WERTHER Jules Massenet
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Les larmes qu’on ne pleure pas, dans notre âme retombent toutes. Jede Träne, die wir nicht weinen, fällt in unsere Seele zurück. Charlotte, 3. Akt
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WERTHER → Drame lyrique in vier Akten Musik Jules Massenet Text Edouard Blau, Paul Milliet & Georges Hartmann nach » Die Leiden des jungen Werthers « von Johann Wolfgang von Goethe
Orchesterbesetzung 2 Flöten (2. auch Piccolo), 2 Oboen (2. auch Englischhorn), 2 Klarinetten, Altsaxophon, 2 Fagotte, 4 Hörner, 2 Kornette, 3 Posaunen, Tuba, Pauken, Schlagwerk, Harfe, Violine I, Violine II, Viola, Violoncello, Kontrabass Bühnenmusik Tamtam, Orgel, Glockenklavier, Windmaschine
Spieldauer ca. 2 ½ Stunden (inkl. einer Pause) Autograf Bibliothèque-musée de l’Opéra, Paris Uraufführung 16. Februar 1892, Wiener Hofoper
DIE HANDLUNG
Mitten im Hochsommer probt der verwitwete Amtmann mit seinen noch minderjährigen Kindern Weihnachtslieder. Werther, der zu Besuch kommt, gerät über die wunderbare Natur ins Schwärmen. Als er die große Liebe sieht, die die Kinder ihrer Schwester Charlotte entgegenbringen, der einzigen erwachsenen Tochter des Amtmannes, ist er tief beeindruckt. Mit Charlotte allein geblieben, gesteht er ihr seine Liebe. Doch Charlotte weicht ihm aus und weist ihn auf einen Schwur hin, den sie ihrer sterbenden Mutter geleistet hatte: Albert, ihren Verlobten, zu heiraten. Da trifft die Nachricht ein, dass Albert zurückgekehrt ist. Werther bleibt verzweifelt zurück. Einige Monate nach der Hochzeit von Albert und Charlotte kommt es zu einer Aussprache zwischen den beiden Rivalen. Doch Albert scheint Werther die frühere Leidenschaft zu verzeihen. Kaum sind Charlotte und Werther allein, beteuert er ihr gegenüber jedoch erneut seine Liebe. Charlotte weist ihn abermals zurück und erlaubt ihm erst zur Weihnachtszeit das nächste Wiedersehen. Werther flieht und lässt Sophie, die 15jährige Schwester Charlottes, weinend zurück. Sie hat sich unglücklich in ihn verliebt. Am Weihnachtstag liest Charlotte, die Werther ebenfalls nicht vergessen kann, seine Briefe. Eine darin enthaltene Selbstmorddrohung lässt sie erschrecken. Als Sophie hinzukommt und von Werther spricht, bricht Charlotte in Tränen aus. Als sie wieder allein ist, kommt Werther ganz unerwartet zu ihr. Er fordert einen Kuss, den ihm Charlotte aber verweigert. Daraufhin verlässt Werther Charlotte und schickt Albert einen Brief, in dem er ihn um seine Pistole bittet, die dieser ihm auch schicken lässt. Als Charlotte die Selbstmordabsichten Werthers bewusst werden, begibt sie sich auf die Suche nach ihm. Doch sie trifft ihn nur mehr sterbend an. Jetzt, wo alles zu spät ist, bekennt sie ihm ihre Liebe. Im Hintergrund singen die Kinder jenes Weihnachtslied, das sie im Sommer einstudiert hatten. DIE H A N DLU NG
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SYNOPSIS
In the middle of summer, the widowed magistrate is rehearsing Christmas carols with his young children. Werther, who comes to visit, rhapsodizes on the wonders of nature. When he sees the love that the children have for their sister Charlotte, the magistrate’s only adult daughter, he is deeply impressed. Left alone with Charlotte, he declares his love for her. However, Charlotte evades his advances and tells him of a promise she made to her dying mother: to marry Albert, her fiancé. The news arrives that Albert has returned home. In deep despair, Werther is left alone. Several months after Albert and Charlotte’s wedding, the two rivals have occasion to talk. Albert seems to have forgiven Werther for his earlier passion. Hardly are Charlotte and Werther left alone, however, when Werther renews his protestations of love. Charlotte once again rejects him and forbids him to see her again until Christmas time. Werther rushes out, leaving Sophie, Charlotte’s fifteen-year-old sister, in tears. She is unhappily in love with him. On Christmas Eve, Charlotte, who now realizes that she loves Werther, is reading his letters. She is alarmed by a threat contained in one of his letters to commit suicide. When Sophie joins her and talks about Werther, Charlotte collapses in tears. Shortly after Sophie leaves, Werther arrives quite unexpectedly. He demands a kiss, which Charlotte refuses him. Werther then leaves Charlotte and sends Albert a letter, asking him for his pistol. Albert duly has it sent to him.
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Charlotte remembers Werther’s threats of suicide, and she rushes out to find him. However, by the time Charlotte finds him, he is already dying. Now that it is too late, she admits that she loves him. In the distance, the children are heard singing the Christmas carol that they were practising in the summer. SY NOPSIS
ÜBER DIESES PROGRAMMBUCH Anders als in der Goethe’schen Vorlage steht bei Jules Massenet nicht nur Werther im Zentrum, sondern auch die dramaturgisch deutlich aufgewertete Charlotte. Thematisiert und musikalisch nachgezeichnet wird in der Oper somit neben der verzweifelten Liebe der Titelfigur auch die komplexe psychologische Entwicklung der jungen Frau. In einem ab Seite 18 wiedergegebenen Ausschnitt aus seiner Autobiografie schildert Massenet sowohl den Besuch in Wetzlar, der ihn angeblich dazu inspirierte, eine Werther-Oper zu schaffen, als auch die Umstände, die dazu führten, dass das Stück schließlich an der Wiener Hofoper und nicht in Paris zur Uraufführung gelangte. Regisseur Andrei Şerban verweist im Gespräch über seine Inszenierung (Seite 10) unter anderem auf die Tschechow’sche Vielschichtigkeit und Tiefgründigkeit des Werkes und in diesem Zusammenhang auf die ungemein detaillierte Charakterzeichnung. Wie sehr Massenet in einer bewussten Wagner-Nachfolge stand, betont Dirigent Bertrand de Billy (Seite 36). Zugleich weist de Billy auf die Opferrolle Charlottes hin, die von beiden Männern – Werther und Albert – manipuliert wird. Damit widerspricht er einem oft beschworenen Klischee, nach dem die Titelfigur ausschließlich passiv angelegt sei. Tatsächlich wirkt Werther in seinem steten Anrennen gegen die reine Vernunftgläubigkeit der Aufklärung schon im originalen Briefroman auf ungewohnte Weise als Impulssetzer, wie Herbert Zemann ab Seite 24 beweist. Auf jeden Fall schuf Goethe mit dem empfindsamen Werther ein neues Konzept von Männlichkeit, das im schroffen Gegensatz zum tradierten Männerbild stand. Marion Recknagel arbeitet ab Seite 56 heraus, wie Massenet in seiner Vertonung des Stoffes diese konkurrierenden Männerbilder in die Gattung Oper übersetzte und musikalisch hörbar machte. Über den mal größeren, mal kleineren Widerstand, der französischen Opernvertonungen deutscher Klassiker im 19. Jahrhundert entgegenstand, schreibt Oliver Láng (Seite 70), über das als Meisterfälschung enttarnte, geheimnisumrankte Ossianlied, das Werther im dritten Akt anstimmt, AnnChristine Mecke (Seite 49). Abschließend wirft Andreas Láng einen Blick auf die drei Werther-Produktionen im Haus am Ring, insbesondere auf jene der Uraufführung von 1892 (Seite 76).
Ü BER DIE SE S PROGR A M MBUCH
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Johann Wolfgang von Goethe → Dichtung und Wahrheit
Die Wirkung dieses Büchleins war groß, ja ungeheuer, und vorzüglich deshalb, weil es genau in die rechte Zeit traf. Denn wie es nur eines geringen Zündkrauts bedarf, um eine gewaltige Mine zu entschleudern, so war auch die Explosion, welche sich hierauf im Publikum ereignete, deshalb so mächtig, weil die junge Welt sich schon selbst untergraben hatte, und die Erschütterung deswegen so groß, weil ein jeder mit seinen übertriebenen Forderungen, unbefriedigten Leidenschaften und eingebildeten Leiden zum Ausbruch kam. Man kann von dem Publikum nicht verlangen, dass es ein geistiges Werk geistig aufnehmen solle. Eigentlich ward nur der Inhalt, der Stoff beachtet, wie ich schon an meinen Freunden erfahren hatte, und daneben trat das alte Vorurteil wieder ein, entspringend aus der Würde eines gedruckten Buchs, dass es nämlich einen didaktischen Zweck haben müsse. Die wahre Darstellung aber hat keinen. Sie billigt nicht, sie tadelt nicht, sondern sie entwickelt die Gesinnungen und Handlungen in ihrer Folge, und dadurch erleuchtet und belehrt sie.
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KOLUMN EN T IT EL
DIE GEFÜHLE ERKENNEN Regisseur Andrei Şerban im Gespräch mit Andreas Láng
Jules Massenets beste Werke, also auch der Werther, gehören nach wie vor weltweit zum Kernrepertoire der Opernspielpläne. Trotzdem wird Massenet hin und wieder der Vorwurf gemacht, dass er streckenweise ins Sentimental-Süßliche abgeglitten ist. Inwieweit muss der Regisseur helfen, diesem Urteil entgegenzuwirken?
Es ist immer die Frage – und das gilt jetzt nicht speziell für einen Regisseur, sondern auch für jeden Besucher – auf welche Weise man sich einer Oper, einem Theaterstück nähert. Auf den ersten Blick schaut vieles ganz anders aus, als es sich einem bei intensiverer Auseinandersetzung tatsächlich darstellt. Das ist nichts Neues und gilt für Massenet oft in ganz besonderem Maße. Ich bin im Laufe der Zeit, in der ich mich mit diesem Komponisten beschäftigt habe – diese Wiener Werther-Produktion ist ja nicht das erste Stück, das ich von ihm inszeniere –, auf eine frappante Ähnlichkeit mit Tschechow gekommen. Auch dessen Werke scheinen vorerst einmal recht sentimental zu sein. Liest man sie aber öfter, erkennt man immer tiefere Schichten in einer ungeheuren Vielfarbigkeit. Massenet war überdies viel zu intelligent, um einfach eine vordergründige Marmelade zu schreiben. Bei ihm handelt es sich ganz im Gegenteil um sehr nuancierte Charakter- und Situationsschilderungen. Beim Werther ist die Musik darüber hinaus insgesamt recht dunkel, also so viel Süßigkeit ist da nicht einmal auf den ersten Blick. ŞERBAN
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Trotzdem besteht bei manchen Werther-Inszenierungen die Gefahr, dass die meisten Zuschauer nicht an die tieferen Schichten herangeführt werden. ŞERBAN Das ist absolut richtig. Aus diesem Grund haben der Ausstatter Peter Pabst und ich beschlossen, das Stück nicht in der Originalzeit spielen zu lassen. Die romantischen Kostüme, die das Ende des 18. Jahrhunderts suggerieren sollen, erwecken beim Zuschauer kombiniert mit dieser bekannten Musik geradezu ein Déjà-vu-Erlebnis. Er bleibt auf der ihm bereits gewohnten Oberfläche und lässt sich genau von den ihm geläufigen Gefühlen tragen. In so einem 18./19. Jahrhundert-Ambiente kann ein Regisseur bei diesem Stück wenig Neues zeigen. Andererseits wollten wir die Handlung aber auch nicht unbedingt in der Gegenwart ansiedeln, sondern haben die fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts gewählt. Einerseits ist diese Zeit schon vergangen – die Geschichte rückt somit in eine Distanz zur Gegenwart –, andererseits ist sie für den Werther ungewohnt und vermag daher dem Publikum eine unvorbelastete Auseinandersetzung mit allen Details zu bieten.
Finden sich auch in Ihrer Inszenierung Elemente, die sich vielschichtig interpretieren lassen? Wofür steht etwa der große Baum im Vordergrund?
ŞERBAN Also noch einmal: Ich möchte durch die Regie die einzelnen Schichten der Charaktere und der Handlung vor dem Zuseher öffnen. Auf keinen Fall soll aber eine zusätzliche Symbolebene durch die Inszenierung erzeugt werden, in der bestimmte Gegenstände oder Bewegungsabläufe eine Bedeutung erhalten, die auf etwas verweisen, was nicht primär mit der Handlung zu tun hat. Ich will keine dramaturgischen Ideen zeigen, sondern die vorliegende Geschichte. Das, was zu sehen ist, bedeutet jeweils genau das, was es darstellt. Mich interessiert, was sich zwischen den Personen ereignet, die Spannungen, zwischenmenschliche Beziehungen und persönlichen Entwicklungen – genau das möchte ich auch zeigen. Was das Bühnenbild betrifft, wollten Peter Pabst und ich diesen ständigen Ortswechsel von drinnen und draußen vermeiden. Einen großen Baum als zentralen Ort, um den herum alles geschieht, empfanden wir für diesen Zweck als geeignet. Außerdem erfüllt der Baum noch eine weitere Funktion: Sehr wichtig ist im Werther ja der Zeitfaktor. Die Geschichte beginnt im Sommer und zieht sich über den Herbst bis zum 24. Dezember hin. An einem Baum lässt sich dieser Jahreszeitenwechsel wunderbar dokumentieren.
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George Bernard Shaw hat kritisiert, dass die Titelfigur im Werther durchgehend passiv ist und nur zweimal selbständig tätig wird: beim Versuch, Charlotte zu einem Kuss zu bewegen, und beim Selbstmord.
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ŞERBAN Ich bin da ganz anderer Meinung als Shaw! Werther ist viel mehr hyperaktiv und schießt ständig übers Ziel hinaus. Von Passivität kann gar keine Rede sein, da sich Werther geradezu wie ein Besessener oder Getriebener verhält. Irgendwie lebt er in einer eigenen Wahnwelt, ganz so, als ob er Drogen genommen hätte. Er geht also nicht vernünftig auf das ein, was um ihn herum passiert, was man zu ihm sagt. Wenn Charlotte beispielsweise über den Tod ihrer Mutter und die damit verbundene Trauer spricht, besingt er quasi als Antwort ihre Schönheit und macht ihr ein Liebesgeständnis. Das passt zwar nicht zusammen, zeugt aber von keinerlei Passivität. Wenn er in seinen Briefen mit Selbstmord droht, ist auch das eine durch und durch aktive Tat, da er letztlich versucht, bei Charlotte Schuldgefühle zu erwecken und sie dadurch manipuliert.
Trotzdem ist Charlotte die Dominantere der beiden...
Keine Frage, sie ist die eigentliche Hauptrolle. Bei zwei anderen Vertonungen des Stoffes in Italien und Frankreich zeigt sich die Bedeutung von Charlotte bereits im Titel der Opern, die je nach Sprache Charlotte et Werther oder Werter e Carlotta heißen. Massenet hat, vermutlich als Verbeugung vor Goethe, seine Version nur Werther genannt. Dennoch steht Charlotte absolut im Vordergrund – vielleicht war es ja in Wahrheit das, was Shaw letztendlich gestört hat. Sie ist eine junge Frau, die plötzlich in eine für sie vollkommen unentwirrbare Situation gerät. Sie müsste mit einigen Tabus brechen, doch dazu fehlt es ihr an Entschlusskraft. Im Grunde weiß sie nicht, was sie wirklich will. Aber die Umstände fordern von ihr eine Entscheidung. Alles ist genau auf diese fokussiert. Eigentlich ist sie mit Ibsens Hedda Gabler zu vergleichen. Auch dort bestünde für Hedda die Möglichkeit, aus der ungeliebten langweiligen Welt auszubrechen. In beiden Fällen jedoch schaffen die Frauen diesen Schritt nicht und lösen eben dadurch die Katastrophe aus. ŞERBAN
Nun fühlt sich Charlotte doch durch ihren Schwur, den sie der sterbenden Mutter geleistet hatte, verpflichtet, Albert zu heiraten. Sie könnte also gar nicht frei handeln.
Diese ganze Schwurgeschichte ist doch in Wahrheit nur eine Ausrede Charlottes. Wer wirklich verliebt ist, dem sind sämtliche Schwüre an Eltern, Großeltern und sonst wen doch niemals ein Hindernis. Nein, sie weiß wie gesagt nicht, in welche Richtung sie möchte und kann durch diesen geleisteten Schwur – sofern er wirklich stattgefunden hat – einer endgültigen Entscheidung aus dem Weg gehen. ŞERBAN
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Inwieweit sind die übrigen Akteure nur Stichwortgeber und Staffage um die beiden Hauptcharaktere?
Stichwortgeber ist eine ungerechte Herabwürdigung. Leider wird Charlottes kleinere Schwester Sophie oft als naives Dummchen dargestellt. Sie ist aber vielmehr eine zweite Charlotte. Auch sie ist nämlich in Werther verliebt und übertüncht mit ihrer extrem guten Laune das innere Leiden, dass dieser sie im Grunde gar nicht beachtet. Das meine ich mit Mehrschichtigkeit: Oberflächlich hat der Zuschauer einen meist fröhlichen, quirligen Backfisch vor sich, richtig klischeehaft. In Wahrheit wird in ihr die Problematik ihrer Schwester, keine Tabus brechen zu können und nicht zu ihren Gefühlen stehen zu können, wiederholt. Und Albert ist als Charakter sogar äußerst interessant. Zum einen scheint er ein herzensguter Mann zu sein, der seine Frau wirklich liebt, der seinem Rivalen vorerst sogar verzeiht. Dann wirkt er wieder sehr durchschnittlich und kleinbürgerlich, wenn er in seiner gewohnten Umgebung Gemeinplätze drischt und eine bieder-höfliche Freundlichkeit zur Schau stellt. In dem Moment, in dem Albert aber merkt, dass Werther seiner Frau weiterhin nachstellt, kommt ein kalter, brutaler und böser Zug zum Vorschein. Als er Werther die Pistolen schickt, weiß er ganz genau, was das für einen tödlichen Ausgang haben wird. Er gibt seinem Rivalen somit die Waffe zum Selbstmord in die Hand, nur damit er selbst seine Ruhe hat. ŞERBAN
Das Libretto der Oper wird gemeinhin als geglückt bewertet...
ŞERBAN Es ist sogar ein hervorragendes Libretto. Schon die Klammer mit den Weihnachtsliedern am Beginn und am Ende des Werkes ist ein wahrer Meisterhandgriff. Und auch sonst sieht man immer wieder, wie gut sich Musik und Text ergänzen. Wortreiche Erklärungen werden sehr oft durch gezielte kurze Wendungen umgangen, die aber unheimlich starke Wirkung haben. Ein Beispiel ist der Schluss des dritten Aktes, wenn Albert die Pistolen an Werther aushändigen lässt und Charlotte Alberts unterdrückten Hass und brutale Entschlossenheit merkt und nur durch die zwei Worte »Quel regard!« (»Was für ein Blick!«) wiedergibt. Das sagt mehr als es ein langer Monolog könnte. Auf solche Weise wurde den atmosphärischen Intentionen des Komponisten herrlich in die Hand gearbeitet.
Und wie lautet die Aussage des Stückes? Dass wahre Liebe Utopie ist?
Ich gehöre nicht zu den Regisseuren, die ein Stück auf Aussagen und Botschaften hin abklopfen. Hier beim Werther haben wir einfach eine Tragödie vor uns, die einen letalen Ausgang aufweist. Die Ursache liegt darin, dass keiner der Betroffenen wirklich schon als Erwachsener ŞERBAN
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gelten kann, auch wenn sie vom Alter her durchaus keine Kinder mehr sind. Um erwachsen zu sein, muss man das Wesentliche der Liebe, das Wesentliche der eigenen Gefühle verstehen. Das tut keiner der Beteiligten. Denn, würde Charlotte, um nur sie zu nennen, ihre Gefühle richtig deuten, könnte sie Albert und dieser kleinbürgerlichen Welt durchaus den Rücken zukehren und mit Werther davongehen. Und nichts, auch kein Schwur, würde sie von diesem Schritt abhalten.
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Jules Massenet → Meine Arbeitsweise
Ich denke zuweilen zwei Jahre über eine Oper nach, während dieser Zeit schreibe ich keine einzige Note; ich speichere alles in meinem Kopf, indem ich ununterbrochen komponiere – beim Reden, beim Essen, im Theater, in der Kutsche, in der Eisenbahn ... Aber den größten Teil meiner geistigen Arbeit mache ich, indem ich in meinem Schlafzimmer auf- und abgehe, meinem bevorzugten Arbeitsraum. – Später, wenn ich mein Werk recht im Kopf habe, gehe ich aufs Land und dort schreibe ich. Meine Feder läuft zwölf oder fünfzehn Stunden über das Papier, in einem Zug und ohne irgendwelche Änderungen. Die Leute, die meine Manuskripte sehen, sind stets versucht zu glauben, dass sie eine dritte oder vierte Abschrift vor Augen haben; sie äußern ihr Erstaunen, denken aber nicht an die enorme Arbeit, die in meinem Kopf stattfand, bevor sie aufs Papier geschrieben wurde.
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WIE WERTHER ENTSTAND
Am Sonntag, den 1. August [1885], hatten Hartmann und ich im WagnerTheater in Bayreuth Parsifal erlebt. Nach der Aufführung dieses einzigartigen Wunderwerkes besichtigten wir die Stadt, Mittelpunkt von Oberfranken. Nachdem wir dann durch einige deutsche Städte gezogen waren und verschiedene Theater besucht hatten, führte mich Hartmann, der seine eigenen Vorstellungen hatte, nach Wetzlar. In eben diesem Wetzlar hatte er Werther gesehen. Wir besichtigten das Haus, in welchem Goethe seinen unsterblichen Roman Die Leiden des jungen Werthers geschaffen hatte. Ich kannte Werthers Briefe, und in mir war eine äußerst bewegte Erinnerung daran zurückgeblieJ U LE S M AS SEN ET
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ben. Es beeindruckte mich zutiefst, mich an jener Stätte wiederzufinden, die durch Goethes von der Liebe zehrenden Helden so viel Berühmtheit erlangt hatte. »Ich habe da etwas«, sagte Hartmann zu mir beim Verlassen des Hauses, »das Ihre offensichtliche und edle Bewegung, die Sie ergriffen hat, noch vertiefen wird.« Und er zog dabei aus seiner Tasche ein Buch mit einem schon vergilbten Einband. Es war nichts anderes als eine französische Übersetzung des Goethe’schen Romans. »Eine vollendete Übersetzung«, betonte Hartmann, dem Aphorismus »traduttore traditore« zum Trotze, der besagt, dass eine Übersetzung zwangsläufig das Gedankengut des Autors verfälscht. Ich konnte mich nicht von der Lektüre jener glühenden Briefe losreißen, in denen so viele Gefühle innigster Leidenschaft steckten. Im Ernst – was gibt es Suggestiveres als die folgenden Zeilen, die sich uns eingeprägt haben: »Die ergreifende Lektüre der Verse Ossians, ihre bittere, schmerzvolle, abgrundtiefe Verwirrung, sie treibt Werther und Charlotte, einer Ohnmacht nahe, einander in die Arme. Warum weckst du mich, Frühlingsluft? Du buhlst und sprichst: Ich betaue mit Tropfen des Himmels! Aber die Zeit meines Welkens ist nahe, nahe der Sturm, der meine Blätter herabstört! Morgen wird der Wanderer kommen, kommen der mich sah in meiner Schönheit, ringsum wird sein Auge im Feld mich suchen, und wird mich nicht finden« – Und Goethe fährt fort: »Die ganze Gewalt dieser Worte fiel über den Unglücklichen. Er warf sich vor Lotten nieder in der vollen Verzweiflung, fasste ihre Hände, drückte sie in seine Augen, wider seine Stirn, und ihr schien eine Ahnung seines schrecklichen Vorhabens durch die Seele zu fliegen. Ihre Sinne verwirrten sich, sie drückte seine Hände, drückte sie wider ihre Brust, neigte sich mit einer wehmütigen Bewegung zu ihm, und ihre glühenden Wangen berührten sich.« Eine derartig wilde, verzückte Leidenschaft trieb mir die Tränen in die Augen. Diese aufwühlenden Szenen, diese fesselnden Bilder – was musste das alles hergeben! Das war Werther! Das war mein 3. Akt. In mich kam Leben, Glück durchflutete mich. Dies war die Arbeit, die meiner quälenden, fieberhaften Aktivität entgegenkam, Arbeit, die ich brauchte und die ich, soweit es möglich war, in das Gefüge jener ergreifenden und lebhaften Leidenschaften einzupassen hatte. Allein, die Umstände ergaben, dass ich für den Moment weit entfernt war von der Realisierung dieses Vorhabens. Carvalho hatte mir Phoebe angeboten, und die Zufälle brachten mich dazu, Manon zu schreiben. Schließlich füllte auch noch Le Cid meine Tage aus. Endlich aber, im Herbst 1885, kamen Hartmann und mein großartiger Mitarbeiter bei Hérodiade, Paul Milliet, überein, nicht noch abzuwarten, wie der Cid aufgenommen werden würde, sondern uns jetzt ganz entschieden Werther zu widmen. Mein Verleger hatte ein ungefähres Szenarium entworfen, und um mich noch stärker an die Arbeit zu binden, belegte er für mich in »Reservoirs« in Versailles eine geräumige Wohnung im Erdgeschoß, die direkt nach den 19
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Gärten unseres großen Le Nôtre führte. Dieser Hartmann war mir ganz besonderen Qualitäten begabt, und er verstand es, geschickt seinen Vorteil aus den Gegebenheiten zu ziehen. Er sprach ein vorzügliches Deutsch, er las Goethe im Original, er schätzte die deutsche Seele, und so legte er großen Wert darauf, dass ich mich endlich mit diesem Werk befasste. Als man mir eines Tages vorschlug, eine lyrische Oper zu La Vie de Bohème von Murger zu schreiben, verantwortete er es, ohne mich im Geringsten darüber zu befragen, diese Arbeit abzulehnen. Nachdem ich Werther vollendet hatte, lenkte ich am 25. Mai 1887 meine Schritte zu Monsieur Carvalho, dem Direktor der Opéra-Comique. Madame Rose Caron, die damals zur Opéra gehörte, hatte ich gewonnen, mir bei meinem Vorspiel behilflich zu sein. Sie stand neben mir, die bewunderte Künstlerin, wendete die Manuskriptseiten um, und ab und zu gab sie ihre äußere Ergriffenheit zu erkennen. Ich hatte vier Akte vorgestellt, als ich aber an das Finale gelangte, sank ich erschöpft zusammen... vernichtet! Schweigend war Carvalho damals auf mich zugekommen und hatte schließlich gesagt: »Ich hoffte, sie würden uns eine andere Manon anbringen. Dieses triste Thema hier hat doch gar keinen Reiz. Es wird von vornherein verschmäht werden.« Am nächsten Tag – horresco referens – ich bin noch immer darüber entsetzt, am nächsten Tag existierte die Opéra-Comique nicht mehr! Während der Nacht war sie vollständig niedergebrannt. Ich eilte zu Carvalho. Wir fielen einander in die Arme und hielten uns weinend umschlungen. Mein armer Direktor war ruiniert. Unbarmherziges Schicksal! Sechs Jahre lang sollte das Werk in Stille und Vergessenheit warten. Zwei Jahre vorher war an der Wiener Hofoper Manon aufgeführt worden, man hatte es hier nunmehr auf die 100. Vorstellung gebracht und hatte selbst diese Zahl binnen kurzem hinter sich gelassen. Es bereitete mir daher die österreichische Metropole einen überaus herzlichen, ja beneidenswerten Empfang. Das ging sogar so weit, dass der Sänger van Dyck auf die Idee gebracht wurde, mich um ein Werk zu bieten. Da schlug ich ihm Werther vor. Die geringe Bereitwilligkeit der französischen Operndirektoren hatte mir freie Hand gegeben, selbst über die Partitur zu verfügen. Es handelt sich bei dem Wiener Opernhaus um eine Hofoper. Nachdem die Direktion bei S. M. dem Kaiser darum ersucht hatte, mir ein Appartement zur Verfügung zu stellen, wurde mir ein solches sehr gnädig in dem renommierten und ausgezeichneten Hotel Sacher, neben der Oper gelegen, angeboten. Mein erster Besuch nach meiner Ankunft in Wien galt dem Direktor Jahn. Der Meister, eine gütige, hervorragende Persönlichkeit, führte mich in den Proberaum. Sämtliche Künstler für den Werther hatten sich um den Flügel versammelt, als Direktor Jahn und ich den Raum betraten, und als sie unser ansichtig wurden, erhoben sie sich alle gleichzeitig und verneigten sich zum J U LE S M AS SEN ET
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Gruß. Unser trefflicher van Dyck umarmte mich aufs herzlichste, und ich setzte mich, ein wenig nervös und ganz zittrig, an den Flügel. Das Stück war praktisch aufführungsreif. Alle Sänger trugen ihren Part auswendig vor, und ihre warmherzige Interpretation berührte mich verschiedentlich so sehr, dass mir die Tränen in die Augen traten. Bei der Orchesterprobe sollte sich dieses Gefühl wiederholen. Man war bis zu einer selten vollendeten Darbietung gelangt, und mit seinem zärtlichen oder machtvollen Spiel folgte das Orchester in einem Maße den feinsten Nuancierungen der Singstimmen, dass ich mein Entzücken nicht zurückhalten konnte. Die Generalprobe fand am 15. Februar von 9 Uhr morgens bis gegen 12 Uhr statt, und zu meiner unsagbaren, freudigen Überraschung sah ich in der ersten Reihe Henri Heugel, meinen geschätzten großen Verleger, meinen wertvollen Mitarbeiter Paul Milliet und noch einige andere enge Pariser Freunde sitzen. Sie hatten den weiten Weg nicht gescheut, um mich in Österreichs Hauptstadt zu treffen, und empfanden recht lebhafte Freude über meinen wirklich schmeichelhaften und erlesenen Empfang hier. Die Vorstellungen sollten zu einer Bestätigung für jene wunderbare Premiere werden, die am 16. Februar 1892 stattfand, mit den berühmten Sängern Marie Renard und Ernest van Dyck in den Hauptrollen. In eben diesem Jahre 1892 war Carvalho in das Amt des Direktors der Opéra-Comique wiedereingeführt worden, die sich nunmehr an der Place du Châtelet befand. Er bat mich um Werther und er tat dies in einer derart bewegten Haltung, dass ich keine Minute zögerte, ihm das Werk anzuvertrauen. Noch in der gleichen Woche nach dieser Begegnung waren Madame Massenet und ich zum Abendessen bei Madame und Monsieur Alphonse Daudet geladen. Gleichfalls zugegen waren Edmont de Goncourt und der Verleger Charpentier. Als das Diner beendet war, kündigte mir Daudet an, er wolle mir eine junge Künstlerin vorstellen, »die Musik selbst«, so bezeichnete er sie. Es war niemand anderes als die blutjunge Marie Delna. Sie sang die Arie der Königin von Saba von unserem großen Gounod, und gleich während der ersten Takte wendete ich mich zu ihr, fasste sie bei den Händen und rief hingerissen aus: »Seien Sie Charlotte, unsere Charlotte!« Die erste Vorstellung in der Pariser OpéraComique fiel in den Jänner des Jahres 1893, und am Tage darauf erhielt ich von Gounod folgende Zeilen: »Teurer Freund, alle unsere zuvorkommendsten Glückwünsche für diesen Doppelerfolg, bei dem wir nur bedauern, dass nicht Franzosen seine ersten Zeugen waren!«
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→ Eine wahre Begebenheit
Im Jahr 1772 arbeitet Goethe als JusPraktikant am Reichskammergericht in Wetzlar. Er lernt Charlotte Buff, die Tochter des Deutsch-Ordens-Amtmanns, und deren Verlobten, den Gesandtschafts sekretär Johann Georg Kestner, kennen. Für Kestner empfindet Goethe Freundschaft, für Charlotte eine leidenschaftliche Zuneigung, die aber nicht erwidert wird. Zur gleichen Zeit schließt Goethe Bekanntschaft mit dem Legationssekretär Karl Wilhelm Jerusalem, der sich am KOLUMN EN T IT EL
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30. Oktober 1772 wegen einer unglücklichen Liebe zu der verheirateten Elisabeth Herd erschießt. Jerusalem entlieh sich die Pistolen von Johann Georg Kestner. Kestner berichtet Goethe ausführlich über den Selbstmord Jerusalems. Der letzte Anstoß zur Niederschrift des Romans Die Leiden des jungen Werthers war Goethes Verhältnis zu Maximiliane von La Roche, die er auf der Reise nach Frankfurt kennenlernte. 1774 heiratete sie den Kaufmann Peter Brentano. Charlottes Verlobter im Roman – Albert – trägt seine Züge.
Herbert Zeman
EIN ANFANG UND KEIN ENDE
Goethes Original und seine Nachwirkung als Opernsujet bei Jules Massenet
»Ich getraue mir einen neuen Werther zu schreiben, über den dem Volke die Haare noch mehr zu Berge stehen sollten als über den Ersten«. – Als Goethe am 3. Dezember 1812 an seinen Altersfreund, den Berliner Komponisten Karl Friedrich Zelter, diesen Satz richtete, hatte sein Jugendroman längst Epoche gemacht, Napoleon selbst soll ihn siebenmal gelesen haben, den katholischen Theologie-Studenten in Rom – wie Goethes späterem Freund, dem Grafen Kaspar von Sternberg – trieb die Geschichte der unglücklichen Liebe Werthers zu Lotte die Tränen ebenso in die Augen wie vielen Mitempfindenden in ganz Europa. Und nicht nur das: Selbstmorde junger, verzweifelter Menschen à la Werther waren eine der bestürzenden Folgen. Weltweit machte das Buch Sensation, und nicht unberechtigt schrieb sein Verfasser in eines seiner »Venetianischen Epigramme« schon 1789 das Distichon ein: Doch was fördert es mich, dass auch sogar der Chinese Malet, mit ängstlicher Hand, Werthern und Lotten auf Glas? Man denke: In wenigen Wochen des Frühjahrs 1774 brachte der fünfundzwanzigjährige Dichter den Briefroman zu Papier, im September desselben Jahrs erschien er anonym, und allein im Jahr 1775 kamen weitere zehn Drucke heraus. Die Leiden des jungen Werthers wurde Goethes größter Bucherfolg. Die zeitgenössische junge Generation ergriff ein wahres »Werther-Fieber«. Aber hier hatte nicht nur ein junger Mensch für junge Menschen geschrieben, sondern überhaupt das Lebensgefühl, die Spannungen, die Leiden und Freuden der Menschen seiner Zeit auf den literarischen Punkt gebracht. Goethe wurde zum Sprecher einer Zeit, die aufgeklärt im Bann der Macht des Wissens stand und nun die Bedeutung des Herzens entdeckte, die erfuhr, dass erst die Bewegung der Seele dem Menschen das individuelle Gepräge gibt, ihn zum lebensvollen unverwechselbaren Ich werden lässt. Selbst die alten Aufklärer konnten sich der Empfindungs- und Sprachgewalt der Werther’schen Briefe, die direkt zum Herzen des Lesers sprechen, nicht entziehen und warnten gerade deshalb vor Goethes mitreißender Dichtung. Für sie war das Werk eben nicht bloß ein leichtfertiges Opus über seelische Verirrungen eines jungen Menschen; sie erkannten die dichterische Leistung und tiefe Menschenkenntnis dieser Schrift, vor deren innerer Wahrheit sie zurückschreckten: Die Gefährdung eines sich selbst so sehr bewusst gewordenen Ichs, wie es an der Gestalt Werthers sichtbar wird, verstörte sie. Werther weiß um seine seelischen Ansprüche, und er setzt sie absolut. Eine Balance von Herz und Vernunft, die für ein geordnetes, erträgliches Zusammenleben Voraussetzung wäre, gilt ihm nichts: Werthers Liebe ist in der menschlichen Gesellschaft nicht mehr zu verwirklichen. Schiller hat diese Grundkonstellation der Werther’schen Persönlichkeit so dargestellt:
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»Ein Charakter, der mit glühenden Empfindungen ein Ideal umfasst und die Wirklichkeit fliehet, um nach einem wesenlosen Unendlichen zu ringen, der, was er in sich selbst unaufhörlich zerstört, unaufhörlich außer sich suchet, dem nur seine Träume das Reelle, seine Erfahrungen ewig nur Schranken sind, der endlich in seinem eigenen Dasein nur eine Schranke sieht und auch diese, was billig ist, noch einreißt, um zu der wahren Realität durchzudringen – dieses gefährliche Extrem des sentimentalischen Charakters ist der Stoff eines Dichters geworden.« Natürlich ist Werther eine Figur, die gegen die Vernunftgläubigkeit der Aufklärung steht, ein Roman, der Roman des deutschen Sturm und Drang, und doch, wie Schiller 1795 in seiner Abhandlung »Über naive und sentimentalische Dichtung« schreibt, ist er zugleich viel mehr. Goethe schöpft zwar das Werk aus dem Leben, es hat seinen biographischen Hintergrund und ist doch zugleich ein allgemeingültiger Ausdruck der Krisis des Menschen, die latent immer möglich ist und in neuer historischer Situation stets wiederkehren kann. Auch Goethe selbst wurde von ihr in fortgeschrittenem Alter noch einmal eingeholt. Im Jahr 1823 beschwört er – von der Liebe zu Ulrike von Levetzow getroffen – in der Trilogie der Leidenschaft den Schatten Werthers (An Werther). Und wieder erfährt er die Gefahr entgrenzender Liebe, der Natur, Idee und Tätigkeit keine Wege mehr sind, sich selbst zu finden. Werther nahe fühlt sich Goethe immer wieder, auch im Jahr 1816, als er Karl Friedrich Zelter am 26. März schreibt: »Vor einigen Tagen kam mir zufälligerweise die erste Ausgabe meines Werthers in die Hände und dieses bei mir längst verschollene Lied fing wieder an zu klingen. Da begreift man denn nun nicht, wie es ein Mensch noch vierzig Jahre in einer Welt hat aushalten können, die ihm in früher Jugend schon so absurd vorkam. Beseh ich es recht genau, so ist es ganz allein das Talent, das in mir steckt, was mir durch alle Zustände durchhilft.« Es ist die Suche nach einem letzten Sinn dieser Welt, die Goethe am Leben hängen lässt. Das ist eine religiöse Dimension. Auch Werther sucht im Religiösen, mit dem er seine Liebe verbindet, eine neue Existenz. Nur entsteht bei ihm im vergeblichen Anrennen der Grenzen des Menschseins der Selbstmordgedanke – ähnlich wie bei Faust –, und doch zugleich mit einem großen Unterschied: Dort macht das leidenschaftliche Erkenntnisstreben die Kleinheit des Menschen bewusst, hier stößt der Anspruch, die Liebe zu idealisieren und sie in der Vereinigung zu erfüllen, auf eine unüberschreitbare Schranke: Freundschaft und Liebe, das heißt die Beziehung Werthers zu Charlotte und Albert, sind ein Officium, das aus der Achtung vor dem NächsHER BERT ZEM A N
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ten nicht überschritten werden darf. Diese Pflicht gilt der Humanität des ausgehenden 18. Jahrhunderts als lebens-, als werterhaltendes Daseinsprinzip. Goethe selbst hat diesen Konflikt durch Entsagung überwunden, Werther aus seinem Absolutheitsdenken heraus, das von der Psychose zur Neurose führt, scheitert. So kommt er von der Vorstellung: »ich habe kein Gebet mehr als an sie« zum verzweiflungsvollen Satz Jesu: »Mein Gott! Warum hast du mich verlassen?« Goethe konzentriert also ein zeitloses Geschick auf einen historischen Punkt. Daher liegt die Unerfüllbarkeit von Werthers Liebe keineswegs nur an der bürgerlichen Fessel eines äußerlichen Verbots, sondern scheitert die Liebe auch an den Instanzen des Bewusstseins der reinen Pflicht und an dem Verkennen der Freiheit von Gewissens- und Willensentscheidung. Der jugendliche Dichter Goethe durchlebte und durchlitt Werther’sche Empfindungen; seine Neigung zu Charlotte Buff und zu Maximiliane von La Roche, seine Beziehung zu deren Verlobten bzw. Ehegatten Johann Christian Kestner und Peter Anton Brentano fanden, sublimiert, Eingang in den Roman; schließlich spiegelt der Selbstmord des Goethe vom Reichskammergericht in Wetzlar her bekannten jungen Juristen Carl Wilhelm Jerusalem Werthers Abschied vom Leben. Johann Christian Kestner und Charlotte Buff erkannten sich in einem Maße als Lotte und Albert wieder, dass sie Goethe gegenüber verstimmt reagierten, dieser aber legte ihnen in einem an Kestner gerichteten Brief vom 21. November 1774 auseinander, was die Dichtung vom Leben schied, was erfunden ist und was Wirklichkeit war: »Könntet Ihr den tausendsten Teil fühlen, was Werther tausend Herzen ist, Ihr würdet die Unkosten nicht berechnen, die Ihr dazu hergebt! Werther muss – muss sein! Ihr fühlt ihn nicht, Ihr fühlt nur mich und Euch, und was Ihr ›angeklebt‹ heißt und was – trutz Euch und andern – eingewoben ist. – Wenn ich noch lebe, so bist Du’s, dem ich’s danke – bist also nicht Albert. Und also – Gib Lotten eine Hand ganz warm von mir, und sag’ ihr: Ihren Namen von tausend heiligen Lippen mit Ehrfurcht ausgesprochen zu wissen, sei doch ein Äquivalent gegen Besorgnisse. Lotte, leb wohl – Kestner, Du – Habt mich lieb – und: Nagt mich nicht.« Der Roman gestaltet also ein zeitloses Geschick, dem Goethe ein zeitgemäßes Gewand gibt: Der Jurist Werther, jung, voll Begeisterung für das Schöne der Natur und Kunst, kommt Anfang Mai 1771 zur Regelung einer Erbschaftsangelegenheit in eine kleine Stadt. Auf der Fahrt zu einem ländlichen Ball lernt er die schon verlobte Amtmannstochter Lotte und deren Geschwister, denen sie gerade das Nachtmahl reicht, kennen. Lottes natürliche Anmut 27
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entzückt Werther. Die egoistische und egozentrische Hingabe an seine leidenschaftliche Empfindung lassen Werthers Sinn für die Realität schwinden; er glaubt sich wiedergeliebt; Lottens Treue zu Albert, ihrem Verlobten, erhöht nur Werthers Bewunderung für sie. Zwar schließt Werther mit Albert – nach dessen Rückkehr – Freundschaft, doch verlässt er – als seine Leidenschaft die Situation unerträglich macht – am 10. September das Städtchen. Er wird am 20. Oktober Mitglied einer Delegation adeliger Gesandter in einer süddeutschen Stadt. Im darauffolgenden Frühjahr nimmt er, nach einem Affront durch die Aristokraten, seinen Abschied. Den Versuch im Mai und Juni, als Gesellschafter eines Fürsten beruflich Fuß zu fassen, gibt er auf; es treibt ihn zu Lotte, die inzwischen mit Albert verheiratet ist, zurück. Werther verkennt die Lage Lottes, zweifelt – bloß auf sein Gefühl bezogen – an ihrem Eheglück, sieht sich aber den Anforderungen des Lebens kaum mehr gewachsen: Am 21. Dezember besucht er Lotte in Abwesenheit Alberts zum letzen Mal. Die gemeinsame Lektüre Ossians versetzt Werther in leidenschaftliche Erregung, er umarmt Lotte, deckt »ihre zitternden, stammelnden Lippen mit wütenden Küssen.« Die überraschte Lotte wendet sich mit dem Wort »Sie seh’n mich nicht wieder« ab und »mit dem vollsten Blick der Liebe auf den Elenden« eilt sie ins Nebenzimmer und schließt sich ein. Werther muss erkennen, dass Lotte für ihn nun erst recht verloren ist, dass er ihr Vertrauen missbraucht hat. Am folgenden Tag vollendet er den Abschiedsbrief, den er vor dem Besuch am 21. Dezember früh begonnen hatte, leiht sich von Albert ein Paar Pistolen und erschießt sich.
← Daniel Chodowiecki: »Lotte im Ballanzug, schneidet für die um sie herumstehenden sechs Kinder Brot ab, indem Werther rechts zur Türe hereintritt, um sie zum Balle abzuholen.« (Radierung, 1776)
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Nicht nur der Inhalt des Romans, sondern vor allem das Feuer der Empfindung, der Schwung der Sprache wirkten hinreißend auf die Leser. Dazu kamen noch unvergessliche Bilder: Lotte, die ihren Geschwistern das Nachtmahl reicht; Lotte und Werther am Fenster blicken auf die nach einem Gewitter erfrischte Natur, und Lotte erinnert Werther an die kongruente Stimmung von Klopstocks Ode Die Frühlingsfreier; die Plastizität der Naturbeschreibungen; Werthers Abschied vom Leben und selbst die »Werther-Tracht« (blauer Frack mit Messingknöpfen, gelbe Weste und Hose, braune Stulpstiefel, runder Filzhut) – all das wurde Gegenstand der bildenden Kunst. Zahlreiche Bilder entstanden, von denen Daniel Chodowieckis zeitgenössische Stiche wohl die berühmtesten sind. Ebenso nachhaltig war die Nachwirkung bzw. Nachahmung in der Literatur, und zuletzt war Goethes Roman noch Vorlage für einen modernen Erzähler, der den Widerspruch zwischen dem schwärmerischen Glücks- und Freiheitsstreben des einzelnen und den Schranken einer sozialistischen Gesellschaft aufzuzeigen versuchte: Gemeint ist Ulrich Plenzdorfs Die neuen Leiden des jungen Werthers. Von den zahlreichen Werther-Opern, zu denen auch Hans-Jürgen Boses Die Leiden des jungen Werthers (1986) zählt, hat vor allem Jules Massenets »drame lyrique en quatre actes et cinq tableaux« mit dem Libretto von Edouard Blau, Paul Milliet und Georges Hartmann die Zeiten überdauert. Massenets Werk sollte an der Opéra-Comique in Paris zur Uraufführung gebracht werden, erlebte aber diese – aufgrund eines seltsamen Geschicks – nach Vermittlung des Tenors Ernest von Dyck im Jahr 1892 an der Wiener Hofoper, natürlich in deutscher Sprache. Als Ernest van Dyck, der Wiener Publikumsliebling und damalige erste Sänger seines Faches, am Höhepunkt des 1. Bildes im 3. Akt die Arie des Werther sang, wusste der gebildete Zuhörer Bescheid: Hier hatte der nachdichtende Übersetzer Max Kalbeck einiges von Goethes Worten der Ossian-Übertragung nachklingen lassen, obwohl er die französische Vorlage nicht aus den Augen verlor. In Goethes Roman liest Werther das verdeutschte Frühlingsgedicht Ossians so: »Warum weckst du mich, Frühlingsluft? Du buhlst und sprichst: Ich betaue mit Tropfen des Himmels! Aber die Zeit meines Welkens ist nahe, nahe der Sturm, der meine Blätter herabstört! Morgen wird der Wanderer kommen, kommen der mich sah in meiner Schönheit, ringsum wird sein Auge im Felde mich suchen und wird mich nicht finden.« Zwar haben die französischen Librettisten Blau, Milliet und Hartmann daraus die zweistrophige Arie »Pourquoi me réveiller« geformt, der Kalbeck folgt, aber er folgt ihr mit einer Sprache, die noch den Klang der Goethe’schen in sich trägt: 29
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Was bin ich aufgewacht, du schöne Frühlingszeit? Was bin ich aufgewacht? Dein Hauch will mir die Stirn umkosen, Doch, ach, der Tag des Welkens ist nicht weit! Zu bald nur wird der Sturmwind tosen! Was bin ich aufgewacht, du schöne Frühlingszeit? Und kommt der Wandrer dann herab zu mir ins Thal, In meiner Schönheit Fülle mich zu schauen, Sein Blick sucht mich umsonst, erloschen ist der Strahl, Die Stätte, da ich stand, deckt Nacht und bleiches Grauen. Was bin ich aufgewacht, du schöne Frühlingszeit? So wurde denn diese Arie ein Stück Goethe in der Vermittlung Max Kalbecks. Der Opernliebhaber des deutschsprachigen Kulturraumes hörte sie späterhin vorgetragen von den Tenören Franz Naval, Alfred Piccaver und Julius Patzak. Die Schallplattenaufnahmen Piccavers, der die Rolle des Werther seit der Neueinstudierung am 21. April 1914 an der Wiener Hofoper sang, Julius Patzak, der den Werther in den dreißiger Jahren an der Bayerischen Staatsoper gab, sowie die in Wien wirkenden Sopranistinnen Selma Kurz (als Lotte seit dem 12. Jänner 1900) und Lotte Lehmann (seit dem 23. April 1917) erinnerten immer wieder das Publikum daran, dass hier ein großer deutscher Roman in Frankreich Heimatrecht gefunden hatte, aber von dort wieder ein Teil deutscher Opernkultur geworden war. Jules Massenet und seine Textautoren hatten einmal mehr gezeigt, dass kaum ein Komponist von Rang im 19. und frühen 20. Jahrhundert sich Goethes Werken entziehen konnte. Kein anderer Dichter hat auf die Musik in eben dem Maße gewirkt wie Goethe. Freilich dienten Goethes Dichtungen – mit Ausnahme von Liedkompositionen – mehr der aktuellen Adaptierung als der musikalischen Wiedergabe des Originals. So auch hier. Gleichsam um zwei Goethe’sche Bilder entfaltet und gruppiert sich das Handlungsgeschehen: Da ist einerseits das Bild Lottes, die ihren Geschwistern das Nachtmahl reicht, und andererseits die schon erwähnte Ossian-Szene zwischen Lotte und Werther. Im Übrigen verlangte der Operngeschmack des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts eine Reihe von Zusätzen und Kürzungen. Schließlich bedingte auch die Umsetzung der Romanhandlung in die szenischen Bilder des lyrischen Dramas naturgemäß eine Fülle von Veränderungen: Nebenfiguren haben für heitere Abwechslung zu sorgen, Lottes Schwester Sophie verliebt sich in Werther, und Lotte gesteht dem sterbenden Helden ihre Liebe. Max Kalbeck war so sehr überzeugt, den Spielleitern und dem Publikum genauere Hinweise geben zu müssen, dass er selbst das Alter der Hauptpersonen mit Jahreszahlen festlegte (Werther: 23 J.; Albert: 31. J.; Amtmann: 5 0 J.;
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Lotte: 20 J.; Sophie: 15 J.) In Paris zollte man der Wiener Uraufführung Respekt dadurch, dass man im Personenverzeichnis des französischen Librettos die Sänger der Wiener Premiere neben jenen der Pariser Erstaufführung verzeichnete und auch den Wiener Dirigenten, der zu gleicher Zeit auch Hofoperndirektor war, Wilhelm Jahn, erwähnte. Wenn man recht sieht, so sind es auch heute wieder die Tenöre, die durch die Wiedergabe der zentralen Arie des Werther besonders auf das Stück aufmerksam machen. Nunmehr aber nicht mit dem legendären Beginn: »Was bin ich aufgewacht, du holde Frühlingszeit«, sondern mit der französischen Wendung: »Pourquoi me réveiller, ô souffle du Printemps?«
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Aus den Briefen Massenets an Ernest van Dyck
Die Briefe Massenets an den Tenor der Uraufführung des Werther in Wien, enthalten neben persönlichen Mitteilungen zahlreiche Hinweise zur Interpretation der Titelpartie.
PARIS, DEN 17. DEZEMBER 1891
Lieber Freund, Sie werden gestern mein Telegramm erhalten haben, mit dem ich Ihnen sagen wollte, wie ich mich über die Nachricht aus Wien freue. Hier bin ich der Ihre und ganz für Sie da. Meine Antwort zum Thema »Sophie«: Ich wünsche unbedingt Fräulein Forster; denn Sophie muss wie eine Fünfzehnjährige wirken, ein Mädchen mit Hängezöpfen, wenn man sie vielleicht auch nicht so frisiert, ist es doch ein Anhaltspunkt für das Aussehen der Sophie: Sie ist Lottes kleine Schwester. Im Äußeren, aber auch in der Stimme passt Fräulein Forster zu dieser Rolle, und wenn ihr die beiden kleinen Läufe missfallen, streiche ich sie! Zu den Kindern: Am besten nimmt man ein paar aufgeweckte Buben aus den Kindern in Carmen und mischt sie mit einigen Mädchen; siehe die Namen der Kinder im 1. Akt. Oder man verkleidet Mädchen als Buben für den 1. Akt; es sind ja nur sechs Kinder, Buben und Mädchen. Am Ende des letzten Aktes wird hinter den Kulissen von allen Kindern (wie bei den Kindern in Carmen oder im Prophet) das Weihnachtslied gesungen, auch Frauenstimmen (Soprane) aus dem Chor müssen dieses Weihnachtslied aus den Kulissen mitsingen; das ist in der Partitur so angegeben. Sie werden eine Partitur mit dem Duett (nach Ihren Angaben gekürzt) aus dem letzten Akt bekommen haben. Herr Kalbeck muss von dieser Änderung unterrichtet werden. Ich hatte das auch in Ihrem französischen Exemplar angegeben, das wir in Paris benutzt haben. Außerdem haben Sie in der Partitur, die Sie bekommen werden, die Metronomangaben. Vielleicht stehen sie schon in dem alten Exemplar? Ach ja, sagen Sie mir doch bitte, ob ich schon im Voraus etwas unternehmen sollte wegen der Übereinstimmung des Motivs. Der Werther ist 1887 gestochen worden und war schon im September 1886 abgeschlossen. Die Oper von Mascagni ist, glaube ich, erst 1889 für einen Wettbewerb entstanden. Ich wusste nichts von seiner Oper; die es ja noch gar nicht gab! Er wiederum konnte Werther nicht kennen, den nur ich besaß. Es wäre unwürdig, eines Plagiats geziehen zu werden, aber man muss mit allem rechnen in dieser erbärmlichen Welt! Geben Sie mir einen Rat, und wenn es sein muss, fordere ich selber eine Untersuchung, um meine Unschuld und meine Ehrlichkeit zu beweisen. Außer diesem Motiv ist da noch ein gar zu seltsames Zusammentreffen: Der Übergang nach As. Das ist erschreckend! Aber wenn man ehrlich ist, kann man mich nicht beschuldigen! Nur Cavalleria ist so bekannt, dass es nur natürlich wäre, wenn das Publikum sagte: Aha, das ist aus Cavalleria übernommen. Dabei ist das falsch, ja, unmöglich.
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AUS DEN BR IEFEN M AS SEN ETS A N ER N E ST VA N DYCK
Vergleichen Sie die Daten: Werther 1886. Cavalleria 1889. Dafür gibt es Zeugen. Der Werther ist im Mai 1887 vorgespielt worden, und die Quittungen für den Stich tragen ebenso wie die Platten des Druckes die Jahresangabe 1887. (...) Halten Sie mich auf dem laufenden über unsere beiden Werke und sehen Sie in mir Ihren ganz ergebenen Freund und Mitarbeiter. J. Massenet
PARIS, DEN 30. DEZEMBER 1891
Lieber Freund, Haben Sie mich vergessen?!!! Ich habe Herrn Jahn telegraphisch seine Ernennung zum Ritter der Ehrenlegion mitgeteilt. Aber ich bin ohne Nachrichten; nicht der kleinste Hinweis auf die Wahrscheinlichkeit der vorgesehenen Daten. Die Orchesterpartitur des Werther liegt seit langem bereit, aber man will sie offenbar nicht haben... Die Abzüge von Carillon müssen noch zurückgeschickt werden, um die Exemplare herzustellen... Die Übersetzung von Herrn Kalbeck kommt nicht, und der Stich kann nicht weitergehen... Ich weiß nicht, um welche Zeit (ich nehme an, 12 Tage vor der Premiere) ich wohl in Wien sein sollte. Herr von Roddaz wird Ihnen gesagt haben, was ich getan habe an der Oper. Wie stets bin ich mit ergebenen Wünschen Ihr J. Massenet Haben Sie meine Telegramme bekommen? Und meinen mehrseitigen Brief!!?
AUS DEN BR IEFEN M AS SEN ETS A N ER N E ST VA N DYCK
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UNDATIERT
Lieber Freund, Die Zeitangabe 178... war Absicht. Ich wollte das Louis-XV-Kostüm vermeiden! Wenn wir in diesem Detail nicht aufpassen, geraten wir durch eigene Schuld in einen unsinnigen Widerspruch zwischen musikalischen Ausdruck und Kostüm. Sie haben recht, wenn Sie auf der Zeit Ludwigs XVI. bestehen ... Bitte, bestehen Sie weiter darauf. Wir sollten uns der Jetztzeit möglichst nähern und auch an J. J. Rousseau denken, der in Frankreich die Ideen der Freiheit und der Liebe zur Natur verbreitet hat, die mir zu den Ausbrüchen Werthers zu passen scheinen. Denn Werther ist ja nicht nur ein Träumer, ein Phantast, ein Dichter, er ist auch und oft ein Nervenbündel, ein Kranker, ein Liebesbesessener! Man braucht nur nachzulesen in den Briefen 14 (am Anfang), 26, 53, 56, 46, 61... etc.! Außerdem haben wir ja das klassische Kostüm, wie es uns in den Kupfer stichen überliefert ist. Hat man sich schon genügend Gedanken gemacht über den Vorhang (über die Wirkung dieses Zwischenspiels), der Lottes Wohnung von Werthers Zimmer trennt? Die Musik geht weiter, die Verwandlung muss erfolgen, ohne dass die Musik aufhört. Die Musik verbindet die beiden Dekorationen, deren Umbau hinter diesem Vorhang erfolgt. Da entsteht ein seltsamer Lichteffekt (Schneewirkung); das ist im Übrigen in meiner Partitur klar und eindeutig angegeben. Die beiden Bilder und der Vorhang sind zusammen nur ein Auftritt; die Musik verstummt nicht einen Augenblick. J. Massenet
PARIS, DEN 27. FEBRUAR 1893
Ach, lieber Freund, wie lange ist es her, dass ich Ihnen geschrieben habe! Wie ich höre, hat man auch in diesem Monat Werther in Wien noch einmal aufgeführt; das ist für mich immer eine große Freude, und ich bin sehr stolz auf die Wiener Aufführungen! Ich zähle sie! J. Massenet
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AUS DEN BR IEFEN M AS SEN ETS A N ER N E ST VA N DYCK
Bertrand de Billy
MEIN WERTHER Warum heißt Jules Massenets Oper Werther und nicht Charlotte? Oder zumindest nicht Werther und Charlotte, wie Rodolphe Kreutzer seine Vertonung desselben Stoffs 1792 nannte? Denn ohne Zweifel liegt einer der (vielen) Unterschiede zwischen der Goethe-Romanvorlage und der Massenet-Oper in der Bedeutung der Figur der Charlotte: In der Vertonung spielt sie eine ungemein größere Rolle als bei Goethe, vor allem was ihre Charakter-Entwicklung anbelangt. Die Charlotte des Finales ist nicht mehr die Figur, die wir am Anfang kennengelernt haben, sie legt einen erstaunlichen Weg zurück, den Massenet musikalisch sehr präzise gezeichnet hat. Werther hingegen bleibt, was er ist. Ich sehe da keine Reifung, keine Veränderung. Werther ist Werther. Mich erinnert dieser Aspekt übrigens sehr stark an Bizets Carmen, nur mit umgekehrten Vorzeichen: Carmen bleibt immer Carmen, Don José hingen verändert sich radikal. Sollte die Oper also doch besser Charlotte heißen? Aufgrund der Betonung, die Massenet hier gesetzt hat? Ich denke: nein. Denn letztlich ist es doch Werther, der die Zügel in der Hand hält und die anderen steuert. Er ist ein Intrigant, ein Zyniker, ein Egomane, ein kranker Kerl und einer, der andere manipuliert. Brillant und intelligent, aber eine schwarze Seele. Charlotte kann da nur mitlaufen, sie ist ein Opfer, eine, die sich vielleicht befreien möchte, aber Werthers Diabolik in die Falle gegangen ist. Sie reagiert. Werther agiert. Das ist der große Unterschied. Auch Albert ist übrigens einer, der manipuliert. Beide, also Werther und Albert, spielen ein Spiel, das nie ehrlich ist. Immer ist ein Hintergedanke dabei. Das zeigt die Musik deutlich, die im Orchester, gewissermaßen im Untergrund, vieles ausspricht, was von den Figuren nicht gesagt, aber gedacht wird. So kann es vorkommen, dass Werther die Musik Alberts streckenweise übernimmt: Er spielt etwas vor, was er nicht ist, er passt sich an, setzt eine Maske auf. BERT R A N D DE BILLY
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Rund um diese drei Figuren gibt es, wie oft bei Massenet, eine Reihe von Satellitencharaktere, die sie umkreisen und kleine Akzente setzen. Spannend finde ich in diesem Zusammenhang die tote Mutter Charlottes, die – naheliegenderweise – zwar nicht auftritt, aber immer da ist und einen erheblichen Einfluss auf Charlotte hat. Das ist übrigens eine weitere Parallele zu Carmen, wenn wir an Don José und das Verhältnis zu seiner Mutter denken. Man fragt sich: Wer war diese Mutter von Charlotte? Was war sie für ein Mensch? Und dann gibt es Sophie, die jüngere, noch naive Schwester, auch musikalisch der Gegenpol von Charlotte. Massenet hat ihr die Stimmlage Sopran gegeben, um ihre Jugend anzudeuten, Charlotte hingegen hat er zum Mezzo gemacht. Da schwingt eine reifere Weiblichkeit mit, ein mütterlicher Ton (Charlotte hat ja die Mutterrolle für die Geschwister übernommen), vor allem aber wird eine Wärme spürbar, ich würde sogar im Hinblick auf die Handlung sagen: eine weihnachtliche Wärme. Gleichzeitig hat Charlotte, wieder im Gegensatz zu Sophie, etwas Kontrolliertes, sie ist mehr Ruhepol. Auch das hat Massenet psychologisch sehr genau erspürt: Wäre Charlotte ein helles Strohfeuer, das sich leicht entzünden lässt, fiele Werther die Verführung leichter – und das Ganze hätte weniger Theaterwirksamkeit. Musikalisch zentral ist Charlottes große Briefszene im 3. Akt, im Grunde ist das eine Erzählung à la Richard Wagner, eine Rom-Erzählung, nur kürzer, gedrängter. Und damit sind wir bei Wagner angekommen. Wir wissen, dass Massenet den Parsifal in Bayreuth erlebt hat und auf der Rückreise, nach einem Abstecher in den kleinen Ort Wetzlar, in dem Goethe seine Leiden des jungen Werthers schrieb, den Entschluss zu einer Werther-Oper fasste. Nun ist es immer schwierig zu wissen, was in einem Schaffensprozess bewusst oder unbewusst abläuft, wir können also nicht feststellen, ob Massenet konkret versucht hat, von Wagner übernommene Elemente in seine eigene Kompositionsweise zu übernehmen oder nicht – getan hat er es aber auf alle Fälle. Das fällt einem aber erst dann wirklich auf, wenn man sich intensiv mit Wagner beschäftigt. In meinem Fall war es so, dass ich Werther schon sehr früh dirigierte, noch vor Wagner, und später – mit Tristan, Holländer und dem Ring im Ohr – zu dieser Oper zurückkehrte. Wie anders schien sie mir! Und wie viel dunkler, bläsersatter, tiefgründiger hörte und interpretierte ich sie nun. Ich wurde fast süchtig nach diesem abschattierten Ton, dieser klanglichen Weite. Und wenn man genau in die Werther-Partitur schaut, erkennt man Wagner nicht nur in der breiten, akkordischen Behandlung des Blechs, nicht nur in der formalen Struktur des zweiten Teils der Oper, sondern man findet zum Beispiel auch Melodieverweise auf den Tristan, die Massenet eingebunden hat. Wenn ich heute Werther dirigiere, dann ersetze ich im Orchester gerne die Tuba durch ein Cimbasso, so erhalte ich einen beweglicheren Ton, mehr Biss in den heftigen Einwürfen – und einen Tick mehr Wagner. 37
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In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass sich meiner Meinung nach die deutsche und französische kulturelle Seele viel näher stehen als oft diagnostiziert. Das zeigt sich schon daran, wie gerne französische Komponisten deutsche Stoffe vertont haben, und gerade bei Massenet mischen sich die musikalischen Traditionen stark. Es gibt natürlich Unterschiede, die sich besonders aus den unterschiedlichen Sprachen, den Sprachmelodien und der Behandlung dieser speisen. So ist das gesprochene Französisch rascher als das Deutsche, was einen Einfluss auf die Musik hat. Weiters kann man im Französischen die Betonungen freier setzen als im Deutschen, es verändert sich damit zwar die Gesamtaussage, aber es gibt weniger ein absolutes Richtig-Falsch. Das hat natürlich einen Einfluss auf die Gesangslinie. Die oft verwendeten Beschreibungen der französischen Musik wie »parfümiert« lehne ich ganz und gar ab: Das ist Unsinn und nichts als ein Klischee! Meine erste Werther-Erfahrung hatte ich sehr früh, ich sang in Paris eine der Kinderrollen; später spielte ich als Orchestermusiker diese Oper und schon damals fiel mir auf, wie raffiniert Massenet die Partitur gestaltet hat: Er gibt jeder Instrumentengruppe musikalische Besonderheiten, die zwar herausfordernd zum Spielen sind, aber für einen zusätzlichen Reiz sorgen – für die Musiker wie natürlich auch für die Zuhörer. Nun gab es in den letzten 130 Jahren starke Umschwünge in der Massenet-Rezeption: Zuerst wurde er heiß geliebt und viel gespielt, dann ebbte die Begeisterung ab und erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts setzte wieder eine intensivere Pflege seiner Werke ein. Noch in den 1950er Jahren las man fragwürdige Aussagen wie: »In Manon ist bereits der gesamte Massenet enthalten«. Das ist natürlich falsch. Manon ist eine Farbe, es gibt aber noch viele andere. Picasso ist ja auch nicht nur der Picasso der blauen Phase, sondern die Summe aller seiner Entwicklungen und Ausdrucksformen. Im Falle von Massenet: Es gibt den Komponisten, der sich stärker in Richtung Operette neigt, es gibt einen, der fast in den Verismo hineinreicht, es gibt den Wagner-lastigeren und den stärker von Gounod-kommenden. Und manchmal sind mehrere dieser Facetten in einem Werk zu finden. So kann man durchaus sagen, dass Sophie Aspekte der Operette in sich trägt, den Verismo sehe ich im Werther hingegen gar nicht, alleine schon die Tatsache des langsamen und theatralischen Sterbens wäre für den echten Verismo ein untypisches Element. Wohingegen es zweifellos versteckte politische Einsprengsel gibt, zum Beispiel, wenn Werther singt, dass er womöglich nicht am Friedhof beerdigt werden kann. Damit berührt Massenet ein damals großes Diskussionsthema, nämlich ob Selbstmörder auf einem Friedhof beerdigt werden dürfen oder nicht. Zuletzt: Was muss man wissen, um Werther zu verstehen? Man muss den Text verfolgen, man muss die Stimmung im deutschen Dörfchen, in dem die Handlung spielt, kennen (wobei es sich ja bis auf das Bier kaum von einem französischen Dorf unterscheidet), man sollte vielleicht Wagner ein bisschen im Ohr haben und man muss die Wahrheit der Figuren im Orchester suchen. MEIN W ERT HER
→ Jonas Kaufmann als Werther, 2011
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Claude Debussy → Über Massenet
Massenet war der beliebteste unter den zeitgenössischen Musikern. Gerade diese Beliebtheit trug ihm aber auch die besondere Stellung ein, die er in der musikalischen Welt innehatte. Seine Kollegen missgönnten ihm die Fähigkeit zu gefallen, die eine echte Begabung darstellt. Offen gesagt ist diese Begabung auch nicht unbedingt notwendig, in der Kunst am allerwenigsten, und man kann sicher sein, um nur ein Beispiel unter anderen zu nennen, dass Johann Sebastian Bach nie in dem Sinn gefallen hat, den das Wort bei Massenet annimmt. Hat man je von jungen Putzmacherinnen gehört, dass sie die Matthäus-Passion trällerten? Ich glaube nicht. Wohingegen jeder weiß, dass sie morgens beim Aufwachen Manon oder Werther singen. Man soll sich aber nicht täuschen: Das ist ein liebenswerter Ruhm, und mehr als einer der großen Puristen, die ihr Herz nur an der mühsam erworbenen Achtung Gleichgesinnter erwärmen können, blickt mit heimlichem Neid darauf. Alles, was er unternahm, gelang ihm zum Erfolg, und man meinte dafür Rache nehmen zu müssen, indem man sich hinter vorgehaltener Hand zuraunte, er sei der beste Schüler von Paul Delmet – was ein höchst geschmackloser Scherz war. Man hat ihn viel nachgeahmt, äußerlich wie innerlich. Für gewisse Künstler ist der Versuch, den zu Fall zu
bringen, den sie imitieren, das erste Gebot der Klugheit; sie nennen dieses erbärmliche Manöver auch noch »Kampf für die Kunst«. Dieses Wort, das man so oft im Munde führt, hat einen etwas verdächtigen Klang und setzt obendrein die Kunst mit irgendeinem Sport gleich. In der Kunst hat man am meisten gegen sich selbst zu kämpfen, und die Siege, die man dabei erringt, sind vielleicht die schönsten. Aber eine sonderbare Ironie will es, dass man gleichzeitig Angst vor dem Sieg über sich selbst hat; man zieht es stillschweigend vor, sich auf die Seite des Publikums zu schlagen oder seinen Freunden zu folgen, was auf das gleiche hinausläuft. Es ist jetzt nicht der richtige Augenblick zu bedauern, dass Massenets außerordentliche Fruchtbarkeit ihm – wie es scheint – manchmal die Fähigkeit zur Wahl unterband. Doch wer hat das Recht, von einem Manne zu verlangen, dass er genau das Gegenteil von dem sei, was er ist? Im Jahrhundert Napoleons hoffte jede französische Mutter, ihr Sohn werde auch ein Napoleon, aber die Kriege haben viele dieser Träume hinweggefegt. Doch es gibt einmalige Schicksale. In seiner Art ist Massenets Schicksal eines davon. Le Matin, 14. August 1912 41
CLAU DE DEBUS SY
Ulrich Schreiber
VERSCHRÄNKUNG DER EXTREME
Anmerkungen zur Musik des Werther
Der formalen Geschmeidigkeit, in der sich das Drame lyrique mit dem Musikdrama im Sinne Wagners verbindet und einen Roman musical zur Welt bringt, entspricht die noch über das Vorbild der Manon hinaus getriebene Freiheit der Prosodie. War Manons Auftrittsarie, in der sie sich selbst ihres Reizes bewusst wird, trotz aller von musikalischen Formpartikeln gereinigten Sprachnähe doch dadurch der Tradition verbunden geblieben, dass eine Reprise für die ariose Formrundung sorgte, so lässt Massenet nun solche Beschränkungen hinter sich. Werthers Ausruf im ersten Akt, nachdem Charlotte eins ihrer kleinen Geschwister aufgefordert hat, ihn als Cousin zu küssen, ist ein Exempel dieser neuen Sprache: »Ô spectacle idéal dʼamour et dʼinnocence«. Dieses ideale Schauspiel von Liebe und Unschuld geht ihm von den Augen direkt ins Herz, wobei die Tonart As-Dur wie der Viervierteltakt sich gleichermaßen in einen Taumel verlieren – für Georges Thill, neben Nicolai Gedda einer der überragenden Werther-Darsteller des 20. Jahrhunderts, Anlass zu der Formulierung, Werther sei nicht zu interpretieren, sondern zu singen (was schwer genug ist). Wenn im zweiten Akt sein As-Dur wiederkehrt, die Liebe auf den ersten Blick sich zu Emphase und Verzweiflung zugleich verdichtet hat (»Jʼaurais sur ma poitrine« – »Ich hätte das herrlichste Wesen an mein Herz gedrückt«), sind »die gegensätzlichen Stimmungen, zwischen denen Werther schwankt, in paradoxer Weise miteinander verschränkt und verschmolzen: Depression und Enthusiasmus verwirren sich ununterscheidbar – eine Wirkung, die dadurch entsteht, dass ein Arioso italienischer Herkunft und der spezifisch Massenetʼsche Ton, dessen Passioniertheit durch Resignation gebrochen oder doch verfärbt ist – ein Ton, dessen ›eigentliches‹ Tempo Andante oder Allegretto ist–, gleichsam ›übereinandergeblendet‹ wurden«. Die Verschränkung der Extreme macht auch einen formalen Reiz der Oper aus, da sich Massenet durchaus geschlossener Teilabschnitte in der organisch wachsenden Gesamtausdehnung bedient. So etwa im finalen Duo der Liebenden, das mit dem Tod Werthers in den Armen der darob zusammenbrechenden Charlotte endet. Auf ein ›Accompagnato‹ folgt ein in sich geschlossener Teil, von dem das Mondlichtmotiv zu einem zweiten Abschnitt überleitet. Die Reprise des ersten Teils entpuppt aber das Ganze als eine gedehnte A-B-A-Form, deren symphonische Entwicklungstechnik nicht einer Steigerung, sondern einer Zurücknahme des Ausdrucksgestus dient. Massenet passt die eingesetzten Formmittel nicht einer Idee vom Musiktheater, sondern ihrem konkreten Gegenstand an. So wechselt er analog zum freien Verfügen der Sprache über Rhythmus und sogar Harmonik der Musik zwischen geschlossenen und offenen Formen, zwischen statischen Erinnerungsmotiven und deren dynamischer Behandlung im Sinne einer Durchführungsmusik. Er wählt unter den verfügbaren Kunstmitteln aus und setzt sie undogmatisch ein. Das ist gewiss eklektisch, aber der »Eklektizismus bedeutet bei Massenet nicht einen Verzicht auf Originalität, die, wie bei Gia 43
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como Meyerbeer, schon aufgrund weniger Takte unverkennbar ist, sondern die Freiheit, wechselnden Herausforderungen des Gegenstands begegnen zu können«. Diese für die deutsche Musikologie bahnbrechende Einsicht von Carl Dahlhaus sollte auch die Ohren schärfen für andere Spezifika dieser Partitur, die man allem Eklektizismus zum Trotz als Massenets dichteste bezeichnen muss. So lässt sich aus Werthers fünftönigem Personalmotiv mit dem chromatischen Aufwärtsschritt zu Beginn und der Doppelpunktierung im Zentrum ohne schematisierende Überbeanspruchung ebenso das Mondscheinmotiv, das Weihnachtsmotiv und sogar das Ossian-Motiv ableiten, das in seinem ariosen Aufschwung »Pourquoi me réveiller« (»Was bin ich aufgewacht«) bei der gemeinsamen Lektüre mit Charlotte in verzweifeltem fisMoll endet. Analoges gilt für Charlotte, deren Personalmotiv mit der aufsteigenden Dreiklangfigur ebenfalls eine charakteristische Punktierung eignet und von dem ihr Verzweiflungsmotiv abgeleitet ist. Wenn je eine französische Oper des 19. Jahrhunderts in der genetischen Einheitlichkeit ihres Materials eine Vorstellung vom durchkomponierten Musikdrama erfüllt und zugleich qualitativ beglaubigt, dann ist es Massenets Werther – im Gegensatz zu allen Versuchen einer direkten Wagner-Nachfolge bei anderen Komponisten. Damit ist aber nur ein Teil des Werkreizes angedeutet. Auch hier wird, vergleichbar Manon oder Thaïs, schon im Textbuch gegenüber der Vorlage das erotische Beziehungsgeflecht differenziert und um einen der Sakralsphäre zugehörigen Tabubruch erweitert. Massenet komponierte seine Oper unter dem Eindruck einer im Juli 1884 eingebrachten Gesetzesnovellierung, mit der die 1816 in der Restaurationsepoche eingeschränkte Liberalisierung der Scheidungspraxis teilweise wieder auf den Stand der republikanischen und napoleonischen Gesetze zurückgeführt wurde. So konnte sich das Publikum, als die Oper nach Frankreich kam, von den Leiden der jungen Charlotte mit dem Bewusstsein dessen rühren lassen, der in einem vergleichbaren Fall die Entscheidung für den mutmaßlich falschen Ehepartner – Albert statt Werther – justitiabel leicht hätte rückgängig machen können. Dabei beginnt in Massenets Oper, verglichen mit Goethes Roman, die Liebesbeziehung zwischen Werther und der noch nicht verheirateten Lotte ganz konventionell. Die beiden kehren von einer Ballnacht heim, aus der Goethes Gefühlsaustausch im Walzertanz erstaunlicherweise ausgeschlossen bleibt. Bei Massenet ist es die Atmosphäre der Mondnacht, die in beiden Liebe aufkeimen lässt. Wir hören das Mondscheinmotiv, schwebend auf dem Quartsextakkord von F-Dur einsetzend, in seiner merkwürdigen Spannung zwischen Violoncello und nachplappernder Flöte, dann umregistriert auf Klarinette und Geige, die da nicht recht zueinanderkommen können. Zusammen finden die Melodiepartikel erst im siebten und achten Takt des Themas, wenn Charlotte das ausspricht, was man ein letztes Wort nennen könnte: »Wir müssen auseinandergehen« (»Il faut nous séparer«). Das ist die faszinierende Klangchiffre des Getrenntseins in der Einheit von Gefühl und U LR ICH SCHR EIBER
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Stimmung, ein Liebesduett von unverwechselbarem Reiz, in dem die Stimmen nie zusammenkommen. Sie schmiegen sich dem Motiv nur kadenzbildend oder in punktueller Identität an. Dennoch ist der Zauber der Mondnacht geradezu mit Händen greifbar. Was es mit der trotz aller Gefühlseinheit gegebenen Distanz zwischen beiden auf sich hat, hören wir als gesprochenen Satz von Charlottes Vater: Albert sei zurückgekommen. Die wie ein peitschenartiger Fremdkörper klingenden Sprechworte – später wird Albert in der entscheidenden Szene Charlotte im Sprechton zu sich rufen, um ihr die Pistolen für Werther auszuhändigen – machen Lotte einen Treuebruch bewusst, im Gegensatz zur Vorlage, obwohl sie mit Albert nicht verheiratet und ihre Beziehung zu Werther nicht über den Stimmungsreiz des Emotionseinklangs hinausgediehen ist. Sie gesteht ihm sogleich, auf dem Sterbebett der Mutter ein Gelübde geleistet zu haben: den biederen Albert zu heiraten. Und nun, in der Mondnacht, habe sie es vergessen. In den Konflikt wird also, gegen den Geist der Vorlage, mit dem Gelübde eine religiöse Tabuzone eingebracht. So steht sie in Gefahr, mit der Verlobung auch das Gelübde zu brechen. Das von Massenets Librettisten gegenüber Goethes Roman veränderte Bewusstseins-, Sünden- und Motivpotenzial in Charlotte ist kein zufälliges Ergebnis auf dem Weg vom Original zur Oper. Der Komponist hat Charlotte für Mezzosopran gesetzt, also für jenes Fach, das seit Bizets Carmen und Saint-Saënsʼ Dalila den Typus der ›Femme fatale‹ begründet hatte. In der Tat macht das Mezzofach für Goethes Lotte auf dem Musiktheater eine verdächtige Transsubstantiation deutlich. Auch bei Massenet hat sie – Komplementärseite des Mezzofachs zum Verführerischen – alle Mütterlichkeit, die sie bei Goethe im Umgang mit ihren jüngeren Geschwistern auszeichnet – sie spricht von ihnen ja als ihren Kindern. Und wie bei Goethe trifft Werther der »Coup de foudre«, die Liebe aus heiterem Himmel, quasi in der Küche. Massenets Librettisten hielten die Szene, in der Lotte vor dem Gang zum Ball den kleinen Geschwistern Brote schneidet, für so wichtig, dass Charlotte davon erzählt. Und sie tun ein weiteres, um die Häuslichkeit der jungen Frau zu betonen: das Wort maison wird auffallend häufig gebraucht, auch bei der Rückkehr vom Ball. Aber was bei Goethe die Aura reiner Unschuld hat, ist in der Oper umgefärbt. Wenn Charlotte Werther eins ihrer jungen Geschwister zum verwandtschaftlichen Kuss reicht, ist das in der Oper für den Mann der Beginn einer fatalen Liebe. Das wird in der zu Goethe hinzuerfundenen Schlussszene deutlich. Endlich erwidert Charlotte dem Sterbenden das Liebesgeständnis und bekennt ihm, auch bei ihrer ersten Begegnung den »Coup de foudre« gespürt zu haben. Nun erklingt das Mondscheinmotiv aus dem ersten Akt, von ihr selbst nach dem Geständnis ausgesungen, von ihm separat aufgegriffen. Charlotte will ihm nun, ehe der Tod komme, seinen Kuss zurückgeben, erwidern – da kann nur der Stellvertreterkuss durch das Kind gemeint sein. In der Tat erscheint hier, was sie sogar ausspricht, der Mann als Leidensmann, als Opfer eines »Amour fou«, den Charlotte als behauste, 45
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verbürgerlichte Carmen und Dalila bewusst evoziert hatte. Im Klischee der Unschuld vom Lande klingt eine andere Farbe mit: die Unschuld als Reizwert, als Verführungsmittel. So, wie Massenet das Sakrale als Tabuzone erotisiert, mischt er der Unschuld ein wenig Sündhaftigkeit bei. Die Librettisten haben das sogar in die Evidenz gebracht, wiederum im Gegensatz zu Goethe. Als ein Bote im Auftrag Werthers erscheint, um von Albert für eine lange Reise die Pistolen zu erbitten, fordert Albert die mit ihm inzwischen verheiratete Charlotte auf, die Bitte zu erfüllen: »Kein Zweifel: Albert weiß, was er tut, und Charlotte erkennt die Tragweite der Situation. Alberts Verlangen, Charlotte solle dem Boten die Pistolen aushändigen, ist jetzt keine unbefangene Aufforderung mehr, sondern bekommt einen infamen Akzent. Nicht er selbst übergibt die Pistolen, sondern er zwingt seine Frau, die Todeswerkzeuge für ihren geliebten Werther bereitzustellen. Das ist ein Zug, wie ihn Maupassant hätte erdacht haben können: der diskrete Sadismus des ›Fin de siècle‹.« Aber Charlotte, diese geheime »Femme fatale«, ist nicht der Vampir, der Männer durch die Liebe aus Lust in den Tod singt. Ihre Sünde wird sie zu büßen haben: mit dem Verlust ihrer Empfindungsfähigkeit in der Ehe mit Albert. Massenet hat in Charlottes große Briefszene einen Dialog mit der hellhörigen Schwester Sophie eingeschoben, und ihr gegenüber sprengt Charlotte alle Konvenienz: sie weint aus übervollem Herzen. Was unseren Vorfahren vielleicht als sentimental erschien, ist in Wirklichkeit eingebunden in eine Ästhetik: Charlotte weiß nach der erneuten Lektüre der Briefe Werthers, wie die Geschichte ausgehen wird, und sie singt ihrer eigenen Emotionalität das Requiem. »Lass deine Tränen fließen« (»Laisse couler les larmes«) ist ein konduktartiges Gebilde, ein Trauerzug, den das Altsaxophon anführt – jenes Instrument, mit dem im König von Lahore das Paradies des Gottes Indra, in der Vision des Königs Herodes in der Hérodiade eine unrealisierbare Liebessehnsucht Klang wurde. Nun hat es wiederum eine grenzversetzende Funktion: Begleitinstrument eines Menschen auf seinem Gang aus dem Leben zu sein. Heutigen Ohren mag das schwer eingehen, da das damals noch ungewohnte Instrument durch den Jazz besetzt wurde. Für Massenets Zeitgenossen war es noch das beschwörende Exotikum eines Übergangs in eine andere Welt. So beendet Charlotte nicht zufällig die Oper nach Werthers Tod mit jenen Worten »Tout est fini«, die Max Kalbeck in seiner Übersetzung für die Wiener Uraufführung – vielleicht aus den Goethes Text durchziehenden Anklängen an die Bibel – der Passion Christi angeglichen hatte: »Es ist vollbracht«. Werther, dieser weltliche Leidensmann mit der eingeborenen Krankheit zum Tode, hat seinem von Charlotte mitgesungenen Rat gemäß, alles zu vergessen (»Oublions tout«), den Kelch geleert. Zurück bleibt Charlotte, Ursache und Hinterbliebene seines Liebestodes. Sie wird nichts vergessen und wie Kleists Penthesilea im Schacht ihrer eigenen Gefühlstiefe den Seelentod finden.
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→ KS Roberto Alagna als Werther, 2013
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KOLUMN EN T IT EL
→ Der Beginn der Gesänge von Selma aus James Macpherson Die Gedichte von Ossian, dem Sohne Fingals Stern der sinkenden Nacht, Schön ist im Abend dein Licht! Dem Gewölk’ enthebst Du dein ungeschorenes Haupt, Am Hügel ist stattlich dein Schritt! Was siehst auf der Ebne du? Es legten sich ja die stürmenden Winde, Fernher erschallt Das Getöse des Stroms. Es klimmen brausende Wogen Die Klippen des Gestades hinan! Es schwebet auf schwachen Schwingen Die Fliege des Abends, Ihr summender Flug durchschweift das Gefild. Was siehst du, o schönes Licht? Du lächelst und scheidest! Es versammlen sich froh Die Wogen um dich her, Sie baden dein liebliches Haar! Gehabe dich wohl, du schweigender Strahl! Es erhebe sich das Licht Von Ossian’s Geist! Und es erhebt sich in seiner Macht! Ich seh die abgeschiedenen Freunde! Sie versammlen sich auf Lora, Wie einst in den Tagen Vergangner Jahre. Da schreitet Fingal einher, Der triefenden Säule des Nebels gleich, von seinen Helden ist er umringt!
Ann-Christine Mecke
Schottische Frühlings luft und deutsche Häuslichkeit Über das Ossianlied und seine Verarbeitung bei Goethe und Massenet
Es war wohl die einflussreichste literarische Fälschung des 18. Jahrhunderts: 1760 veröffentlichte der schottische Autor James Macpherson die Sammlung Fragments of ancient poetry, collected in the Highlands of Scotland, and translated from the Gaelic or Erse language (»Bruchstücke alter Poesie, in den schottischen Highlands gesammelt und aus dem Gälischen oder Ersischen übersetzt«). Wegen des großen Erfolges edierte Macpherson bald weitere Fragmente, bis 1765 ein schottisches Nationalepos vorlag, das angeblich aus dem 3. Jahrhundert stammte: Die Gesänge des Ossian. Der Titelheld ist die Erzählerfigur des Epos: ein gealterter, inzwischen erblindeter Held, letzter Überlebender einer bedeutenden Familie. Er berichtet, sich auf seiner Harfe begleitend, von vergangenen Schlachten. Im Mittelpunkt stehen dabei die Heldentaten seines Vaters Fingal, die mit vielen Nebenfiguren und Erzählsträngen angereichert werden. Zwar meldeten sich schnell Kritiker, die die Echtheit 49
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des Textes anzweifelten, und tatsächlich konnte Macpherson die Originale seiner »Übersetzungen« nicht vorlegen, aber das tat dem europaweiten Siegeszug des Ossianlieds keinen Abbruch. Inzwischen weiß man, dass Macpherson das Epos nicht völlig erfunden hat, sondern teilweise tatsächlich historische Quellen nutzte. Doch große Teile der Handlung und der Form der Dichtung verdanken wir Macphersons Kreativität. Den zahlreichen Leserinnen und Lesern in ganz Europa war die Quellenlage indes nicht wichtig. Die archaisch anmutende Sprache, die Verbindung von Liebe und Tod, die Beschwörung der schottischen und norwegischen Landschaft und die Trauer, die über dem Werk liegt, trafen den Geschmack der Empfindsamkeit und später auch der Romantik. Autoren wie Herder, Klopstock, Jean Paul und Novalis begeisterten sich für das Ossianlied, Komponisten wie Franz Schubert, Carl Loewe und Johannes Brahms vertonten Texte daraus, Maler wie William Turner und Anne-Louis Girodet gestalteten Szenen aus dem Epos. Der Komponist Jean-François Le Sueur schrieb 1804 die Oper Ossian oder Die Barden, Etienne Méhul 1806 die Oper Uthal, die auf einem Gedicht aus dem Ossianlied beruht. Auch Goethe gehörte zu den begeisterten Lesern des Epos. Und nicht nur das: Er erarbeitete eine eigene Prosa-Übersetzung des Abschnitts Songs of Selma (Die Gesänge von Selma), von der er seiner Freundin Friederike Brion eine »mit großer Sorgfalt und in besonders zierlicher Schrift« angefertigte Abschrift schenkte. Drei Jahre später verwendete er diese Übersetzung für Die Leiden des jungen Werthers. Werther ist in Goethes Briefroman nämlich in zwei leidenschaftlichen Lieben entbrannt: zu Lotte und zu Ossian. Am 10. Juli schreibt er an seinen Freund Wilhelm: »Gefällt! Das Wort hasse ich auf den Tod. Was muss das für ein Mensch sein, dem Lotte gefällt, dem sie nicht alle Sinne, alle Empfindungen ausfüllt! Gefällt! Gefällt! Neulich fragte mich einer, wie mir Ossian gefiele!« Ebenso wie Goethe übersetzt auch die Romanfigur Werther das Ossianlied und gibt die Übersetzung an seine Geliebte weiter. Diese legt sie zunächst in eine Schublade. Erst als Werther sie am 21. Dezember besucht, schlägt sie ihm vor, den Text für sie zu lesen. Werther trägt daraufhin eine längere Passage aus den Gesängen von Selma vor. Darin besingt zunächst die Bardin Minona das unglückliche Schicksal ihres Bruders, der von ihrem Geliebten Salgar, der zu einer verfeindeten Familie gehört, erschlagen wurde. Dann trägt ein anderer Barde die traurige Geschichte von Arindal und Daura vor: Daura wird vom bösen Errath auf eine Insel entführt. Bei dem Versuch ihres Bruders Arindal, sie zu retten, wird dieser versehentlich von Dauras Mann Armar getötet. Armar stürzt sich daraufhin verzweifelt ins Meer, Daura stirbt an Schmerz. A N N- CHR IST IN E MECK E
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→ Johann Peter Krafft: Arindal und Daura (um 1820). Daura ist bei ihrem tödlich getroffenen Bruder. Im Hintergrund des Bildes ist Armar zu sehen, der sich ins Wasser stürzt.
Die Wirkung auf das unglückliche Paar des Romans ist eindrücklich: »Ein Strom von Tränen, der aus Lottens Augen brach und ihrem gepressten Herzen Luft machte, hemmte Werthers Gesang. Er warf das Papier hin, fasste ihre Hand und weinte die bittersten Tränen. Lotte ruhte auf der andern und verbarg ihre Augen ins Schnupftuch. Die Bewegung beider war fürchterlich. Sie fühlten ihr eigenes Elend in dem Schicksale der Edlen, fühlten es zusammen, und ihre Tränen vereinigten sich.« Schließlich bittet die weinende Lotte, fortzufahren. Werther hebt ein heruntergefallenes Blatt auf und liest weiter. Doch was wie die Fortsetzung der vorigen Episode wirkt, stammt in Wirklichkeit aus einer ganz anderen Passage des Ossianlieds. Goethe hat die Texte also neu montiert. »Werther zitterte, sein Herz wollte bersten, er hob das Blatt auf und las halb gebrochen: »Warum weckst du mich, Frühlingsluft? Du buhlst und sprichst: ich betaue mit Tropfen des Himmels! Aber die Zeit meines Welkens ist nahe, nahe der Sturm, der meine Blätter herabstört! Morgen wird der Wanderer kommen, kommen der mich sah in meiner Schönheit, ringsum wird sein Auge im Felde mich suchen und wird mich nicht finden.« 51
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← Johann Peter Krafft: Ossian und Malvina (1810)
Dieser Text stammt aus dem letzten Gesang des Epos, Berrathon. In diesem Gedicht hat sich der alte Ossian auf die norwegische Insel Berrathon zurückgezogen und erwartet dort den Tod. Sein größter Wunsch ist, dass Malvina, die Verlobte seines früh verstorbenen Sohns Oscar, zu ihm zurückkehrt, um ihn zu bestatten. Malvina hat ihren Schwiegervater lange gepflegt und nun in andere Obhut gegeben, um selbst eine Reise machen zu können. Während Ossian, der auch »Stimme von Cona« genannt wird, wartet, sieht er seine Lage in der einer blühenden Distel gespiegelt: »The thistle is there on its rock, and shakes its beard to the wind. The flower hangs its heavy head, waving, at times, to the gale. »Why dost thou awake me, O gale?« it seems to say: »I am covered with the drops of heaven. The time of my fading is A N N- CHR IST IN E MECK E
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near, the blast that shall scatter my leaves. Tomorrow shall the traveller come; he that saw me in my beauty shall come. His eyes will search the field, but they will not find me.« So shall they search in vain for the voice of Cona, after it has failed in the field. The hunter shall come forth in the morning, and the voice of my harp shall not be heard. »Where is the son of carborne Fingal?« The tear will be on his cheek!« Kurz darauf erhält Ossian die Meldung, dass Malvina überraschend gestorben ist. Die Nachricht berührt ihn tief und animiert ihm zu einer letzten Heldengeschichte, bevor er das Bewusstsein verliert. In Die Leiden des jungen Werthers entfällt die Einbettung der Zeilen als die Gedanken einer bald welkenden Distel. Vielmehr könnte man die Klage so verstehen, als stamme sie von Armin, dem traurigen Vater von Arindal und Daura, der Erzählerfigur der vorigen Geschichte. Lotte und Werther haben in diesem Moment aber einen solchen Identifikationsgrad mit den Figuren der Geschichte erreicht, dass dies ohnehin keine Rolle mehr spielt. Nur diesen letzten Abschnitt des langen Ossian-Zitats übernahmen die Librettisten von Jules Massenets Werther: Nachdem Charlotte Werther gebeten hat, aus seiner Übersetzung vorzulesen, reflektiert er: »Übersetzen... so oft ist mein Traum auf dem Flügel dieser Verse davongeflogen... Und du, lieber Dichter, hast mich so viel besser gedeutet! Meine ganze Seele ist dort!« und beginnt dann mit: »Pourqoui me réveiller, ô souffle du printemps«, »Warum hast du mich geweckt, o Frühlingshauch?« – die Arie wurde zur bekanntesten Nummer der Oper. Die Helden des Ossianlieds, deren Schicksal Werther und Charlotte gemeinsam beweinen könnten, tauchen in der Oper also gar nicht auf. Die Worte der Distel, die stellvertretend für die Gefühle des lebensmüden Ossian stehen, werden – verstärkt durch die einleitenden Worte Werthers – zu seiner Ich-Aussage. Massenet berichtet in seiner Autobiografie, dass ihn die Ossian-Szene beim Lesen von Die Leiden des jungen Werthers besonders berührt habe. Weniger Eindruck machten anscheinend Klopstock und Homer, die in Goethes Roman ebenfalls zu Werthers Lieblingsautoren zählen. Tatsächlich hat Werthers bevorzugte Lektüre im Roman eine dramaturgische Funktion, die Goethe so beschrieb: »Die Herren Kritiker haben nicht darauf geachtet, dass Werther den Homer pries, als er noch bei Sinnen war, dagegen den Ossian, als er verrückt wurde.« Im Opernlibretto wird Homer gar nicht, Klopstock lediglich einmal humoristisch erwähnt – dies hat vermutlich auch mit seinem Namen zu tun, der im französischen Kontext komisch klingt. Ossian und alle anderen Barden des schottischen Epos tragen ihre Gesänge stets zu Harfenbegleitung vor. Es verwundert daher nicht, dass die Harfe in den zahlreichen musikalischen Ossian-Werken eine zentrale Rolle 53
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spielt. Auch Massenet lässt Werther das Lied an die Frühlingsluft mit Harfenbegleitung singen. Doch nicht nur in dem Auszug aus dem Ossianlied, sondern in vielen zentralen Momenten Werthers ist die Harfe prominent zu hören, etwa in seiner Auftrittsarie, in der die Zeile vorkommt »Der Wald seufzt wie eine dunkle Harfe« oder in dem nächtlichen Duett mit Charlotte. Dass das Publikum mithilfe des Harfenklangs eine Verbindung zur keltischen Harfe von Werthers Lieblingsdichter herstellt, ist wohl weder gewollt noch zu erwarten. Massenet greift hier auf einen instrumentalen Topos zurück, der bei der Uraufführung der Oper 1892 bereits lange etabliert war. Ein weiteres Charakteristikum deutet daraufhin, dass es Massenet nicht darum ging, die spezielle Atmosphäre des Osssianlieds zu evozieren. Vielmehr sah er in dieser Szene die Gelegenheit für deutsches Lokalkolorit. Komponisten wie Loewe, Schubert und Brahms waren es, die Ossians Texte zu Liedern verarbeitet hatten. Werthers »Frühlingsluft«-Arie ist formal ein Strophenlied und orientiert sich damit am deutschen Kunstlied. Der Musikwissenschaftler Steven Huebner hat darauf hingewiesen, dass die Tonartenfolge der Arie genau der des Schumann-Liedes »In der Fremde« entspricht. Charlotte nimmt den Text von einem Cembalo herunter, das im Wohnzimmer des Ehepaars steht. So entsteht die Assoziation von (deutscher) Hausmusik, von gemeinsamem Musizieren am Klavier. Im Verlauf beider Strophen wird Werther allerdings so von Leidenschaft ergriffen, dass diese Anmutung verlorengeht und erst mit dem Refrain wiederkehrt. Und so lässt »Pourqoui me réveiller« weniger die Wehmut eines greisen schottischen Helden lebendig werden als die Verbindung von deutschem Kunstlied und leidenschaftlicher Opernarie.
→ Angela Gheorghiu als Charlotte, 2015
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Marion Recknagel
EIN MANN VON GEFÜHL – EIN MANN VON LEIDEN SCHAFT Männlichkeitskonzeptionen bei Goethe und Massenet
Werthers Weg nach Paris Als sich Jules Massenet und seine Librettisten 1885 vornahmen, eine Oper über Goethes Leiden des jungen Werthers zu schreiben, standen sie vor dem Problem, den Roman, der als Briefroman vor allem aus Berichten und Reflexionen besteht, in eine auf dem Theater darstellbare Handlung zu transformieren. Der Roman musste nicht nur in einen dramatischen Text, sondern darüber hinaus in ein Opernlibretto übersetzt werden, das im Vergleich zu einem gesprochenen Text noch kürzer und konzentrierter sein musste. Für die Librettisten hieß das, dass sie die prägnantesten Handlungselemente aus dem Roman auswählen und die reflektierenden Passagen auf sehr wenige und sehr kurze Momente begrenzen mussten. Vielschichtig verzweigte Themen, wie sie im Roman behandelt werden, waren nicht in die Oper übertragbar. Goethes Roman diente eher als eine Art Motivfundus, aus dem heraus das Libretto ausstaffiert wurde. Die charakteristischsten und populärsten Motive, etwa Lotte, die ihren kleinen Geschwistern Brot schneidet, wurden herausgelöst und wie Zitate in die Oper übernommen. Das garantierte noch einhundert Jahre nach dem Erscheinen des Romans die Wiedererkennbarkeit des Stoffes, selbst unter den Bedingungen einer anderen Kunst. Das Verhältnis zwischen Roman und Libretto ist also eher lose. In seinen Lebenserinnerungen schildert Massenet seine entscheidende Begegnung mit Werther. Auch wenn seine Memoiren keine zuverlässige Quelle für seine Biographie darstellen (tatsächlich fand die im Folgenden beschriebene Reise erst nach Beginn der Arbeit an Werther statt), es ist interessant zu sehen, wie Massenet seine Stoffwahl motiviert. Demnach fiel seine Entscheidung nicht nur aus spontaner Ergriffenheit, sondern vor allem auch in »urdeutscher« Atmosphäre. Sein Freund und Verleger Georges Hartmann habe ihn, schreibt er, nach einem Besuch der Bayreuther Festspiele, nach Wetzlar geführt. Nach Besichtigung der Originalschauplätze – oder dessen, was Massenet dafür hielt – habe Hartmann ihm eine französische Übersetzung des Romans gegeben, um, wie er sagte, die »offensichtliche und edle Bewegung, die Sie [Massenet] ergriffen hat, noch [zu] vertiefen.«1 Hartmann hat sein Ziel nicht verfehlt. Massenet hat das Buch, wenn man seinem Bericht glauben will, verschlungen – und dies trotz widriger Umstände: Denn sie gelangten zu »einer jener riesigen Bierwirtschaften, wie man sie allenthalben in Deutschland findet.« Dort blieben sie und bestellten sich »zwei Bier, genauso mächtige Gläser, wie unsere Nachbarn sie vor sich hatten.« Die Atmosphäre war dem Franzosen wohl nicht sehr angenehm. Doch war er von dem Roman so ergriffen, dass er sie ertrug: »Ich brauche wohl nicht besonders zu erwähnen, was ich in dieser dicken, übelriechenden, von herbem Bierdunst durchdrungenen Luft ausstehen musste. Doch ich konnte mich einfach nicht von der Lektüre jener glühenden Briefe losreißen, in denen so viele Gefühle innigster Leidenschaft steckten.« In Massenets 57
M A R ION R ECK NAGEL
Bericht stecken alle Topoi eines typisch französischen Deutschlandbildes. Dieses war nach dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71 ausgesprochen ambivalent. Hatte man vor dem Krieg vor allem das »Volk der Dichter und Denker« gesehen, sah man nun das militaristische Deutschland als dessen Kehrseite.2 Den Widerspruch zwischen diesen beiden Bildern versuchte man mit der Vorstellung von den »deux Allemagnes« aufzulösen. Massenet, der während der Belagerung von Paris in der Nationalgarde gedient hatte, wählt eine schwächere Variante des negativen Deutschlandbildes, indem er die Deutschen als notorische Trinker porträtiert – auch dies ein alter Topos. Vor diesem Hintergrund hebt sich seine Begeisterung für die gute Seite Deutschlands ab, für das die Namen Goethe und Wagner stehen. Die Bierseligkeit eines Gasthauses in einer deutschen Kleinstadt mit schlechter Luft und kartenspielenden, pfeiferauchenden Corps-Studenten am Nachbartisch bilden die dunkle Kulisse, vor der die »wilde, verzückte Leidenschaft« Werthers umso heller leuchtet. Es ist die Form von Leidenschaft, die Massenets Landsmann Stendhal als typisch deutsche Form von Liebe identifiziert und ein wenig verlacht hatte (siehe Seite 69). Massenets Versuche, sein Werther-Erlebnis zu stilisieren, waren nötig, um die Distanz, die zwischen ihm und Goethe bestand, glaubhaft zu überwinden – nicht nur die Distanz von 110 Jahren, sondern auch die zwischen Deutschland und Frankreich. Mit dem Erlebnis der originalen Atmosphäre eines deutschen Kleinstädtchens und einer typisch deutschen Gastwirtschaft konnte Massenet begründen, warum Werthers Gefühlswelt für ihn plötzlich wieder gegenwärtig wurde. Dabei überließ sich Massenet diesem Gefühl nicht um seiner selbst willen, sondern in der klaren Erkenntnis, dass sich daraus eine effektvolle Oper machen ließe: »Diese aufwühlenden Szenen, diese fesselnden Bilder – was musste das alles hergeben! Das war Werther! Das war mein 3. Akt.«
Ein Mann von Gefühl: Goethes Werther Massenet hatte es richtig erkannt: Goethes Werther ist eine ideale Opernfigur. Seine unbedingte Leidenschaft prädestiniert ihn für die musikalische Darstellung.3 Für Werther ist die Liebe das Absolute. Von ihrer Erfüllung hängt sein Leben ab – und er verliert es, weil sich seine Liebe nicht erfüllen lässt. Die Frage nach Werthers männlichen Eigenschaften lässt sich nur in Zusammenhang mit der Liebe beantworten. Besonders deutlich wird dies, wenn man den anderen liebenden Mann des Romans betrachtet: Albert ist in jeder Hinsicht Werthers Widerpart. Auch er liebt Lotte. Aber seine Liebe ist gefasst. Er verkörpert den bürgerlichen Hausmann und zuverlässigen Ehegatten, gilt als bieder, ehrlich, treu und rechtschaffen. Er hat ein Amt bei Hofe, das ihm die wirtschaftliche Basis bietet, um heiraten zu können. Nichts von alledem lässt sich von Werther sagen. Weder über seine HerM A R ION R ECK NAGEL
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kunft noch über seinen Beruf wird gesprochen. Zwei Stellungen nimmt er an, verlässt sie aber bald wieder, das eine Mal, weil er sich durch ein Missgeschick in seiner bürgerlichen Ehre gekränkt fühlt, das andere Mal, weil sein Dienstherr sich zu sehr vom Verstand leiten lässt, während Werthers Denken und Handeln ganz von den Sehnsüchten seines Herzens bestimmt werden. Goethe schuf mit Werther eine Figur, die zum Muster für ein verändertes Konzept von Männlichkeit wurde, das die Empfindsamkeit in Deutschland und ihr englisches Gegenstück »the cult of sensibility« im 18. Jahrhundert hervorgebracht haben. Der »man of feeling« pflegte Eigenschaften, die üblicherweise für weiblich gehalten wurden, mit weitreichenden Folgen, wie die Literaturwissenschaftlerin Inger Sigrund Brodey erläutert: »Das neue männliche Ideal der Empfindsamkeit, verkörpert durch den ›Mann der Gefühle‹ (›man of feeling‹), verzichtet auf traditionell männliche Rollen, wie sie der römische Bürger, Redner, Patriot und Patriarch verkörperte. Stattdessen schweben die neuen Männer der Empfindsamkeit am Rande von Krankheit, Wahnsinn, Ohnmacht, Untätigkeit, Schweigen und Tod und sind damit der ständigen Gefahr ausgesetzt, als ›verweichlicht‹ getadelt zu werden.«4 Dieses neue Konzept eines gefühlsbetonten Mannes löste das traditionelle Männerbild nicht ab, sondern trat in Konkurrenz dazu. Die Integration empfindsamer Züge in den männlichen Charakter wurde im 18. Jahrhundert allerdings nicht ausschließlich als defizitärer Zustand aufgefasst, sondern auch als ethische und moralische Chance. Diese konnte sich erfüllen, wenn sich als männlich und als weiblich betrachtete Tugenden im richtigen Maß und Verhältnis in einer Person vereinigen. Während die Vernunft den rechtschaffenden Mann hervorbringt, erschafft die Empfindsamkeit den Tugendhaften. In Goethes Werther repräsentiert Albert als »man of the world« gewisser maßen den Normalfall. Werther unterscheidet sich von ihm weit grundsätzlicher als nur durch den Mangel an vergleichsweise oberflächlichen Eigenschaften wie Selbstbeherrschung, Besonnenheit, Klugheit, Vernunft oder Fleiß und Strebsamkeit. Als »man of feeling« folgt Werther den Regungen seines Herzens – dies jedoch in stetem Konflikt mit der Vernunft. Darin sieht Brodey Werthers Leiden begründet, das schließlich zum Tode führt. Die endgültige Zuspitzung erfährt dieser Konflikt, so Brodey, in Werthers Selbstmord. Goethe schildert kurz und drastisch, was Werther sich angetan hat: »Über dem rechten Auge hatte er sich durch den Kopf geschossen, das Gehirn war ihm herausgetrieben.« Die Vernichtung des Körpers und der Person durch Austreiben des Gehirns durch einen Kopfschuss sei, so Brodey, »seine Schlusserklärung gegen die Vernunft.«
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EIN M A N N VON GEF Ü HL – EIN M A N N VON LEIDENSCH A F T
Ein Mann von Leidenschaft: Massenets Werther Eine Oper ist weniger diskursiv als ein Roman. Themen wie Religion, Suizid oder der Vorrang des Herzens vor der Vernunft können weder entwickelt noch erörtert werden. Der Komponist und seine Librettisten mussten von daher in der Darstellung Werthers auf solch verzweigte Zusammenhänge verzichten. In Verbindung mit diesen Reduktionen ändern sich auch die Darstellungen von Männlichkeit und Liebe. Der Unterschied scheint nur graduell zu sein: Aus dem Mann des Gefühls wird ein Mann der Leidenschaft. Massenets Werther trägt keinen inneren Konflikt zwischen den wider streitenden Kräften von Herz und Vernunft aus. Er scheitert an einer Frau, die die Treue zu einem am Sterbebett der Mutter gegebenen Wort und die Pflicht gegenüber ihrer Familie höher wertet als die Liebe. Dem Werther des Romans erscheint der Freitod als eine grundsätzliche Alternative zum Leben, die dem Menschen »das süße Gefühl der Freiheit« gibt, »dass er diesen Kerker«, als den er das Leben empfindet »verlassen kann, wann er will.« Der Werther der Oper stirbt, weil sich seine Liebe nicht erfüllt. Seine Enttäuschung ist konkreter und weniger grundsätzlich als die seines literarischen Vorbildes. Massenets Werther liebt voller Leidenschaft – aber es ist eine diesseitige Leidenschaft, die nicht darauf angelegt ist, etwas Höheres in ihr zu erfahren. Werther und Albert werden in der Oper, noch bevor sie auftreten, von anderen Figuren vorgestellt und charakterisiert. Der erste Akt beginnt mit einigen Nebenfiguren. Diese sind Charlottens Vater, der Amtmann, sowie Schmidt und Johann, deren Hauptaufgabe es ist, das »Ambiente« für die Oper zu schaffen, das Massenet sich als Hintergrund für seinen Werther vorstellte: Das Leben einer deutschen Kleinstadt, deren zentraler Ort das Wirtshaus ist. Schmidt und Johann, die meistens »Vivat Bacchus! Semper vivat!« singen, entstammen nicht der literarischen Vorlage, sondern wohl eher der Gastwirtschaft in Wetzlar, die Massenet besucht hatte. In der ersten Szene des ersten Akts erscheinen sie im Haus des Amtmannes. Sie sprechen über den bevorstehenden Ball. Schmidt und Johann präsentieren den neuesten Klatsch aus dem Städtchen. Sie wissen, welcher junge Mann sich wie für den Ball ausgestattet hat, um den Mädchen zu gefallen. Bei der Gelegenheit kommen sie auf Werther zu sprechen; selbst der scheint von dem bevorstehenden Ereignis berührt und ausnahmsweise weniger verträumt zu sein. Der Amtmann verteidigt ihn: Werther sei ein netter junger Mann, der be lesen sei und wohl aus gutem Hause stamme. Zudem habe der Prinz eine hohe Meinung von ihm und habe ihm einen Posten angeboten. Schmidt und Johann erscheint Werther jedoch als allzu melancholisch und zu wenig lebensfroh. Es ist kein rundweg positives Bild, dass hier im Gespräch der drei Männer gezeichnet wird. Belesen, bei Hofe geachtet, aus gutem Hause – aber offensichtlich nicht gewillt, aus all dem sein Glück zu machen. MeM A R ION R ECK NAGEL
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lancholie und Träumerei begrenzen die Wirksamkeit seiner lebenstüchtigen Anlagen. Mit diesen leicht hingeworfenen Sätzen ist Werther eingeführt und charakterisiert, noch bevor er selbst auftritt. Die drei Männer geben den Eindruck wieder, den er auf sie gemacht hat. Diese Einschätzung ist kein belangloser Kommentar von Nebenfiguren: Schmidt, Johann und der Amtmann vertreten die Gesellschaft des kleinen Städtchens, vor deren Augen das Drama sich abspielt. Diese Gesellschaft setzt die Wertmaßstäbe, nach denen die beteiligten Personen handeln bzw. mit denen sie in Konflikt geraten. Ihr Urteil ist also weit mehr als nur eine Randanmerkung. Es ist vielmehr das Maß, das gesetzt wird, an dem sich die Personen zu bewähren haben.
Alberts Liebe Scheinbar zufällig kommen die drei einen Moment später auch auf Albert zu sprechen, den zukünftigen Schwiegersohn des Amtmannes. Auch er wird charakterisiert und damit von den Repräsentanten der Wetzlarer Gesellschaft bewertet. Über ihn sind sie sich einig; er erfüllt, was von einem Mann wie ihm erwartet wird. Deshalb werden über ihn auch keine gegensätzlichen Einschätzungen laut. Vielmehr ist es Schmidt alleine, der sich über ihn äußert und so, quasi ex cathedra, das Verhältnis bestimmt, in dem sich Albert zum allgemeinen Maßstab befindet. Er sei, sagt Schmidt, anständig, rechtschaffen, treu und zuverlässig, ein Mustergatte. Schmidt und Johann freuen sich auf seine Hochzeit, auf der sie tanzen wollen, bis ihnen der Atem ausgeht. »Hochzeit – das ist, im Denken der Literatur, die umfassende Versöhnung mit der allgemeinen Ordnung,«5 so Peter von Matt. Sie ist das Symbol für das Einverständnis zwischen einer Maßstäbe setzenden Gesellschaft und einem in ihrer Mitte sich findenden Paar. Schmidts und Johanns Anwesenheit bei der Hochzeit zeigt die Zustimmung, die Albert in dem kleinen Städtchen erfährt. Er ist einer von ihnen, ein guter Bürger und, so sind sich alle sicher, der beste aller möglichen Ehemänner für Charlotte, eben das Muster eines Ehemanns. Albert repräsentiert in Massenets Oper, wie auch schon im Roman, das Normalmaß für Männlichkeit, an dem Werther gemessen wird. Um Formen der musikalischen Darstellung von Männlichkeit zu untersuchen, bietet sich also der Vergleich zwischen den beiden an. Im Laufe der Handlung entwickelt Albert sich vom Verlobten über den glücklich jung Verheirateten hin zum Ehemann und Hausherren. Die steigende Verantwortung und, damit verbunden, das ihm allmählich zuwachsende Herrschaftsrecht über Charlotte, spiegeln sich in den fünf Auftritten, die Albert im Laufe der Oper hat. Anfangs erscheint er als gefühlvoller Liebhaber. Im ersten Akt kommt er unangekündigt von einer Reise zurück. Er 61
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trifft nur auf Sophie, die ihre kleinen Geschwister hütet. Charlotte ist auf dem Ball, der Amtmann mit Schmidt und Johann im Gasthaus. Sophie und Albert sind gut miteinander vertraut. Er macht aus seiner Sehnsucht nach Charlotte kein Hehl und fragt Sophie, ob jene wohl an ihn gedacht habe, obwohl er so lange weg war. Sophie kann ihn beruhigen: Alle hätten stets an ihn gedacht, zumal sie doch mit den Vorbereitungen für seine Hochzeit beschäftigt gewesen seien. Mit Alberts Auftritt erscheint im Orchester sein Motiv.
← Werther, 1. Akt: Alberts Motiv
Es war früher bereits erklungen, als Schmidt und der Amtmann über Albert gesprochen hatten. Hier begleitet es nun sein Gespräch mit Sophie. Es verstummt mit dem Beginn der folgenden Arie. Albert bleibt allein zurück. Sophies Worte haben ihn beruhigt, er fühlt sich von Charlotte geliebt. Voller Sehnsucht denkt er an ihr Wiedersehen. Gefühle steigen aus seinem Herzen auf. Auf seinen Lippen formen sie Worte wie zu einem Gebet. Alberts Liebe bleibt ruhig und gefasst. Er kennt kein Ungestüm. Seine Arie ist innig aber schlicht. Und vor allem ist sie kurz. Nach nur 29 Takten hat er sich über seine Liebe ausgesprochen. Ähnlich schlicht wie die Arie verläuft sein zweiter Auftritt. Es ist ein Duett mit Charlotte im zweiten Akt. Es ist kurz und flüchtig, findet quasi nur im Vorübergehen statt. Das jung verheiratete Paar ist auf dem Weg zur Kirche. Einen Moment lang bleiben sie auf einer Bank sitzen. Albert resümiert, wie schnell die ersten Monate ihrer Ehe vorübergegangen seien. Ihm erscheint es, als seien sie schon seit je so verbunden. Er fragt seine Frau, ob sie zufrieden sei und ihre Hochzeit nicht bereue. Charlottens Antwort macht ihn glücklich: Was sollte eine Frau bereuen, fragt sie, die stets einen aufrechten Geist und die beste Seele an ihrer Seite habe? Mehr sagt sie nicht. Von Liebe ist zwischen ihnen nicht die Rede. Sein Motiv bestimmt Teile ihres Duetts. Von Alberts Äußerungen begleitet es jedoch stets nur den Anfang und verstummt, sowie er sich ein wenig Emphase erlaubt. Dafür begleitet es, auf den Kern der drei Wechselnoten reduziert, die ganze Replik Charlottens. Dies ist das schmale Band, das sie musikalisch verbindet. Melodisch nähern sie sich nicht an, sondern bleiben voneinander unabhängig. Albert ist gleichwohl glücklich; er ist leicht zufrieden zu stellen. Nach ihrem kurzen Wortwechsel gehen sie weiter. Es ist das einzige Duett der Eheleute. Nun M A R ION R ECK NAGEL
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kommen sie nur noch zu zwei kurzen Dialogszenen zusammen. Ihre letzte Begegnung findet am Ende des dritten Aktes statt, in ihrem eigenen Haus. Wieder kommt Albert von einer Reise zurück. Ihm wurde berichtet, dass Werther zurückgekehrt sei. Sein Haus findet er in desolatem Zustand vor, die Tür steht offen, niemand erwartet ihn. Er ist misstrauisch. »Besorgt«, »düster«, »hart«, »erstaunt« lauten die Anweisungen für seine ersten Sätze. Charlotte begegnet ihm angsterfüllt und verwirrt. Er verhört sie eindringlich und insistiert, wenn sie ihm ausweichen will. Sie werden von einem Bediensteten unterbrochen, der einen Brief von Werther bringt, in dem er um Alberts Pistolen bittet. Kalt und herrisch befiehlt er Charlotte, die Waffen auszuhändigen. Dann geht er ohne ein weiteres Wort ab. Die Szene ist düster und hart. Albert tritt autoritär auf, offen eifersüchtig und misstrauisch gegen seine Frau. Hier begleitet ihn sein Motiv fast durchgängig, wenn auch auf seine ersten drei Töne verkürzt. Die Violen unterlegen seinen Auftritt mit einer Kette dieses Motivfragments; taktweise treten Fagotte und Klarinetten hinzu. Der Klang ist düster und bedrohlich. Diese Motivkette läuft durch, nur kurzzeitig unterbrochen, solange er Werthers Brief vorliest. Sie setzt wieder ein, als er Charlotte auffordert, dem Diener die Pistolen auszuhändigen. Erst als er geht, setzt es aus. Alberts Motiv vertritt ihn musikalisch. Allerdings tut es das nur partiell. Das Motiv repräsentiert nicht die ganze Person. Es erscheint, wenn über ihn als zukünftigen Ehemann gesprochen wird, er als Verlobter auftritt und er schließlich als Hausherr seine Rechte durchsetzt. Aber es verstummt, sobald er als Liebender spricht. Dann gelingt ihm nicht mehr als eine schlichte Arie, der es an Emphase mangelt. Selbst im Duett mit seiner Frau bleibt Alberts Leidenschaft temperiert. Eloquent wird er dagegen im Umgang mit Sophie, die ohnehin die einzige ist, mit der er länger spricht. In seiner gesellschaftlichen Rolle als Ehemann und Hausherr erstarkt Albert im Laufe der Oper. Doch gleichzeitig erkaltet er. Männlichkeit verbindet sich bei ihm mit Gefühlsarmut und Härte. Und sie äußert sich in fortschreitender musikalischer Verarmung und Verknappung. Sein Motiv steht für seine männliche Seite. Zum Ausdruck von Gefühlen eignet es sich nicht.
Freundschaftliche Oberfläche Bezeichnenderweise ist der musikalisch reichste Auftritt Alberts die einzige Szene, in der er mit Werther spricht. Ungefähr in der Mitte des zweiten Akts begegnen sie sich vor der Kirche. Ihr kurzes Gespräch verläuft, so scheint es, im Code zärtlicher und »tugendempfindsamer« Freundschaft. Es war eine Vorstellung von Freundschaft, die im 18. Jahrhundert bestimmend war. Sie galt als ein edles, von Selbstlosigkeit geprägtes Gefühl, edler als die Liebe. Nur Männer seien zu ihr fähig, so meinte man. Freundschaft galt, so Eckhardt 63
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Meyer-Krentler »als primär männliche Sozialisationsform [...]. Demgegenüber knüpft die Frau außerhalb des Hauses und der Familie keine eigenständigen sozialen Kontakte.«6 Freundschaft ist eine Form innerer Zugewandtheit unter Männern, die »ganz auf das Wohl des anderen ausgerichtet« ist und sich infolge dessen »aller Rivalität und Eifersucht entschlägt«. Selbst wenn zwei Freunde um dieselbe Frau konkurrieren, geschieht dies im Sinne eines anregenden Wettstreits, unter dem sich die Freundschaft zwischen den beiden Männern eher festigt als dass er ihr schadet. Betrachtet man Alberts und Werthers Dialog, so scheint er alle Forderungen so verstandener Freundschaft zu erfüllen. Albert nähert sich Werther mit einer entschuldigenden Geste: »In das Glück, das meine Seele erfüllt, mein Freund, mischt sich manchmal ein Gewissensbiss.« Sein Schuldgefühl erstaunt Werther. Er erklärt es ihm, den er »Freund« nennt, in einer geschickt angelegten Rede, in der er freundschaftlich einfühlendes Verständnis für Werthers Liebesqual demonstriert. Das entscheidende Stichwort ist aber Loyalität. Albert fordert sie von Werther ein – nicht indem er sagt, dass er sie erwartet, sondern indem er hervorhebt, dass er sie voraussetzt. Er kenne, so sagt er, Werthers Herz als ebenso loyal wie standhaft. Er wisse, dass Werther sich, als er Charlotte kennen gelernt habe, Hoffnungen auf sie gemacht habe, da sie ja damals auch noch frei gewesen sei. Wenn er, Albert, sie ansieht, schön und liebevoll wie sie ist, weiß er, welch ein Glück ihm widerfahren ist, sie gewonnen zu haben. Und er versteht, wie grausam ihr Verlust Werther schmerzen muss. Alberts Rede ist doppelzüngig. Er tritt Werther verständnisvoll entgegen, scheint seine Gefühle zu achten und die Freundschaft zu ehren – doch macht er ihm unmissverständlich klar, dass er sich fortan von Charlotte fern zu halten hat. Die Freundschaft dient ihm als Deckmantel für seine eigentliche Botschaft. Und die ist eine Warnung an den Rivalen. Werther setzt Alberts vorgetäuschter Freundschaftsgeste die seinige entgegen. Er unterdrückt, so sagt der Nebentext, seinen Schmerz und beteuert, dass Albert sich seiner Loyalität sicher sein könne und keine Rivalität zu fürchten habe. Er habe sich von seiner Liebe zu Charlotte verabschiedet. Das Gespräch wird von Albert und Werther auf zwei Ebenen geführt. Es gibt die freundschaftliche Oberfläche und die tiefere Ebene der versteckten Drohung und vorgetäuschten Selbstbeherrschung. Beide demonstrieren männliche Tugenden. Albert gibt sich als guter Freund, vor allem aber als über seine Frau wachender Ehemann, der ihre und seine Ehre zu wahren gewillt ist. Werther zeigt sich als verantwortungsbewusster, seine Gefühle beherrschender Mann, der zugunsten des Freundes der Liebe entsagt. Beide lügen. Albert, indem er sich mitfühlend gibt, Werther, indem er seine Liebe leugnet. Albert bleibt auch musikalisch unter einem Deckmantel verborgen. Sein eigenes Motiv erklingt nur sehr kurz in den dunklen Farben des gemischten Klangs von Violen und Saxophon (Notenbeispiel 2). Dann verschwindet es M A R ION R ECK NAGEL
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zugunsten eines neuen Motivs, das Alberts Rede in ihrem gefühlvollen Teil begleitet. Es ist das Motiv Charlottens, aus dessen Ableitung sich Alberts Begleitung bildet (vgl. Notenbeispiel). Sie wird nicht namentlich genannt, ist dafür aber musikalisch anwesend. Von ihr leiht Albert sich die Ausdruckskraft, wenn er über sein Lebensglück spricht, dessen Zentrum sie ist und das er gegen Werther verteidigen will.
→ Werther, 2. Akt, Alberts Motiv unter einem Deckmantel.
→ Werther, 1. Akt, Charlottens Motiv
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Werthers Liebe Der Unterschied zwischen Albert und Werther hätte kaum deutlicher dargestellt werden können als in dieser Dialogszene. Alberts gemäßigtem Ausdruck stellt Werther Emphase entgegen: Er beginnt ruhig und versichert Albert seiner Loyalität, dann aber erhält Werthers Rede und ihrer Begleitung einen erregt vorwärtsdrängenden Charakter. Doch fängt Werther die Erregung, über die er in diesen Zeilen nur konjunktivisch gesprochen hatte, gleich wieder ein. Der Sturm, sagt er, habe sich beruhigt und so beruhigt sich auch das Orchester wieder. Werther reagiert auf Alberts Abwehr beschwichtigend. Der Geliebten habe er entsagt, so lautet seine Botschaft, zugunsten der Freundschaft unter den Männern, die sein Lebensglück sei. Doch rückt er, während er dies sagt, musikalisch von Albert ab. Hatte er zunächst noch dessen Tonart Des-Dur übernommen, wendet er sich nach vier Zeilen nach As-Dur. Die Harmonie zwischen den Männern wird innerlich nicht getragen. Schon diese kurze Replik Werthers zeigt, dass er über weit mehr musikalische Mittel verfügt als Albert. Er hat das reichere Gefühlsleben und vielfältigere Ausdrucksmöglichkeiten dafür. Dies zeigt sich schon in seiner Auftrittsarie. Sie ist ein emphatischer Ausbruch einer leicht erregbaren Seele, die sich notfalls die Anlässe schafft, wenn sie sich nicht von selbst bieten. Denn noch ist gar nichts geschehn, noch ist er niemandem begegnet. Und weil niemand da ist, besingt er die Natur. »Alles zieht mich an und gefällt mir «, singt er: Alles – und das ist hier wörtlich zu nehmen! – rührt und bezaubert ihn, jede Hecke, jeder Busch, der Brunnen, die Wand, der dunkle Winkel. Er berauscht sich am Duft des Sommers und fühlt sich vom Licht der Sonne durchflutet. Von Anfang an befindet er sich in einem Zustand voller Pathos und gesteigerter Leidenschaft. Darin kreist er um sich selbst, wie seine erste Arie zeigt, die wie eine alte Da-capo-Arie am Ende ihren Anfang wiederholt.
← Werther, 1. Akt, Charlottens Motiv
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Werthers leichte Entzündbarkeit wird zur Ekstase, als er zu lieben beginnt. An die Stelle der angebeteten Natur tritt nun die Frau. In Charlotte findet Werthers Leidenschaft ihr Ziel. Als sie vom Ball zurückkehren, erleben sie ihre intimste und glücklichste Begegnung. Es wäre eine Liebesszene, wenn Charlotte frei wäre, sich auf Werther einzulassen. Einen Augenblick lang scheint sie dazu bereit. Doch dann obsiegt in ihr die Erinnerung an ihre Pflicht. Werther aber, nichts von Charlottes Verlobung wissend, ist in Liebe entbrannt. Die Szene wird von einer schönen Orchestermelodie eingeleitet und begleitet. Sie wird vom Solocello vorgestellt, das von Harfe und nachschlagenden Achtelfiguren der Flöte begleitet wird. Es ist die Melodie der Liebe, die Charlotte und Werther umhüllt. Sie begleitet Werthers Erklärung, dass er keines Schlafes mehr bedürftig sei, seit er Charlotte gesehen hat. Die Orchestermelodie und Werthers Gesangslinie berühren sich immer wieder im colla parte. Charlotte aber weicht ihm aus. Lächelnd, also mit einigem inneren Abstand, erinnert sie ihn, dass er sie ja gar nicht kennen würde. Nicht nur in Worten geht sie zu ihm auf Distanz, sie wechselt die Ton- und die Taktart. Ihr folgender Wortwechsel, in dem Werther sie gegen ihre Zweifel von seiner Liebe überzeugen will, bleibt harmonisch ungefestigt im Umfeld von Ges-Dur. Aus dem 12/8-Takt wird ein 4/4, der rhythmische Duktus wird glatter. Die nachschlagenden Achtel verschwinden zugunsten durchlaufender Achtelbewegungen. Einen festen harmonischen Grund erreichen sie erst, als Charlotte von ihrer Mutter erzählt. Auch damit weicht sie Werthers Liebeswerben aus. Sie lenkt ab statt zu antworten. Doch hat sie sich in Werther verschätzt. Ihre traurige Erzählung vom Ende ihrer Mutter erregt seine Leidenschaft. »Traum! Verzückung! Glück!« antwortet er darauf. Sein Ausbruch wird musikalisch vom gesamten Orchester getragen. Auf ihrem Höhepunkt setzt in den Posaunen und Hörnern die schöne Orchestermelodie wieder ein, ins Emphatische gesteigert. Werther gesteht Charlotte seine Liebe. Doch ist es nicht ihr »Wir sind verrückt!«, das Werthers schönen Hoffnungen ein schmerzhaftes und jähes Ende bereitet, sondern die Nachricht, dass Charlotte bereits verlobt ist. Werther entsagt ihr, selbst wenn das seinen Untergang bedeutet. Charlotte ist wohl in diesem Moment nicht in der Lage sich vorzustellen, dass Werthers Ankündigung ernst ist. Sie wendet sich ab und geht ins Haus. Seine letzten Worte und ihr Abgang werden noch einmal von der schönen Liebesmelodie begleitet. Sie klingt nun traurig, ganz auf sich gestellt, ohne nachschlagende Achtelfiguren. Sie verstummt, als Charlotte nicht mehr zu sehen ist. Der Vergleich zwischen Werther und Albert zeigt: Die Musik steht auf der Seite der Liebe und der Leidenschaft. Alberts im herkömmlichen Verständnis männlicher Charakter bleibt musikalisch blass. Werther dagegen mit seiner ans Irrationale grenzenden Leidenschaft wird von der Musik niemals verlassen. Er verfügt über alle Mittel, die sie zu bieten hat. Massenet war von Werthers Leidenschaft begeistert gewesen und er ergriff in der Aus 67
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stattung seiner Figuren Partei. Dem einen hat er so viel gegeben, dass der andere vor musikalischer Blässe dahinter fast verschwindet, obwohl er, als überlebender und Gewinner im Liebeskampf, der erfolgreichere und standfestere ist.
1 Jules Massenet: Mein Leben. Autobiografie, hrsg. von Reiner Zimmermann, Wilhelmshaven 1982, S. 189, Ergänzungen MR. 2 Klaus Heitmann: Das französische Deutschlandbild in seiner Entwicklung, in: Sociologia internationalis, 4 (1966), S. 82. 3 Vgl. Marion Recknagel: Truggeweihtes Glück. Die Liebe in Opern des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Kassel 2009, S.11f. 4 Inger Sigrun Brodey: Masculinity, Sensibility, and the ›Man of Feeling‹. The Gendered Ethics of Goethe's Werther, in: Papers on Language and Literature: A Journal for Scholars and Critics of Language and Literature (PLL), 1999 Spring; 35 (2), S. 116. Auch die folgenden Ausführungen richten sich nach diesem Artikel. 5 Peter von Matt: Liebesverrat. Die Treulosen in der Literatur, München 1991, S. 27. 6 Eckhardt Meyer-Krentler: Der Bürger als Freund. Ein sozialethisches Programm und seine Kritik in der neueren deutschen Erzählliteratur, München 1984, passim.
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Stendhal → Über die Deutsche Liebe
Dieses Gefühl wird von den Deutschen als eine Tugend angesehen, als eine Äußerung des Göttlichen, als etwas Mystisches. Es ist nicht lebhaft, heftig, eifersüchtig, herrisch wie im Herzen einer Italienerin; es ist innig und ähnelt den Illuminaten.
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Oliver Láng
IM DEUTSCHEN DOM Über französische Vertonungen deutscher Klassiker im 19. Jhdt.
»Gewisse Leute können ihre Geistesgegenwart und ihren Anteil nur durch lautes Husten, Schnauben, Krächzen und Ausspeien zu verstehen geben; von diesen Einer scheint Herr Hector Berlioz zu sein. Der Schwefelgeruch des Mephisto zieht ihn an, nun muss er niesen und prusten, dass sich alle Instrumente im Orchester regen und spuken – nur am Faust rührt sich kein Haar.« Es ist Carl Friedrich Zelter, der hier an Goethe schreibt, nachdem dieser ihn um Rat gefragt hatte. Hector Berlioz hatte Goethe seine Schauspielmusik zu Faust (Huit scènes de Faust, 1829) zugeschickt. Der Dichter war zwar erfreut, aber auch etwas überfordert von den »im Anschauen so wunderlichen Noten-Figuren«. Also frage er Zelter, der das Urteil fällte: Verwerfen! OLI V ER LÁ NG
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Ob dieser hier einfach nur eine Meinung vertrat? Oder schon am immer stärker aufdräuenden deutschen Faust-Mythos arbeitete? Den richtigen Komponisten fand Goethe jedenfalls nie, und das, obwohl er eine recht deutliche Beschreibung des gesuchten Komponisten umrissen hatte: »Es müsste einer sein, der wie Meyerbeer lange in Italien gelebt hat, sodass er seine deutsche Natur mit der italienischen Art und Weise verbände.« Was der Dichter jedoch nicht ahnen konnte, war die hohe ideologische Schwelle, die jeder Komponist fortan überwinden musste. Bald war er im Spiel, der sogenannte deutsche Geist, den die Faust-Figur auszeichnete, und bald sogar noch mehr davon: Die nationalistische Beschwörung schlug ins Religiöse um. Franz von Dingelstedt, der erste Direktor des neueröffneten Opernhauses am Ring, der dem deutschnationalen Gedankengut auch in seiner Wiener Zeit unheimlich nahe stand, fragte etwa: »Welchen Deutschen, und kenne er noch so genau den Goethe’schen Faust, die zweite Bibel unserer Nation, überrieselt nicht ein leiser Schauer beim Eintritt in das Allerheiligste unseres Schrifttums, als sei es ein deutscher Dom, Eichendom oder Domkirche, deren hohe Wölbungen oder dämmerhelle Säulengänge ihn magisch umfangen?« Berlioz jedenfalls ist sich, als er später in Erweiterung der Schauspielmusik seine oratorienhafte La Damation de Faust (1846) schreibt, dieses »Allerheiligsten« nicht bewusst. Sogleich greifen empörte Rezensenten zur Feder und erkennen das Grundübel per se: den Mut, Goethes Werk zu bearbeiten. »So etwas erlaubt sich nur ein Franzose«, schreibt etwa die Berliner Musikzeitung. Andere pflichten, teils noch aggressiver, bei. Nicht besser sollte es übrigens Charles Gounod ergehen, als er sich 1859 an demselben Stoff versuchte. Es war im Zuge der ersten Aufführungen in Deutschland »großer Lärm und Jammer in Teutonien«, wie der stilbildende Wiener Musikkritiker Eduard Hanslick ironisch schreibt. »Mit einem Gerassel von Gesinnung, das an Menzel’s Franzosen-Fresserei erinnerte, wurde die neue Oper schlechtweg als ehrenrührige Parodie des Goethe’schen Faust aufgefasst, deren Aufführung auf einer deutschen Bühne als eine Art musikalischer Landesverrath zu strafen sei.« Und tatsächlich: In Brandreden wird das Thema »Bearbeitung« durchdekliniert, das besonders bei Faust strafbar sei. Denn: »Der Deutsche hat Ursache, auf dieses einzige Werk stolz und eifersüchtig zu sein, und jede Verunglimpfung desselben als Frevel an einem nationalen Heiligtum zu ahnden«. So jedenfalls sah es der Rezensent der Zeitung Das Vaterland. Um den »Frevel« nach Möglichkeit nicht zu groß werden zu lassen, brachte man die Oper an der Wiener Hofoper lange Zeit nicht unter dem Titel Faust, sondern als Margarethe: um symbolisch die Verbindung zu Goethe zu kappen. Erstaunlich, dass bei Rossinis Guillaume Tell, 1830 in Wien, also 30 Jahre vor dem Faust erstaufgeführt, deutlich zurückhaltender über die Verwendung des Schiller’schen Textes gesprochen wird. Zwar merkt man auch hier 71
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an, dass die Autoren den »romantischen Geist« nicht erfasst hätten und ein Blick in Schillers Original Abhilfe geschaffen hätte, doch steht das Lob Rossinis im Vergleich stark im Vordergrund. Und von Domen oder Säulenhallen ist hier schon gar nicht die Rede. Auch Verdis auf Schiller basierender Don Carlos wird merklich zurückhaltender behandelt: Von »zurechtgestutzt« ist da zwar mehrfach die Rede, ebenso von »Umdichtung«, aber dann doch auch: »Das Libretto ist eigentlich viel besser als die bisherigen Verballhornisierungen deutscher Meisterwerke, die bisher als Operntexte gedient haben; dafür hat es aber den entscheidenden Fehler, dass es viel zu sehr ausgearbeitet ist und mit seinen unendlichen Alexandrinern keine musikalischen Cäsuren zulässt.« Wie umfehdet das Thema war, merkt man unter anderem bei der Wiener Erstaufführung von Ambroise Thomas’ Oper Mignon (1868). Zeitungen wie das schon erwähnte Vaterland stoßen erneut ins Horn der »Verballhornung« des Originals und beziehen mit Ausdrücken wie »Parodie«, »Verwilderung« und »Unsittlichkeit« schäumend und nationalistisch-aggressiv Stellung. Das Wiener Fremdenblatt beschwört pathetisch ein »Schützen« des Originals: »Jeden redlichen Deutschen, für den unsere großen Geister nicht umsonst gedacht und gedichtet, gesungen und gebildet, muss es mit Betrübnis erfüllen, wenn er sieht, wie ganz gemeine Handwerkerhände nach dem Edelsten unserer nationalen Dichtung greifen und es in den Staub und Koth herabzerren.« Andere aber öffnen ein Feld der Diskussion und beschäftigen sich teils mit den Herausforderungen einer Übertragung und Rück-Übertragung des Textes (Mignon wurde in Wien auf Deutsch gegeben, also in einer Übersetzung der Übersetzung). Die Integrität des Goethe’schen Romans, stellt Hanslick fest, sei für Opernzwecke ohnedies nicht zu retten, schlimmer als die französische Nachdichtung scheine ihm dessen deutsche Übersetzung. In derselben Zeitung, der Neuen Freien Presse, war zwei Tage zuvor schon eine grundlegende Auseinandersetzung mit dem Thema der musiktheatralischen Klassikerbearbeitung erschienen. Könne ein deutscher Intendant »eine Goethe’sche Dichtung so umgeformt, sozusagen entstellt dem deutschen Publicum ohne seine Versündigung vorführen?«, wird dabei gefragt. Gleichzeitig wird die Übersetzung deutschsprachiger Stoffe positiv konnotiert – ob der »kosmopolitischen Empfänglichkeit« der Dichtungen. Und überhaupt: Auch Goethe habe sich ja fremdsprachiger Vorlagen bedient, um diese zu bearbeiten und sie sich künstlerisch einzuverleiben: »Und ist der ganze zweite Act des Clavigo nicht geradezu eine Übersetzung aus Beaumarchais’ Memoire über sein spanisches Abenteuer?« Besser wäre es, schließt die Zeitung Die Debatte an die Diskussion an, »ein Opernsujet in der Regel nicht zu inquirieren: ›Woher kommst du?‹, sondern ganz einfach: ›Was bist du?‹« Abgesehen davon: Wenn schon, dann müsste man doch auch zeitgenössische deutschsprachige Bearbeiter der Klassiker ebenso behelligen wie ausländische, schreibt taggleich die Morgen-Post. Man merkt schon OLI V ER LÁ NG
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an der Menge der Kommentare und Auseinandersetzungen, wie präsent das Thema in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist. Natürlich auch bei Werther. Uneins, ob Massenet und seinen Librettisten eine gelungene »Veroperung« geglückt sei oder nicht, kommentieren die Wiener Zeitungen den Umgang mit dem Original vielfältig. »Mit aufrichtigem Neid müssen unsere Operndichter auf diese fixen Franzmänner blicken, die mit feinem Spürsinn einen anziehenden Stoff in einfachen Erzählungen wittern und ihn so zu formen wissen, dass er den Gesetzen der lyrischen Bühne sich genau anpasst. Was speziell Werther betrifft, kann nicht in Abrede gestellt werden, dass die Autoren in vollem Bewusstsein ihrer Verantwortung gehandelt und mit möglichster Schonung ihres Amtes gewaltet haben.« (Wiener Montags-Journal) Dagegen: »Welch reizvolle Episoden des Goethe’schen Werther sind in dem Buche der Massenet’schen Oper unterschlagen!« (Wiener Zeitung) Oder: »Der Schauplatz, die Personen, die Motivierung, der Verlauf der Handlung. Alles ziemlich getreu nach Goethe, bis auf den Schluss.« (Neue Freie Presse) Auch diesmal spielt man die französische Oper natürlich in einer deutschen Übertragung. Doch wie die Meinung im Besonderen auch lautet, die Auseinandersetzung mit der Übertragung findet diesmal ruhiger statt, prophetisch meint das Neue Wiener Tagblatt gar, dass die Diskussion ebenso verebben werde wie im Falle von Faust oder Mignon. Ganz unprophetisch und pragmatisch bringt hingegen der Rezensent in der Presse die Sachlage auf den Punkt: »Durch ein ganzes Jahrhundert predigten die lieben Deutschen, dass Goethe ein großer Mann ist, und ganze Generationen haben die Schulbänke durchgewetzt, auf denen sie erfahren konnten, dass Goethes Werther ein dichterischer Nationalschatz sei, um den uns die Völker beneiden — was nützt’s? Ein sensationeller Opernabend in der Hofoper wirft alle bessere Erkenntnis nieder, man zerschmilzt in Rührung vor einem thränenseligen Libretto, das sich drei Herren aus Goethes Meisterdichtung herausgeschnitten haben. Man vergisst Goethe und Werther, löst sich von allen Empfindungen los, welche diese Namen seit unserer Jugend in uns aufregen und jubelt einer Oper zu, welche als verschämtes Effect stück aus dem berühmten Roman herausgewachsen ist.« So ausführlich und wiederkehrend das Thema auch besprochen wird, auf die eigentliche Rezeption seitens der Zuschauer hat die ganze Diskussion nur wenig Einfluss. Faust, Mignon, Werther – sie alle sind, zumindest eine Zeit lang, Publikumsrenner, die für volle Häuser sorgen, egal wie eng sich die Handlung an die literarische Vorlage hält. Die Koexistenz – hier Original, dort Bearbeitung – wird jedenfalls nicht nur in Kauf genommen, sondern oftmals wohl auch nicht hinterfragt: eine Gretchenfrage ist sie jedenfalls nie. → Nächste Seiten: Szenenbild, 3. Akt
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Andreas Láng
VOM BIEDERMEIER ZUM NIERENTISCHCHEN
Die drei WertherProduktionen im Haus am Ring
Gustav Mahlers bahnbrechende Reformen als Direktor der Wiener Hofoper verdunkeln etwas die ebenfalls bemerkenswerten Leistungen seines Vorgängers Wilhelm Jahn. Mehr noch: Ohne Jahns Vorarbeit in Sachen Ensembleaufbau, Förderung des Sängernachwuchses, Repertoireerweiterung, Publikumserziehung und ohne seine wirtschaftlichen Erfolge wäre Gustav Mahler in seinen künstlerischen Bestrebungen auf noch weit größere Widerstände und Stolpersteine gestoßen, als er ohnehin zu bewältigen hatte. Wilhelm Jahn, 1835 in Mähren geboren, eröffnete seine Karriere als Sänger im damals ungarischen Temesvár, wechselte aber bald aufs Dirigentenpodest und bereiste als Kapellmeister unzählige europäische Theater von Amsterdam bis Prag. 1864 bis 1880 leitete er die königliche Oper in Wiesbaden, ehe er 1881 die Wiener Hofoper für mehr als 16 Jahre übernahm. Damit ist seine Direktionsära nach jener von Ioan Holender die zweitlängste in der Geschichte des Hauses. Die Liste der Werke, die Jahn in dieser Zeit »seinem« Publikum vorstellte, ist beeindruckend: Tristan und Isolde, Otello, Falstaff, Cavalleria rusticana, Pagliacci, Manon, Die verkaufte Braut kamen ebenso zur Hofopern-Erstaufführung, wie zahlreiche Raritäten – etwa Anton Rubinsteins Nero – oder Populäres – wie Strauß’ Fledermaus. Ein Coup gelang ihm darüber hinaus zweifelsohne mit der Weltpremiere des Werther, der in Paris vorerst nicht zum Zug gekommen war (siehe auch Seite 18). In diesem Fall scheint Wilhelm Jahns Rechnung auf den ersten Blick sehr einfach gewesen zu sein: Da sich Massenets Manon auch in Wien als absoluter Dauerbrenner und Kassenschlager erwiesen hatte, lag es nahe, diesen Erfolg durch ein weiteres Werk aus der Feder desselben Komponisten zu prolongieren. In Wahrheit muss seine Entscheidung für den Werther aber »als sehr mutig eingeschätzt werden«, wie Rudi Risatti in seinen Notizen über die Uraufführung des Werther 1892 1 bemerkt. »Es handelte sich nämlich«, so Risatti, »um die Bühnenumsetzung eines komplexen psychologischen Briefromans, bei welchem alle Gegebenheiten aus der Perspektive der Hauptfigur geschildert sind. Und noch dazu war hier von keinem zweitklassigen Briefroman die Rede, sondern von einem der bedeutendsten literarischen Werke Goethes, einem Autor, der damals bereits als der verehrteste Dichter im deutschsprachigen Kulturkreis galt.« Dass jene, die Gounods Faust naserümpfend nur als Margarethe auf der Opernbühne tolerierten, auch einem dramatisierten Werther von Massenet nicht eben aufgeschlossen oder gar mit Gegenliebe begegnen würden, war durchaus zu erwarten. Und tatsächlich schien sich zunächst ein gewaltiger Misserfolg anzubahnen. Der damals noch junge Musikkritiker Max Graf fasste die Atmosphäre knapp vor der Premiere folgendermaßen zusammen: »Jeder sah dem neuen Werk Massenets mit besonderer Spannung entgegen. In der Generalprobe herrschte eine gedrückte Stimmung, jeder im Zuschauerraum fürchtete, die neue Oper werde ein Fiasko sein. Man hatte nach Manon, die in einem heiteren Stil der französischen Opéra comique komponiert war, eine Oper ähnlichen Charakters erwartet 77
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und stand nun einem Werk gegenüber, das düster und melancholisch war, wie ein elegischer Wintertag drückte es die Hörer nieder. Nach jedem Akt wurden die Gesichter der Opernfunktionäre länger.« Umso größer war einerseits die Überraschung und andererseits der Ärger der Philister, als die von Jahn persönlich dirigierte Uraufführung – in der deutschen Übersetzung von Max Kalbeck – am 16. Februar 1892 auf ein begeistertes Publikum stieß. »Wenn ich heute nicht Rezensent wäre, so wollte ich Publikum sein. Das lebt ohne Harm in den Tag, gibt wie ein gutes Kind heute Diesem morgen Jenem sein Patschhändchen«, heißt es etwa in der Presse. Und weiter: »Ein Opernabend in der Hofoper wirft alle bessere Erkenntnis nieder, man zerschmilzt in Rührung vor einem tränenseligen Libretto, das sich drei Herren aus Goethes Meisterdichtung herausgeschnitten haben. Man vergisst Goethe und Werther, löst sich von allen Empfindungen los, welche diese Namen seit unserer Jugend in uns aufregen und jubelt einer Oper zu, welche als verschämtes Effektstück aus dem berühmten Roman herausgewachsen ist. Hätten die stofflüsternen Opernbuchmacher die beiden Liebenden doch Jean und Jeanette oder sonstwie geheißen, so könnte man das Werk nehmen, wie es ist: ein mäßiges Ehebruchsdrama, welches das Drama vor dem Bruche zeitigt, und Goethe wäre nicht entwürdigt, ein Ärgernis wäre erspart geblieben.« Interessanterweise fällt jedoch gerade der Gottseibeiuns zahlreicher damaliger Komponisten, Eduard Hanslick, aus dem Chor der verärgerten literarischen Sittenwärter und findet in seiner Besprechung in der Neuen Freien Presse so manch lobendes Wort. So schreibt er von »liebevoller, künstlerischer Gestaltung«, von einer »gelungenen einheitlichen Stimmung«, von »geschickter Behandlung der Gesprächsszenen« und findet, dass der »dramatische Ausdruck im Rührenden wie Leidenschaftlichen gut getroffen und insgesamt von überzeugender Kraft« wäre. Damit ist Hanslick jedenfalls näher am Geschmack der Zuhörerschaft, als bei vielen seiner sonstigen berühmt-berüchtigten Kritiken. Aber das Publikum schien sich diesmal ohnehin nichts aus den Rezensionen zu machen – nicht aus den schlechten und nicht aus den vereinzelten besseren – und blieb der Begeisterung auch nach der Premiere treu. Jahrelang. Man huldigte dem Werk, den Ausführenden, insbesondere dem Tenor Ernest van Dyck in der Titelpartie und Marie Renard als Charlotte, sowie der optischen Umsetzung. Sehr anders sah es etwa an der New Yorker Metropolitan Opera aus, an der es zwischen 1897 und 1971 zu lediglich viereinhalb – einmal wurde bei einer Gala nur ein Akt aufgeführt – Aufführungen kam! Im Zusammenhang mit der Kostümgestaltung ist auffallend, dass erstens die Sänger ein Mitspracherecht besaßen und zweitens eine Wiedergabe der Handlung in der Goethe’schen Originalzeit vom Komponisten offenbar gar nicht beabsichtigt worden war. Rudi Risatti weist in seinem oben erwähnten Beitrag auf einen diesbezüglich aufschlussreichen Brief Massenets an van Dyck hin: »Sie haben Recht, wenn Sie auf die Zeit Ludwigs XVI. bestehen. Bitte, bestehen Sie weiter darauf. Wir sollten uns der A N DR EAS LÁ NG
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→ Foto der Uraufführung (1892), 2. Akt
Jetztzeit möglichst nähern.« Und tatsächlich dürfte der erste Werther hinsichtlich der Kostüme letztlich noch näher an Massenets »Jetztzeit« herangerückt sein und war sogar im Biedermeier verortet. Das Bühnenbild von Anton Brioschi d.J. und Hermann Burghart atmete hingegen die Zeit der 1890er Jahre. Insbesondere den Zwischenaktsvorhang, der während der rein instrumentalen Einleitung des vierten Aktes zu sehen war und eine Fernsicht der verschneiten Stadt Wetzlar zeigte, empfand ein Kritiker als »poetisches Weihnachtsbild.« (Wie viel dramatischer und den Intentionen der Partitur entsprechender wirken, meines Erachtens nach, die einen Schneesturm verheißenden Wolken-Projektionen in der aktuellen Inszenierung Andrei Şerbans!) Nicht selten blieben in der Aufführungsgeschichte des Hauses am Ring die jeweils erste szenische Realisierung eines Werkes über mehrere Jahrzehnte bestehen. So auch im Falle des Werther. Die Produktion lief bis 1931 und wurde lediglich ein einziges Mal, 1914, knapp vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, einer Neueinstudierung unterzogen. Auffallend ist die geringe Variationsdichte in der Sängerbesetzung: Ernest van Dyck sang in knapp 50 % aller Vorstellungen dieser Zeit den Werther, Alfred Piccaver in weiteren 30 %; Franz Neidl in 66 % der Aufführungen den Albert, Marie Renard in über 55 % 79
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der Aufführungen die Charlotte und Ellen Forster in über 50 % der Vorstellungen die Sophie. Wie groß die Werther-Euphorie war, zeigt, dass parallel zur Produktion an der Hof- bzw. Staatsoper auch das Theater an der Wien (1912) und die Volksoper (1925, u. a. anderem mit Viorica Ursuleac als Charlotte) Massenets Goethe-Vertonung herausbrachte – wenngleich diesen wenig erfolgreichen Inszenierungen keine annährend so lange Lebensdauer beschieden war. 1932 verschwand mit der Uraufführungsinszenierung auch das Werk für viele Jahre aus dem Spielplan der Staatsoper. Nach dem sogenannten »Anschluss« der Nationalsozialisten war eine »nichtdeutsche« Goethe-Behandlung sowieso undenkbar geworden, außerdem mussten spätestens mit Ausbruch der Zweiten Weltkriegs französische Komponisten ohnehin zum Großteil abgesetzte werden. Nach 1945 respektive 1955 gab es zwar immer wieder Überlegungen Werther neu zu produzieren, aber der Bedarf an französischen Opern schien insgesamt zurückgegangen zu sein und so konnten sich im Wesentlichen nur Carmen, Faust und Hoffmanns Erzählungen längerfristig im Repertoire behaupten. Eine Trendwende setzte erst mit den Direktoren Egon Seefehlner, Claus Helmuth Drese und Ioan Holender ab den 1970er Jahren ein, die nach und nach wichtige Werke von Berlioz, Gounod, Massenet, Halévy, Meyerbeer sowie Französisches von Donizetti und Rossini zu etablieren versuchten. Und so kam es 1986 schließlich zur zweiten WertherProduktion an der Staatsoper, diesmal jedoch endlich in der Originalsprache. Mit einem Großaufgebot an prominenten Interpretinnen und Interpreten – unter Sir Colin Davis sangen unter anderem José Carreras, Agnes Baltsa und Bernd Weikl – gelang eine bejubelte Renaissance des Werkes. Und das, obwohl die szenische Umsetzung Pier Luigi Samaritanis wahrlich nicht zu den Glanzpunkten der internationalen Werther-Rezeption zählen konnte. In der Tageszeitung Kurier hieß es süffisant: »Wohlwissend, dass ein Wiener Publikum mit billigem Bühnenrealismus abzuspeisen ist – sobald es nur musikalisch luxuriös bedient wird –, hat Direktor Drese hinterlistig kalkuliert. Um Kosten zu sparen, hat er sich Pierluigi Samaritanis Ausstattung von der Pariser Oper hergeholt. Diese malerische Inszenierung eignet sich wohl als Verschiebebahnhof für Sängerkapazitäten, aber nicht für eine geistig-theatralische Verführungsaktion. Die feinen Handlungsfäden, die Beziehungen und die ganze Psychologie einer zerbrechlichen Intimität werden unter den Teppich gekehrt. In den Staub von dumpf-protzigen Kulissen. Der Großmannssucht des Ausstattungstheaters schlägt die Stunde.« In eine ähnliche Kerbe schlug auch die Presse, wenn sie konstatierte, dass »Bühnenbild und Ausstattung noch keine Inszenierung bilden, im Gegenteil, Zeugen einer Nichtinszenierung werden« oder, etwas feiner, die Kronenzeitung: »Was Samaritanis Arrangement schuldig blieb, gleicht Sir Colin Davis am Pult aus.« Bis 1990 gingen nur mehr 26 Aufführungen über die Bühne – immerhin stets glänzend besetzt und daher bejubelt. A N DR EAS LÁ NG
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Die aktuelle, in den 1950er Jahren spielende Inszenierung mit ihrer den Bühnenraum dominierenden mächtigen Esche, erweist sich wieder als deutlich durchdachter, tragfähiger und langlebiger als die Vorgängerin. Vom Nierentischchen bis zur echten schwarzweiß-Weihnachtssendung aus dem Archiv des österreichischen Fernsehens, von der Hollywood-Schaukel bis zur Doppelmoral – jedes Detail spiegelt die Atmosphäre des beginnenden Aufschwungs der Nachkriegszeit wider. Für Regisseur Andrei Şerban, der Massenet mit Tschechow verglich, eine ideale Hintergrundfolie, vor der er die Essenz der Tragödie im neuen Gewand herausarbeitete (siehe dazu das Interview Seite 10). Zwei jungen Künstlern wurde die Premiere am 19. Februar 2005 übrigens zu einer wichtigen Wegmarke der persönlichen Karriere: Der damals erst 31jährigen Philippe Jordan, heute Musikdirektor des Hauses, leitete erfolgreich seine erste Neuproduktion an der Wiener Staatsoper und das damals noch kaum bekannte Ensemblemitglied Elīna Garanča, die, für viele überraschend, mit der herausfordernden Hauptpartie der Charlotte betraut worden war, gelang mit ihrer fulminanten gesanglichen und darstellerischen Leistung über Nacht der internationale Durchbruch.
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otizen über die Wiener Uraufführung des Werther 1892, in: Goethes Werther auf der Bühne, Ausstellungskatalog des N Stadtmuseums Wetzlar, Michael Imhof Verlag, Petersberg 2014
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Impressum Jules Massenet WERTHER Spielzeit 2021/22 (Premiere der Produktion: 19. Februar 2005) HERAUSGEBER Wiener Staatsoper GmbH, Opernring 2, 1010 Wien Direktor: Dr. Bogdan Roščić Musikdirektor: Philippe Jordan Kaufmännische Geschäftsführerin: Dr. Petra Bohuslav Redaktion: Sergio Morabito, Andreas Láng, Oliver Láng, Ann-Christine-Mecke Basierend auf dem Programmheft der Premiere von 2005 Gestaltung & Konzept: Fons Hickmann M23, Berlin Layout & Satz: Anton Badinger Bildkonzept Cover: Martin Conrads, Berlin Druck: Print Alliance HAV Produktions GmbH, Bad Vöslau TEXTNACHWEISE Die Handlung (Übernahme aus dem Werther-Programmheft der Wiener Staatsoper 2005), englische Übersetzung von Andrew Smith – Andreas Láng: Über dieses Programmbuch – Andrei Şerban: Die Gefühle erkennen (Übernahme des Interviews aus dem Werther-Programmheft der Wiener Staatsoper 2005) – Jules Massenet, Wie Werther entstand, in: Mein Leben, Autobiografie, Wilhelmshaven 1982 (S. 189-197) – Herbert Zeman: Ein Anfang und kein Ende (Übernahme aus dem Werther-Programmheft der Wiener Staatsoper 2005) – Briefe an van Dyck aus: Werther-Programmheft der Bayerischen Staatsoper, München 1977 – Bertrand de Billy: Mein Werther – Ulrich Schreiber, Verschränkung der Extreme, in: Opernführer für Fortgeschrittene; Das 19. Jahrhundert (S. 889-892) – Ann-Christine Mecke: Schottische Frühlingsluft und deutsche Häuslichkeit – Marion Recknagel: Ein Mann von Gefühl – ein Mann von Leidenschaft (gekürzt), in: Der musikalisch modellierte Mann: interkulturelle und interdisziplinäre Männlichkeitsstudien zur Oper und Literatur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, Hrsg. von Barbara Hindinger und Ester Saletta, Wien 2012 (S. 220-241) – Oliver Láng: Im deutschen Dom – Andreas Láng: Vom Biedermeier zum Nierentischchen
Die Produktion von Werther wird gefördert von
BILDNACHWEISE Coverbild: QUIET STILL POND LAKE... (Foto © H. Armstrong Roberts/ClassicStock/Getty Images) Szenenbilder Seite 5,6, 16, 17, 39, 47, 55, 74, 75: Michael Pöhn / Wiener Staatsoper GmbH Szenenbilder Seite 2, 3: Axel Zeininger / Wiener Staatsoper GmbH Seite 28, 79: Archiv der Wiener Staatsoper Seite 51, 52: Sammlung Belvedere Nachdruck nur mit Genehmigung der Wiener Staatsoper GmbH / Dramaturgie Kürzungen werden nicht extra gekennzeichnet. Rechteinhaber, die nicht erreicht werden konnten, werden zwecks nachträglicher Rechteabgeltung um Nachricht gebeten.