorstellung von der Eleganz des italienischen Originals vermittelt, haben wir einzelne Passagen für dieses Programmheft neu übersetzt. Minatos Mischung ernster und komischer Elemente weisen ihn als typischen, in der Traditionslinie von Monteverdis venezianischem Spätwerk stehenden Vertreter der Oper des 17. Jahrhunderts aus. N ICOLÒ MINATO

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Ein Platz in der Stadt. PENELOPE

Odysseus, je mehr du wachst, will ich dich träumen lassen! Hast du das Gold meiner Treue noch nicht erkannt, will ich dich durch den von dir gewählten Prüfstein täuschen. Orisbe!

ORISBE

Königin?

PENELOPE

Ich habe dich erwählt, mit mir gemeinsam dem Bollwerk eines erfindungsreichen Lügners zu widerstehen. Da alle dich für einen Fürsten und meinen Geliebten halten, will ich zum Schein das Band einer vorgetäuschten Hochzeit mit dir knüpfen. Höre denn auf den süßen Namen Gatte!

ORISBE

(So wird Acrisio die Hoffnung auf Penelopes Genuss verlieren.)

PENELOPE

(Odysseus will mich ausspionieren – so soll er fündig werden!)

Penelopes Vater Icario erscheint. PENELOPE

(Mein Vater kommt im rechten Augenblick.)

ICARIO

Der Tag meines Todes ist nicht mehr fern. Tochter, ich fürchte, dass es meine Ruhe im Elysium stören könnte, ließe ich dich ohne Gatten zurück.

PENELOPE

Herr, nicht länger darf ich zögern, deinem starken Wunsch zu entsprechen.

Penelope fasst Orisbe an der Hand, während Odysseus auftritt. Penelope sieht ihn und sagt: PENELOPE

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(Odysseus hier!) A N DEN K ÜS SEN SOLLST DU MICH ER K EN N EN!


ODYSSEUS

(Was sehe ich!)

PENELOPE

(Er kommt zur rechten Zeit.) Olmiro habe ich zu meinem Gatten erwählt.

ICARIO

Wie mich das freut!

ODYSSEUS

(Du Treulose!)

ICARIO

zu Olmiro [alias Olisbe] Ich umarme dich als meinen Sohn.

ORISBE

Und ich verneige mich vor dir als meinem Vater.

ODYSSEUS

tritt hervor Odysseus diese Schmach!

PENELOPE

Welchem Odysseus? Lasst uns gehen. Odysseus starb!

Sie gehen ab, Odysseus bleibt verwirrt zurück. ODYSSEUS

O weh! Wenn ich nicht umfalle, erneuern die Götter die veralteten antiken Metamorphosen und verwandeln – oje! – mein Herz in Stein.

(2. Akt, 11. Szene)

N ICOLÒ MINATO

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Ein Lustort. PENELOPE

Nicht immer bist du schändlich, o Betrug! Deine Täuschungen können unschuldig sein, und du kannst Kleider tragen, die auch der Tugend wohl anstehen. (Hier kommt Odysseus – zur Rache, Herz!)

ODYSSEUS

Penelope!

PENELOPE

Du hier? Was willst du?

ODYSSEUS

Hat dir die Liebe mein Bild so schwach ins Herz geprägt, dass du mich nicht mehr kennst?

PENELOPE

Was faselst du?

ODYSSEUS

Und obwohl ich noch am Leben bin, wendest du dich andern Liebschaften zu, bereitest dich zu neuer Hochzeit? Ich bin Odysseus.

PENELOPE

Welchen Irrsinn denkst du dir aus?

Sie tut, als wolle sie gehen, er hält sie zurück.

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ODYSSEUS

So empfängst du den Gatten?

PENELOPE

Die Sense des grausamen Tods hat ihn dahingerafft.

ODYSSEUS

Das ist nicht wahr. Ich bin es, sage ich dir!

PENELOPE

Ach Unsinn, mein Gatte ist ein König, kein Bettler.

ODYSSEUS

Ich erfand diese List, um besser zu erkunden, ob ich betrogen bin.

PENELOPE

Odysseus käme ohne List.

A N DEN K ÜS SEN SOLLST DU MICH ER K EN N EN!


ODYSSEUS

Wurden die Spuren meiner ehemaligen Züge von den Jahren so verwischt, dass du mich nicht mehr kennst, meine Augen und meine Rede nicht wiedererkennst und auch meinen wahrhaftigen Worten nicht glaubst, sollst du an den Küssen mich erkennen!

Er will sie küssen, sie verjagt ihn. PENELOPE

Zurück! Ich bin Olmiros Gattin.

ODYSSEUS

Stur beharrst du auf deinem vorgefassten Irrtum.

PENELOPE

(Ertrage deinen Schaden!)

ODYSSEUS

Du missbrauchst meine Geduld. Ich bin Odysseus.

PENELOPE

Du bist verrückt.

Sie will sich erneut entfernen, er hält sie zurück. ODYSSEUS

Halt, wohin eilst du?

PENELOPE

In Olmiros süße Umarmungen.

(3. Akt, 1. Szene)

→ Georg Nigl als Ulisse und Helene Schneiderman als Ericlea

A N DEN K ÜS SEN SOLLST DU MICH ER K EN N EN!

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Margaret Atwood

EURYKLEIA

Aus dem Roman »Penelope und die zwölf Mägde«


Die Überfahrt nach Ithaka war langwierig und, soweit es mich betraf, mit Angst und Übelkeit verbunden. Ich lag die meiste Zeit unter Deck und kotzte. Irgendwann liefen wir dann in den kleinen, von hohen Klippen umsäumten Hafen von Ithaka ein. Offenbar hatte man Aussichtsposten aufgestellt, die das Schiff schon frühzeitig ausgemacht und Signalfeuer entzündet hatten, jedenfalls war bei unserer Ankunft der Hafen voller Menschen. Hier und da wurden Hochrufe laut, aber hauptsächlich wurde gedrängelt. Alle wollten sehen, wie das Edelfräulein vom Festland aussah, das nun zusammen mit der anderen Beute angelandet wurde und vom Erfolg der Mission kündete. Am selben Abend gab es ein großes Fest für den örtlichen Adel. Meine Anwesenheit war Pflicht, und ich trug einen glänzenden Schleier und das beste Festtagsgewand, das ich im Koffer hatte. Auch bei diesem Auftritt wich mir eine Magd nicht von der Seite. Die Magd war ein Hochzeitsgeschenk meines Vaters, hieß Aktoris und war alles andere als glücklich über ihre Versetzung. Nicht nur wegen der Annehmlichkeiten des Spartanerhofs, sondern auch weil sie in der neuen Hauswirtschaft niemanden kannte. Aktoris war schon alt, nicht einmal mein Vater war so dumm, mir ein blühendes Mädchen an die Seite zu geben, das leicht zur Rivalin um Odysseus’ Gunst werden konnte, wenn es nächtens unser Ehegemach bewachte. Nach Aktoris’ baldigem Tod war ich in Ithaka völlig auf mich allein gestellt, eine Fremde unter Fremden. In der Anfangszeit heulte ich viel, aber nur heimlich, da ich mich Odysseus gegenüber nicht undankbar zeigen wollte. Er selbst war so aufmerksam und besonnen wie immer, auch wenn er mich eher wie ein Kind behandelte. Ich merkte genau, wie er mich, in seiner üblichen Haltung, aus dem Hintergrund beobachtete, die Hand am Kinn, den Kopf zur Seite gelegt. Aber das machte er, wie ich bald feststellte, mit allen. Ithaka war alles andere als ein Paradies. Meistens war es windig, regnerisch und kalt. Auch die sogenannte bessere Gesellschaft machte, verglichen mit dem, was ich aus Sparta kannte, eher einen poveren Eindruck. Das galt auch für unseren Palast. Weiß Gott, es gab Platz genug, aber prächtig ist etwas anderes. Woran auf der Insel kein Mangel herrschte, waren Steine und Ziegen, aber das hatten sie mir ja schon in Sparta prophezeit. Daneben gab es auch Kühe, Schafe und Schweine. Und Getreide für die Brotherstellung, manchmal auch Äpfel, Birnen und Feigen, je nach Saison, sodass wir eigentlich mit allem versorgt waren. Schon bald gewöhnte ich mich an die neuen Zustände, zumal als Gattin des Ersten Mannes dort. Tatsächlich war Odysseus in der gesamten Region weithin geachtet, und täglich suchten uns Leute auf, die seinen Rat oder seine Hilfe benötigten. Sogar mit Schiffen reisten sie an, denn Odysseus stand in dem Ruf, selbst in komplizierten Fällen noch eine Lösung zu finden – und wenn sie darin bestand, die ganze Situation noch weiter zu verkomplizieren. Sein Vater Laertes und seine Mutter Antikleia wohnten damals ebenfalls im Palast. Antikleia starb erst nach dem Krieg, zermürbt vom Warten auf ihren Sohn und zerfressen, wie ich vermute, von ihrer eigenen Galle. Sein 63

M A RGA R ET AT WOOD


Vater sollte später an den verwaisten Hallen irre werden, zog um in eine Bauernhütte und bestrafte sich mit harter Feldarbeit, aber da war Odysseus schon seit Jahren verschollen. Vorerst jedoch deutete nichts darauf hin, dass es jemals so kommen würde. Meine Schwiegermutter war eine äußerst umsichtige Frau – und ein biestiger Drachen und voller Ablehnung, auch wenn sie mich offiziell willkommen hieß. Ihrer Meinung nach war ich zu jung. Worauf Odysseus trocken bemerkte, meine Jugend sei in der Tat ein Makel, den erst die Zeit ausradieren würde. Die größten Probleme bereitete mir jedoch Odysseus’ ehemalige Amme Eurykleia. Sie genoss überall nur den größten Respekt, behauptete sie, und zwar wegen ihrer fleckenlosen Zuverlässigkeit. Tatsächlich war sie die Dienstälteste unter dem Gesinde. Einst als junge Sklavin von Odysseus’ Vater gekauft und gleichwohl von diesem nie beschlafen, worauf sie immer noch stolz war. »Man stelle sich vor«, gluckste sie. »So ein blutjunges Ding wie ich, und dann passiert... gar nichts. Und ich war schön damals.« Die Mägde wussten es besser, meinten, Laertes habe nur aus Angst vor seiner Frau die Finger von ihr gelassen. Eine sagte: »Die Hexe hätte ihm die Hölle heißgemacht, dagegen wären die Hallen des Sonnengottes ein schattiges Plätzchen.« Ich weiß, dass ich ihr diese Frechheit nicht hätte durchgehen lassen dürfen, aber ich musste selbst lachen. Eurykleia machte ein großes Gewese darum, mich überall herumzuführen und mich in die, wie sie es nannte, »Hausordnung« einzuweihen. Dafür hätte ich ihr dankbar sein müssen, weit über ein paar gemurmelte Floskeln hinaus, denn nichts ist peinlicher als die Unkenntnis jener vielen kleinen Regeln, nach denen das Leben in deiner Umgebung abläuft. Beispiele: Soll man beim Lachen den Mund bedecken, ja oder nein? Bei welchen Gelegenheiten muss Schleier getragen werden, und was genau darf dabei zu sehen sein? Oder: Wie oft darf man sich ein heißes Bad bestellen? Egal welche Frage, Eurykleia wusste über kleinste Details Bescheid, was ein Glück war, denn eigentlich wäre das die Aufgabe meiner Schwiegermutter gewesen. Aber die lauerte lieber im Hintergrund und verfolgte mit säuerlichem Mund, wie ich mich zum Narren machte. Einerseits war sie nicht unzufrieden, dass ihr Sohn einen so fetten Fisch an Land gezogen hatte, andererseits hätte sie es lieber gesehen, wenn ich mich auf der Überfahrt totgekotzt hätte, wodurch zwar ein Haufen Brautgeschenke nach Ithaka gekommen wäre, aber eben ohne die Braut als lästige Dreingabe. Ihr meistgebrauchter Satz mir gegenüber lautete daher: »Du siehst mir heute aber gar nicht gut aus.« Ich mied sie so weit möglich und hielt mich lieber an Eurykleia, die wenigstens freundlich war. Von ihr erhielt ich auch einen umfassenden Bericht über sämtliche Adelsgeschlechter auf der Insel. Informationen über Skandale und Fehltritte, die mir später noch sehr nützlich sein sollten. Eurykleia redete in einem fort, nicht zuletzt über Odysseus. Sie war wohl die einzig wahre Odysseus-Expertin auf der Welt und wusste alles über ihn. M A RGA R ET AT WOOD

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Was er mochte und was nicht und wie man ihn zu nehmen hatte. Immerhin war sie seine Amme gewesen, hatte ihn an der eigenen Brust gesäugt und durch sämtliche Trotz- und Flegelphasen begleitet. Nur sie durfte ihn baden, ihm die Haut ölen, das Frühstück bereiten. Nur ihr vertraute er seine Wertgegenstände an, und was er am Leib trug, da konnte man sicher sein, hatte sie ihm abends zuvor herausgelegt. Und so weiter und so weiter. So gesehen hatte ich gar nichts zu tun, nicht einmal kleine Handreichungen, frauliche Liebesbeweise, wie es heißt, Zeichen der Intimität, nichts war mir erlaubt. Versuchte ich es doch, war es garantiert wieder verkehrt, wieder daneben. Nicht einmal die Gewänder, die ich für ihn webte, waren gut genug. Entweder zu leicht oder zu schwer, zu fest oder zu locker. »So etwas kannst du dem Haushofmeister anbieten«, hörte ich dann von Eurykleia, »aber bestimmt nicht Odysseus«. Trotzdem kann man nicht sagen, dass sie sich nicht um mich bemühte. »Zuerst einmal«, erklärte sie, »müssen wir zusehen, dass du ein paar Pfund auf die Knochen kriegst, sonst wird das nie was mit dem Sohn für Odysseus. Das ist übrigens deine erste und einzige Aufgabe, alles andere überlass mir.« Da sie mir in Verfolgung dieses Ziels praktisch nie von der Seite wich, hatte ich (neben Odysseus, versteht sich) wenigstens jemanden zum Reden – und fand mich irgendwann mit ihr ab. Der Ehrlichkeit halber sei gesagt, dass ich ohne sie die Geburt meines ersten Kindes kaum überstanden hätte. Sie war es, die zu Artemis betete, als ich vor Schmerzen kein klares Wort mehr hervorbrachte. Sie hielt mir die Hand, wischte mir den Schweiß von der Stirn und versicherte mir ein ums andere Mal, dass sie von nichts so viel verstünde wie von Babys. Und tatsächlich, mein Sohn, Telemachos, glitt in ihre Arme, und sie wusch und wickelte ihn, als machte sie das jeden Tag. Und natürlich redete sie mit ihm in jenem speziellen Kauderwelsch, zu dem ich nicht fähig war, etwa wenn er frisch gebadet aus der Wanne kam. »Eidideidi-Gutzidutzi ...«, so ging es in einem fort, »Eidideidi-Gutzidutzi ...« Der Gedanke, dass mein Gemahl, der allseits gefragte, seriöse, wortgewandte Odysseus, ein gewichtiger Mann mit sonorer Stimme, einst demselben Gebrabbel ausgesetzt war, beunruhigte mich tief. Alles in allem aber fand ich an ihrer Pflege nichts auszusetzen. Ihre Freude an diesem Kind war grenzenlos. Fast hätte man denken können, es sei ihres. Odysseus, wie kaum anders zu erwarten, war hochzufrieden mit mir. »Helena hat jedenfalls noch keinen Stammhalter geliefert«, konstatierte er, was mich eigentlich mit Stolz hätte erfüllen müssen. Tat es auch. Gleichzeitig war da dieser nagende Zweifel. Offenbar ging ihm Helena nicht aus dem Sinn. Würde sie das jemals?

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EU RY K LEI A




Sergio Morabito

ÜBERREST DER ASCHE, ABFALL DES STERBENS

Aspekte von Monteverdis Odysseus-Oper

↑ Vorige Seiten: Isabel Signoret als Minerva, Georg Nigl als Ulisse und Anna Bondarenko als Giunone


Wer ist Odysseus? Vom »ritorno d’Ulisse in patria« – von der Rückkehr, der Wiederkehr, der Heimkehr des Odysseus erzählt das Stück, beginnend mit seiner ihm unbewussten Ankunft auf Ithaka, die im Schlaf geschieht, ermöglicht durch das freundliche Gastvolk der Phäaken – bei Homer ein rätselhaftes, in einem entrückten Jenseits angesiedeltes Volk, an dem in der Oper ein groteskes göttliches Strafgericht vollzogen wird –, bis zu dem Moment, an dem Odysseus sich nach Täuschungen, Wiederbegegnungen und blutigen Kämpfen seiner Frau Penelope zu erkennen gibt und diese unfassbar lange zögert, den ihr in zwanzig Jahren Abwesenheit fremd Gewordenen wieder(an)zuerkennen. Der titelgebende »ritorno in patria« umschreibt in drei Worten den altgriechischen Begriff des »nostos«, der »Heimkehr«: Unter ihm wurden bereits in der Literaturdiskussion der Antike die Gesänge 13 bis 23 von Homers Odyssee zusammengefasst, die von der eigentlichen Heimkehr des Trojakämpfers und Irrfahrers berichten. Als Wortbestandteil in »Nostalgie« ist der Begriff noch als Element unserer Alltagssprache wirksam. Unter der Mehrzahl von »nostos«, den »nostoi«, verstand man die von Seefahrern erzählten Märchen: Seemannsgarn. Wir entfernen uns mit dieser Zweitbedeutung gar nicht vom homerischen Epos, welches auch und besonders in der Schilderung der Irrfahrten eine Vielzahl fantastischer Märchenmotive und -gestalten aufbietet. Und so stellt sich die Frage: Wieviel ist wahr von dem, was der »Listenreiche« und vielleicht nur angeblich Schiffbrüchige, Flüchtige, Verschleppte, der im doppelten Wortsinn also: Verschlagene zu erzählen weiß? »Selbsterhaltung ist Selbstverleugnung«, so lautet die Quintessenz von Adorno/ Horkheimers Lektüre der Odyssee, dieses »Grundtextes der europäischen Zivilisation«, in ihrer Dialektik der Aufklärung.1 Indem er seinen Namen mit »Niemand« angibt, überlistet Odysseus den Menschenfresser Polyphem: Der wendet sich, als Odysseus ihm sein eines Auge ausgebrannt hat, mit dem Hilfeschrei »Niemand hat mir ein Leid getan!« vergeblich an sein Zyklopenvolk. Dafür wird Polyphems Vater, der Meeresgott Neptun, den Odysseus mit unerbittlichem Hass verfolgen. Und mit jeder bestandenen Etappe im Überlebenskampf wird die Identität des Seeschäumers inhaltsleerer und brüchiger. Tatsächlich und anders als vermeint wird Odysseus zu einem »Niemand«: Bei Bertolt Brecht spielt er als Herr Keuner (= Keiner) eine schwer zu fassende Rolle, und in James Joyces Ulysses lässt er sich als Anzeigenakquisiteur Leopold Bloom durch Dublin treiben. Aber lassen wir uns nicht täuschen: Die Entmythologisierung von Homers Epos ist kein Phänomen der Moderne. Gerade zur Entstehungszeit der 1640 erstaufgeführten Oper war die literarische Form des homerischen Epos nicht weniger als der Heldenstatus seines Protagonisten teilweise heftig und grundlegend in die Kritik geraten. Eine Kritik, die an antike Autoren anknüpfen konnte, die den Herrscher von Ithaka als listigen Betrüger (Pindar) und neidischen Schurken (Gorgias), feigen Ränkeschmied (Sophokles) oder grausamen Macht 69

SERGIO MOR A BITO


politiker (Vergil) in Verruf gebracht hatten. Im Mittelalter sah man Odysseus als klug, aber unedel an, und seine Irrfahrten galten in diesem Verständnis als Strafe eines ruhelos umhergetriebenen Mörders. Den Höhepunkt der Abwertung bildete schließlich die Höllenstrafe, die Odysseus in Dantes Inferno ereilt.2 Unter den Gelehrten der Renaissance mehrten sich die Stimmen derer, die auch den Dichter der Odyssee nicht mehr kritiklos anerkannten. Dabei spielte die Identifikation mit der eigenen Nationalkultur, die sich auf die Konstruktion einer trojanisch-römischen Traditionslinie berief, gewiss ebenso eine Rolle wie poetologische Kriterien: vor allem die mangelnde Einheit der Handlung der beiden Homer zugeschriebenen Epen war dabei Stein des Anstoßes.3

Die Klage der Königin Wenden wir uns dem großen Monolog der in Ithaka auf die Rückkehr ihres Mannes wartenden Penelope zu, der – im Anschluss an einen allegorischen Prolog – das von dem Dichter Giacomo Badoaro verfasste Stück eröffnet. Die Akteurin stellt die Tirade gleichsam unter eine objektivierende Überschrift: »Di misera regina / non terminati mai dolenti affani.« (»Einer unglücklichen Königin / niemals endende schmerzliche Qualen.«4) Zwei weitere Verse genügen, um die Situation zu umreißen: »Der Erwartete trifft nicht ein / und zugleich fliehen die Jahre.« Und Penelope fährt fort: »Die Reihe der Leiden ist lang, ach, allzu lang; / die Zeit hinkt für denjenigen, der in Ängsten lebt.« Die Zeit – il Tempo – ist eine der drei Allegorien, die im Prolog die »fragilità humana«, die »menschliche Zerbrechlichkeit« bedrängt hatten. Dort hatte sich die Zeit mit den Worten »chè se ben zoppo / ho l’ali« (»wenn ich auch hinke / habe ich doch Flügel«) selbst charakterisiert: ein Oxymoron, in das die paradox-qualvolle Situation der schleppend-endlos und doch widerstandslos verrinnenden Zeit gefasst ist. Mit den nächsten vier Versen ihres Monologs sagt die Königin sich von der »trügerischen Hoffnung« los, um dann die zwanzigjährige Vorgeschichte des Stückes zu rekapitulieren, in deren Zeit-Raum sie sich gebannt fühlt: »Vier mal fünf Jahre ist es her, / dass an jenem denkwürdigen Tag / der übermütige Trojaner / seine Heimat ins Verderben rief.« Mit dem »übermütigen Trojaner« ist der trojanische Prinz Paris gemeint, der mit Entführung der Frau des griechischen Königs Menelaos, der schönen Helena, jenen Bündnisfall auslöste, der die Griechenfürsten verpflichtete, mit einer Flotte gen Troja auszurücken und die Stadt mit Krieg zu überziehen. Penelope vermeidet es hier wie im gesamten Stück, die Namen des ehebrecherischen Paares auszusprechen. Es ist kein Zufall, dass ihr die Namen »Paride« und »Helena« nicht über die Lippen kommen: Er ist für sie nur »il superbo troiano«, sie ist »la profuga greca« – »die flüchtige Griechin«. Man sollte in ihrer Gegenwart diese beiden Namen nicht aussprechen – was freilich das Erste sein wird, was ihr Sohn Telemaco, aus Sparta zurückgekehrt, wo er Helenas ansichtig wurde, zu Beginn des zweiten Teiles der SERGIO MOR A BITO

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Oper tut. Und nicht nur das: Er peinigt seine Mutter durch eine hingerissene Liebeserklärung an jene Frau, die durch ihren Ehebruch auch ihre, Penelopes Ehe und letztlich einen großen Teil ihres Lebens zerstört hat. Telemaco solidarisiert sich mit Paris, um in einer erstaunlichen Hyperbel alle »Kolleratalschäden« von Paris’ Liebe – sprich: den trojanischen Krieg und damit auch das Leid seiner Mutter – durch die Schönheit Helenas mehr als gerechtfertigt zu sehen. Penelope beginnt, mit ihrem abwesenden Ehemann zu hadern: Ja, es war gerecht und richtig, die frevlerische Liebe von Paris und Helena als »delitto di fiamme« – »verbrecherische Flamme« – durch die Einäscherung Troias zu ahnden; »doch du, der dich rühmst, den Ehebruch zu strafen, / lässt dabei die eigene keusche Gemahlin im Stich. / Jede Abreise erwartet die ersehnte Rückkehr, / du allein hast den Tag deiner Rückkehr versäumt.« Hier deklamiert Penelope den später wiederholten Vers »Tu sol del tuo tornar perdesti il giorno« als schmerz- und vorwurfsvoll drängende, chromatisch aufsteigende Linie. »tornare« – wiederkehren, zurückkehren – damit ist das semantische, der Oper ihren Titel gebende Wortfeld erreicht. Penelope wird es bis zum Ende des Monologs nicht mehr verlassen. Es folgt die Zäsur einer Ergebenheitsadresse, mit der sich Odysseus’ alte Amme beim Namen ruft: »Unglückliche Ericlea, / trostlose Amme, / bemitleide den Schmerz der geliebten Königin.« Dies ist die erste ihrer beiden kurzen Repliken, mit denen sie sich in Penelopes Monolog einschaltet und von denen offenbleibt, ob sie von der Königin überhaupt bemerkt werden. Nach »il Tempo« – der Zeit – ruft Penelope mit Fortuna nun eine weitere der drei Allegorien an, denen die »menschliche Zerbrechlichkeit« im Prolog ausgeliefert war, die Göttin des Zufalls: Hat sie ihr »unbeständiges Rad« gegen einen festen Sitz vertauscht oder ist ihr vom sich stets drehenden Wind geblähter Schleier nur für Penelope erschlafft? Nur die Liebe – neben Zeit und Fortuna die dritte Schicksalsmacht des Prologs –, nur Amore wird Penelope in ihrem Monolog nicht anrufen. Sie spricht von der Liebe nicht als Allegorie, sondern schlicht als Verbrechen. Später wird sie den geflügelten Amorknaben als »idol vano«, »eitles Götzenbild« schmähen, dessen »Unbeständigkeit es ja nicht an Federn« mangele. Penelopes Zurückweisung der Freier geschieht in der Oper weniger aus Treue zu Odysseus oder weil sie unempfindlich wäre für deren Werbung, sondern aufgrund ihrer Verwundung durch die Liebe zu ihm, aus Angst, in ihrer Liebe wieder verletzt, wieder enttäuscht, wieder betrogen zu werden; auch dies eine bedeutsame Verschiebung, die die Autoren in der motivierenden Deutung ihres Verhaltens vornahmen.

Zeit des Subjekts »Ich verteidige dich«, sagt Penelope in ihrem imaginären Gespräch mit Odysseus, »ich klage das Fatum an, um dich zu entlasten«, aber dabei wird deutlich: Diese Verteidigungsrede ist die bitterste aller Anklagen. Gerahmt wird 71

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ihr Plädoyer von dem Vers torna, deh torna Ulisse, »kehre, ach kehre zurück, Odysseus«. Ericlea greift nun das Wort tornare auf, und meint, »ein Scheiden ohne Rückkehr kann gewiss kein Stern bestimmen«. Woraufhin Penelopes gesteigerte rezitativische Deklamation sich erstmals in Gesang löst, und damit scheint sie nun doch auf das Stichwort ihrer alten Dienerin zu reagieren, die ihr vielleicht das nun folgende Lied in Erinnerung rufen wollte: »Die Stille kehrt zum Meer zurück / und der Zephir zur Flur, / sanft lädt die Morgenröte die Sonne ein / zur Rückkehr des Tages, der zuvor schied…« Das Liedchen reiht weitere Naturgleichnisse an, das wiederkehrende Gras und die in den Ozean zurückfließenden Flüsse, ehe seine Melodie versiegt und Penelope, indem sie weiterspricht, auch die in den Himmel auffahrende Seele eines Verstorbenen als Heimkehrerin nach kurzer Erdenfrist bezeichnet, was zur insistenten Wiederholung des Vorwurfs führt »tu sol del tuo tornar, tu sol del tuo tornar perdesti il giorno«. Hans-Thies Lehmann, der wirkungsmächtigste Theaterdenker der vergangenen Dekaden, hat in seiner Studie Theater und Mythos aufgezeigt, dass die antiken Tragödien die mythische Überlieferung nicht einfach szenisch nacherzählen, geschweige denn diese »weltanschaulich« beglaubigen oder gar rechtfertigen. Durch die Freistellung menschlicher Einzelstimmen und die Herauslösung menschlicher Körper aus dem Fluss der auktorialen epischen Erzählung stellt die Tragödie den Mythos vielmehr grundlegend in Frage: In und gegen die überwölbende und sinnstiftende Zeit des Mythos wird so »die punktuelle Perspektive des Menschen eingeführt«.5 Galt »für die Welt Homers«, »dass die Zeit des Menschen in die Zeit der Götter eingeschrieben« war, so führte das Theater der Tragödie »eine neue, ganz am Körper orientierte Zeit des Subjekts ein.«6 Diese »Zeiterfahrung des Individuums […] steht im Kontrast zur Vorstellung der zyklischen Zeit des Mythos, der wiederkehrenden Zeit des Kosmos, der Jahreszeiten, der Feste.«7 Diese irreversible Zeit des Subjekts weist auf den Tod: »Kehre zurück, denn während du / meinen bitteren Schmerz grausam verlängerst / sehe ich die Stunde meines Todes nahen.« Mit diesen Worten beschließt Penelope ihren Monolog. Homers mythischer Kosmos ist bereits zu Beginn von Badoaros und Monteverdis Oper ein durch Ulisses Fernbleiben unwiderruflich zerbrochener.

Die Götter des Ulisse Der Frage der homerischen Götter auf dem Theater hat sich Hegel in seiner Ästhetik8 nur indirekt und mit äußerster Vorsicht genähert. Bereits für das Epos selbst umreißt Hegel das Zusammenspiel menschlicher und göttlicher Antriebe als heikle Balance: »Einerseits ist der Inhalt der Götter das Eigentum, die individuelle Leidenschaft, der Beschluss und der Wille des Menschen; auf der anderen Seite aber werden die Götter als an und für sich seiende, von dem SERGIO MOR A BITO

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einzelnen Subjekt nicht nur unabhängige, sondern als die dasselbe antreibenden und bestimmenden Gewalten aufgefasst und herausgehoben. […] Hierdurch erscheint sowohl die freie Selbständigkeit der Götter als auch die Freiheit der handelnden Individuen gefährdet. Hauptsächlich, wenn den Göttern die befehlende Macht zugeteilt wird, leidet darunter die menschliche Selbständigkeit, welche wir doch für das Ideale der Kunst als durchaus wesentliche Forderung aufgestellt haben. […] Denn der Gott befiehlt, und der Mensch hat nur zu gehorchen. Von der Äußerlichkeit der Götter und Menschen gegeneinander haben selbst große Dichter sich nicht freizuhalten vermocht.« Als Beispiel führt Hegel Sophokles’ Tragödie Philoktetes an, in der nur äußerer, durch den als Deus ex machina auftretenden Herakles ausgeübter Druck es ist, der den Titelhelden nötigt, sich dem trojanischen Krieg wieder anzuschließen. Eine »Art der Darstellung«, so Hegel, »durch welche die Götter zu toten Maschinen und die Individuen zu bloßen Instrumenten einer ihnen fremden Willkür werden«. Interessant ist seine Folgerung, dem »Epischen« könne aber »eine solche Darstellungsart […] weit eher erlaubt bleiben als dem Dramatischen, da im Epischen die Seite der Innerlichkeit […] zurücktritt und der Äußerlichkeit überhaupt einen breiteren Spielraum lässt«. Hegel thematisiert hier die theatrale Formgestaltung im Unterschied zur epischen, jenen Bruch also, der sich zuträgt, wenn die Heldensage »aus dem Kontinuum der Erzählung gerissen und auf die Bühne versetzt wird«9: Im homerischen Epos geht der Mensch in der Äußerlichkeit seines Handelns auf, erst in der Tragödie erfährt sich das menschliche Subjekt – Hegels »Seite der Innerlichkeit« – als und im Widerspruch zum mythischen Erzählzusammenhang. Die theatrale Szene verzerrt und zerreißt die epische Einheit göttlichen und menschlichen Tuns, denn auf ihr stehen sich Gott und Mensch immer schon als Antagonisten gegenüber. Bereits in den Stücken des Aischylos wird »das Bewusstsein, dass die Götter sich der Menschen wie Instrumente bedienen, mehr als einmal direkt ausgesprochen«. Spätestens mit Euripides sind sie »zur Verkörperung von Neid, Hass, Missgunst und Grausamkeit« geworden. Und »wenn im Epos die Größe der Helden an die Götter streifte, so stellt das Theater den unerbittlichen Abstand von Henker und Opfer aus«.10 Gewiss unternimmt es Monteverdis und Badoaros Oper, diese Kluft zwischen dem entrückten Kosmos der epischen Dichtung und dem Theater der Neuzeit durch die barocke Ästhetik des Wunderbaren dekorativ zu überbrücken und zu entschärfen; so bei den teils durch einfache Abgänge, teils durch Versenkungsfahrten unter Blitz und Donner bewerkstelligten Verwandlungen des Titelhelden in einen alten Bettler und zurück in seine angeblich wahre Gestalt. Andererseits und zugleich erhöht sie dadurch die Preisgabe ihres Helden an die Mechanik »toter Maschinen«. Man vergleiche nur die »knechtische« Reaktion des Protagonisten nach der machtvollen Tirade der Befehlsausgabe der Minerva »in abito maestro« (»im Haupt- oder 73

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Herrinnen-Kostüm«) in der 9. Szene des zweiten Aktes: »Immer ist blind der Sterbliche. Und noch blinder muss er sein / wenn er dem göttlichen Befehl ergeben Folge leistet.«11 Die Götterszenen des Ritorno können als Stationen einer Reconquista gelesen werden. Beklagt sich in I, 5 Nettuno bei Giove über die menschliche Freiheit (»l’humana libertade«), die sich dreist gegen Götterund Schicksalsgewalten auflehne, so bauen die Olympier den Heimkehrer Ulisse zum »campion celeste«12 auf, zum himmlischen oder göttlichen Sieger, der die »humanità soggetta«13, die unterworfene Menschheit zum Dienst am Glauben zurückführt. Während an den gottlosen Phäaken das Exempel statuiert wird, dass »die menschliche Reise gegen den Willen der Götter keine Rückkehr kennt«14, liefert Ulisse den Beweis, dass »nicht untergehen kann, wer das Geleit des Himmels hat«15. Badoaros Libretto unterfüttern sehr unantike sprachliche Begriffe und Gesten der Devotion16, in denen den heidnischen Göttern sogar die eigentlich dem christlichen Gott vorbehaltene Ehre der Großschreibung zuteilwird. Nicht ausgeschlossen werden kann, dass die durchaus ironische Zeichnung der Göttergestalten eine subversive Kritik am Machtanspruch christlicher Orthodoxie impliziert: Badoaro war ein Mitglied der freigeistigen Accademia degli Incogniti, Monteverdi geriet sogar ins Visier der Inquisition, deren Vertreter – wie die entthronten Götter des Euripides – »zwar noch Macht, aber keine Erhabenheit mehr besitzen«.17

Der Prolog Zu den großen ungelösten Fragezeichen der Überlieferung von Badoaro/Monteverdis Odysseus-Oper zählt der Prolog. Denn der Text der in der Wiener Partiturabschrift enthaltenen Eröffnungsszene findet sich in keiner einzigen der zwölf bisher nachgewiesenen Librettoabschriften. In den literarischen Quellen tritt das Schicksal (Il Fato) auf, im Verbund mit Stärke (La Fortezza) und Vorsicht (La Prudenza). »Den Lauf der dunklen Geheimnisse des Himmels regele ich nach meinem Willen«, sagt das Schicksal, Fortezza und Prudenza sekundieren mit den Worten: »Stärke wappnet sich umsonst zum Sieg, / zum Sieg ist menschliche Vorsicht zu zerbrechlich. / Stärke, Geist, Tapferkeit gelten wenig, / denn wenn das Schicksal feindlich gesinnt ist, ist alles eitel.« Worauf das Schicksal den »Sterblichen« – also dem versammelten Publikum – ankündigt: »Heute sollt ihr sehen, wie der starke Ulisse / Risiken und Gefahren überwindet, / die weise Göttin [= Minerva] ihn mit ihrem Rat / in meinem Sinne unterstützt, / sein Vaterland und seine Frau zuletzt frohlocken, / die ungerechten Freier ihres Lebens beraubt werden, / Neptun sich besänftigt und die [den Tod der Freier rächen wollenden] Achäer durch Furcht gebannt werden.« – Das Ganze akklamiert von Fortezza und Prudenza als »Werk des Schicksals, das jeden Knoten löst«.18 Die einzig erhaltene musikalische Quelle wählt eine gänzlich andere SERGIO MOR A BITO

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Perspektive auf die nachfolgende Handlung. Nicht mehr dem starken, mit der Schicksalsmacht verbündeten männlichen Helden gilt ihre Aufmerksamkeit, sondern der »menschlichen Zerbrechlichkeit«, der »humana fragilità«, die »schon von einem Hauch niedergeworfen wird«, in ihrem Preisgegebensein an Zeit, Zufall und Liebe. Die Theaterpraxis hat mit unterschiedlichen Besetzungslösungen der »humana fragilità« experimentiert: In der Frühphase der szenischen Wiederentdeckung im 20. Jahrhundert wurde sie mit Ulisse identifiziert (was angesichts der dann oft folgenden inszenatorischen »Heldenverklärung« merkwürdig berührt), später auch mit Penelope (was nachvollziehbar erscheint). Meist wurde und wird die allegorische Figur unabhängig besetzt, wie in der Regel auch ihre Peiniger Tempo, Fortuna und Amore. Unsere Inszenierung geht einen anderen Weg, indem sie die vier Gesangseinsätze der Partie (die in der Quelle übrigens zunächst im Sopranschlüssel, dann im Alt- und zuletzt wieder im Sopranschlüssel notiert ist) auf vier Akteure der sich anschließenden Handlung verteilt, diejenigen nämlich, die die gefährdetsten sind und im Laufe des Stückes und seiner Gewalthandlung tatsächlich zerbrechen. Hierbei haben wir uns von textlichen Konnotationen der jeweiligen Replik leiten lassen: Die älteste, gebrechlichste Figur, Ulisses Amme Ericlea eröffnet den Reigen, gefolgt von Iro, der vor Fortunas Schlägen in den Selbstmord fliehen wird, von Melanto, deren Geliebter Eurimaco von Ulisse ermordet, und von dem liebeskranken Pisandro, der von Ulisse ebenfalls in den Tod gestürzt wird. Die Geschichte der Magd Melanto und des Freiers Eurimaco haben wir dadurch verdichtet, dass wir Eurimaco mit Anfinomo identifiziert haben. Im Original sind beide Rollen getrennt, Anfinomo ist Teil des Freier-Ensembles, von dem Eurimaco zwar einerseits im Personenverzeichnis als »Geliebter der Melanto« unterschieden ist, als dessen Mitglied er andererseits ganz klar agiert (und zu dem er bereits bei Homer gehört). Für diese Zusammenlegung musste kein Wort und keine Note geändert werden, es verschwand lediglich die Rolle des Anfinomo, deren Name zudem lediglich im Personenverzeichnis, nicht im gesungenen Dramentext erscheint. Man möge uns verzeihen, wenn wir diesen Prolog, den nur die musikalische Fassung bietet, als Ermächtigung zu unserer szenischen Perspektive gelesen haben, die der Hinfälligkeit aller Heldengeschichtsschreibung nachspürt. Bei Niederschrift dieses Artikels hat sich drei Wochen nach Probenbeginn bestätigt, dass die inkonsistenteste, brüchigste, zersplittertste Figur tatsächlich der homerische »Städtezerstörer« selbst ist, »Überrest der Asche, Abfall des Sterbens«19, in dem Penelope doch noch einen Funken jenes Ulisse glimmen spürt, der sie zwanzig Jahre zuvor verließ und in den Wirren des trojanischen Kriegs verloren ging.20

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Theodor W. Adorno / Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Los Angeles 1944 / Frankfurt 1969, https://giuseppecapograssi.files.wordpress.com/2013/08/ dialektik_aufklaerung.pdf

1

2 Angaben nach: Elisabeth Frenzel, Stoffe der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte, Stuttgart 2005, S. 595f

vgl. Hendrik Schulze, Odysseus in Venedig. Sujetwahl und Rollenkonzeption in der venezianischen Oper des 17. Jahrhunderts, Frankfurt 2004

3

4 Alle zitierten Librettotexte sind von mir übersetzt; die Akt- und Szenenangaben der ursprünglich fünfaktigen Struktur sind der dreiaktigen Redaktion der Partitur entsprechend angegeben. 5 Hans-Thies Lehmann, Theater und Mythos. Die Konstitution des Subjekts im Diskurs der antiken Tragödie, Stuttgart 1991, S. 54 6

ebd., S. 59

7

ebd., S. 60

Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Ästhetik, Bd. 1, III. Das Kunstschöne und das Ideal, II. Die Handlung, zitiert nach https://www.textlog.de/5720.html

8

9

Hans-Thies Lehmann, a.a.O., S. 12

10

ebd., S. 74, S. 194, S. 104

»Sempre è cieco il mortale. Ma allor si dèe più cieco / ch’il precetto divin devoto osserva. / Io ti seguo o Minerva.« Laut Regieanweisung erscheint Minerva dann auch während des Massakers tatsächlich »in machina«.

11

12

III, 7

13

II, 9

14

I, 6

15

»Perir non può chi tien per scorta il Cielo, / chi ha per compagno un Dio.« (II, 9)

Stellvertretend für zahlreiche Belege seien hier einige wenige angeführt: »l’human peccato« (»die menschliche Sünde«, I, 5), »Questa mia destra humile / s’arma a tuo conto, o Cielo« (»Diese meine demütige Rechte bewaffnet sich in deinem Namen, o Himmel!«, II, 13), »Prega, mortal, deh prega, / chè sdegnato e pregato / un Dio si piega.« (»Bete, Sterblicher, bete, / denn ein erzürnter Gott beugt sich deinem Gebet.« III, 7)

16

17

Albrecht Dihle, Griechische Literaturgeschichte, Stuttgart 1967, S. 172

18 Übersetzt nach: Francesca Zardini / Grazia Zardini Lana, Gli Ulissi di Giacomo Badoaro: albori dell’opera a Venezia, Verona 2007, S. 141f 19

»Quell’Ulisse son io, / delle ceneri avanzo, / residuo delle morti […]« (III, 10)

20 Überraschend, aber folgerichtig: Ausgerechnet in dem italienischen Monumentalfilm Ulisse (1954, Regie Mario Camerini) wird der Held als unter der Amnesie eines völligen Gedächtnisund Identitätsverlusts leidend eingeführt.

Ü BER R E ST DER ASCHE , A BFA LL DE S ST ER BENS

→ oben: Josh Lovell als Telemaco, Kate Lindsey als Penelope und Georg Nigl als Ulisse unten: Andrea Mastroni als Nettuno, Anna Bondarenko als Giunone, Isabel Signoret als Minerva und Daniel Lenz als Giove

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Tobias Dusche

ULYSSES’ GAZE

Zum in der Aufführung verwendeten Filmmaterial der Manaki-Brüder 78


Der tätige Blick Eine alte Frau hockt im Freien auf dem Boden und spinnt Wolle. Die Werkzeuge sind einfach und die Arbeitsabläufe seit Generationen unverändert. Trotzdem markiert dieses Bild einen neuen Abschnitt der Kulturgeschichte. Denn es ist keine Fotografie, sondern eine Serie kurz aufeinander folgender fotografischer Aufnahmen, die beim Abspielen den Eindruck einer natürlichen Bewegung vermitteln. Es ist der früheste bekannte Film, der auf dem Balkan gedreht wurde. Nur wenige Sekunden lang, zeigt er kaum zwei Durchgänge eines sich wiederholenden Bewegungsablaufs, aufgezeichnet im Jahr 1905. Neunzig Jahre später beginnt Theodoros Angelopoulos seinen Film Ulysses’ Gaze mit dieser und zwei weiteren kurzen Sequenzen aus demselben Jahr, die zahlreiche Frauen und Mädchen bei verschiedenen Tätigkeiten zur Vorbereitung von Wolle für den Webstuhl zeigen. Aus dem Off lässt er seinen Protagonisten sagen:

»Weavers in Avdella, a Greek Village, 1905, the first film made by the brothers Miltos and Yannakis Manakis. The first film ever made in Greece and the Balkans. But is that a fact? Is it the first film? The first gaze?« Über einen Zeitraum von sechzig Jahren haben die Brüder Manaki den Balkan bereist, um Außergewöhnliches und Alltägliches in Fotografien und Filmen festzuhalten, und sie haben damit ein unschätzbares Bildgedächtnis geschaffen. Angelopoulos’ Odysseus, ein Alter Ego des Filmemachers und im Drehbuch schlicht A genannt, begibt sich auf die Suche nach drei verschollenen Filmrollen der Brüder Manaki, von denen es heißt, dass sie noch nicht entwickelt wurden – ein weiterer erster Blick, eingeschrieben in eine fotoempfindliche Emulsion auf einem fragilen Trägermaterial. A’s Reise durch den postjugoslawischen, bürgerkriegsgeschüttelten Balkan ist mühsam und zunehmend gefährlich. Oft führt sie nicht nur durch den geografischen Raum, sondern auch durch die Zeit und in die Tiefen persönlicher und kollektiver Erinnerung. Die äußere wird mehr und mehr zu einer inneren Reise. Was A dabei sucht, ist nicht das Dokument, das die Filmrollen versprechen, sondern etwas viel Umfassenderes:

»And, if the soul is to know itself, it must gaze into the soul!« PLATO, ALCIBIADES, 133B

Wie das dem Film vorangestellte Zitat nahelegt, geht es nicht nur ums Sehen, sondern ums Erkennen. Es geht um einen Blick in die Seele – die eigene, die fremde und auch in die Seele eines Kulturkreises, der sich während der Entstehung von Ulysses’ Gaze in Abgrenzungskämpfen zerfleischt. 79

TOBI AS DUSCHE


»Every filmmaker remembers the first time he looked through the viewfinder of a camera. It is a moment which is not so much the discovery of cinema but the discovery of the world. But there comes a moment when the filmmaker begins to doubt his own capacity to see things, when he no longer knows if his gaze is right and innocent.« THEODOROS ANGELOPOULOS*

Der »richtige Blick« ist der erkennende. Verliert man ihn, verliert man den Zugriff auf die Welt. »The first gaze« ist in diesem Sinn ein Blick, der in den Trümmern des Gegenwärtigen das Mögliche, das zukünftig Bessere wahrnimmt, allen Verwundungen und Verstrickungen zum Trotz. Damit ist er dem Blick der Liebe verwandt, der scheinbar Unüberbrückbares zu überwinden vermag. A hat den »richtigen Blick« verloren. My own first glance. Lost long ago. Er steigert sich in die Obsession, mit den gesuchten Filmrollen auch die Unschuld des ersten Blicks wiederzuerlangen. Denn nur sie birgt die Hoffnung, dass gegenwärtige Schrecken überwindbar und Wunden heilbar sind. Dass es sinnvoll sein könnte, den Faden wieder aufzunehmen, an Abgerissenes anzuknüpfen und das Leben weiterzuspinnen. The Weavers. Es kann kein Zufall sein, dass so viele sprachliche Wendungen der Herstellungspraxis von textilen Geweben entlehnt sind. Vielleicht entsprechen sie der Erfahrung des Einzelnen, Teil von kleineren und größeren Gemeinschaften zu sein. Baba Despina (Großmutter Despina) heißt der erste bekannte Film der Brüder Manaki. Ihre Großmutter, die sie beim Spinnen gefilmt haben, soll 114 oder sogar 117 Jahre alt gewesen sein, und noch immer ist sie in die Wirtschaftsgemeinschaft tätig eingebunden. Auch im Film Chores (Die Weber) sieht man alte Frauen, die genauso mitarbeiten wie die jüngeren. Und die Jüngsten sehen zu und lernen. Leben heißt verwoben sein. Die Erfahrung dieser praktischen Tätigkeiten erleichtert es vielleicht, das Knüpfen der Verbindungen im Detail zu gestalten, ohne am großen Ganzen zu verzweifeln. Denn der Blick aufs Detail ist ein tätiger Blick. Die Schrecken der Welt tatenlos an sich vorüberziehen zu sehen ist dagegen schwer zu ertragen. In den Filmen der Brüder Manaki ist die Tätigkeit des Webens selbst nicht zu sehen, möglicherweise, weil sie in Innenräumen stattfand, in denen es zu wenig Licht für die Kamera gab. Aber wenn wir auf der Bühne die Aufnahmen des Spinnens auf die Wollfäden projizieren, die in den Webstuhl eingespannt sind, an dem Penelope arbeitet, scheinen sich die verschiedenen Tätigkeiten zu verbinden, scheint Penelope Hand in Hand zu arbeiten mit einer tätig überdauernden Frau, deren Lebenszeit vier Generationen überspannt.

TOBI AS DUSCHE

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Etwas geht zu Ende, etwas setzt sich fort Die Kinemathek von Nordmazedonien hat uns das historische Material in exzellenter Qualität zur Verfügung gestellt. Das ermöglicht, Details der Filme herauszulösen oder einzelnen Personen bei ihrer Arbeit zu folgen. Dabei stoßen wir auf Blicke und auf Gesichtsausdrücke, die erkennen lassen, dass die Gefilmten sich der Kamera durchaus bewusst sind. Das Bild blickt zurück. Für einen Augenblick scheint jeder Abstand aufgehoben. Die Sehenden werden angesehen und als Sehende erkannt. Im Bühnenbild wird Penelopes Webstuhl zum Kino. Und die auf die Leinwand – also die Wollfäden – projizierten Bilder werden zum Gegenüber für die Webende. Ein Ort der Reflexion oder des stillen Zwiegesprächs mit den unermüdlichen arbeitenden Frauen, die die Manaki-Brüder auf Film gebannt haben. In einem Kino endet auch A’s Reise. Er hat (wie Angelopoulos) die gesuchten Filmrollen im belagerten Sarajewo gefunden. Und er hat (anders als Angelopoulos) jemanden gefunden, der das Material entwickeln kann. Aber dieser Mann stirbt mit seiner Familie im Feuer der Heckenschützen. Nun sitzt A in einem ausgebombten Kino und auf der Leinwand flackert ein leerer Film, der sich in seinen Augen widerspiegelt. Wir wissen nicht, ist das der gesuchte Film, ist bei der Entwicklung etwas schiefgelaufen, hat sich das belichtete Material im Laufe der Jahre zersetzt? Oder ist es bloß die leerlaufende Apparatur, die im Schein der Lampe Schatten ihrer beweglichen Teile auf die Leinwand wirft, wie Mouches volantes oder Nachbilder auf der Netzhaut? (Das kleinste und zugleich größte Kino ist das Auge selbst.) Das undefinierte Flackern kann ein Ende sein oder ein Anfang. Das weiße Blatt, die leere Leinwand. Ein erster Blick. Eine leere Fläche kann definiert werden. A/Odysseus malt sich im Kino seine Heimkehr aus. Wie Penelope aus den Zwiegesprächen mit den filmischen Schatten zurückkehrt, werden die weiteren Proben zeigen.

* Ulysses’ Gaze Press Package, zitiert nach Horton, Andrew, The Films of Theo Angelopoulos: A Cinema of Contemplation; Princeton University Press 1997, S. 185

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U LYS SE S’ GA ZE




Sergio Morabito

IM FADENKREUZ DER MACHT

Eine Hommage an die Bühnen- und Kostümbildnerin Anna Viebrock

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Nachdem im Programmheft zu Henzes Das verratene Meer, der ersten Neuproduktion der Ära Roščić, mit der das Regietrio Wieler/Morabito/Viebrock 2020 an der Staatsoper debütierte, der Vorabdruck eines Beitrags von Sergio Morabito anlässlich der Verleihung des Schweizer Grand Prix Theater 2020 an Jossi Wieler zu lesen war, folgt hier eine Würdigung von Anna Viebrocks Arbeit an L’incoronazione di Poppea, ihrer ersten gemeinsamen Auseinandersetzung mit einer Monteverdi-Oper 1999 in Stuttgart. Der Beitrag möchte dem Begriff der Atelier-Kritik in der Definition Albrecht Fabris gerecht werden, denn: »Es gibt überhaupt nur kritisches Produzieren.« (Der schmutzige Daumen, Frankfurt 2000, S. 48). Die künstlerische Arbeit einer Anna Viebrock übt immanent Kritik, indem sie sich von Klischees, Konventionen und Mythen der Interpretation und der Darstellung, die sich auf den Werken ablagern, abzusetzen und diese zu durchleuchten versteht. Deutlich werden mag: Bereits in der vor über zwei Dekaden entstandenen Poppea ebenso wie im Wiener Ritorno d’Ulisse waren und sind die Künstler auf der Suche nach einer Theatersprache, die in ihrem Nuancen- und Detailreichtum, in ihrer Durchlässigkeit und Fragilität der ebenso zärtlichen wie unbestechlichen Genauigkeit von Monteverdis Blick auf die Conditio humana gerecht zu werden versucht. Beim Betrachten von Anna Viebrocks Poppea-Bühne dominiert zunächst ein fast abstrakter Rhythmus von Fläche, Linie und Farbe die Wahrnehmung: Die Grundfarbe ist Weiß, und die übrigen Farbfelder – das Gelb der Fahrstuhlblenden, das Rot der Kokosläufer, der grünliche Korridor, das ultraviolette Vitrinenlicht – scheinen in einem Mondrian’schen Effekt die Wahrnehmbarkeit der verschiedenen Valeurs der weißen kalkigen Wände, ihrer scharfen Schlagschatten, des hellgrauen Bodenbelags noch zu steigern. Die elektrischen Leitungen wirken zudem wie grafisch gezogen, die langgestreckten Felder der Fahrstuhlverglasung wie von starken schwarzen Konturen eingefasst. Diese Polarisierung von Weiß- und Grautönen in allen Schattierungen, dunklen Silhouetten und starken farbigen Akzenten bestimmt auch die Ästhetik der Kostüme – eine unendlich genaue, sozial ausdifferenzierte Garderobe: vom obligatorischen Chanel-Kostüm der Kaisergattin zum Avantgarde-Mode-Label der Geliebten, vom brothelcreeper-Outfit des Kaisers zum Humana-Kleidchen Drusillas, vom Sonnenbrillen- und Trenchcoat-Inkognito Ottavias zum Kittel des Garderobenfräuleins, von den Designer-Sandalen der Seneca-Jünger zu den Knobelbechern der Bodyguards. In einem zweiten Schritt beginnen wir uns zu orientieren. Die Architektur strahlt den anonymen Charme eines Behördenhochhauses aus, in dessen Fluren man sich schnell verirren kann: Die Fantasie des Zuschauers ergänzt die zahllosen Etagen, die dieser einen alle zum Verwechseln ähnlich sehen müssen. Und so klimmen und wanken die Menschen dieses Stückes im Laufe des Abends auch zunehmend erschöpfter durch die unbehausten Korridore. Das Rom in Monteverdis Krönung der Poppea ist von Anna mit den Augen der Frauen gesehen, die zu den öffentlichen Räumen dieses Systems keinen 85

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← Catherine Naglestad als Poppea

Zutritt haben. Ohne gesellschaftliche Repräsentanz, die ihnen die patriarchale Machtstruktur vorenthält, bleiben sie abgedrängt in die Vor- oder Hinterräume der Macht, zur Abhängigkeit verurteilt, ohne andere Karrierechance als die an der Seite eines Mannes, dabei ständig davon bedroht, als Geliebte benutzt oder als Gattin verstoßen zu werden. »Es geht ja eigentlich um die Liebe,« sagt Anna Viebrock, »und darum, wie bei den Frauen, weil sie sonst keine Möglichkeiten haben, Karriere und Liebe zusammenfällt. Ob es jetzt wirklich um den historischen Nero geht, von dem man weiß, wen er noch alles hat umbringen lassen oder was aus ihm geworden ist, bezweifle ich – abgesehen davon, dass diese Überlieferungen fraglich sind. Dann würde es zum Stück über einen Wahnsinnigen. Ich finde viel interessanter zu erzählen, dass das nicht nur bei diesem einen Menschen so gewesen ist, sondern dass diese Geschichten ständig passieren. Es ist nicht wichtig, welcher Politiker es ist, sondern dass er einer ist oder dass er jedenfalls Macht hat, das muss man spüren.«* Die Topographie ihrer Bühne etabliert ein Spannungsfeld zwischen zwei Türen: links die funktionale Metalltür einer Art Lastenaufzug, rechts ein mit schwerem, dunklem Holz getäfeltes, durch Höhe und Massivität monumental und einschüchternd wirkendes Portal. Ein roter Läufer stellt eine Verbindung zwischen diesen beiden Türen her, die von einem zweiten Läufer, aus der Bühnentiefe kommend und bis in den Orchesterraum herabführend, durchkreuzt wird. Aus dem Fahrstuhl tritt ein Paar, das im Morgengrauen Abschied nimmt. Der Mann hat es eilig, offenbar wird er hinter dem hölzernen Tor erwartet. SERGIO MOR A BITO

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Wir begreifen sehr schnell: Dort befinden sich die offiziellen Räume dieses Regierungspalastes, die repräsentativen Empfangs- und Konferenzsäle, die abgeschirmten Arbeitskabinette der Entscheidungsträger. Damit sich dieses Tor für den Mann öffnen kann, muss die Frau im Fahrstuhl, als dem NichtOrt einer gesellschaftlich ortlosen, illegitimen und verleugneten Beziehung, wieder verschwunden sein. Die Liebe der Frau scheint unter den Gesetzen dieses Doppellebens stärker zu leiden als der Mann. Immer wieder stellt sie die gleiche Frage, hinter der die Angst spürbar wird, als Mätresse um ihre Liebe betrogen zu werden: »Kommst du wieder?« Sie hat sich dem Mann ausgeliefert und kann keine Bedingungen mehr an ihre Hingabe knüpfen. Wenn er nicht wiederkommt, wenn er sie verlassen sollte, wird sie sich damit abfinden müssen. Die Demarkationslinie des roten Läufers markiert in der Choreografie dieses Abschieds eine Grenze, die sie nicht überschreiten darf. Über den Abgrund dieses roten Läufers hinweg nehmen ihre zahlreichen »Addios« einen fragenden, zuletzt fast resignierenden Ausdruck an, und die abweisende Nervosität des Mannes nährt die Angst, beinahe schon die Gewissheit, es könnte dies das letzte Lebewohl gewesen sein. Die Frau bleibt an der durch den roten Läufer markierten Schwelle zurück, vor der sie weinend zusammenbricht. So wird sie von einer anderen Frau gefunden, einer Freundin, die auf der Suche nach ihr das Treppenhaus dieses Gebäudes abgelaufen hat: »Die Kaiserin Ottavia / hat Nerones geheimes

→ Helene Schneiderman als Ottavia

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Verhältnis entdeckt, / weshalb ich mich sorge und fürchte, / dass jeder Tag, jede Stunde, / dein letzter Tag, deine letzte Stunde ist.« Doch Arnalta kommt mit den Äußerungen ihrer eifersüchtigen Liebe und hellsichtigen Sorge an die Freundin nicht heran, sondern erreicht das Gegenteil: Sie treibt Poppea dazu, in ohnmächtigem, trotzigem Protest den Absprung über die Demarkationslinie zu wagen, in das abgeschirmte, gleichsam verminte Gelände, wo das plötzlich aufleuchtende Licht eines Bewegungsmelders über dem imposanten Portalrahmen ihre Schritte in Schach zu halten scheint. Ein Signal, das mit unerschütterlicher Regelmäßigkeit Poppeas im Laufe des Stückes zunehmend verzweifeltes Anrennen gegen die ihr verschlossene Pforte begleiten wird, das immer unbeherrschtere Rütteln und Antrommeln mit beiden Fäusten gegen sie, auf dass sie sich ihr endlich öffne.

← Helene Schneiderman als Ottavia und Motti Kastón als Ottone

»Wo die Wiese am lieblichsten, da lauert die Schlange«, ruft Arnalta noch, als Poppeas Blick auf eine Art Pflanzenvitrine fällt – und einen Moment lang scheint deren tropisches Blattwerk tatsächlich zu zittern und zu schwanken. Es ist dieses Zimmerterrarium, das in Annas Bühne den barocken, in Busenellos Libretto durchgeführten Topos vom Hof als Schlangengrube zitiert. So ist die Gartenszene am Ende des zweiten Aktes, in der Poppea nur um Haaresbreite dem gewaltsamen Tod entgehen wird, in Viebrock’schem Surrealismus von eben dieser Vitrine aus imaginiert, durch deren mittlerweile zerbrochene Scheiben das ultraviolette Kunstlicht des Terrariums wie ein dunstiger Äther sich auszubreiten scheint. Den toten, in seinem Blut liegenden Seneca noch im Blick und das Ziel ihrer ehrgeizigen Liebe in greifbarer Nähe, überfällt Poppea eine plötzliche Müdigkeit, eine beunruhigende haltlose Mattigkeit. Im Banne dieser regressiven Schläfrigkeit kann Poppea in Arnaltas Armen wieder zum SERGIO MOR A BITO

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→ Bernhard Schneider als 1. Leibwächter, Motti Kastón als Ottone, Keith Lewis als Nerone, Se Young O als Drusilla und Tobias Rapp als 2. Leibwächter

Kind werden, das ins Bett gebracht und in den Schlaf gesungen werden muss. Wie eine unbewusste Flucht in den Stand der Unschuld, in ein verlorenes Paradies, in eine alte Vertrautheit mutet das »Oblivion soave« an, das von Arnalta angestimmte, sanfte Wiegenlied des Vergessens, dem beide Frauen erliegen. Der Auftritt des Amor markiert das allegorische Zentrum dieser Oper. Der zynische und kalte Gott spottet im Angesicht von Poppeas Hinfälligkeit über die Schwäche des Menschen, der seiner selbst so wenig Herr ist, dass er seine hart erkämpfte Chance verspielt: »Sie schläft, die Unvorsichtige. / Sie ahnt nicht, / dass ihr ein gewaltsamer Tod bevorsteht. / ... / O törichte, zerbrechliche / Sinne der Sterblichen [...] Ihr seid / ein Spiel des Zufalls / dem Risiko ausgeliefert und Opfer der Gefahr / wenn Amor, Genius der Welt, nicht vorsorgt.« Und so demonstriert er, wie sich ohne sein Eingreifen alle Warnungen Arnaltas erfüllen würden, als Ottone, unglücklich Verliebter und gedungener Mörder zugleich, sich in seinem delirierenden Monolog, in dem er sich selbst als Schlange bezeichnet, »so giftig und so wütend, wie die Welt noch keine sah«, der schlafenden Poppea nähert. Doch der Gott, der hier triumphiert, tut dies auf Kosten des Menschen, den er zum Ruhm der eigenen Allmacht erhöht: Als sich Poppea die hohe Pforte endlich öffnet und sie an Nerones Arm auf dem roten Läufer ins Blitzlichtgewitter dahinter stolpert, bleibt auf Annas Bühne die eigentliche Zeremonie der Krönung für uns im Off, nur gespiegelt im sentimentalen Blick des Garderobenfräuleins und in den zotigen Kommentaren der sich betrinkenden Bodyguards. * Anna Viebrock im Gespräch mit Alexander Weil, in: Die Krönung der Poppea – Moderne Oper von Claudio Monteverdi, 10 vor 11 vom 20.09.1999, dctp.tv, abrufbar unter https://www.dctp.tv/ filme/monteverdi-10vor11-11112013?thema=claudio-monteverdi

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Margaret Atwood

EIN SEILHÜPFLIED Wir Mägde sind’s, die du getötet hast, verraten wir tanzten in der Luft, unsre nackten Füße zuckten, als sie ins Leere traten es war nicht fair, du, der uns rügt, hast dich mit jeder Göttin, Nutte, Königin vergnügt bei uns viel weniger, das es zu tadeln gab, doch brachst du über uns den Stab


dein war der Pfeil, dein der Entscheid, auf dein Geheiß schrubbten das Blut wir unserer toten Buhlen vom Boden auf, von Stühlen von Stufen, Türen, im Wasser kniend, während du auf unsere Füße starrtest, es war nicht fair, du schmecktest unsere Furcht hast dich daran ergötzt, auf deinen Wink hin stürzten wir ins Leere tanzten auf Luft, durch dich getötet verraten


Impressum

Claudio Monteverdi IL RITORNO D’ULISSE IN PATRIA Saison 2022/2023 HERAUSGEBER Wiener Staatsoper GmbH, Opernring 2, 1010 Wien Direktor: Dr. Bogdan Roščić Musikdirektor: Philippe Jordan Kaufmännische Geschäftsführerin: Dr. Petra Bohuslav Redaktion: Sergio Morabito, Alexander Láng, Oliver Láng Gestaltung & Konzept: Fons Hickmann M23, Berlin Layout & Satz: Elisabeth Engel / Irene Neubert Lektorat: Martina Paul Bildkonzept Cover: Martin Conrads, Berlin Druck: Print Alliance HAV Produktions GmbH, Bad Vöslau TEXTNACHWEISE ORIGINALBEITRÄGE Sergio Morabito, Handlung (ins Englische übersetzt von Andrew Smith) – Über dieses Programmbuch – Überrest der Asche, Abfall des Sterbens. Aspekte von Monteverdis Odysseus-Oper – Nicolò Minato, An den Küssen sollst du mich erkennen!, deutsch von Sergio Morabito, aus: Penelope. Drama per Musica, Wien 1670, S. 48-50 – 56-58) – Spontaneität und Farben, Pablo Heras-Casado im Gespräch mit Oliver Láng – Ein äußerst vielschichtiges Werk, Jossi Wieler und Sergio Morabito im Gespräch mit Andreas Láng – Nicola Usula, Über das Partiturmanus­ kript von ›Il ritorno d’Ulisse in patria‹ (aus dem Englischen von Andrew Smith und Sergio Morabito) – Monika Mertl, Im Zeichen der Klangrede – Tobias Dusche, Ulysses’ Gaze ÜBERNAHMEN Sándor Márai, Er stöhnte auf – Ich wusste, dass er wieder log, aus: Sándor Márai, Die Frauen von Ithaka [eigtl. Friede auf Ithaka]. Roman, aus dem Ungarischen von Christina Kunze, München 2013, S. 5 – S. 38-41 – Albrecht Fabri, Variation über ein Wort, aus: Albrecht Fabri, Der schmutzige Daumen. Gesammelte Schriften, Frankfurt 2000, S. 117 – Simone Weil, Kampf ohne Ziel, aus: Beginnen wir den Trojanischen Krieg nicht von Neuem (1937), in: Simone Weil, Krieg und Gewalt. Essays und Aufzeichnungen, Zürich 2011, S. 37-40 – Aus den

Troerinnen des Euripides, deutsch im Versmaß der Urschrift von Johann Jakob Christian Donner, Leipzig und Heidelberg 1876, S. 3-7 – S. 14-20 – Homer, Der wäre Meister des Vorteils, aus: Homer, Odyssee (griechisch und deutsch), übertragen von Anton Weiher, Düsseldorf 2007, S. 361 – Hans-Thies Lehmann, Der homerische Krieger, aus: Hans Thies-Lehmann, Theater und Mythos. Die Konstitution des Subjekts im Diskurs der antiken Tragödie, Stuttgart 1991, S. 57 – Nicolò Minato, An den Küssen sollst du mich erkennen! aus: Penelope. Drama per Musica, Wien 1670, S. 48-50 – 56-58) – Margaret Atwood, Eurykleia – Seilhüpflied, aus: Margaret Atwood, Penelope und die zwölf Mägde. Roman, aus dem Englischen Übertragen von Marcus Ingendaay und Sabine Hübner, München 2005, S. 64-72 – S. 19 – Sergio Morabito, Im Fadenkreuz der Macht. Eine Hommage an die Bühnen- und Kostümbildnerin Anna Viebrock, überarbeitete Fassung eines erstmals in: Bettina Masuch (Hg.), Anna Viebrock – Damit die Zeit nicht stehenbleibt. Bühnen/Räume (Berlin, 2000) veröffentlichten Textes. Kürzungen sind nicht gekennzeichnet, Titelangaben sind teilweise verändert oder ergänzt. BILDNACHWEISE Coverbild: © Fiona Tan Michael Pöhn fotografierte während der Klavier­ hauptprobe am 28. März 2023. – Die Aufführungsfotos von L’incoronazione di Poppea auf den S. 74-77 machte A. T. Schaefer. Nachdruck nur mit Genehmigung der Wiener Staatsoper GmbH / Dramaturgie Rechteinhaber, die nicht erreicht werden konnten, werden zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten. → Alma Neuhaus als Amore, Miriam Kutrowatz als Fortuna und Pablo Delgado als Tempo



UNSERE ENERGIE FÜR DAS, WAS UNS BEWEGT. Das erste Haus am Ring zählt seit jeher zu den bedeutendsten Opernhäusern der Welt. Als österreichisches und international tätiges Unternehmen sind wir stolz, Generalsponsorin der Wiener Staatsoper zu sein. Alle Sponsoringprojekte finden Sie auf: omv.com/sponsoring


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→ wiener-staatsoper.at

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