Programmheft »Elektra«

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ELEKTRA

ELEKTRA Richard Strauss

INHALT 3

Die Handlung Synopsis in English Über dieses Programmbuch Elektratext → Heiner Müller Auf dem Weg zur Feuerseele → Oliver Láng Das Mutterrecht → Johann Jakob Bachofen Kassandra → Christa Wolf Der Fall Anna O. → Josef Breuer Der Elektra-Komplex → Erwin Ringel Ganz einfach ging’s nicht von der Hand → Andreas Láng Krea­tivität durch Reibungswiderstand → Michael Walter Ein Mahner an uns alle → Gertrud Eysoldt Ge­schehenes und ­Ver­änderung → Pia Janke Elektra und Orest → Georg Titscher Erinne­rungen an die ersten Auf­füh­rungen meiner Opern: Elektra → Richard Strauss Eine namenlose Heiterkeit war’s → Hermann Bahr Von wütenden Dissonanzen, Wirr­verschlungenem und archaischer Monumentalität → Andreas Láng Harry Kupfers Elektra → Dieter Kranz Eine Ver­schrän­kung von Text, Musik und Szene

4 6 9 12 19 20 23 30 32 36 42 44 52 60

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72 86

→ Michael Walter

→ wiener-staatsoper.at

Musik, die aus einem kommt → Franz Welser-Möst Impressum

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ELEKTRA

ELEKTRA Richard Strauss

INHALT 3

Die Handlung Synopsis in English Über dieses Programmbuch Elektratext → Heiner Müller Auf dem Weg zur Feuerseele → Oliver Láng Das Mutterrecht → Johann Jakob Bachofen Kassandra → Christa Wolf Der Fall Anna O. → Josef Breuer Der Elektra-Komplex → Erwin Ringel Ganz einfach ging’s nicht von der Hand → Andreas Láng Krea­tivität durch Reibungswiderstand → Michael Walter Ein Mahner an uns alle → Gertrud Eysoldt Ge­schehenes und ­Ver­änderung → Pia Janke Elektra und Orest → Georg Titscher Erinne­rungen an die ersten Auf­füh­rungen meiner Opern: Elektra → Richard Strauss Eine namenlose Heiterkeit war’s → Hermann Bahr Von wütenden Dissonanzen, Wirr­verschlungenem und archaischer Monumentalität → Andreas Láng Harry Kupfers Elektra → Dieter Kranz Eine Ver­schrän­kung von Text, Musik und Szene

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→ Michael Walter

→ wiener-staatsoper.at

Musik, die aus einem kommt → Franz Welser-Möst Impressum

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Agamemnon! Agamemnon! Wo bist du, Vater? Hast du nicht die Kraft, dein Angesicht herauf zu mir zu schleppen? Generalsponsoren der Wiener Staatsoper


ELEKTRA → Tragödie in einem Aufzug Musik Richard Strauss Text Hugo von Hofmannsthal

Nach der Elektra von Sophokles (413 v. Chr.) Orchesterbesetzung Piccoloflöte, 3 Flöten, 2 Oboen, Englischhorn, Heckelphon, kleine Klarinette in Es, 4 Klarinetten, 2 Bassetthörner, Bassklarinette, 3 Fagotte, Kontrafagott, 4 Hörner, 4 Tuben, 6 Trompeten, Basstrompete, 4 Posaunen, Kontrabasstuba, Schlagwerk, Celesta, 2 Harfen, Violine I, Violine II, Viola, Violoncello, Kontrabass Spieldauer 1 Stunde 45 Minuten (keine Pause) Autograph Richard-Strauss-Archiv, Garmisch-Partenkirchen Uraufführung 25. Jänner 1909, Dresdner Hofoper Österreichische Erstaufführung 24. März 1909, Wiener Hofoper


KOLUMN EN T IT EL

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Die Handlung Vorgeschichte Agamemnon, König von Mykene, und seine Gattin Klytämnestra haben vier Kinder: Iphigenie, Elektra, Chrysothemis und Orest. Als die griechische Flotte gegen Troja auslaufen will, wird sie von einer Windstille zurückgehalten. Agamemnon muss seine Tochter Iphigenie der Göttin Artemis opfern, damit sie günstige Bedingungen für die Seefahrt gewährt. Klytämnestra wird dies ihrem Gatten nie verzeihen. Während Agamemnons Abwesenheit im Kampf um Troja bindet sich Klytämnestra an Aegisth. Als Agamemnon heimkehrt, bereiten ihm Klytämnestra und Aegisth heuchlerisch einen freudigen Empfang. Im Bad erschlagen sie den Wehrlosen mit einer Axt. Nach dem Mord an ihrem Vater hat Elektra ihren jungen Bruder Orest in Sicherheit bringen können. Sie selbst hegt nur einen Gedanken: den Mord zu rächen.

Handlung Elektra hat sich von der Gesellschaft und vor allem von Aegisth und Klytämnestra losgesagt und lebt vereinsamt dahin, gedanklich gekettet an Agamemnon. Unbeugsam nährt sie ihren Hass und baut auf Orests Rückkehr als Rächer. Die fünf Mägde, bewacht von der Aufseherin, kommentieren Elektras Verhalten: gehässig, prahlerisch, ängstlich; nur die jüngste tritt für Elektra ein und wird dafür gezüchtigt. Elektra beschwört Agamemnon und berauscht sich an ihren Blut-Visionen. Chrysothemis unterbricht Elektras Gedanken und warnt ihre Schwester: Aegisth und Klytämnestra planen, sie in einen Turm einzukerkern. Als Chrysothemis andeutet, sich mit den Mächtigen arrangieren zu wollen, um ihren Wunsch nach Mutterschaft ­verwirklichen zu können, wird sie von Elektra höhnisch in die Schranken gewiesen. Die ruhelose Klytämnestra sucht, gequält von den Erinnerungen und von Angstträumen, eine Aussprache mit Elektra und erhofft sich von ihr A ­ uskunft, durch welche Blutopfer und Bräuche ihr Linderung zuteil würde. Elektra antwortet ihr hinhaltend, rätselhaft, hintersinnig, drohend. Als jedoch Klytämnestra eine Neuigkeit überbracht wird, weicht ihr Grauen einem offensichtlichen Triumphgefühl. Elektra ist irritiert, bis sie den Inhalt der Nachricht von Chrysothemis erfährt – ihr gemeinsamer Bruder Orest ist tot. Elektra will dies nicht wahrhaben, muss dann doch dem Botenbericht 3

DIE H A N DLU NG


­ lauben schenken und entschließt sich, die Rache selbst auszuführen. G ­Chrysothemis soll ihr dabei helfen. Mit Zärtlichkeit und Zeichen der Zu­ neigung versucht Elektra, ihre jüngere Schwester für ihren Mordplan an ­Klytämnestra und Aegisth zu gewinnen. Aber Chrysothemis entzieht sich ihrer Schwester und wird von dieser verflucht. Nun ist Elektra entschlossen, die Tat allein zu vollbringen. Doch da kommt ein Fremder, der sich als Bote ausgibt und Klytämnestra den Tod Orests melden soll. Elektras Verzweiflung bewegt ihn, nach ihrem Namen zu fragen. Dann erst gibt er sich als ihr Bruder zu erkennen – als Orest! Elektra drängt ihn zum Mord, den Orest eilig auszuführen gelobt. Allein zurückgeblieben harrt Elektra auf das Weitere … Die Todesschreie Klytämnestras und die Verwirrung der Mägde geben ihr Gewissheit, dass ein Teil der Rache vollstreckt wurde. Aegisth, von Dienern herbeigeholt, will selbst die Botschaft von Orests Tod hören. Schmeichlerisch geleitet ihn ­Elektra dahin, wo sie den Rächer weiß, der ihn wenig später tötet. Von der endlich ausgeführten Rache erfüllt, beginnt Elektra einen letzten ekstatischen Tanz …

Synopsis Background Agamemnon, King of Mycenae, and his wife Clytemnestra have four children: Iphigenia, Electra, Chrysothemis and Orestes. When the Greek fleet is ready to set sail for Troy, a calm keeps the ships in port. Agamemnon must sacrifice his daughter Iphigenia to appease the goddess Artemis so that she will create ­favourable winds for his journey. Clytemnestra will never forgive her husband for this. During Agamemnon’s absence fighting for Troy, Clytemnestra enters into a relationship with Aegisthus. When Agamemnon returns home, Clyte­ mnestra and Aegisthus feign a joyous welcome. They then murder the defenceless man with an axe as he sits in his bath. After her father is murdered, Electra succeeds in bringing her young brother to safety. She herself nurses one thought: to avenge the murder. SY NOPSIS

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Plot Electra has dissociated herself from society and above all from Aegisthus and Clytemnestra; she lives in isolation, bound in her thoughts to Agamemnon. She unrelentingly nurtures her hate, counting on Orestes’ return to avenge the mur­ der. The five maid servants, supervised by the overseer, comment on Electra’s behaviour: spiteful, pretentious, fearful. Only the youngest maid servant stands up for Electra and is chastened for doing so. Electra invokes Agamemnon and goes into raptures over her bloody vision. Chrysothemis interrupts Electra’s monologue and warns her sister: Aegisthus and Clytemnestra are planning to incarcerate her in a tower. When Chrysothemis implies that she will come to terms with them in order to realize her desire to be a mother, Electra scornfully puts her in her place. Plagued by memories and anxiety dreams, the restless Clytemnestra tries to talk to Electra, hoping to find out from her what blood sacrifice or rites would bring her relief. Electra responds tantalizingly, enigmatically, cryptically, and frightens her mother with questions about Orestes. However, when Clytemnestra is brought news by her confidante, her dread gives way to an obvious sense of triumph. Electra is annoyed, until she learns the news from Chrysothemis – their brother Orestes is dead. Electra refuses to believe it, but must then give credence to the messenger’s report. She decides to wreak vengeance herself, and determines that Chrysothemis should help her. With ­tenderness and outward affection, Electra tries to win her sister’s support for her plan to murder Clytemnestra and Aegisthus. However, Chrysothemis evades her sister, who curses her. Now Elec­ tra is resolved to perform the deed herself. A stranger arrives, passing himself off as a messenger who has come to tell Clytemnestra of the death of Orestes. Electra’s despair moves him to ask her name. Only then does he reveal that he is her brother – Orestes! Electra urges him to murder the couple to avenge his father, a deed Orestes pledges to carry out swiftly. Left alone, Elektra awaits further events… Clytemnestra’s death screams and the confusion of the maid servants assure her that revenge has in part been ex­ acted. Aegisthus, fetched by the servants, wants to hear the news of Orestes’ death himself. With flattering words, Electra guides him to the place where she knows the avenger to be, who kills him shortly thereafter. Consumed with joy that revenge has been exacted, Electra begins a last ecstatic dance…

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SY NOPSIS


ÜBER DIESES PROGRAMMBUCH

1903 brachte Max Reinhardt Hugo von Hofmannsthals Tragödie Elektra – mit der faszinierenden Darstellerin Gertrud Eysoldt in der Titelpartie – zur Uraufführung. Hofmannsthal hatte aus dem antiken Elektra-Mythos ein einaktiges, modernes psychologisches Drama geschaffen, das zwar auf dem antiken Vorbild aufbaut, aber stark mit den Einsichten der frühen Psychoanalyse angereichert wurde: Elektra ist durch das Trauma der Ermordung ihres Vaters Agamemnon in ihrer Identität geborsten und wird zur manischen Trägerin eines Rituals der Erinnerung. In diesem Programmbuch wird das Bezugsfeld der Elektra-Uraufführung aufgefächert: Von den Erkenntnissen der Altertumsforschung des 19. Jahrhunderts (Johann Jakob Bachofen, → S. 19), über die Entwicklung des Elektra-Mythos’ ab Hesiod (Oliver Láng, → S. 12) und den Studien Sigmund Freuds sowie Josef Breuers (→ S. 23) bis hin zu den Eindrücken Gertrud Eysoldts (→ S. 42). Im Banne der Elektra-Inszenierung Reinhardts beschloss Richard Strauss, damals noch im Ruf des ereignishaften Erneuerers, das Werk zu vertonen – im Rückblick erzählt er über Aspekte dieser Arbeit (→ S. 60), ­A ndreas Láng zeichnet ab S. 32 Entwicklungslinien der Entstehungsgeschichte nach und in Hermann Bahrs zeitgenössischem Essay (→ S. 63) ist dessen erster Grundeindruck nach der Dresdner Uraufführung (1909) zu lesen. In zwei Texten spürt der Musikwissenschaftler Michael Walter den Besonderheiten der Partitur nach, Pia Janke heftet sich auf die Spuren von Hofmannsthals Elektra-Libretto (→ S. 44) und Erwin Ringel und Georg ­T itscher erläutern das psychologische Potenzial und die entsprechende ­Unterfütterung der Oper. Der Dirigent Franz Welser-Möst wirft ab S. 91 einen höchstpersönlichen Blick auf die Elektra und beschreibt die für ihn zentrale Stelle in der Oper. Die Wiener Erstaufführung fand am 24. März 1909 an der Hofoper – der heutigen Wiener Staatsoper – statt. Seither blieb Elektra praktisch durchgehend am Spielplan des Hauses, wie Andreas Láng ab S. 64 beschreibt. Ü BER DIE SE S PROGR A M MBUCH

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In der aktuell gespielten Inszenierung von Harry Kupfer – Premiere 1989 – geht es nicht um eine antike Geschichte, sondern um Gewalt und Gegengewalt, um Macht und Manipulation, um Unterdrückung. Im Schatten der Agamemnon-Statue erzählt Kupfer die Geschichte aller Diktaturen und ihrer Folgen. Aspekte seiner Elektra-Arbeit sind ab S. 72 dargestellt. Die Wiederaufnahme dieser legendären Produktion fand im September 2020 statt, es war geplant, dass Harry Kupfer persönlich seine Elektra vorbereitet, sein Tod am 30. Dezember 2019 verhinderte jedoch die Rückkehr des Regisseurs ans Haus. Angela Brandt, eine langjährige Mitarbeiterin Kupfers und von ihm für diese Produktion ausgewählt, erarbeitete die Produktion in seinem Sinne – als Vermächtnis und Erinnerung an den großen Theatermacher.

Vater mit Kindern im Park (1908)

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Ü BER DIE SE S PROGR A M MBUCH


Die am 16. Mai 1871 gestürzte Vendome-Säule mit der Statue Napoleons I.


Heiner Müller

ELEKTRATEXT Tantalos, König in Phrygien, raubt die Speise der Götter, schlachtet Pelops, seinen Sohn, setzt ihn den Göttern vor. Die Götter erkennen die Mahlzeit, nur Demeter isst von einer Schulter. So bestrafen sie den Raub: Tantalos hängt an einem Obstbaum, der unter einem schwebenden Felsen in der dreifach ummauerten Mitte des Hades aus einem Teich wächst, in ewigem Hunger zwischen den Früchten. Durst über dem Wasser, Angst unter dem Stein. Die Götter verfluchen sein Geschlecht. Niobe, Tochter des Tantalos, hat zwölf Kinder. Sie prahlt vor den Göttern mit ihrer Fruchtbarkeit. Apollon und Artemis töten die zwölf Kinder mit zwölf Pfeilen. Zeus verwandelt die schreiende Mutter in ihr eigenes Standbild. Im Frühsommer weint der Stein. Thyestes, Sohn des Pelops, bricht die Ehe seines Bruders Atreus. Atreus erschlägt die Söhne seines Bruders und bewirtet ihn mit ihrem Blut und Fleisch. Thyestes tut seiner eigenen Tochter Gewalt an. Ihr Sohn Aigisthos tötet Atreus. Agamemnon, Sohn des Atreus, nimmt Klytaimnestra zur Frau, sein Bruder Menelaos ihre Schwester Helena. Helena wird von Paris verführt, folgt ihm nach Troja, der Trojanische Krieg beginnt. Zum ersten Kriegsopfer bestimmt ein Seherspruch Iphigenie, Tochter Agamemnons und der Klytaimnestra. Klytaimnestra widersetzt sich, Agamemnon gehorcht, Iphigenie legt ihren Hals unter das Beil. Klytaimnestra teilt mit Aigisthos, dem Sohn des Thyestes und Mörder des Atreus, Macht und Bett. Klytaimnestra und Aigisthos töten Agamemnon, nach seiner Heimkehr aus zehn Jahren Krieg, im Bad mit Netz Schwert Beil. Elektra, zweite Tochter Agamemnons, rettet Orestes, ihren Bruder, vor dem Schwert des Aigisthos und schickt ihn nach Phokis. Zwanzig Jahre lang, Magd unter Mägden im Palast der Mutter, wartet sie auf seine Heimkehr. Zwanzig Jahre lang träumt Klytaimnestra den gleichen Traum: eine Schlange saugt Milch und Blut aus ihren Brüsten. Im zwanzig­sten Jahr kehrt Orestes heim nach Mykene, erschlägt Aigisthos mit dem ­Opferbeil, nach ihm seine Mutter, die mit entblößten Brüsten vor ihm steht und um ihr Leben schreit.

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ELEKT R AT EX T


Erwin Rohde, Psyche, 1898

In jenen tief erregten Zeiten müssen die Griechen vielfach die Erfahrung von jenen abnormen, aber keineswegs seltenen Erscheinungen des Seelenlebens gemacht haben. Selbst voraussetzungslose psychologische Beobachtung unserer Zeit weiß solche bei gewissen neuropathischen Zuständen oft (freiwillig oder unter dem Zwang experimenteller Veranstaltung) hervortretende Erscheinungen nicht anders zu beschreiben, denn als eine Verdoppelung oder Vervielfältigung der Person, Bildung eines zweiten Ich, eines zweiten Bewusstseins nach oder neben dem ersten und normalen Bewusstsein, dem das Dasein seines Doppelgängers regelmäßig verborgen bleibt.


Salvador Dalí, Métamorphose d’un buste d’homme en scène inspirée par Vermeer (1939)


Oliver Láng

AUF DEM WEG ZUR FEUERSEELE

Wie der Mythos Mensch wurde


Wie es sich für einen Mythos gehört: Die Anfänge liegen im Dunkeln. Aus den geheimnisvollen Schattenstufen der Entstehung und Verfestigung eines Sagenstoffes manifestiert sich eine Figur, die zunächst nur in wenigen schemenhaften Andeutungen gezeigt wird. So schemenhaft, dass wir heute gar nicht mehr wissen, ob es sich bei der ersten zaghaften Erwähnung überhaupt um die spätere Legendengestalt handelt. Nur durchs Hörensagen wird sie bestimmt: Laodike, eine der Töchter von Agamemnon, wird – nur als Name und in ihrer Tochterfunktion – in der Ilias des Homer erwähnt: »Drei der Töchter besitze ich im festgebauten Palast: Deren wähle er sich eine: Chrysothemis, Iphianassa oder Laodike auch, und führe umsonst die Erkorene heim in des Peleus Haus«. Mehr ist nicht zu lesen über die (unglückliche) Tochter und ihr Schicksal. Und dann: Gewissermaßen über zwei Ecken, nämlich in einem Hinweis des Römers Aelianus, wird der griechische Dichter Xanthos zitiert, der die Namen Laodike und Elektra auf eine Person bezieht: demnach war der ursprüngliche Name Elektras Laodike, und Elektra wurde sie nur aufgrund einer etymologischen Angleichung des griechischen Wortes für »unverheiratet« genannt. Zumindest lernt man aus diesem Hinweis, dass Elektra l­ ange unverheiratet war: ein weiterer Mosaikstein ihrer Biografie. Wiederum aus literarischen Zweitquellen erfährt man weiters, dass dieser Xanthos eine Orestie entworfen und damit die mythologische Geschichte rund um die ­Atriden einem Publikum vorgestellt hatte. Elektra heißt sie jedenfalls bereits bei Hesiod im 7. Jahrhundert v. Chr., und ganz nebenbei lässt uns Hesiod eine figürliche Beschreibung zukommen, nämlich dass diese Elektra »es an Gestalt mit den Göttinnen aufnahm.« Wie Hesiod überhaupt in Nebensätzen ein guter Lieferant von Informationen über Eigenschaften war, beschreibt er doch wenige Zeilen später Klytämnestra als »härter als ein Mann«. Konkret wird es mit Elektra erst bei Aischylos (525/524–456/455 v. Chr.), genauer in seiner einzigen heute noch erhaltenen Trilogie, der Orestie aus dem Jahr 458 v. Chr., in der der Dichter Ausschnitte aus der Familiengeschichte erzählt. Zuvor aber noch eine Zusammenfassung der im Mythos besprochenen ­Ereignisse: Diese beginnen dunkelschwarz und gewalttätig in früher Zeit: Der Stammbegründer Tantalos (ein Sohn von Zeus) hatte die Götter herausgefordert und seinen Sohn Pelops geschlachtet und ihnen vorgesetzt. Dieser wurde zwar göttlich wiederbelebt, entwickelte jedoch ähnlich seinem Vater einiges an krimineller Energie. Und auch seine Söhne Atreus und Thyestes schlugen diesbezüglich nicht aus der Art: Atreus kam ganz seinem Großvater nach und schlachtete einige Söhne seines Bruders, um sie diesem vorzusetzen. Schließlich wurde er von Aegisth ermordet, jenem Aegisth, der später noch eine bedeutende Rolle in der Familiengeschichte spielen sollte. Damit kommen wir endlich beim Brüderpaar Menelaos und Agamemnon an (Söhne von Atreus), die, unzertrennbar wie sie waren, zwei Schwestern heirateten: Helena und Klytämnestra. Unglücklicherweise war die eine ausgesprochen 13

OLI V ER LÁ NG


schön, die andere – siehe oben – härter als ein Mann. Die Schöne wurde von Paris geraubt und war so – indirekt – für den Trojanischen Krieg verantwortlich. Die andere (Klytämnestra) verzieh es ihrem Mann (Agamemnon) nicht, dass er, auf der Seereise in den Trojanischen Krieg, die gemeinsame Tochter Iphigenie im Gegenzug für ein günstiges Reisewetter den ­Göttern opfernd zusprach. Unterschiedlich die mythologischen Ausformulierungen, ob dieses Menschenopfer dann stattgefunden hat oder nicht – jedenfalls rächte ­Klytämnestra sich für den Mord bzw. den geplanten Mord an ihrer Tochter ihrerseits: erstens mit Ehebruch (Aegisth nahm während der Abwesenheit Agamemnons seinen Platz im Bett und auf dem Thron ein) und zweitens mit Mord (der heimkehrende und siegreiche Agamemnon wurde im Bad ermordet). Aischylos gibt im ersten Teil seiner Orestie, genannt Agamemnon, übrigens die Antwort auf die Frage, warum der Königsmord an Agamemnon öffentlich so unkommentiert und friktionsfrei über die Bühne gehen konnte: weil nämlich das Volk schon längst unter den Folgen und Toten des Trojanischen Krieges litt und Agamemnon die Schuld zusprach. »So murrte man man im Stillen und heimlich verbreitete sich gramvoller Hass auf die Herrscher, die Söhne des Atreus«. Und hier setzt die eigentliche Geschichte Elektras ein, die ihrerseits wiederum den Mord an ihrem Vater nicht vergessen kann und Rache fordert. Diese wird letztendlich durch ihren Bruder, Orest, ausgeführt. Je nach mythologischer Version endet seine Geschichte unterschiedlich: ­Homer beschreibt die Tat ohne weitere Folgen, andere Quellen führen die Geschichte fort und lassen die Erinnyen, die Rachegöttinnen, Orest verfolgen, ihn mit Wahnsinn schlagen und durch Griechenland jagen. Schließlich soll er vor dem Älterstengericht, dem Areopag, Vergebung erlangt haben, da die Rache am Vater den Mord an der Mutter aufwiege – so jedenfalls die historische griechische Ansicht. In anderer Fassung soll er sich den Finger abgebissen haben und so die Wut der Furien besänftigt haben. So oder so: Er starb jedenfalls hochbetagt. Zurück zur Verstofflichung des Elektra-Mythos’. Mit der genannten Orestie von Aischylos finden wir erstmals eine überlieferte, konkret dargestellte und tätige Elektra vor. Diese ist jedoch in ihrem Handeln und ihrer ganzen Persönlichkeit noch nicht die entschlossen agierende und unerbittliche Figur, die später in den Vordergrund treten sollte, sondern ist als Mensch ganz allgemein einem waltenden, unerbittlichen Schicksal unterworfen, das über dem Einzelnen, aber auch über ganze Geschlechter, herrschen kann. Denn alles Tun, so erkennt der Dichter, ist ein Schuldigwerden vor der Welt, der Mensch aber ist gefangen in einer Verkettung von Schuld und Gegenschuld. Dies zeigt sich auch in der Behandlung der Abfolge der Racheakte. Liest man Aischylos’ Beschreibung der Tat Agamemnons, so ist Klytämnestras unerbittlicher Mutterzorn zumindest zu verstehen: Bewegend beschreibt der Dichter, wie der Vater seine Tochter wie eine »Geiß« zum Opfer brachte. Die spätere OLI V ER LÁ NG

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Schuldhaftigkeit der Mutter wird aus der Schuldhaftigkeit des Vaters abgeleitet: Dieser begeht seine Tat in Erkenntnis ihrer Tragweite, sieht aber kein Entkommen. »Was ist hier ohne Schuld«, lässt Aischylos Agamemnon fragen. Elektra nimmt nur Nebenrollencharakter ein: Nicht sie hatte Orest als Kind gerettet, sondern Klytämnestra ihn fortgeschickt. Und Elektra fragt noch zögernd, ob sie denn von den Göttern Rache für den Vatermord erflehen dürfe? Und sie bittet darum, »besonnener, reiner und frommer zu werden« als ihre Mutter, auch wenn sie später erkennt, dass in ihrem Falle Schöntun sinnlos wäre, denn schließlich ist ihr Gemüt »der Mutter Erbteil«. Orest, der zurückgekehrt ist, ist bereit zur Tat, Elektra, die in seiner Gegenwart Mut fasst, unterstützt ihn, wenn sie auch noch bei weitem nicht jene treibende Kraft entwickelt, die wir später an ihr kennenlernen sollten. Und ihre Wünsche sind durchaus auch auf ein wohliges Heim ausgerichtet, wenn sie ihren Vater im Gebet um »Gatten und Haus« bittet.

Fragmente einer männlichen Statue (Bildnis des Kalifen Hisam ibn Abd al-Malik?), 8. Jahrhundert

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AU F DEM W EG Z U R FEU ERSEELE


Bei Sophokles (496–406 v. Chr.) rückt Elektra ins Zentrum der Handlung des gleichnamigen Stücks: Weniger ein Schicksalsdrama im Sinne eines den Menschen niederringenden Geschicks, sondern ein echtes Personendrama, das höchstpersönlich das Leid einer Figur beschreibt. Beginnend mit dem ersten Satz der Elektra »Weh mir, ich Leidgeprüfte« wird die Geschichte einer Zentralgestalt erzählt: Sie ist nicht mehr leidend, passiv, ehewünschend ihrem Bruder unterstellt, sondern die eigentliche Vorantreiberin der Handlung, ja die Handlung selbst. Sie selbst hat von Anfang an gewirkt, indem sie ihren Bruder Orest rettete, um ihn als Rächer nützen zu können; und sie ist – wie in dem Zwiegespräch mit Chrysothemis kontrastierend herausgearbeitet wird – die Raue, die ihrer Schwester, welche sich der Macht unterworfen hat, verachtend entgegentritt. Im zornigen Gebet spricht sie Hermes und die Erinnyen an, ihr den Bruder zu senden und damit die Rache zu ermöglichen. Ihrer Mutter tritt sie als mahnendes Gewissen entgegen und ringt deren Rechtfertigungen nieder. Sie wird dabei in wechselnder Form gezeigt: Als Leidende, Beschwörende, Zornige, Hasserfüllte, Hoffende, Verzweifelnde und Triumphierende. Und im Gegensatz zu ihrer aischyläischen Schwester droht nach der Tat – deren Verursacherin sie ist – keine Strafe: Das Unrecht, das Elektra erkannt hat, wurde durch den von ihr angeleiteten Orest getilgt. Selbst unmittelbar zwischen den Morden an Klytämnestra und Aegisth herrscht Elektra ihren Bruder an, schneller zu machen: »Bei den Göttern, nicht lange reden! Schlage Aegisth gleich tot und gibt ihn den Totengräbern!« Fast durchwegs steht sie auf der Bühne, und obgleich Orest die eigentliche Tat vollbringt, geht es bei Sophokles weniger um diesen Akt als um die Darstellung und Greifbarmachung der Persönlichkeit der Titelfigur: diese sind das eigentliche Drama und die psychologische Abbildung Elektras der eigentliche Inhalt. Ist also bei Aischylos noch der Zug ins Archaische und Schicksalsgebundene spürbar, noch der Geist des alten Mythos’ fühlbar, so formt Sophokles ein Drama, in dem Elektra eine schon ganz ungebundene Person ist. Götter und Schicksal sind da, aber nur Umgebungsvariablen, die im Vergleich zum inneren Willen Elektras in den Hintergrund rücken. Die mythische Figur ist damit zur realen Persönlichkeit geworden: Elektra als Sinnbild der rasend-entrückten Rächerin, der »wilden Feuerseele«, wie Goethe sie genannt hat. Damit endet das Geheimnis des Mythos’: und Elektra ist ganz Mensch.

AU F DEM W EG Z U R FEU ERSEELE

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Hugo von Hofmannsthal, 1903

WIR MÜSSEN UNS DEN SCHAUER DES MYTHOS NEU SCHAFFEN. AUS DEM BLUT WIEDER SCHATTEN AUFSTEIGEN LASSEN.


Salvador Dalí, Paranoiac Visage (1935)


Johann Jakob Bachofen

DAS MUTTERRECHT Im Agamemnon, dem ersten Akt der Orestie, liefert Aischylos einen wichtigen Beitrag desselben Urrechts der menschlichen Gesellschaft (des Mutterrechts), und seiner Auffassung schließt sich in diesem Teile auch Sophokles’ Elektra an. Die Erinnyen verfolgen nur Orest, den Muttermörder, Klytämnestras Tat ruft sie nicht zur Rache auf. Sie ist dem Manne nicht blutsverwandt, den sie erschlug. Wie die Erinnyen die Strafe verweigern, so weist auch Klytämnestra jede Schuld von sich. Beide gehen von dem gleichen Grundsatze aus, beide stehen auf dem gleichen Boden, auf dem Boden des Mutterrechts. Nach diesem hat Klytämnestra den heimkehrenden Gemahl mit Recht gemordet. Kassandras Eintritt in Agamemnons väterlichen Palast, ihre Besteigung des fremden Ehebettes ist eine Verletzung desselben Gesetzes, das durch des Sohnes blutige Tat zum zweiten Male gebrochen wird. Doppelte Schuld ladet der Pelopiden männlicher Stamm auf sich. Tritt Agamemnon durch Heimführung der fremden Buhlerin des Weibes Recht mit Füßen, so vollendet Orest des Vaters Untat durch der beleidigten Mutter Mord. Hat Agamemnon ohne Recht des Weibes Tochter geschlachtet, so sieht Orest in wiederholter Untat der Mutter Blut zur Erde fließen, und Atreus’ Greuel an Thyests Söhnen ist von des Geschlechts Dämon durch Talion gebüßt. Durch Iphigenies Mord wird Klytämnestras Tat gerechtfertigt. Wer des Kindes Blut vergießt, verfällt der Mutter Rache. In der Tochter ist das weibliche Naturprinzip, ist die Erdmutter selbst verletzt. Wie für Klytämnestras die Erinnys, so erhebt für Iphigenie sich Nemesis. Nach der Erinnyen Gesetz ist Orest, nach dem der Nemesis Agamemnon mit Blutschuld behaftet; der eine wie der andere macht sich des Vergehens an dem Muttertum der Erde schuldig …

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DAS MU T T ER R ECH T


Christa Wolf

KASSANDRA Vorhin, als die Königin aus dem Tor trat, ließ ich eine letzte sehr kleine Hoffnung in mir aufkommen, ich könnte ihr das Leben der Kinder abgewinnen. Ich hab ihr dann bloß in die Augen sehn müssen: Die tat, was sie musste. Sie hat die Dinge nicht gemacht. Sie stellt sich auf den Stand der Dinge ein. Entweder sie entledigt sich des Mannes, dieses Hohlkopfs, gründlich, oder sie gibt sich auf: ihr Leben, ihre Regentschaft, den Geliebten, der übrigens, wenn ich mir die Figur im Hintergrunde richtig deute, gleichfalls ein selbstverliebter Hohlkopf ist, nur jünger, schöner, glattes Fleisch. Durch ein Schulterzucken gab sie mir zu verstehn, dass, was geschah, nicht mir persönlich galt. Nichts hätte zu andern Zeiten uns hindern können, uns Schwester zu nennen, das las ich der Gegnerin vom Gesicht ab, in dem Agamemnon, der Trottel, Liebe und Ergebenheit und Wiedersehensfreude sehen sollte und auch sah. Worauf er den roten Teppich hinaufstolperte wie der Ochs ins Schlachthaus, wir dachten es beide, und in den Mundwinkeln der Klytaimnestra erschien das gleiche Lächeln wie in den meinen. Nicht grausam. Schmerzlich. Dass das Schicksal uns nicht auf die gleiche Seite gestellt hat. Ich trau’s der andern zu, dass sie weiß: Auch sie wird von jener Blindheit befallen, die an Macht gekoppelt ist. Auch sie wird die Zeichen übersehen. Auch ihr Haus wird untergehn. Das hab ich lange nicht begriffen: dass nicht alle sehen konnten, was ich sah. Dass sie die nackte bedeutungslose Gestalt der Ereignisse nicht wahrnahmen … Ameisengleich gehn wir in jedes Feuer. Jedes Wasser. Jeden Strom von Blut. Nur um nicht sehn zu müssen. Was denn? Uns.

* Ich will nicht mehr sprechen. Alle Eitelkeiten und Gewohnheiten sind ausgebrannt, verödet die Stelle in meinem Gemüt, von wo sie nachwachsen könnten. Mitleid mit mir hab ich nicht mehr als mit anderen. Beweisen will ich nichts mehr. Das Lachen dieser Königin, als Agamemnon auf den roten Teppich trat, ging über jeden Beweis. CHR ISTA WOLF

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Fotografie einer Patientin aus dem Hôpital de la Salpêtrière, 1879

Wer wird, und wann, die Sprache wiederfinden. Einer, dem ein Schmerz den Schädel spaltet, wird es sein. Und bis dahin, bis zu ihm hin, nur das Gebrüll und der Befehl und das Gewinsel und das Jawohl der Gehorchenden. Die Ohnmacht der Sieger, die stumm, einander meinen Namen weitersagend, das Gefährt umstreichen. Greise, Frauen, Kinder. Über die Grässlichkeit des Sieges. Über seine Folgen, die ich schon jetzt in ihren blinden Augen seh. Mit Blindheit geschlagen, ja. Alles, was sie wissen müssen, wird sich vor ihren Augen abspielen, und sie werden nichts sehen. So ist es eben … 21

K AS SA N DR A


Richard Strauss an Joseph Gregor, 1935

Auch nur mein so fein differenziertes Orchester mit seinem subtilen Nervencontrapunkt, wenn der gewagte Ausdruck gestattet ist, konnte in Klytämnestras Angstzuständen, in der Erkenntnisscene zwischen Elektra und Orest sich in Gebiete vorwagen, die nur der Musik zu erschließen vergönnt waren.


Josef Breuer

DER FALL ANNA O. Im Juli 1880 erkrankte der Vater der Patientin, den sie leidenschaftlich liebte, an einem peripleuritischen Abscess, der nicht ausheilte und dem er im April 1881 erlag. Während der ersten Monate dieser Erkrankung widmete sich Anna der Krankenpflege mit der ganzen Energie ihres Wesens, und es nahm niemand sehr Wunder, dass sie dabei allmählich stark herabkam. Niemand, vielleicht auch die Kranke selbst nicht, wusste, was in ihr vorgieng; allmählich aber wurde ihr Zustand von Schwäche, Anämie, Ekel vor Nahrung so schlimm, dass sie zu ihrem grössten Schmerze von der Pflege des Kranken entfernt wurde. Den unmittelbaren Anlass bot ein höchst intensiver Husten, wegen dessen ich sie zum erstenmale untersuchte. Es war eine typische Tussis nervosa. Bald wurde ein auffallendes Ruhebedürfniss in den Nachmittagsstunden deutlich, an welches sich abends ein schlafähnlicher Zustand und dann starke Aufregung anschloss. In diesem Zustande übernahm ich die Kranke in meine Behandlung und konnte mich alsbald von der schweren psychischen Alteration überzeugen, die da vorlag. Es bestanden zwei ganz getrennte Bewusstseinszustände, die sehr oft und unvermittelt abwechselten und sich im Laufe der Krankheit immer schärfer schieden. In dem einen kannte sie ihre Umgebung, war traurig und ängstlich, aber relativ normal; im andern hallucinirte sie, war »ungezogen«, d. h. schimpfte, warf die Kissen nach den Leuten, soweit und wenn die Contractur dergleichen erlaubte, riss mit den beweglichen Fingern die Knöpfe von Decken und Wäsche und dgl. mehr. War während dieser Phase etwas im Zimmer verändert worden, jemand gekommen oder hinausgegangen, so klagte sie dann, ihr fehle Zeit, und bemerkte die Lücke im Ablauf ihrer bewussten Vorstellungen. Aber auch in die Momente relativ klaren Bewusstseins griffen die Störungen über; rapidester Stimmungswechsel in Extremen, ganz vorübergehende Heiterkeit, sonst schwere Angstgefühle, hartnäckige Opposition gegen alle therapeutischen Maßnahmen, ängstliche Hallucinationen von schwarzen Schlangen, als welche ihre Haare, Schnüre und dgl. erscheinen. Dabei sprach sie sich immer zu, nicht so dumm zu sein, es seien ja ihre Haare u.s.w. In ganz klaren Momenten beklagte sie die tiefe Finsterniss ihres Kopfes, 23

DER FA LL A N NA O.


wie sie nicht denken könne, blind und taub werde, zwei Ichs habe, ihr wirkliches und ein schlechtes, dass sie zu schlimmem zwinge u.s.w. Nachmittags lag sie in einer Somnolenz, die bis etwa eine Stunde nach Sonnenuntergang dauerte, und dann erwacht, klagte sie, es quäle sie etwas, oder vielmehr sie wiederholte immer den Infinitiv: Quälen, quälen. Da starb am 5. April der von ihr vergötterte Vater, den sie während ihrer Krankheit nur sehr selten für kurze Zeit gesehen hatte. Es war das schwerste psychische Trauma, das sie treffen konnte. Gewaltiger Aufregung folgte ein tiefer Stupor etwa zwei Tage lang, aus dem sie sich in sehr verändertem Zustande erhob. Sie klagte, dass sie die Menschen nicht erkenne. Sonst habe sie die Gesichter erkannt, ohne willkürlich dabei arbeiten zu müssen; jetzt müsse sie bei solchem, sehr mühsamem »recognising work« sich sagen, die Nase sei so, die Haare so, folglich werde das der und der sein. Alle Menschen wurden ihr wie Wachsfiguren, ohne Beziehung auf sie. Sehr peinlich war ihr die Gegenwart einiger nahen Verwandten, und dieser »negative Instinct« wuchs fortwährend. Trat jemand ins Zimmer, den sie sonst gern gesehen hatte, so erkannte sie ihn, war kurze Zeit präsent, dann versank sie wieder in ihr Brüten, und der Mensch war ihr entschwunden. Es hatte sich nun gejährt, dass sie vom Vater getrennt, bettlägerig geworden war, und von da an klärte und systemisirte sich der Zustand in sehr eigenthümlicher Weise. Die beiden Bewusstseinszustände, die alternirend bestanden, immer so, dass vom Morgen an mit vorschreitendem Tage die Absencen, d.h. das Auftreten der condition seconde immer häufiger ward und Nachts nur diese allein bestand, – die beiden Zustände differirten nicht bloss wie früher darin, dass sie in dem einen (ersten) normal und im zweiten alienirt war, sondern sie lebte im ersten wie wir andern im Winter 81–82; im zweiten Zustand aber im Winter 80–81 und alles später Vorgefallene war darin völlig vergessen. Nur das Bewusstsein davon, dass der Vater gestorben sei, schien meist doch zu bestehen. Die Rückversetzung in das vorhergegangene Jahr geschah so intensiv, dass sie in der neuen Wohnung ihr früheres Zimmer hallucinirte und, wenn sie zur Thüre gehen wollte, an den Ofen anrannte, der nun zum Fenster so stand wie in der alten Wohnung die Zimmerthüre. Der Umschlag aus einem Zustand in den andern erfolgte spontan, konnte aber mit der grössten Leichtigkeit hervorgerufen werden durch irgend einen Sinneseindruck, der lebhaft an das frühere Jahr erinnerte. Es genügte, ihr eine Orange vorzuhalten, (ihre Hauptnahrung während der ersten Zeit ihrer Erkrankung), um sie aus dem Jahr 1882 ins Jahr 1881 hinüberzuwerfen. Diese Rückversetzung in vergangene Zeit erfolgte aber nicht in allgemeiner und unbestimmter Weise, sondern sie durchlebte Tag für Tag den vorhergegangenen Winter. Ich hätte das nur vermuthen können, wenn sie nicht täglich in der Abendhypnose sich das abgesprochen hätte, was 1881 an diesem Tag sie erregt hatte, und wenn nicht ein geheimes Tagebuch der Mutter aus dem Jahre 1881 die unverbrüchliche Richtigkeit der zu Grunde liegenden Thatsachen bewiesen hätte. JOSEF BR EU ER

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Bertha ­Pappelheim alias Anna O.


Gertrud Eysoldt, die Elektra der Uraufführung des Schauspiels von Hofmannsthal


Gertrud Eysoldt an Hugo von Hofmannsthal

Heute Nacht habe ich die Elektra mit nach Hause genommen und eben gelesen. Ich liege zerbrochen davon – ich leide – ich leide – ich schreie auf unter dieser Gewalt­thätigkeit – ich fürchte mich vor meinen eigenen Kräften – vor dieser Qual, die auf mich wartet. Ich werde furchtbar leiden dabei. Ich habe das Gefühl, dass ich sie nur einmal spielen kann.


Josef Breuer, Sigmund Freud, Studien über Hysterie, 1895

DIE REACTION DES GESCHÄDIGTEN AUF DAS TRAUMA HAT EIGENTLICH NUR DANN EINE »KATHARTISCHE« WIRKUNG, WENN SIE EINE ADÄQUATE REACTION IST, WIE DIE RACHE.


Käthe Kollwitz, Der Vater (1932)


Erwin Ringel

DER ELEKTRAKOMPLEX Alleinbesitz – Machtanspruch – Machtmissbrauch

Jedermann weiß heute, was der Ödipus-Komplex ist: Der Knabe verliebt sich in die Mutter und erlebt den Vater als Konkurrenten, ja als Feind, was oft bis zu unbewussten Todeswünschen gegen ihn »gedeiht«. Schon viel weniger ist bekannt, dass derselbe Tatbestand, wenn er sich bei Mädchen spiegel­ bildlich entwickelt, als Elektra-Komplex bezeichnet wird. Sigmund Freud wählte für seine wissenschaftlichen Erkenntnisse diesen Namen, weil die griechischen Sagen, Verhaltensweisen, die er entdeckte, ihn bereits beinhalteten, freilich in einer Art »Vorgestalt« (Conrad): »Märchen« aus vergangener Zeit, scheinbar noch nicht gültig für alle Zeiten. Teils ist die hiermit gegebene Darstellung natürlich eine Simplifizierung, teils ist aber die Freud’sche Konzeption in der Zwischenzeit weiterentwickelt worden: So differenzieren wir heute eine Ödipus- beziehungsweise Elektra-Situation, die ganz normal ist und durch die jeder Mensch als Kind hindurchgehen muss, nämlich dem sich zum entgegengesetzt geschlechtlichen Elternteil besonders HingezogenFühlen. Bei einem günstigen Verlauf wird diese durch Identifikation mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil gelöst und aufgehoben, und nur wenn dies nicht geschieht, entsteht aus der ödipalen Situation der Ödipus- beziehungsweise Elektra-Komplex als ein krankhafter neurotischer Tatbestand. Die größte Gefahr für diese schlechte Entwicklung liegt in einer gestörten Familienstruktur: Wenn die Mutter die Bindung des Knaben an sich forciert (weil sie sie für ihr eigenes Gefühlsleben benötigt) oder wenn sich der Vater, aus tausend möglichen Gründen, als zu schwaches Identifikationsobjekt erweist (bei Mädchen gilt spiegelbildlich dasselbe). Jedenfalls geht es nicht an, dem Kind die Schuld dafür zu geben, wenn die Situation zum Komplex wird … Dass Elektra an jenem Komplex leidet, der nun ihren Namen trägt, wird bereits aus ihrem Einleitungsmonolog klar, in dem das gewaltige Strauss’sche Agamemnon-Motiv zum ersten Male erklingt. Wieso er entstanden ist, könERW IN R INGEL

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nen wir nur erahnen: Die ungeheure, beeindruckende Gestalt des Heldenvaters und eine Mutter, die offenbar vom Anfang an nicht imstande war, sie gefühlsmäßig zu fesseln und die im Verein mit ihrem Liebhaber Aegisth den später von Troja heimgekehrten Vater hinterrücks im Bade ermordet. Da kann man sehr wohl verstehen, dass die unbewussten Todeswünsche, die Elektra vielleicht schon als Kind gegen die Mutter gehabt hatte, in ganz bewusste Mordabsichten übergehen. Und doch zeigt sich hier auch ein Problem, das wir bei allen »Komplexen« nicht außer Acht lassen dürfen: Der Einfluss der Gesellschaft, in den griechischen Sagen noch vielfach durch die »Götter« repräsentiert. Die Flotte der Griechen, die nach Troja segeln will, kann den günstigen Wind nur bekommen, wenn Agamemnon seine Tochter Iphigenie opfert. Klytämnestra kann dies Agamemnon nie verzeihen: Er hat die »Männersache« Krieg höher gewertet als die Bewahrung des eigenen Blutes, und ein Leben lang wird sie sich dann dafür an ihm rächen. Hier ist eine letzte Ergänzung der Betrachtung von Ödipus- und Elektra-Komplex in unserer Zeit notwendig: Wir können ihn nicht mehr rein sexuell, wie dies noch Freud getan hat, sondern wir müssen ihn auch »machtmäßig« interpretieren. Der Knabe will die Mutter, das Mädchen den Vater allein besitzen. Alfred Adler war der erste, der dies gesehen und erkannt hat, wie damit ungesunder MachtAnspruch und -Missbrauch sich entwickeln. In diesem Sinne geht es auch Elektra in der Interpretation von Hofmannsthal und Strauss um Machtausübung, um Verwandlung ihrer Ohnmacht in Herrschaft. Sie kann es kaum ertragen, dass die Missetäter nicht mit ihrem Beil ermordet werden, und sie geht, nachdem ihr Rache-Wahn verflogen ist, zugrunde in Erfüllung eines Adler-Wortes: »Alle, die nach Macht streben, sind früher oder später zum Tode verurteilt.« Die Vermeidung des Ödipus- beziehungsweise Elektra-Komplexes durch Identifikation mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil ist von der Natur sehr weise eingerichtet worden: Denn dadurch lernen wir die Geschlechtsrolle, die uns physiologisch zugewiesen wurde, auch psychologisch zu bejahen. Für die Frau ist dazu Gleichberechtigung ein schicksalhaft wichtiges, leider noch lange nicht verwirklichtes Ziel. Aber nie sollte sie deshalb ihre Weiblichkeit aufgeben, denn wenn dies geschieht, wird ein Verhalten, welches Adler zu Recht als neurotischen »männlichen Protest« bezeichnet hat, provoziert. Wie sagt doch Chrysothemis: »Ich bin ein Weib und will ein Weiberschicksal« – ein Frauenschicksal aber, das jede Herabsetzung ausschließt, möchte man hinzufügen.

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DER ELEKT R A-KOMPLEX


Andreas Láng

GANZ EINFACH GING’S NICHT VON DER HAND

Zur Entstehungsgeschichte der Oper Elektra


Als Hans Pfitzner sich einmal darüber beklagte, wie lange und mit wie viel Mühen er um seine Oper Palestrina gerungen habe, soll der anwesende ­Richard Strauss dem ungeliebten Kollegen die Worte »Wozu komponiern’s denn, wenn es Ihnen so schwer fällt?« entgegengebrummt haben. Ob dieser Ausspruch nun tatsächlich in dieser Form stattfand, wird kaum zu eruieren sein – wenn ja, so dürfte Richard Strauss wahrscheinlich entfallen sein, mit wie viel Mühe und wie lange er einst um seine eigene Elektra gerungen ­hatte. Die Angst davor, qualitativ hinter der Salome zurückzubleiben, hemmte Strauss offenbar derartig, dass die Arbeit manchmal wochenlang liegenblieb beziehungsweise nur sehr kläglich voranschritt. Begonnen hatte alles mit einem Besuch am Deutschen Theater Berlin, wo er im Herbst 1905 eine Aufführung von Hugo von Hofmannsthals Schauspiel Elektra in der Inszenierung Max Reinhardts miterlebte und als operntauglich einstufte. Im Gegensatz zur gleichnamigen Vorlage von Sophokles 33

A N DR EAS LÁ NG


hatte Hofmannsthal die psychologische Ausdeutung der mythologischen Figuren ins Zentrum gerückt, wobei vor allem die Lektüre der Breuer-Freud’schen Studien über Hysterie in die Charakterzeichnung der Elektra eingeflossen ist. (Das bei Hofmannsthal offen angesprochene Sexualtrauma der Elektra wurde von Strauss hingegen interessanterweise in der Opernfassung mit Duldung des Dichters eliminiert.) Am 2. Februar 1906 kam es zu jenem historischen ersten Arbeitstreffen von Strauss und Hofmannsthal, das nicht nur den Auftakt des Entstehungsprozesses der gemeinsamen Oper Elektra bildete, sondern zugleich den Beginn der jahrelangen kongenialen Partnerschaft darstellte. Ungefähr einen Monat drauf meldete Strauss noch voller Tatendrang, dass er das ElektraSchauspiel »bereits ganz schön zum Hausgebrauch zusammengestrichen hatte«. Doch von da an stotterte und stockte es. Es lag an Hofmannsthal, die Bedenken, ob Strauss »ein zweites Mal die Steigerungskraft hätte, auch diesen Stoff erschöpfend darzustellen«, zu zerstreuen und den künstlerischen Partner zu animieren, wenigstens einen Kompositionsbeginn zu wagen. Dieser setzte dann im Juni 1906 endlich ein, um bald wieder abzureißen. Liest man die entsprechenden Korrespondenzen, in denen Strauss immer wieder auf seine Anstrengungen, dem Stoff die richtige Form zu geben, zurückkommt, sieht man förmlich den Schweiß auf seiner Stirn, auf der Stirn jenes Mannes, der es für ein Qualitätskriterium hielt, wenn selbst Dirigenten während des Dirigierens nicht schwitzten, geschweige denn ein Komponist beim Komponieren. Zwar begann Strauss im Herbst 1907 mit der Partiturniederschrift, doch verlangte er quasi parallel dazu Textrevisionen und Erweiterungen von Hofmannsthal, die dieser nach Wunsch lieferte. Nach insgesamt mehr als zweieinhalb Jahren war die einaktige Oper Elektra schließlich im September 1908 beendet. Herausgekommen ist ein für die damalige Zeit ­ungemein modernes Werk mit einer radikal expressiven Musiksprache, die einerseits durchaus noch traditionelle Dur/Moll-Charakteristika aufweist, andererseits aber in ihrer Polytonalität und den harten Dissonanzen an die Grenzen der Atonalität heranreicht. Wenn auch die Reaktionen auf die Uraufführung in Dresden (25. Jänner 1909) nicht ganz so euphorisch ausfiel, wie von vielen gehofft, so konnte sich das Stück dennoch relativ rasch international behaupten – zu einem »Muss« innerhalb des Repertoires wurde Elektra allerdings erst nach dem Zweiten Weltkrieg.

A N DR EAS LÁ NG

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Marie Gutheil-Schoder als Elektra (1914)


Michael Walter

KREA­TIVITÄT DURCH REIBUNGSWIDERSTAND

Strauss und Hofmannsthal missverstanden sich – schon bei der Elektra


Salome war von Strauss als exotische Oper konzipiert und gedacht gewesen, und zwar als Gegenmodell zu den »Orient- und Judenopern« des ausgehenden 19. Jahrhunderts, denen »wirklich östliches Kolorit und glühende Sonne« fehle. Auf Lokalkolorit in jenem erweiterten Sinne, in dem er es in Salome verwendet hatte, verzichtete Strauss jedoch in Elektra, in der er vielmehr Wert auf »Dämonik« und »Ekstase« legte. Zielte Strauss in der Salome auf etwas Allgemeines in seinem Publikum, auf die Phobie vor der Emanzipation der Frau ebenso wie auf jene vor dem bürgerliche Werte gefährdenden Selbstbewusstsein der Jugend, so zielte er mit der antiklassizistischen Antikenrezeption der Elektra auf ein intellektuell-literarisches Programm, das sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts herausgebildet hatte und gegen Goethes und Winckelmanns Antikenverständnis gerichtet war, aber weder einheitlich ausgeprägt war noch einheitlich rezipiert wurde. Während für Hofmannsthal die archaische Antike in ihrer Tiefenstruktur mit der Moderne verknüpft war, war sie dies für Strauss nicht. Der Komponist hat den Text Hofmannsthals durch geschickte Kürzungen und Änderungen »linearisiert« und um das, was der Komponist im Zusammenhang einer geplanten Casanova-Komödie an Hofmannsthals Dichtungsstil als »gedanklich zu sehr belastend« empfand, ebenso reduziert wie die für das Drama Hofmannsthals essenziellen dialektischen Strukturen, er hat sexuelle Anspielungen entschärft, die psychologische Komplexität der Hauptfiguren und deren Charaktere, vor allem Chrysothemis, vereinfacht (wobei offen bleiben kann, inwieweit Hofmannsthals Text von den Schriften Freuds beeinflusst wurde – Strauss hielt offensichtlich gerade die auf die Psychoanalyse zielenden Implikationen des Texts für entbehrlich, vermutlich waren ihm psychoanalytische Theorien ohnehin unbekannt). Auch erweiterte Strauss den Text bzw. ließ diesen von Hofmannsthal aus Gründen musikalischer Formbildung und um musikalische Steigerungsmöglichkeiten zu haben, erweitern (die Hinzufügung der »Agamemnon«-Rufe in Elektras erstem Monolog verdankt sich unter anderem der Absicht musikalischer Gliederung, die Erweiterung der Schlussszene, bei der Strauss gegenüber Hofmannsthal betonte, die neuen Verse dürften inhaltlich nichts Neues enthalten, sondern nur Wiederholung sein, diente der musikalischen Steigerung), reduzierte aber zugleich den Text im Hinblick auf die für die musikalisch-dramaturgische Gestaltung notwendige Kürze. Hofmannsthals Text wurde von Strauss als Vorlagetext behandelt, der, wie alle anderen Libretti im 19. Jahrhundert, erst noch der Zurichtung durch den Komponisten bedurfte, wobei die Verwertbarkeit des Textes für eine Bühnenvertonung das ausschlaggebende Kriterium darstellte, nicht etwa dessen literarische Qualität. Denn nicht zuletzt zerstörte Strauss’ Textbearbeitung wesentliche Merkmale von Hofmannsthals Stil. Wichtig für Strauss waren nicht der Stil und nicht die Tiefenstruktur des Textes, sondern dessen Oberfläche: die wortgewaltigen und drastischen Formulierungen Hofmannsthals, die Anknüpfungspunkte zur musikalischen 37

MICH A EL WA LT ER


Illustration gaben, die Möglichkeit der Linearisierung des Texts (d. h. seine Reduktion auf die »story«), die archaische Gewalt des Dramas, das es ermöglichte, dem Werk eine bestimmte musikalische »Färbung« zu geben. Auf den Punkt gebracht, deliterarisierte Strauss Hofmannsthals Text, er kappte ihn um jenen Sinnüberschuss (zu dem auch die Versstruktur zählte), der gerade die literarische Qualität ausmachte – nicht um die dadurch entstandenen Leerstellen musikalisch wieder aufzufüllen (und damit das ursprünglich literarische Werk mithilfe musikalischer Ergänzungen wieder als sinnidentisches Ganzes auferstehen zu lassen), sondern um den Text als nacktes Gerüst zu verwenden, aus dem die Oper von Strauss werden konnte. Für Strauss war, wie bis zu Hofmannsthals Tod immer wiederkehrende Formulierungen zeigen, Hofmannsthal seit Elektra denn auch nie der bedeutende Literat, sondern immer nur der helfende Librettist, der einen für die jeweilige Oper noch einzurichtenden Text lieferte, an den Strauss’ musikalische Phantasie anknüpfen konnte: »Sie sind der geboren Librettist, in meinen Augen das größte Kompliment, da ich es für viel schwerer halte, eine gute Operndichtung zu schreiben als ein schönes Theaterstück«, schrieb Strauss Hofmannsthal am 6. Juli 1908. Dass Hofmannsthal über solche Äußerungen erbost war, was er aus pragmatischen Gründen gegenüber dem Komponisten aber nur andeutete, und Strauss den literarischen Sinnüberschuss der Hofmannsthal’schen Libretti nicht immer reduzieren konnte, so dass er im Laufe der Zusammenarbeit mit dem Dichter Szenen komponierte, die ihm mehr oder weniger unverständlich blieben, gehört zu den Kuriosa der Operngeschichte, verursachte aber wohl gerade jenen Reibungswiderstand, den beide Autoren brauchten, um kreativ zu sein. Schon bei Elektra zeigt sich, wie sehr sich Dramentext und Libretto unterschieden und wie sehr sich ­Librettist und Komponist missverstanden, denn Strauss hatte bereits das ­Libretto vor Augen, als er am 11. März 1906 Hofmannsthal zweifelnd mitteilte: »Ich habe nach wie vor die größte Lust auf Elektra und habe mir dieselbe auch schon bereits ganz schön zum Hausgebrauch zusammengestrichen. Die Frage, die ich mir noch nicht endgültig beantwortet habe […], ist nur, ob ich unmittelbar nach Salome die Kraft habe, einen in Vielem derselben so ähnlichen Stoff in voller Frische zu bearbeiten, oder ob ich nicht besser tue, an Elektra erst in einigen Jahren heranzutreten, wenn ich dem SalomeStil selbst viel ferner gerückt bin.« Hofmannsthal wandte am 27. April 1906 ein: »Nun muss ich schon sagen, dass ich, wie die Dinge mir nun zu liegen scheinen, allerdings sehr froh wäre, wenn Sie es möglich fänden, zunächst an der Elektra festzuhalten, deren ›Ähnlichkeiten‹ mit dem Salome-Stoff mit bei näherer Überlegung doch auf ein Nichts zusammenzuschrumpfen scheinen. (Es sind zwei Einakter, jeder hat einen Frauennamen, beide spielen im Altertum und beide wurden in Berlin von der Eysoldt kreiert: ich glaube, darauf läuft die ganze Ähnlichkeit hinaus.) Denn die Farbenmischung scheint mir in beiden Stoffen eine so wesentlich verschiedene zu sein: bei der Salome MICH A EL WA LT ER

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Richard Strauss, 1904

so viel purpur und violett gleichsam, in einer schwülen Luft, bei der Elektra dagegen ein Gemenge aus Nacht und Licht, schwarz und hell. Auch scheint mir die auf Sieg und Reinigung hinauslaufende, aufwärtsstürmende Motivenfolge, die sich auf Orest und seine Tat bezieht – und die ich mir in der Musik ungleich gewaltiger vorstellen kann als in der Dichtung – in Salome nicht nur nicht ihresgleichen, sondern nichts irgendwie Ähnliches sich gegenüber zu haben.« Solche Erklärungen liefen ins Leere, weil Strauss eine Oper, basierend auf einem eingerichteten Text, vor Augen hatte, Hofmannsthal aber sein mit Musik versehenes Drama. Mit den Farbmetaphern konnte 39

K R EA­T I V ITÄT DU RCH R EIBU NGSW IDERSTA N D


Strauss vermutlich wenig anfangen: Farben ließen sich nicht komponieren. Erst der von Strauss linearisierte und vereinfachte Text wies in der Tat strukturelle Ähnlichkeiten mit Salome auf, trotz der unterschiedlichen Sujets. Wie wenig Hofmannsthal Strauss’ Bedenken verstand, geht aus dem Umstand hervor, dass er auf die Handlungszeit – »Altertum« – verweist, die für Strauss im Vergleich zum abstrakt Archaischen keine Rolle spielte (ebenso wie in Salome das Orientalische ausschlaggebend gewesen war und nicht die biblische Handlungszeit). Salome war als Frau »unfertig« und darum für Herodes in gefährlicher Weise unberechenbar, was gleichzeitig aber sein Interesse an ihr bedingte, Salome konnte nicht zwischen Liebe und Sexualität unterscheiden, sie wollte ihren Willen durchsetzen, obwohl ihr die Intention dieses Willens unklar war, sie befand sich auf dem Wege zur femme fatale, aber war es noch nicht. Gerade wegen dieser Widersprüche war Salome eine moderne Figur, ein Spiegel jener Unberechenbarkeit der Moderne, von der sich das Bürgertum bedroht fühlte, obgleich es zugleich von ihr fasziniert war. Der in sich widersprüchliche und darum dynamische Charakter der Salome wird von Strauss in Elektra in zwei Figuren aufgespalten: Einerseits Elektra, in der sich der Willen zum Fanatismus manifestiert. Weil Elektra aber nicht mehr als eine Manifestation ist, die mit der Person Elektras nicht identisch ist, erscheint sie identitätslos. Andererseits Chrysothemis, die in allem Elektras Gegenteil ist und deren Willen zum Hausfrauendasein vom zeitgenössischen bürgerlichen Publikum wohl zustimmend goutiert wurde und ihre Identität ausmachte. Das Verhältnis der beiden Figuren ist jedoch nicht dialektisch, sie sind nur als Gegenteile aufeinander bezogen. Als Einzelfiguren – wie Salome – wären sie nicht denkbar. Die beiden Charaktere der Elektra, vor allem aber Elektra selbst, sind durch die Aufspaltung von Anbeginn an statisch, sind Divisionen des Weiblichen an sich, so dass selbst die Möglichkeit der Veränderung nicht besteht und an ein unberechenbares Ereignis (wie es Salomes Forderung nach dem Kopf des Jochanaan war) gar nicht zu denken ist. Bei Hofmannsthal stellte das kein Problem dar, weil die Figuren in sich dialektisch angelegt waren. Wie sehr sich nach der Reduktion auf die undialektischeindimensionalen Gegensätze der beiden Schwestern ein Problem für Strauss’ Oper ergab, erweist sich an den vom Komponisten beklagten Strichen in den Dialogen Elektra/Klytämnestra und Elektra/Chrysothemis, die in der Aufführungspraxis jener Gefahr vorbeugten, die durch Strauss’ eigene Dramaturgie entstanden war, nämlich der Gefahr der Langeweile durch die Wiederholung des Immergleichen, das sich auch im Charakter der unterlegten Musik nicht verbergen ließ. Dramaturgisch war das allerdings konsequent, da für Strauss die Statik des Nichtveränderbaren wohl ein ­wesentliches Kennzeichen des Archaischen war.

K R EAT I V ITÄT DU RCH R EIBU NGSW IDERSTA N D

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Richard Strauss an Hugo von Hofmannsthal, 1907

Was unsere neuliche Unterredung über Elektra betrifft, so meine ich, dass wir Aigisth doch nicht ganz weglassen können. Er gehört unbedingt mit zur Handlung und muss mit erschlagen werden, womöglich vor den Augen des Publikums. Wenn es nicht möglich ist, ihn früher nach Hause zu bringen, so dass er unmittelbar nach Klytämnestra erschlagen wird, so lassen wir die nächste Szene so, wie sie jetzt ist, aber Sie überlegen sich’s vielleicht.

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KOLUMN EN T IT EL


Gertrud Eysoldt

EIN MAHNER AN UNS ALLE Hofmannsthal war eine fesselnde Erscheinung, rassig, mittelgroß, dunkel mit feurigen Augen. Das Blut Mailänder Patrizier rollte mütterlicherseits in seinen Adern. Im Äußeren also ein Mann der Gesellschaft, ein Mann von untadeliger Haltung, – ein Künstleraristokrat! Im Innern loderte aber die leidenschaftliche Besessenheit, die Geheimnisse des Lebens zu ergründen. Er war beherrscht von einem starken Ungenügen an dem, was die Welt ihm bot und was er der Welt bieten konnte. Es war nicht leicht, ihm menschlich nahezukommen. Er war sehr verschlossen – ja herb –, von tiefem Ernst und immer darauf bedacht, die Form äußerlich zu wahren. Schicksalhafte Beziehungen mit Menschen kamen wohl mehr in künstlerischer abstrakter, geistiger Art zu Stande. Nur in seiner Dichtung spüren wir die Sehnsucht nach echter Menschlichkeit und einer tiefen Verantwortlichkeit im Leben und Handeln. Er wurde von seiner Mutter sehr verwöhnt, und die konventionelle Kälte, mit der er wohl oft kleine Gesten und liebevolle Fürsorge zurückwies, mag ihn zu der Figur der Mutter in Tor und Tod inspiriert haben. Die Begegnung mit Max Reinhardt hat starke Impulse in ihm ausgelöst, doch konnte er sich selbst vom Vergangenen nicht ganz lösen. Nur aus diesem Kampf und unter der Einwirkung der starken Spannung sind seine Werke zu verstehen. Es ist kaum fasslich, dass er ein so reifes und tiefes Werk wie Tor und Tod mit 19 Jahren geschaffen hat. In der Figur des Claudio, der zusammen mit seinem Diener die einzigen lebenden Figuren des Stückes sind, kann man ohne Mühe den Dichter selbst erkennen. Das Entscheidende ist aber, dass Claudio nicht bei der Haltung der Lebensverachtung bleibt – sondern, dass er in seiner Todesstunde der Glücksmöglichkeiten des Lebens einsichtig wird. Er erkennt, dass Leben Erleiden heißt von Glück und Not, dass Menschsein heißt, binden und gebunden werden. So wird Hofmannsthal zum Mahner an uns alle, uns nicht unfruchtbar in uns selbst zu verschließen, lieblos zu leben, sondern das Glück des Lebens in der Liebe zum andern ganz auszukosten, immer zu trösten bereit, und uns auch trösten zu lassen. 42


Hugo von Hofmannsthal, 1910


Pia Janke

GE­SCHEHENES UND ­VER­ ÄNDERUNG

Zum Begriff der Tat bei Hofmannsthal


1902 schreibt Hofmannsthal in einem Brief: »Ich glaube, die beängstigende, nun schon fast seit zwei Jahren anhaltende Erstarrung meiner produktiven Kräfte so auffassen zu sollen: Als einen tiefen, nach außen hin durch Schmerz und Dumpfheit fühlbaren Prozess der inneren Umwandlung … inwiefern ich bei meiner Art, die Welt zu sehen, doch noch Konflikte oder vielmehr, wie es das Drama einfordert, die Verdichtung einer ganzen Existenz in einen finalen Konflikt erblicken kann, das hoffe ich durch die sich in mir zögernd heranbildenden dramatischen Produkte zu erweisen.« Hofmannstahl reflektiert hier über die Loslösung von seinen lyrischen Versuchen und über die Hinwendung zur Bearbeitung antiker Vorlagen. Hofmannsthal will nun das Dramatische nicht nur als formale Kategorie, sondern auch als dynamisches Element des Handelns auf seine Aktualität hin überprüfen, um sich selbst eine neue Position des Schreibens zu erarbeiten. »Schuld«, »Wesen des Tragischen«, »finaler Konflikt« sind die Begriffe, die jetzt für ihn wichtig werden. Nicht länger scheinen ihn die impressionistischen Stimmungsbilder seiner frühen Werke zu interessieren, die die Hingabe an den Augenblick als ein mystisches Erlebnis feierten, in dem sich das Individuum dem Kosmos zu öffnen vermochte. Gegen das Fließen des Daseins, das sich im ewigen Wechsel von Werden und Vergehen der Dinge manifestierte und nur in seltenen Momenten durchbrochen werden konnte, setzt Hofmannsthal nun das Subjekt, das sich im Handeln der Zeit und der Welt zu bemächtigen versucht. Das »Wesen des Tragischen«, das Hofmannsthal jetzt interessiert, ist das Spannungsverhältnis zwischen dem Ich und seinem »Schicksal«, zwischen dem Ich und seiner Verwirklichung durch bewusstes Eingreifen. Beklagt Hofmannsthal immer von neuem den Verlust der allesumfassenden Einheiten und ist er bemüht, dem Partikularismus der modernen Welt mit der »Magie« des Dichterischen als heilende Kraft entgegenzuwirken, so problematisiert er in seinen Antike-Bearbeitungen gerade diese Disparatheit des modernen Lebens. Wort und Tat werden von Hofmannsthal dialektisch aufeinander bezogen. Nicht die Kraft der Worte – eine neue unmittelbare Sprache, die die Dinge zu neuem Leben erweckt –, sondern die Kraft der Taten überwindet den Zustand der Entfremdung. Erst durch das Handeln erhält das Wort seine »Wirklichkeit«: »Alle Worte, die nur Schall sind, wenn wir das Ding in ihnen suchen, werden hell, wenn wir sie leben: im Tun, in ›Taten‹ lösen sich die Rätsel der Sprache. Es war durch den Relativismus das Ich der Sklave der Zeit, des schwindenden Vergehens geworden.« Fallen Sprechen und Tun auseinander, so ironisieren die Worte das von ihnen Bezeichnete und nehmen ihm seinen Realitätsgehalt. Hofmannsthals Frage lautet: »Wie kann der Sprechende noch handeln – da ja ein Sprechen schon Erkenntnis, also Aufhebung des Handelns ist – mein persönlicher, mich nicht loslassender Aspekt der ewigen Antinomie von Sprechen und Tun, Erkennen und Leben.« Erst im 45

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Verstummen wird Handeln möglich. Das In-­Frage-Stellen der Worte als Mittel, sich der Welt zu nähern, bedingt auch eine Aufwertung des Szenischen. Der wortlosen Gebärde, dem Bühnenbild »die Bühne als Traumbild«, dem Licht kommt nun eine besondere Bedeutung zu. Der dramatische Konflikt, den Hofmannsthal in seinen Antike-Bearbeitungen darzustellen versucht, ist das Ringen des desintegrierten Menschen um Autonomie und Individualität, die sich durch die aktive Hinwendung zur Umwelt und das bewusste Verfügen über die eigene und die allgemeine Geschichte konstituieren. Wenn Hofmanns­thal später vom »Weg zum Sozialen als Weg zum höheren Selbst« spricht, der »durch die Tat, durch das Werk« oder »durch das Kind« möglich wird, so schreibt er dem Handeln (dem Gebären) die zentrale Bedeutung für diese Selbstvergewisserung zu. PI A JA N K E

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Die »Antinomie von Sein und Werden«, die Hofmannsthal in immer neuer Form beschreibt, erhält in diesem Zusammenhang eine besondere Wichtigkeit. Die Zeitlosigkeit des absoluten Seins, die Hofmannsthal in seinen lyrischen Skizzen beschwor, wird für ihn fragwürdig, da er sie jetzt von der Dynamik des Werdens überlagert sieht. Die Hingabe an das Sein verhindert nun die aktive Teilnahme am Werden und entlarvt das »Sein« als geschichtslose Illusion. Hofmannsthals Begriff des Handelns bleibt jedoch ambivalent. Begründet männliches (Tat, Werk) und weibliches (Gebären) Handeln zwar eine neue Form der Existenz, so vernichtet es aber gleichzeitig die frühere Daseinsform des Handelnden. Handeln eröffnet nicht nur Identität, sondern setzt auch immer Selbstaufgabe voraus. Handeln bedingt Verwandlung, Verwandlung aber Vergessen, Verlust des Früheren. Im »Ariadne-Brief« (1912) schreibt Hofmannsthal: »Verwandlung ist Leben des Lebens, ist das eigentliche Mysterium der schöpfenden Natur; Beharren ist Erstarren und Tod. Wer leben will, der muss über sich selber hinwegkommen, muss sich verwandeln: er muss vergessen. Und dennoch ist ans Beharren, ans Nichtvergessen, an die Treue alle menschliche Würde geknüpft. Dies ist einer von den abgrundtiefen Widersprüchen, über denen das Dasein aufgebaut ist … « Die Kontinuität des Lebens, das Werden, dessen man sich durch das Handeln zu bemächtigen versucht, wird durch eben dieses Handeln zunichtegemacht. Die Hingabe an das Neue, das durch die Tat ins Leben tritt, wird auf diese Weise auch zu einer Hingabe an die veränderten Verhältnisse.

Spiegelung der Frauengestalten in Elektra Der »dramatische« Vorgang in Hofmannsthals Antike­nbearbeitungen ergibt sich aus der Handlungsbereitschaft und -verweigerung der Figuren. Hofmannsthal beschreibt die drei Frauengestalten in Elektra als »Schattierungen eines intensiven und heimlichen Farbtons«. Die Konfrontation der Frauengestalten im Drama ist somit die Konfrontation von Figuren, die einander in einer anderen »Schattierung« spiegeln. Das »ewige Blut des Mordes«, das die Mägde in Elektra abzuspülen versuchen, ist ein Bild für die Tat (für den Mord), die durch die Zeit (das Wasser als Metapher für den Fluss des Werdens) nicht aufhebbar scheint. Indem sich Chrysothemis von ihrer Erinnerung an diese Tat zu lösen versucht, verliert sie ihr Selbst: »Ich möchte beten, dass ein Gott ein Licht / Mir in der Brust anstecke, dass ich mich / In mir kann wiederfinden!« Der Fluss des Werdens, von dem sie durch das Sich-abfinden-Wollen mit den Verhältnissen erfasst wird, zerstört ihre Identität. Ihr Wunsch nach dem »weiblichen« Schicksal, das frei von Verantwortung gegenüber dem allgemeinen ist (»Ich will empfangen und gebären Kinder / Die von nichts wissen, meinen Leib / Wasch ich 47

GE­S CHEHEN E S U N D ­V ER ­Ä N DERU NG


in jedem Wasser … alles wasch ich mir ab«) entlarvt sich selbst als Illusion. Die Negation des Wissens, die Flucht vor der Mitschuld ist unmöglich. Chryso­ themis, die sich aus der Starrheit (»wie Stein ist alles!«) des Erinnerns befreien will und die die Mutterschaft – das weibliche Handeln – als Eingreifen in den Rhythmus von Werden und Vergehen preist, ohne daran teilzuhaben, ist der ständigen Verwandlung unterworfen und kann sich nicht dagegen wehren. Ihr bleibt nur die Klage um den Verlust (»Wo ist denn alles hingekommen, wo denn?«). Der Rückzug vor der Auseinandersetzung (»Ich wills nicht hören«) bedingt die Zerstörung ihrer autonomen Existenz. Weder Chrysothemis noch Klytämnestra können vergessen, obwohl sie sich gegen ihre Erinnerungen stemmen. Ist und war Chrysothemis unfähig zu handeln, so hat sich Klytämnestra aktiv am Mord an Agamemnon beteiligt. Indem sie nun ihr Mitwirken abzuleugnen versucht, entgleitet ihr ihre existenzielle Grundlage. Das Handeln, das ihr Dasein bestimmt, ist für sie selbst nicht mehr greifbar. Hofmannsthal schreibt in diesem Zusammenhang: »Auch Klytä­ mnestra an der Tat gemessen: sie sucht sich die getane Tat ungeschehen zu machen, das Eigentliche des Mordes zu vergessen, – da vollzieht sie eine Auflösung ihrer selbst, Ausstoßung aus dem menschlichen Bereich, Übergang ins Chaos.« Klytämnestra beraubt sich selbst ihres einzigen Haltes. Nun sollen die rituellen Handlungen (Opfer und magische Bräuche) und rettende Worte diesen Halt ersetzen. Die Kontinuität ihres Daseins ist aufgehoben, die Chronologie der Geschehnisse fällt in einen Augenblick zusammen, den sie jedoch nicht festhalten kann: »Ich denke, aber alles türmt sich mir / Eins übers andre.« Der Relativismus aller Dinge hat sie erfasst. Klytämnestra verliert durch die Verdrängung des Getanen das Bewusstsein von Wahrheit und Lüge (»Was die Wahrheit ist / Das bringt kein Mensch heraus«) von Zeit, Ich und Welt. Elektra klammert sich an das Frühere. »Ich kann nicht vergessen!« sind die Worte, mit denen sie sich an die Schwester wendet. Elektra hat die Worte, die der Mutter fehlen, die ihr das Getane wieder gegenwärtig machen. Elektra beharrt auf der Aktualität des Geschehenen, die die Mutter nicht wahrhaben will (Klytämnestra zu Elektra: »Du redest / Von alten Dingen, so wie wenn sie gestern / Geschehen wären.«) Durch ihre Existenz vergegenwärtigt Elektra das Unaussprechliche der Tat. Sie negiert die Dynamik der zeitlichen Veränderung, der sich Chrysothemis und Klytämnestra ausgeliefert haben. Doch auch Elektra kann dem Werden nicht entfliehen (»Ich habe alles, was ich war / Hingeben müssen«, meint sie zu Orest). Elektras Verhältnis zur Zeit ist wie das Zeitbewusstsein von Chrysothemis und Klytämnestra gestört. Sie nimmt die Rache an den Mördern schon sprachlich vorweg (»sausend fällt das Beil / Und ich steh da und seh dich endlich sterben!«) und ironisiert dadurch das wirkliche Tun. Das kompromisslose Beharren auf der Wahrheit des Vergangenen verhindert jedes Handeln, jedes autonome Bewusstsein. Wehrt sich Elektra gegen das Vergessen, so würde Handeln, nach Hofmannsthal, diese »Selbstaufgabe« voraussetzen. Elektras Weigerung, sich mit der Gegenwart zu arranPI A JA N K E

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gieren, bedingt keinen aktiven Widerstand, sondern lässt sie versteinern. Elektra ist, um sich selbst und ihr Wissen zu bewahren, erstarrt. Diese Erstarrung zersprengt ihre Individualität. Hofmannsthal verdeutlicht Elektras Identitätsverlust durch ein Bild: »In der Elektra wird das Individuum in der empirischen Weise aufgelöst, indem eben der Inhalt seines Lebens es von innen her zersprengt, wie das sich zu Eis umbildende Wasser einen irdenen Krug. Elektra ist nicht mehr Elektra, weil sie eben ganz und gar Elektra zu sein sich weihte.« Sie ist zum Handeln nicht fähig, weil sie keine Verwandlung akzeptiert und auf diese Weise den Bezug zum unmittelbaren, alltäglichen Leben verliert. In ihrer Beschwörung der Schwester, gemeinsam den Mord zu vollziehen, setzt Elektra Liebesakt und Mord identisch. Die »Zeugung«, die Tat, durch die das Dasein verwandelt werden soll, bleibt jedoch für beide Schwestern eine unerfüllte Hoffnung. Hofmannsthal nennt Elektra »Gebärende ohne Geburt, Nicht-Jungfrau ohne Brautnacht, Prophetin ohne Prophezeiung. … Sie ist die Vereinigung dieses Vaters und dieser Mutter.« Elektra gibt weder der Tat noch einem Kind Leben, aus Treue zum Vergangenen schafft sie nicht die Tat, die diese Treue beweisen würde. Ihre Rachevision richtet sich gegen ihre Gebärerin, gegen ihre Mutter. Elektras »Kind« wäre ihr Mord an ihrer Mutter, ihr Gebären der Tod ihrer Gebärerin. Stirbt Klytämnestra, Elektras Ursprung, so muss auch Elektra zugrunde gehen (Elektra: »Wenn der Leib der Erde / Einmal aus meinen Händen was empfängt / So ist’s woraus ich kam / nicht was aus mir kam.«) Sowohl Klytämnestra, Chrysothemis als auch Elektra vermögen nicht, in den steten Fluss des Lebens einzugreifen. Die drei Frauen des Dramas finden ihr »Schicksal« nicht, da sie einerseits das bereits Geschehene (das Sein), andererseits die Veränderung (das Werden) nicht akzeptieren wollen. Das »Dramatische« als dynamisches Ele­ment des Handelns, dem alle drei kein Leben geben können, bleibt Utopie. Die Konstituierung der Individualität durch die Tat scheitert, der entfremdete Zustand wird nicht überwunden. Die Synthese von Sein und Werden, von Erinnerung und Verwandlung im Augenblick des Handelns scheint nicht herstellbar zu sein.

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GE­S CHEHEN E S U N D ­V ER ­Ä N DERU NG


Henri de Miller, L’Ecoute, 1986


Alfred Mombert

SO DUNKEL IST MEIN SCHATTEN, DASS ER NOCH SICHTBAR IST AM SCHWARZEN STROM. DOCH MEINE GESTALT IST NICHT MEHR SICHTBAR. ICH ÜBERGAB SIE DER ERINNERUNG SCHLAFENDER ­MENSCHEN­ GESICHTER, DIE IN FELSENTÄLERN DER REGEN ÜBERSTRÖMT.

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Georg Titscher

ELEKTRA UND OREST

»Die ewige Antinomie von Sprechen und Tun, Erkennen und Leben«


Mit diesen Worten beschreibt Hugo von Hofmannsthal den Gegensatz zwischen Handeln und Sprechen als »persönlichen, mich nicht loslassenden Aspekt«. Und in einem Brief an Richard Strauss nennt er als »Grundthema der Elektra die Tat und das Verhältnis zur Tat«. Was der Autor damit gemeint hat, spricht nicht gleich für sich und bedarf näherer Überlegungen. Mit »Tat« kann nur die Tötung Klytämnestras (und Aegisths) gemeint sein, wenn man die Gegenwart des Handelns auf der Bühne betrachtet. Voraussetzung dafür ist natürlich eine andere Tat, die Ermordung Agamemnons. Eine Tat zieht die andere nach sich. Nach diesem Gesetz müssten wir weit in die griechische Mythologie zurückgehen, bis zu Tantalos, dessen Verbrechen gegen die Götter der Ursprung des Atridenfluches ist. Bleiben wir bei der in der Oper geplanten Tat, der Rache an Klytämnestra für die Ermordung ihres Mannes Agamemnon. Wie ist Elektras Verhältnis zur Tat, wie das von Orest, der den Mord an der Mutter begeht, wie das der Schwester Chrysothemis? Wie können wir die Aussage Hofmannsthals verstehen? Elektra spricht ständig von der Tötung der Mutter und ihres Liebhabers Aegisth. (Zu Chrysothemis: »Sitz’ an der Tür wie ich und wünsch’ den Tod und das Gericht herbei auf sie und ihn.« Zu Klytämnestra: »Erhängt ist dir die Seele in der selbstgedrehten Schlinge, sausend fällt das Beil, und ich steh da und seh dich endlich sterben!«). Sie redet – beziehungsweise singt – viel und lange über die Tat, aber sie tut nichts. Wer spricht, handelt nicht. Elektra ist die personifizierte »Antinomie von Sprechen und Tun«. Diese zögerliche Inaktivität erinnert an Hamlet, eine Parallele, die schon Hofmannsthal aufgefallen ist. Elektra wartet auf Orest, er soll der Handelnde sein. Als dieser für tot erklärt wird, versucht sie, ihre Schwester zu überreden, den Mord zu begehen. »Du! Du! Denn du bist stark! … Überall ist soviel Kraft in dir!« Als Chrysothemis sich weigert, bedrängt sie Elektra: »Dir führt kein Weg hinaus als der. Ich lass dich nicht, eh du mir Mund auf Mund es zugeschworen, dass du es tun wirst.« Chrysothemis ist aber an Rache nicht interessiert, sie hat mit der Vergangenheit abgeschlossen, denkt an ihre Zukunft. Als Elektra erkennt, dass kein Mittel hilft, die Schwester zur Mittäterin zu machen, verflucht sie diese und überwindet sich mit wilder Entschlossenheit (Regieanweisung) zur Tat: »Nun denn, allein!« In diesem Moment tritt der Tatmensch Orest auf. Er spricht nicht viel, er handelt rasch. Ganz im Gegensatz zu seiner Schwester Elektra. Hat sich denn in all den Jahren seit dem Mord am Vater keine Gelegenheit für Elektra gefunden, aktiv zu werden, Rache zu üben? Das ist doch sehr unwahrscheinlich. Ebenso schlecht denkbar ist, dass Orest, der beim Mord am Vater ein kleines Kind war, der ihn kaum gekannt hatte, nur kommt, um das schreckliche Verbrechen des Muttermords zu begehen. Ein glaubhaftes Motiv für die Rückkehr Orests wäre, die Macht in Mykene zu übernehmen. Dazu bräuchte er aber nur Aegisth zu töten, nicht seine Mutter. Rationale Erklärungen helfen uns hier nicht 53

GEORG T ITSCHER


weiter, fördern unser Verstehen nicht. Während des Erlebens der Oper erscheinen uns aber das Verhalten und die Motivationen der Figuren völlig logisch und selbstverständlich. Die Meisterschaft von Strauss und Hofmannsthal lässt uns das Geschehen mit den Augen der Protagonisten verfolgen, wir können uns in ihre Gefühlswelt hineinversetzen, so schrecklich und so wenig rational nachvollziehbar sie auch ist. Die Oper Elektra ist ein Seelendrama. Das war schon die zugrundeliegende Tragödie von Hugo von Hofmannsthal, die Musik vertieft noch mehr die seelische und emotionale Dimension. »In ihr (Elektra) ist zum ersten Mal der Versuch gemacht, in einen tragischen Moment eine ganze menschliche Psyche zusammenzupressen, sozusagen einen Querschnitt durch eine Seele zu geben auch mit allen physiologischen Untergründen.« (Hofmannsthal laut Tagebuch von Harry Graf Kessler, 1907). Die Figur der Elektra fasziniert die Psychologie gleichermaßen wie die Literatur. Carl G. Jung hat (1913) in Analogie zum Ödipus-Komplex den Begriff Elektra-Komplex geprägt. Er ­bezeichnet eine übermäßige Bindung der Tochter an den Vater bei gleichzeitiger Feindseligkeit gegen die Mutter. Dieser Komplex hilft uns hier nicht weiter. Zum tieferen Verständnis der Oper müssen wir uns mit weiteren unbewussten seelischen Vorgängen beschäftigen, wobei das Hauptaugenmerk auf die Titelfigur Elektra gelegt wird. Die Neurose der Klytämnestra klammere ich aus. Tragödie und Oper sind kurz nach der Jahrhundertwende (UA 1903 bzw. 1909) entstanden, ebenso Salome (UA 1905). Nicht zufällig tauchen in der Kunst gefährliche männermordende Frauen auf. Die beginnende Emanzipation gefährdet das Patriarchat und macht den Männern Angst. Es war auch die Zeit, als die Psychoanalyse Sigmund Freuds eine völlig neue Sicht auf das Seelenleben ermöglichte. Hugo von Hofmannsthal hat nach eigener Aussage sämtliche Schriften Freuds gelesen und stand ihm anerkennend, aber nicht unkritisch gegenüber. Bei den Vorarbeiten zu Elektra, einer Aktualisierung des antiken Dramas, nahm er die Erkenntnisse der modernen Wissenschaft zu Hilfe: »Auf die Charakteristik hat kein Buch merklichen Einfluss gehabt. Doch habe ich immerhin damals in zwei ganz verschiedenartigen Werken geblättert, die sich wohl mit den Nachtseiten der Seele abgeben: das eine die Psyche von Rohde, das andere das merkwürdige Buch über Hysterie von den Doktoren Breuer und Freud«. (Mit Psyche ist das Buch Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen des Altphilologen Erwin Rohde gemeint). Das »merkwürdige Buch über Hysterie« sind die 1895 erschienenen Studien über Hysterie von Josef Breuer und Sigmund Freud. Die Literaturwissenschaft hat belegt, dass die in dieser Abhandlung beschriebene Patientin Anna O. (ein Pseudonym für Bertha Pappenheim) als Vorbild für Elektra diente. Für beide gilt die starke Vaterbindung, die belastete Beziehung zur Mutter, das psychische Trauma des Todes des Vaters, beide erwachen in den Abendstunden aus ihrem tranceartigen somnambulen Zustand, bei beiden besteht ein gestörtes Sexualverhalten. Nach damaligem GEORG T ITSCHER

Tom Mix mit Tochter ­Thomasina, 1934 →

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Verständnis ist die Diagnose Elektras Hysterie. Allerdings fehlt scheinbar ein wichtiges diagnostisches Kriterium, das der Verdrängung. Wenn der Mord am Vater das Trauma war, müsste sie ihn verdrängt haben und könnte nicht ständig davon reden. Hat Hofmannsthal geirrt, ist es dichterische Freiheit oder gibt es Hinweise auf verdrängte Inhalte? Wenn Elektra Erinnerungen verdrängt, wie kann man sie auf die Bühne bringen? Das Trauma muss unter einem nichttraumatischen Aspekt aber doch klar gezeigt werden. In der Begegnung mit Orest schämt sie sich für ihr Aussehen und schildert ihm, wie es früher war: »Nein, du sollst mich nicht umarmen! Tritt weg, ich schäme mich vor dir. Ich weiß nicht, wie du mich ansiehst. Ich bin nur mehr der Leichnam deiner Schwester, mein armes Kind! Ich weiß, (leise) es schaudert dich vor mir, und war doch eines Königs Tochter! Ich glaube, ich war schön: wenn ich die Lampe ausblies vor meinem Spiegel, fühlt’ ich es mit keuschem Schauer. Ich fühlt’ es, wie der dünne Strahl des Mondes in meines Körpers weißer Nacktheit badete, so wie in einem Weiher, und mein Haar war solches Haar, vor dem die Männer zittern, dies Haar, versträhnt, beschmutzt, erniedrigt. Verstehst du’s Bruder? Ich habe alles, was ich war, hingeben müssen. Meine Scham hab’ ich geopfert, die Scham, die süßer als alles ist, die Scham, die wie der Silberdunst, der milchige, des Monds um jedes Weib herum ist und das Grässliche von ihr und ihrer Seele weghält. Verstehst du’s, Bruder? Diesen süßen Schauder hab’ ich dem Vater opfern müssen. Meinst du, wenn ich an meinem Leib mich freute, drangen seine Seufzer, drang nicht sein Stöhnen an mein Bette? (düster) Eifersüchtig sind die Toten: und er schickte mir den Hass, den hohläugigen Hass als Bräutigam.« Bis hierher kann man den Text noch so verstehen, dass die Erinnerung an die Ermordung des Vaters sie daran hinderte, Gefallen an ihrer Schönheit zu finden. In der Tragödie wird sie aber noch deutlicher, vielleicht wurden deshalb die folgenden Zeilen im Libretto der Oper gestrichen: »Da musste ich den Grässlichen, der atmet wie eine Viper, über mich in mein schlafloses Bett lassen, der mich zwang, alles zu wissen, wie es zwischen Mann und Weib zugeht. Die Nächte, weh, die Nächte, in denen ichs begriff! Da war mein Leib eiskalt und doch verkohlt, im Innersten verbrannt.« Und etwas später »Ohne Brautnacht bin ich nicht, wie die Jungfrau’n sind …« Sie musste ihre mädchenhafte Scham, ihre Jungfäulichkeit dem grässlichen Vater opfern, das Trauma ist weniger die Ermordung des Vaters, sondern vor allem der sexuelle Missbrauch durch den Vater. Zweimal fragt sie Orest »Verstehst du’s Bruder?« und damit auch uns, ob wir verstanden haben, worum es wirklich geht. Elektra ist nicht der einzige Missbrauchsfall in dieser Familie. Aegisths Mutter (und Schwester), Pelopeia, wurde von ihrem Vater Thyestes vergewaltigt, dabei zeugte er Aegisth. Sexueller kindlicher Missbrauch als Ursache der Hysterie ist eine frühe Theorie Sigmund Freuds (Verführungstheorie) – also zur Zeit der Entstehung der Elektra – die er später zugunsten der Einstellung, dass es sich um Missbrauchsfantasien handele, GEORG T ITSCHER

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aufgegeben hat. Heute wurde die Diagnose Hysterie durch histrionische Störung ersetzt. Bei Elektra würde jetzt eher eine Borderline-Störung diagnostiziert werden. Aber hier geht es nicht um Diagnosen, sondern um ein besseres Verständnis der Vorgänge im Seelendrama. Die Missbrauchshypothese macht die Reaktionen Elektras erklärbar. Elektras häufige Beschreibung des Mordes an Agamemnon ist einerseits eine sogenannte Deckerinnerung, welche die andere noch schrecklichere Erinnerung an die Vergewaltigung ersetzt. Andererseits dient sie der Abreaktion der eigenen Aggression gegen den Vater. Sehr wahrscheinlich war die junge Elektra nicht Zeugin des Mordes an ihrem Vater, den Ägisth und Klytämnestra im Bad erschlugen. Ihre Schilderungen der Tat sind Vorstellungen, die über die Zeit zur Gewissheit wurden. Ihr unstillbarer Hass gegen die Mutter ist der Hass des kleinen Mädchens, das ihrer Mutter vorwirft, sie nicht vor dem Vater geschützt zu haben. Und wahrscheinlich auch eine Verschiebung der Aggression vom Vater auf die Mutter, denn die Gefühle missbrauchter Kinder sind nicht unidirektional, sondern höchst ambivalent. Ihr Hass gegen den Vater wiederum wird zur Idealisierung des Aggressors, denn natürlich liebt Elektra ihren Vater auch. Das ist von Strauss wunderbar musikalisch charakterisiert. Ihr Auftritt beginnt mit den Agamemnon-Rufen, einem erratischen einfachen Motiv und der Frage »Wo bist du, Vater?« Die unvermeidliche Schilderung des Mordes am Vater beginnt sie aber seltsamer Weise mit den Worten »Es ist die Stunde, unsre Stunde ist’s, die Stunde, wo sie dich geschlachtet haben.« Dann schlägt die Stimmung völlig um, die Musik wird melodiös und zärtlich, Elektra wird zum kleinen Mädchen: »Agamemnon! Vater! Ich will dich sehn, lass mich heute nicht allein! …. zeig Dich deinem Kind« Hier hören wir, dass Musik für Strauss »Ausdruck der menschlichen Psyche« ist. Im Zusammenhang mit Elektra spricht Strauss von »psychischer Polyphonie« und von »Nervencontrapunkt«. Die Musik zeigt uns Elektra entweder als hasserfüllte Furie oder einmal als Kind. Dazwischen gibt es nichts, außer im Duett mit Orest. Elektra konnte nie zur erwachsenen Frau werden. Ihre weiblichen Attribute, ihre Schönheit muss sie verleugnen, attraktiv zu sein, ist für sie gefährlich, setzt sie den Männern aus. Sexualität ist etwas Schmutziges, Widerliches für sie. Wahrscheinlich hat sie auch, wie viele Missbrauchsopfer, eine Essstörung (Orest: »Hohl sind deine Wangen«). Zur Individuation der Frau (das gilt auch für den Mann) gehört die Integration sowohl weiblicher als auch männlicher Persönlichkeitsanteile, C. G. Jung hat sie Anima und Animus genannt. Der Animus bildet als Archetyp den männlichen unbewussten »Schatten« der Frau. Im Theater werden häufig unterschiedliche Aspekte einer Person auf mehrere Figuren aufgeteilt. Chrysotemis ist die weibliche, jungfräuliche Seite von Elektra (»Ich bin ein Weib und will ein Weiberschicksal« und »Kinder will ich haben, bevor mein Leib verwelkt, und wär’s ein Bauer, dem sie mich geben.« In der Tragödie antwortet Elektra darauf »Pfui, die’s denkt, pfui, die’s mit Namen nennt!« 57

ELEKT R A U N D OR E ST


Der Bruder Orest bleibt seltsam schattenhaft bei seinem kurzen Auftritt. Aber er ist auch ein Schatten, der männliche Anteil von Elektra, ihr Animus. Orest ist die Tat, Elektra die Sprache. Im Duett mit ihm singt sie »Der ist selig, der tun darf.« – »Der ist selig, der seine Tat zu tun kommt.« – »Die Tat ist wie ein Bette, auf dem die Seele ausruht.« Orest tritt unmittelbar nach dem Entschluss Elektras zur Tat auf. Es ist Elektras Mord an der Mutter, nicht der Orests. Auch heute gibt es noch Söhne, die ihre Mutter ermorden. Dabei gibt es fast immer ein bestimmtes Muster. Es sind Söhne mit besonders enger Mutterbindung, deren Mütter die Selbständigkeit des Sohnes zu verhindern versuchen. Der Mord ist ein schrecklicher verzweifelter Lösungsversuch. Das trifft für Orest sicher nicht zu. Er ist das Tatwerkzeug seiner Schwester, ihr zur Tat entschlossener »männlicher« Teil. Elektra passiert eine interessante Fehlleistung. Sie vergisst, Orest das Beil, mit dem Agamemnon getötet worden ist und das sie für die Rache aufgehoben hat, mitzugeben. Diese Fehlleistung zeigt ihre Ambivalenz bei der »Bestrafung« der Mutter, die Ambivalenz, die schon für ihre Inaktivität verantwortlich ist. Elektra hasst ihre Mutter, identifiziert sich aber auch mit ihr, hat diese doch den Vater für seine Taten bestraft. Nach erfolgter Tat bleibt für Elektra kein Leben mehr, sie hat Animus und Anima nicht integrieren können, keine Synthese zwischen Sprechen und Handeln, zwischen Erkennen und Leben gefunden.

ELEKT R A U N D OR E ST

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Josef Breuer, Sigmund Freud, Studien über Hysterie, 1895

Es erscheint zu­nächst wunderlich, dass längst ­ ver­gangene Erlebnisse so intensiv wirken sollen; dass die Erinnerungen an sie nicht der Usur unterliegen sollen, der wir doch alle unsere ­ Er­innerungen verfallen sehen. 59

KOLUMN EN T IT EL


Richard Strauss

ER­INNE­RUNGEN

Die erste Aufführung meiner Oper Elektra


Als ich zuerst Hofmannsthals geniale Dichtung im Deutschen Theater mit Gertrud Eysoldt sah, erkannte ich wohl den glänzenden Operntext (der es nach meiner Umarbeitung der Orest-Szene tatsächlich geworden ist) und, wie seinerzeit in Salome, die gewaltige musikalische Steigerung bis zum Schluss; in Elektra nach der nur mit Musik ganz zu erschöpfenden Erkennungsszene der erlösende Tanz, – in Salome nach dem Tanz (als Kernpunkt der Handlung) die grausige Schlussapotheose. – Beide Opern boten wunderbare musikalische Angriffspunkte: SALOME Die

Gegensätze: Hof des Herodes, Jochanaan, die Juden, die ­Nazarener

ELEKTRA Die

dämonische Rachegöttin gegen die Lichtgestalt ihrer irdischen Schwester

SALOME Die

drei Verführungsgesänge der Salome, die drei Werbereden des Herodes, Salomes ostinato: »Ich will den Kopf des ­Jochanaan.«

ELEKTRA

D er erste Monolog, die unendlichen Steigerungen

Der Szene Elektra-Chrysostemis Der Szene Elektra-Klytämnestra

] beide leider noch immer stark verkürzt

Anfangs schreckte mich aber der Gedanke, dass beide Stoffe in ihrem psychischen Inhalt viel Ähnlichkeit hatten, so dass ich zweifelte, ob ich ein zweites Mal die Steigerungskraft hätte, auch diesen Stoff erschöpfend darzustellen. Jedoch der Wunsch, dieses dämonische ekstatische Griechentum des 6. Jahrhunderts Winckelmannschen Römerkopien und Goethescher Humanität entgegenzustellen, gewann das Übergewicht über die Bedenken, und so ist Elektra sogar noch eine Steigerung geworden in der Geschlossenheit des Aufbaus, in der Gewalt der Steigerungen, – ich möchte fast sagen: sie verhält sich zu Salome, wie der vollendetere, stileinheitlichere Lohengrin zum genialen Erstlingswurf des Tannhäuser. Beide Opern stehen in meinem Lebenswerk vereinzelt da: Ich bin in ihnen bis an die äußeren Grenzen der Harmonik, psychischer Polyphonie (Klytämnestra-Traum) und Aufnahmefähigkeit heutiger Ohren gegangen. Die Aufführung der Elektra war von dem gewissenhaften Schuch wieder auf das sorgfältigste vorbereitet worden. Schuch war berühmt wegen seiner eleganten Aufführungen italienischer und französischer Opern und als diskreter Begleiter. Er hatte diese löbliche Tugend so weit gesteigert, dass selbst Wagnersche Partituren etwas unbedeutend klangen. Ein richtiges Blechfortissimo war in dem klangschönen Dresdner Musterorchester kaum zu hören. Da ich damals, vor 35 Jahren, auch noch für 61

ER IN N ERU NGEN A N DIE ERST E AU FF Ü HRU NG MEIN ER OPER ELEKT R A


germanische ff schwärmte, nörgelte ich in den Proben törichterweise an Schuchs wohlklingendem (nicht dröhnendem) Blech herum, was ihn ärgerte. Ich wollte nämlich, zum ersten Mal meine Partitur hörend, die ganze Thematik der Orchesteroper genau hören, vergessend, dass so komplizierte Polyphonie erst nach Jahren, wenn das Orchester sie schon fast auswendig kann, ganz plastisch und durchsichtig wird. Schuch, als Freund der armen »deklamierenden« Sänger, hatte bereits in den ersten Proben das Orchester so weit abgedämpft, dass es für meine Bedürfnisse allzu blass klang, wobei man aber immerhin die Sänger wenigstens hörte. Dies ewige Hervorheben thematischer Mittelstimmen hatte den braven Schuch so geärgert, dass er endlich in der Generalprobe so loslegte, dass ich bittend bekennen musste: »Heute war das Orchester doch etwas zu stark.« – »Na, sehen Sie«, triumphierte Schuch, und am Premierenabend war alles tadellos! Nur die Klytämnestra, der als Gast gebetenen Frau Schumann-Heink (berühmte Wagnersängerin!) stellte sich als Fehlgriff heraus. Mit alten Stars ist für mich nichts zu machen, – damals ahnte mir schon selbst, wie grundlegend mein Gesangsstil sich selbst vom Wagnerschen unterscheidet. Mein Gesangsstil hat das Tempo des rezitierten Dramas und kommt oft mit der Figuration und Polyphonie des Orchesters in Konflikt, und nur hervorragende Dirigenten, die selbst etwas vom Gesang verstehen, können hier den dynamischen und motorischen Ausgleich zwischen Schauspieler und Taktstock schaffen. Der Kampf zwischen Wort und Ton ist schon seit Beginn das Problem meines Lebens und mit Capriccio als Fragezeichen beendet! Der Erfolg der Premiere war, was ich, wie gewöhnlich, erst nachträglich erfuhr, ein anständiger Achtungserfolg. Angelo Neumann telegraphierte nach Prag sogar »Durchfall«! Jetzt gilt vielen Elektra als Höhepunkt meines Schaffens! Andere stimmen für die Frau ohne Schatten! Das große Publikum schwört auf den Rosenkavalier. Man muss zufrieden sein, als deutscher Komponist es so weit gebracht zu haben.

ER IN N ERU NGEN A N DIE ERST E AU FF Ü HRU NG MEIN ER OPER ELEKT R A

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Hermann Bahr

EINE NAMENLOSE HEITERKEIT WAR’S … Nie war diese Magie mächtiger als in Elektra, die dort einsetzt, wo die Salome aufgehört hat. Mir will scheinen, man habe nämlich den Schluss der Salome missverstanden, indem der Hörer die ganz unbeschreibliche Lösung und Reinigung, die hier mit seinem Gemüt geschieht, auf die Salome selbst überträgt und sie als ihre Läuterung und Verklärung deutet, was nur seine eigene Entrückung durch die Macht der Darstellung ist. Wie wir im Anblick eines ungeheuren Feuers oder einer Eruption von der Pracht des Elements so ergriffen werden können, dass wir darüber aller Schrecken und Gefahr vor Bewunderung vergessen müssen, so steigert Strauss den Ausdruck des Entsetzlichen so, dass wir nur noch die Fülle seines Ausdrucks spüren und die Lust, dass es so etwas Starkes überhaupt gibt, und den Stolz, dass ein Mensch eine solche Macht, es zu bändigen, haben kann. Diese Musik darf sich in alle Schauder wagen, weil sie ihnen nicht erliegt und sich stärker weiß als sie und überall aus ihnen Schönheit brechen lässt. Soll ich es mit einsam verwegenen Wort und auf die Gefahr hin, dass man es verdrehen und übel ausdeuten wird, sagen, was, die zwei Stunden der Aufführung von Elektra hindurch, mein Grundgefühl war? Eine namenlose Heiterkeit war’s, ein fortwährendes inneres Frohlocken, ein Strahlen in allen Sinnen und Nerven vor hellem Glück, wie es der Fechter hat, der sich im Sieg fühlt, oder einer, der den Gipfel erklommen hat, Abgründe rings unter sich, die ihn nicht mehr schrecken im Angesicht der lieben Sonne. Hier ist, was Nietzsche sich verordnet hat, um an der Seele zu genesen; er fand es nur nirgends, und so konnten die Schwachen es missverstehen, als wäre eine blassblaue, verdünnte Spinettmusik gemeint. Hier ist eine, die vom Tragischen empor zur Freude findet, nicht indem sie sich vom Tragischen weg mit schlechten Nerven in den stillen Winkel drückt, die Hände vor den wehen Augen, sondern indem sie durch Geist alle Gräuel der Götter überwältigt und sie dann spielend genießt …

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HER M A N N BA HR


Andreas Láng

VON WÜTENDEN DISSONANZEN, WIRR­ VERSCHLUNGENEM UND ARCHAISCHER MONUMENTALITÄT

Elektra und die Wiener Staatsoper


Das Wiener Publikum konnte Elektra am 24. März 1909 – also bereits zwei Monate nach der Uraufführung – an der Hofoper erleben. Der Aufführungsvertrag war sogar schon Monate vor der Dresdner Weltpremiere von Direktor Felix von Weingartner unterzeichnet worden, und das, obwohl der selbst als Komponist und Dirigent erfolgreiche Weingartner wahrlich nicht zu den großen Parteigängern der Strauss’schen Musik zählte. Beim Hören der Elek­ tra-Musik versuchte er beispielsweise, wie in seinen Lebenserinnerungen nachzulesen ist, »die wütenden Dissonanzen zu überhören.« Folgerichtig leitete Weingartner die Wiener Erstaufführung auch nicht selbst, sondern überließ diese (im Nachhinein) wichtige Tat seinem Kapellmeister Hugo Reichenberger. Mit der endgültigen Besetzung der Hauptpartien zögerte Weingartner recht lange – vor allem die Titelpartie bereitete ihm größtes Kopfzerbrechen. Die in Frage kommende Marie Gutheil-Schoder wollte er mit der Elektra stimmlich nicht ruinieren und für andere Aufgaben aufsparen. Bei einem Vorsingen entdeckte er schließlich die junge, eher lyrische amerikanische Sängerin Lucille Marcel und übertrug ihr sogleich die Hauptpartie der Strauss-Oper. (Bald darauf verliebte er sich in die Sopranistin und heiratete sie einiges später sogar.) Die übrigen Rollen waren dann mit der großen Anna von Bahr-Mildenburg (Klytämnestra), Lucie Weidt (Chrysothemis), Friedrich Weidemann (Orest) und dem wichtigen Wagner-Tenor Erik Schmedes (Aegisth) besetzt. Großen Eindruck hinterließ bei dieser ersten Produktion das imposante Bühnenbild des vielgerühmten Alfred Roller, der sich, nebenbei bemerkt, nicht wirklich an die ursprünglichen szenischen Vorgaben Hofmannsthals hielt. Dieser hatte ja ausdrücklich »Säulen, breite Treppenstufen, antikisierende Banalitäten« rundheraus abgelehnt, um die notwendige Atmosphäre der »Enge, Unentfliehbarkeit, Abgeschlossenheit« nicht zu gefährden. Die erfolgreiche, aber letztendlich falsche, weil antikisierendarchaische Bühnenbildästhetik Rollers beeinflusste die optische Komponente der Wiener und internationalen Elektra-Rezeption in den nächsten Jahr­ zehnten maßgeblich. Im Gegensatz zu den Ausführenden der Premieren­ besetzung, die er mit Lob bedachte, ließ Julius Korngold in seiner berühmt gewordenen Besprechung an der Musik der Elektra kaum ein gutes Haar: Um den qualitativen Abstieg zur früher entstandenen Salome zu dokumentieren, begann er die Kritik so wie er sie beendete – mit dem ironisch veränderten Zitat »Wie schön war die Prinzessin Salome«. Dazwischen finden sich ausführliche Erklärungen über die Schwächen, ja die Hässlichkeit der ElektraPartitur. Etwas mehr als ein Jahr nach der Wiener Erstaufführung trat der Komponist am 19. Juni 1910 erstmals persönlich ans Pult der Hofoper, um eine gefeierte Aufführung seiner Elektra zu leiten. Diesmal schlug Korngold, quasi nach jenem Motto urteilend, nach dem man später gerne auch die Qualität der Rachmaninow’schen Werke vom Ausführenden abhängig machte – »Wenn es der geniale Komponist interpretiert, wird das Werk besser« –, in 65

A N DR EAS LÁ NG


seiner Besprechung deutlich mildere Töne an, was sich dann folgendermaßen las: »Richard Strauss dirigierte und die Partitur leuchtete, wurde wärmer und wohllautender. Er entknotet scheinbar Wirrverschlungenes, mildert die Realismen, unterstreicht breit, fasst mit einer zärtlichen Liebe die lyrische Orchesterkantilene, stürzt sich mit einem hinreißenden Schwung ohne Brutalität auf die dramatischen Höhepunkte. In dem bacchantischen Finale – für uns das bedeutendste in Elektra, weil Strauss’ innerster Musiknatur entsprungen – schien sich der dirigierende Komponist an dem herrlichen Orchester selber zu berauschen und berauschte auch den Hörer. Ein Jubel erhob sich, wie er auch in diesem begeisterungsfähigen Hause selten zu hören. Strauss musste wohl an zwei dutzendmal vor die Rampe.« Wenn Hugo Reichenberger, der Dirigent der Wiener Erstaufführung, so ganz grundsätzlich an Selbstzweifel gelitten hat, muss ihn diese Besprechung wohl in eine gröbere Krise gestürzt haben … Deutlich langsamere Zeitmaße als Richard Strauss (der bis 1931 noch weitere 28mal ans Pult trat, um die Elektra zu leiten) wählte Direktor Clemens Krauss, als er am 4. März 1932 eine Neuproduktion des Werkes aus der Taufe hob. Unter seinem Dirigat kam tatsächlich jedes Detail der verästelten polyphonen Struktur ebenso zur Geltung wie die Feinheiten der Instrumentierung. Krauss suchte weniger den rauschhaften Schwung als das Ekstatische im jeweils aktuellen Moment, sodass er gelegentlich den Fluss anzuhalten schien. Diese sehr breite, aber dennoch transparente Lesart der Partitur gefiel dem Wiener Publikum genauso gut wie die Chrysothemis seiner Gattin Viorica Ursuleac und die Regie Lothar Wallersteins. Und auch Rose Pauly in der Titelpartie konnte trotz mancher Unsicherheit punkten. Positiv vermerkt wurde die gut studierte Mägdeszene, die in den letzten Aufführungen der ersten Produktion musikalisch deutlich unter dem gewünschten Niveau geblieben war. Weniger glücklich machten die Eingriffe, die ­Robert Kautsky in das Roller’sche Bühnenbild vornahm – er brach zum Beispiel eine Fensteröffnung in das gewaltige Mauerwerk und erweiterte die Gesamtanlage um eine zusätzliche Etage. Da Lothar Wallerstein nach dem Einmarsch und der Machtergreifung der Nationalsozialisten nicht mehr ­namentlich aufscheinen durfte, erfolgte am 9. April 1940 eine sogenannte Neueinstudierung unter Hans Knappertsbusch. Die Frage der Regie löste man, indem man auf den Abendzetteln lediglich den Namen des Spielleiters – ­Direktor Erwin Kerber – vermerkte. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs dauerte es vier Jahre, ehe von der Wiener Staatsoper im damaligen Ausweichquartier Theater an der Wien erneut eine Elektra über die Bühne ging: Am 25. Mai 1949 feierte unter Rudolf Moralts Leitung die Elektra-Inszenierung von Adolf Rott in der Ausstattung von Robert Kautsky Premiere. Man schien offenbar froh darüber zu sein, dass der Wiederaufbau eines Staatsopern-­ gerechten Spielplanes mit dieser Neuproduktion um einen wichtigen Schritt fortgesetzt worden war, die szenische Realisation des Gebotenen konnte ­jedoch nur teilweise befriedigen: So stieß man sich beispielsweise an den A N DR EAS LÁ NG

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Anna Bahr-­ Mildenburg als Klytämnestra (1909)


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Treppen, die das hallenförmige Bühnenbild gegen die Rampe hin begrenzten, ebenso wie an den stilisierten spätantiken Kostümen. Im Neuen Österreich hieß es diesbezüglich: »Die monumentale Geradlinigkeit der Handlung wird in ein ewiges Treppab-Treppauf zerfasert und Chrysothemis’ Angstschrei: ›Orest!‹, ihr Hämmern an der Bronzetür versickern zu einem wirkungslosen Abgang. Selbst über die Kostüme, die spätantik-byzantinisch, nicht prägriechisch, minoisch sind … ließe sich streiten.« Was die Besetzung betrifft, bot man alles auf, was Rang und Namen hatte: Anny Konetzni als Elektra, Paul Schöffler als Orest, Max Lorenz als Aegisth, Elisabeth Höngen als Klytämnestra und Judith Hellwig als Chrysothemis. Aber auch die Leistung der Konetzni machte nicht jeden vollständig glücklich – so mancher vermisste bei ihr das Dämonisch-Gefährliche, die Besessenheit ebenso wie das RauschaftTriumphale am Ende der Oper. Der große Strauss-Kenner Karl Böhm übernahm die Produktion in seiner zweiten, sehr kurzen Direktionszeit sieben Jahre später in das wiedereröffnete Haus am Ring und leitete die dortige Wiederaufnahme (8. April 1956) persönlich – diesmal sangen Christl Goltz (Elektra), Hilde Zadek (Chrysothemis), Margarete Klose (Klytämnestra), Edmond Hurshell (Orest) und abermals Max Lorenz (Aegisth). Für die Elektra-Premiere vom 16. Dezember 1965 schuf Wieland Wagner eine auf archaische Monumentalität abzielende Szenerie, wiewohl er den Einfluss Sigmund Freuds auf Elektra schon während der Probenzeit zu dieser Neuproduktion gerne betonte. Für Wagner war »Klytämnestra das Musterbeispiel des zutiefst verwundeten Muttertieres, Elektra das Musterbeispiel der Vatergebundenheit, Chrysothemis beziehungsweise Orest Repräsentanten der Sophistik und die Oper Elektra an sich das Ende einer Entwicklungslinie des musikalischen Dramas«. So stolz die Wiener Opernfreunde im Rückblick darauf sind, einige Wieland-Wagner-Inszenierungen im Spielplan gehabt zu haben (neben Elektra noch Salome, Lohengrin und quasi posthum von seiner Frau Gertrud einstudiert den Fliegenden Holländer), so sehr wurden sie, insbesondere die Elektra-Regie von Publikum und Presse abgelehnt, als sie noch aktuell waren. Der ehemalige Chefdramaturg der Wiener Staatsoper, Marcel Prawy, bezeichnete die Wieland-Wagner-Inszenierung verbittert sogar als »verbrecherische Entstellung«. Eine triumphale Aufnahme fand hingegen die musikalische Seite der Neuproduktion. Karl Böhms Dirigat etwa wies von der ersten Sekunde an ein enormes Spannungspotenzial, eine ausgefeilte Klangdramaturgie, ein der Handlung zugutekommendes Vorwärtsstreben auf. Die Dramatik der Interpretation war so gewaltig, dass sie dem Hörer das szenische Erleben selbst auf einer mittlerweile bei ORFEO erschienenen CD geradezu zu ersetzen imstande ist. Dennoch bestand nie die Gefahr des klanglichen Zudeckens der Sänger. Wie von einem Kammer­ orchester präsentiert erklangen transparent die Motive, Instrumentengruppen, einzelne Stimmen, man vernahm und erkannte manche musikalischen Zusammenhänge vielleicht zum ersten Mal, noch klarer als meist üblich 69

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kamen die orchestralen Reaktionen auf das jeweilige Bühnengeschehen zu ihrem Recht. Franz Endler fasste es in der Presse folgendermaßen zusammen: »Diesmal dirigierte Böhm … und es entstand daher eine aufwühlende musikalische Wiedergabe, musikantischer als alle die großen Elektra-Interpretationen der letzten Jahre.« Und bei Norbert Tschulik in der Wiener Zeitung hieß es: »Böhm hat es halt vom alten Strauss gelernt, wie man’s macht.« Gerade der kammermusikalische, transparente Ansatz (Strauss sagte einmal während einer Elektra-Probe in München zu den Musikern: »Spielen Sie am Abend recht leise – es ist ohnehin so laut komponiert.«) der Böhm’schen Interpretation ermöglicht auch den Sängerinnen und Sängern ein ohne Abstriche differenziertes Gestalten, gepaart mit einer enormen Wortdeutlichkeit: Beginnend beim Mägdequintett, das durchgehend hoch besetzt war (Margarita Lilowa, Margareta Sjöstedt, Margarete Ast, Gundula Janowitz, Gerda Scheyrer), bis hin zu den einzelnen Solisten der Hauptrollen. Für die Titelpartie konnte mit Birgit Nilsson (an der Wiener Staatsoper war sie praktisch in all ihren großen Partien zu hören gewesen) die damals wohl begehrteste Hochdramatische gewonnen werden. Sie hatte die Elektra vor dieser Produktion lediglich in Stockholm verkörpert, besser gesagt »ausprobiert«, um in Wien bereits eingesungen zur Neuproduktion antreten zu können. Der Erfolg, den sie hier errang, veranlasste sie, die Partie endgültig in ihr Repertoire aufzunehmen. Aus dem einhelligen Lob der Rezensenten sei hier stellvertretend noch einmal Norbert Tschulik zitiert: »Birgit Nilsson, die Elektra dieser Premiere, triumphierte über alle Schwierigkeiten. Ihr Sopran ist ein einmaliges Phänomen an Größe und Glanz. Mühelos, mit strahlender Kraft erhebt sich ihre Stimme, kein Ton büßt da an Schönheit ein.« In Wien und zugleich international geliebte und geschätzte Sänger schenkten auch den übrigen großen Partien ihre Stimme: Allen voran Leonie Rysanek, die die Chrysothemis mit Wohlklang und Poesie ausstattete. Vervollständigt wurde der weibliche Teil der Atridenfamilie von der ausdrucksstarken US-Amerikanerin Regina Resnik, die hierzulande mit einem breiten Repertoire, das vom Barock bis zu Strauss-Partien reichte, bekannt war. Ebenso wie Leonie Rysanek die Chrysothemis hatte auch sie die Klytämnestra in Wien bereits vor der 1965er-Premiere des Öfteren gesungen. Ein Rollendebüt gab hingegen der spätere Direktor der Wiener Staats- und Volksoper Eberhard Waechter als Orest, der damals noch im Besitz der Schönheit und Gestaltungsfähigkeit seines leider zu früh brüchig gewordenen Timbres war. In der relativ kleinen Partie des Aegisth hörte man den bedeutenden Wagner-Tenor Wolfgang Windgassen, der eine packende Charakterstudie zum Besten gab. Die Produktion brachte es in den nächsten zwei Jahrzehnten auf mehr als 80 Aufführungen (dazu kamen weitere Vorstellungen bei diversen Gastspielen der Wiener Staatsoper – etwa in Montréal anlässlich der Weltausstellung 1967). In der Direktionszeit von Claus Helmut Drese folgte am 10. Juni 1989 die nächste Elektra-Neuproduktion in der Regie von Harry Kupfer – bei der der A N DR EAS LÁ NG

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damalige Musikdirektor Claudio Abbado erstmals für eine Strauss-Oper am Pult stand und ein, wie es damals hieß, »Elektra-ungewohntes Sängerteam« zur Verfügung hatte: Éva Marton in der Titelpartie, Cheryl Studer als Chrysothemis und Brigitte Fassbaender als Klytämnestra. Schavernochs Bühnenbild zeigt eine riesenhafte, nur von den Knien abwärts sichtbare Herrscherstatue Agamemnons, die das gesamte Geschehen beherrscht und neben dem die eigentlichen Darsteller zu »marionettenhaften Kleinfiguren« schrumpften, wie es in der Presse hieß. Die Begeisterung des Publikums war zunächst gespalten – und so hoch die Produktion in späteren Jahren in der Gunst der Zuschauer auch stand –, am Premierenabend wurde das Leading-Team mit heftigen Buhrufen konfrontiert. Einen wirklichen Erfolg feierten lediglich Franz Grundheber als Orest, James King als Aegisth und die bereits erwähnte Brigitte Fassbaender. 2015 wurde diese Produktion von einer Inszenierung Uwe Eric Laufenbergs abgelöst, der die Handlung in einen Wiener Kohlenkeller des beginnenden 20. Jahrhunderts verfrachtete. Eine Umsetzung, mit sich das Publikum bis zur letzten Vorstellung nicht abfinden konnte und wollte. Immerhin feierte Nina Stemme unter der Leitung Mikko Francks in der Titelpartie einen großen persönlichen Triumph, auch Falk Struckmann als Orest und Anna Larsson als Klytämnestra überzeugten mit ihrer Interpretation. Anne ­Schwanewilms, die vorgesehene Chrysothemis, erkrankte hingegen knapp vor der Generalprobe, sodass nur das beherzte, erfolgreiche Einspringen des Ensemble­mitglieds Regine Hangler die Premiere retten konnte. Im September 2020 gab es im Rahmen einer Wiederaufnahme schließlich ein Comeback der beliebten Kupfer-Produktion, die die szenisch verunglückte Vorgänger- und zugleich Nachfolge-Inszenierung ersetzte und zugleich auch Franz Welser-Möst zurück an das Pult des Hauses brachte. Harry Kupfer hätte diese Elektra mehr als 30 Jahre nach deren Premiere mit Ricarda Merbeth, Camilla Nylund und Doris Soffel neu erarbeiten sollen. Sein Tod am 30. Dezember 2019 hat das leider verunmöglicht. Angela Brandt, eine langjährige Mitarbeiterin Kupfers und von ihm für diese Produktion ausgewählt, erarbeitete die Inszenierung in seinem Sinne – als Vermächtnis und Erinnerung an den großen Theatermacher.

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HARRY KUPFERS ELEKTRA

»Harry Kupfer, der alle Sänger zu grandiosen schauspielerischen Leistungen führt, räumt in seiner präzise analysierenden, beängstigenden und packenden Inszenierung mit gängigen Klischees auf.« → Ernst Naredi-Rainer, Kleine Zeitung, 2. November 1989


Harry Kupfer bei den Elektra-Proben an der Wiener Staatsoper, 1989


Dieter Kranz

Die Wiener Produktion Harry Kupfer wertet seine in Graz, Amsterdam und Cardiff gewonnenen Elektra-Erfahrungen aus, legt die Aufführung aber in Wien wesentlich differenzierter und widersprüchlicher an. Beibehalten ist die Grundidee, den Vorhof der Burg von Mykene durch eine Skulptur des Agamemnon markieren zu lassen. Aber Bühnenbilder Hans Schavernoch baut sie nun so monumental, dass der Bühnenausschnitt sie nur bis zu den Knien freigibt – Sinnbild einer übermächtigen blutigen Vergangenheit, die von den heute Mächtigen nicht bewältigt werden konnte. Stricke hängen an dem Standbild herab. Man hat es zu stürzen versucht; aber es gelang nur, den Kopf abzuschlagen, der nun als gewaltiger Steinklumpen neben dem Torso liegt. In der Höhle einer demolierten Weltkugel, auf die Agamemnon den Fuß setzt, haust Elektra. Éva Marton [die Premieren-Elektra] spielt sie, wie die Autoren sie beschreiben: vom Hass entstellt, nicht mehr Frau, kaum noch Mensch, schlaff zusammengefallen, nachlässig und doch gleichzeitig voller böser Energie, eine »Psycho-Terroristin«, wie Kupfer formuliert, die mit den ­anderen auch sich selbst zerstört. Der Triumphtanz, der ihr vom Werk abverlangt ist – in dieser Inszenierung erscheint er als verzweifeltes Torkeln um das Agamemnon-Monument herum, bei dem sich Elektra mit den herabhängenden Stricken erdrosselt. Dies vielschichtige Charakterbild wird auch musikalisch legitimiert: Mit stählerner Stimm-Energie kann sich die Marton gegen die fortissimo-Entladungen des Orchesters durchsetzen, aber wenn sie den Namen des wiedergewonnenen Bruders stammelt, spürt man auch die Sehnsucht nach einem menschlicheren Leben. Und wie die Marton sich hütet, aus der Elektra eine Rache-Furie zu machen, so erlöst auch Brigitte Fassbaender in Kupfers Regie die Klytämnestra aus dem Schablonebild der bösen Schlange und menschlichen Ruine. Die sich da – umschwirrt von Sicherheitskräften, behängt mit Talismanen – zum blutigen Menschenopfer an die AgamemnonStatue begibt, um ihre bösen Träume loszuwerden, ist eine Frau, die männlicher Brutalität mit Härte entgegentrat. Ihr Auftritt ist klinische Studie und kantabler Hochseilakt in einem: Ton und Geste zeichnen eine Frau, der man übel mitspielte, bevor sie wurde wie sie ist, so dass Elektras zwischendurch aufkeimendes Mitleid mit der Mutter verständlich wird. Faszinierend und großartig. Imponierend auch, wie Cheryl Studer der sonst oft blassen Elektra-Schwester Chrysothemis eine Funktion im Drama gibt: Der mitunter als unpassend gerügte sinnliche Wohlklang ihrer kantablen Linien dient in Kupfers Inszenierung der Charakterisierung einer Opportunistin, deren Anpassungsfähigkeit das Gewaltregime des Aegisth erst möglich machte. Franz DIET ER K R A NZ

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Grundheber stellt mit strömendem Bariton dem hochrangigen Frauentrio einen ebenso intensiven Orest entgegen, keinen Vollstrecker einer Erlösungstat, sondern einen Manipulierten, der am Ende nach vollzogenem Muttermord verzweifelt die blutbeschmierten Hände gegen das Standbild des Vaters reckt. Terror zeugt nur neuen Terror, und blutige Rache kann nicht als Mittel gelten, Bluttaten von einst zu bewältigen. So bringt die Inszenierung ihre humane Deutung des oft als inhuman missverstandenen Werks auf suggestive Weise zur Geltung.

Nicht­locker-Lassen, um einen Ausdruck hervorzuholen Brigitte Fassbaender, die Klytämnestra der Premiere, im Gespräch mit Dieter Kranz über Harry Kupfer Klytämnestra ist in ihrer Gestaltung stimmlich außerordentlich differenziert angelegt, aber auch darstellerisch. Also man sieht, dass in dieser Frau unglaub­ lich viel kaputtgegangen ist und dass sie nicht nur ein Wrack und nicht nur eine Verbrecherin ist, sondern auch … … ein Mensch, der unendlich leidet. Ich glaube, dass das in Ton und Klang umgesetzte Verzweiflung ist, die da rauskommt aus der Klytämnestra und so hab ich das auch immer aufgefasst. Wenn dann einige Phrasen schön waren, dann freut mich das sehr. Ich finde, das ist aber nicht das Wichtigste bei der Partie. BF:

ie haben zum ersten Mal mit Kupfer als Regisseur zusammenge­ S arbeitet. Ja, es war eine von mir sehr lange erwartete Arbeit, weil ich den Harry Kupfer als Regisseur unendlich schätze und alles, was ich von ihm gesehen habe, immer phänomenal fand, und ich hab immer gehofft und gewünscht, dass das mal auf mich zukommt, und wie es dann endlich da war, war das dann schon ganz toll. BF:

odurch unterscheidet er sich von anderen Regisseuren aus Ihrer W Sicht? 75

BR IGIT T E FAS SBA EN DER Ü BER H A R RY K U PFER


Durch seine unendliche Intensität, die er einbringt in die Arbeit und die kompromisslose, hochkünstlerische Intensität. Dieses Nicht­locker-Lassen, um einen Ausdruck hervorzuholen. Das war für mich eigentlich eine ganz erschütternde Erfahrung. Ich bin ein sehr distanzierter Mensch, und es dauert sehr lange, bis ich aus mir rauskommen kann, bis ich diese Barrieren überspringen kann, die sich da immer wieder aufbauen. Und das war diesmal anders: Von der ersten Probe an bin ich also mit fliegenden Fahnen über diese Barrieren gesprungen und das kenne ich eigentlich von mir nicht und das sind die Re­gisseure, die mit mir arbeiten und relativ kontinuierlich gearbeitet haben, auch gewöhnt von mir und so war das für mich auch eine ganz neue Erfahrung. Es liegt natürlich wahrscheinlich auch in mir, dass ich inzwischen so weit bin, dass ich das kann, aber das kostet sehr viel, diesen inneren Schweinehund immer zu überwinden. BF:

Wie gelingt es Kupfer, auf den Proben eine produktive Arbeits-­ atmosphäre herzustellen? Durch wahnsinnige Bescheidenheit, ganz große Integrität und Bescheidenheit, künstlerische Integrität und Noblesse und ein Niveau, was so hoch ist, dass man sehr gerne auf diesem Niveau mitzieht. Ich kann das nicht anders sagen, das ist einfach ein menschliches und künstlerisches Niveau, was von der ersten Sekunde an da ist im Raum. Ja, so ist es, so muss es sein, aber das gibt es halt sehr selten und darum ist er was Besonderes. BF:

Wenn Sie versuchen, die Figur der Klytämnestra in Ihrer und ­Kupfers Sicht zu beschreiben, was wären die wichtigsten Punkte? Menschlichkeit. Zerbrochenheit. Sogar dass man Mitleid hat, was ich auch immer empfunden habe in dieser Partie. Als ich anfing, sie zu erarbeiten, da habe ich immer gedacht, das ist eigentlich ein ganz armes Schwein. Und dieses, dass die Partie zum Mitleid herausfordert, das finde ich sehr wichtig. Aber eine starke Frau natürlich auch. Aber das ist so schwer zu sagen. Es gibt Dinge, ich kann nicht darüber reden, ich muss es machen. Ich kann es zwar für mich reflektieren und darüber nachdenken, aber ich kann es sehr schwer in Worte umsetzen, darum bin ich Sängerin geworden. Ich muss es machen. Und wenn sie da heute Abend irgendetwas gefühlt haben, dann habe ich das Kupfer zu verdanken. Und dass ich kapiert habe, was er von mir wollte. BF:

DIET ER K R A NZ

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Dieter Kranz

Kupfer und die Sänger Die Verwandlung von Partien in Figuren, die Erzählung von spannenden, psychologisch begründeten und zeitgenössisch relevanten Bühnenvorgängen ist geradezu zum Markenzeichen des Regisseurs Harry Kupfer geworden. Die einen schmähen ihn deshalb als »Kunsthandwerker« und unterstellen ihm (wie vorher schon Felsenstein) eine opernfremde Schauspielästhetik. Für die anderen ist er ein überraschender und faszinierender Magier der Szene, ein Regisseur, der es immer wieder schafft, mit seinem ungewöhnlichen Blick auf schein­bar längst ausgelotete Werke zu überraschen und zu beeindrucken. Wie arbeitet Harry Kupfer? Wie gelingt es ihm, immer wieder aufstrebende junge Talente und arrivierte Stars zu motivieren und sie zu bewegen, sich seinen für den Sänger alles andere als bequemen Ansprüchen nicht nur zu fügen, sondern sie mit Enthusiasmus mitzutragen? Kupfer geht von dem Grundsatz aus, den Felsenstein auf die Formel brachte, dass Theater nur zwischen Menschen stattfinden kann. Das klingt wie ein Allgemeinplatz und bezeichnet doch eine ästhetische Grundposition, die keineswegs allgemein akzeptiert wird. Sie grenzt sich auf der einen Seite von der konventionellen Opern-Interpretation ab, bei der die Sänger lediglich durch das Kostüm als handelnde Figur gekennzeichnet sind, auf der anderen Seite auch von jener avantgardistischen Richtung des Musiktheaters, die Figuren weitgehend stilisiert und mehr einer Welt der Zeichen, Symbole und Bilder vertraut. Kupfers Theater bezieht dagegen seine Wirkungen vorrangig aus der Darstellung vielschichtiger widersprüchlicher Figuren. In ihrer Art, sich zu verhalten, unterscheiden sie sich erheblich voneinander. Die musikalische Notierung bestimmt ihre Darstellung bis hin zum Bewegungsduktus. So äußert sich das Hin- und Hergerissen-Sein zwischen verschiedenen Gefühlen bei einem Ferrando anders als bei einem Rodolfo. Wichtig hervorzuheben, dass glaubwürdige Figuren nicht nur in Werken gelingen, die das Material dazu sozusagen unverschlüsselt auf dem Präsentierteller bieten. Auch der eitel sich blähende Kaiser Anastasio in der HändelOper Giustino ist in Kupfers Inszenierung eine genau gezeichnete Figur. Bei der Darstellung der von Machtgier und Sex getriebenen Personen in Aribert Reimanns Oper Lear scheut er auch vor Extremen nicht zurück. Lässt sich Schrecklicheres denken als die auf dem malträtierten Körper des Gloster hockende Regan, die vor Lust zuckend ihre Daumen in die Augäpfel des Geschundenen bohrt? Der Hölle, die Reimann komponierte, wird durch die Darstellung wahrer Teufel entsprochen, und dennoch entstehen plastische Figuren, die im Mikrokosmos des Stücks absolut glaubhaft wirken. Wie erreicht Kupfer solche bald diffizile, bald radikale Darstellung? Sein 77

K U PFER U N D DIE SÄ NGER


»Geheimnis« besteht wohl in erster Linie darin, dass es ihm gelingt, eine freundliche, offene, der Kreativität förderliche Probenatmosphäre zu schaffen. Durch die Persönlichkeit des Regisseurs aufgeschlossen, überwinden die Sänger alle Hemmungen und Frustrationen und bringen ihre ganze Persönlichkeit in den Probenprozess ein. Siegfried Jerusalem bei den Bayreuther Siegfried-Proben: »Er versteht es, einen so zu motivieren, dass man wirklich alles aus sich herausholt und am Ende das Doppelte von dem schafft, was man selber für möglich gehalten hat. Und das Wunderbare dabei ist: die Probenarbeit ist zwar anstrengend, aber sehr, sehr schön.« Dank einer besonderen Begabung spürt Kupfer auch bei der Zusammenarbeit mit fremden Ensembles sehr schnell, wie der einzelne Sängerdarsteller zu behandeln ist. Bei dem einen genügen ein paar Reizworte mit plastischen Vergleichen und starken Übertreibungen, der andere braucht das Vorspielen, der dritte verlangt längere theoretische Erläuterungen. Aber entscheidend sind Offenheit und Vertrauen. Kupfer wird nicht müde, immer wieder darauf hinzuweisen, dass man auf der Bühne nicht miteinander arbeiten kann, wenn man sich scheut, »die letzte Tür aufzumachen«. Der Regisseur geht so weit, die Probenarbeit einen »erotischen Vorgang« zu nennen – worin er sich übrigens wieder mit Felsenstein trifft. Für die Sänger bedeutet eine Inszenierung mit Kupfer häufig eine Schule, bei der sie entscheidend für ihre Karriere profitieren: Was mir Roberta Alexander, Kupfers erste Berliner Mimì erklärte, habe ich sinngemäß auch von Éva Marton, seiner Wiener Elektra, John Tomlinson, seinem Bayreuther Wotan, und Jochen Kowalski, seinem Berliner Giustino und Orpheus, gehört: »Er hat die geheimnisvolle Fähigkeit, alles aus dir herauszuholen, was du kannst. Er kennt die verborgenen Möglichkeiten seiner Sänger besser als sie selber. Auf seinen Proben herrscht immer eine freundliche heitere Arbeitsatmosphäre. Einer hilft dem anderen. Ich habe so etwas noch nie mitgemacht!« Und Marilyn Schmiege, Kupfers neue Berliner Carmen, weist noch auf einen anderen Aspekt seiner Begabung hin: »Er hat immer sehr klare Ideen und weiß, was er will. Und das Besondere bei ihm ist: Er weiß auch, wie viele Takte, Sekunden oder Millisekunden der Sänger braucht, um etwas auszuführen. Das liegt daran, dass er nicht nur Regisseur, sondern gleichzeitig Musiker ist. Alles, was er macht, geht von der Partitur aus. Und fast noch wichtiger: Er kennt sich auch in der Gesangstechnik sehr gut aus, was vielleicht daher rührt, dass seine Frau eine erfolgreiche Gesangslehrerin ist. Sie betreut Jochen Kowalski. Kupfer weiß genau, was er von einem Sänger verlangen kann und was nicht.« Aber gerade Marilyn Schmiege hat als Carmen – wie vorher auch schon andere Sänger bei Kupfer – im Liegen, im Knien, in der vollen Aktion zu singen, und sie gesteht lächelnd ein, dass es in der Probenarbeit nicht ohne blaue Flecke und blutige Schrammen abging. Trotzdem blieb sie dabei, dass ihr solche Forderungen nicht die geringsten Schwierigkeiten bereiten. »Man muss in jeder Lage eine gesangstechnisch gute Stütze haben. Das ist durchaus erlernbar.« Mit ähnK U PFER U N D DIE SÄ NGER

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lichen Bekundungen hatte seinerzeit Siegfried Jerusalem schon die Internationale Presse bei der Bayreuther Ring-Premiere verblüfft. Als man ihn fragte, wie er denn so vom Kupfer über Leitern und Stege gehetzt überhaupt noch singen könne, ließ er wissen, dass es ihm jetzt leichter sei, den gefürchteten ersten Siegfried-Akt in der szenischen Aktion zu singen als auf dem Konzertpodium. Scheinbar paradox, aber authentisch und letztlich vielleicht doch auch erklärlich.

Es war, als wäre mir ein neuer Finger ewachsen Éva Marton, die Elektra der Premiere, im Gespräch mit Dieter Kranz über Harry Kupfer

Die Elektra an der Wiener Staatsoper war Ihre erste Zusammenarbeit mit Harry Kupfer. Welchen Eindruck haben Sie von diesem Regisseur? Wenn ich die Elektra als Zuschauerin erlebt habe, hat mich eines immer wahnsinnig gestört: Sie haben immer einen schreienden Dämon auf die Bühne gestellt, und das war für mich viel zu arm und einfarbig. Mich interessiert vielmehr der Mensch, der dahintersteckt. Und genau das hat Kupfer in seiner Einführungsprobe beschrieben und zwar viel besser als ich das sagen kann. Da hab ich gedacht: »Gut, er will das, was ich will. Dann müssen wir nur finden, wie wir beide zu unserem Ziel kommen. Dann kam zunächst ein vergleichsweise leichter Probenabschnitt. Es ging um die sozusagen äußerlichen Vorgänge. Wie arbeitet man mit dem Seil, mit dem Stiefel, mit Strauss’ Musik und mit dem Text, diesen kurzen Sätzen. Für Kupfer war meine Haltung, meine körperliche Haltung wahnsinnig wichtig: dieser zerschlagene Mensch. Jemand hat mich gefragt: »Was ist Elektra in dieser S ­ zene? Das ist keine Frau! Das ist auch kein Mann! Ist sie ein Zwitter?« Ich habe gesagt: »Nein! Das ist ein Mensch wie Du und ich. Aber in einem Zustand, in dem das Geschlecht keine Rolle mehr spielt. Sie lebt wie ein Tier, sie achtet nicht mehr auf sich. Ihre Kleidung ist ihr gleichgültig. Wichtig ist ihr nur der Mantel, den sie trägt. Er gehörte ihrem erschlagenen Vater Agamemnon.« Und dann begann die schwierige Periode. Vormittags und nachmittags, viele Proben, die wirklich anstrengend waren. Ich trage das Probenkostüm und versuche, die richtige Haltung für die ausgemergelte geschundene Frau EM:

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ÉVA M A RTON Ü BER H A R RY K U PFER


Harry Kupfer und Éva Marton bei den Elektra-Proben an der Wiener Staatsoper, 1989

zu finden, aber ich fühle schon Harrys skeptischen Blick, und dann schüttelt er auch noch den Kopf und ich denke: »Mein Gott, da haben wir nun schon tagelang gearbeitet, und ich bin noch immer keine Elektra«. Aber ich weiß ja, dass er Recht hat und ich dasselbe will wie er. Und dann habe ich mich richtig gequält. Sie haben nicht die Probe gesehen? Ich war vor drei Wochen hier und wollte zu einer Probe mit Ihnen und Frau Fassbaender kommen, da hat er mich nicht reingelassen. Er hat gesagt: »Jetzt störst Du.« Ich störe ihn nicht, aber er fürch­ tete, dass ich Sie störe. EM:

Uns! Uns!

… Sie … Ja, ja und mit Recht! Ich kann mich sonst nicht konzentrieren … Ich habe mich die ganze Zeit nur auf Harry konzentriert, teilweise auch auf Abbado. Und dann kam diese Haltung langsam rein, aber ich EM:

DIET ER K R A NZ

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hatte sie immer noch nicht hundertprozentig. Da habe ich auch einen Wutanfall gekriegt: »Bist Du immer noch nicht genug schlampig? Du bist immer noch die Kammersängerin, die sich verstellt … ?« Ich konnte nicht mehr. Und plötzlich war der Knoten geplatzt. Jetzt kann ich, wann immer ich will, in den Körper der Elektra schlüpfen (sie sackt zusammen) so und so. Sehen Sie, jetzt auch beim Interview. Das war ein Prozess für mich, wo ich glaube, wir beide haben sehr viel gearbeitet. Er hat nie seine Geduld verloren. Er war immer menschlich. Er hat mich sehr geliebt. Und ich habe immer das Gefühl gehabt, ich bin kein Produkt von ihm. Aber wir gehören zusammen. Es war, als wäre mir ein neuer Finger gewachsen. Also diese Probenzeit war unbeschreiblich schön, trotz der harten Arbeit. Keine lauten Worte, ich hasse laute Worte. Immer hat er es irgendwie geschafft, mich aufzumuntern, wenn ich absolut unten war. Da gab es einen Abend zum Beispiel, da habe ich nicht einmal mehr eine Sprechstimme gehabt. Von Singen konnte keine Rede sein. Und trotzdem wollte ich das fixieren, was wir ausprobiert hatten. Ich habe den Pianisten gebeten zu spielen und die Souffleuse hat meinen Text gesprochen, damit ich alles noch einmal seelisch durchgehen konnte. Und er hat nur zugeschaut und dann gesagt: »Jetzt bin ich fix und fertig.« Gott sei Dank, – das habe ich jedenfalls auch erreicht. Ich könnte Ihnen jetzt meine blauen Flecken zeigen. Meine Hände sind auch nicht mehr dieselben, die sie mal waren. Ich habe alle meine Nägel kurz geschnitten, weil einfach … Wissen Sie, das passt alles nicht zu dieser Figur. Oder ich könnte Ihnen erzählen, dass ich während der Probenwochen nachts aufgewacht bin und überlegt habe: Was hat der Harry an dieser oder jener Stelle gesagt? Wenn ich das richtig verstehe, geht es im Prinzip darum, sich gleich­ zeitig auf drei verschiedenen Ebenen einer solchen Extremfigur zu nähern. Das eine ist das rein Gesangliche, die andere ist die physi­ sche Aktion. Und dazu kommt noch der psychische Zustand, der sich an der körperlichen Haltung ablesen lässt. Und das alles muss eine Einheit werden. Man muss auch etwas opfern. Irgendetwas tritt immer etwas in den Hintergrund. Und dann (wenn ich das so sagen darf ), in diesem Fall war ich dazu bereit, auf die gesangliche Leistung ein bisschen zu verzichten. EM:

Den Eindruck hatte ich aber nicht, dass da auf irgendetwas ver­ zichtet worden war. EM:

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Aber ein bisschen nach hinten stellen, verstehen Sie. Manchmal war ich auch außer Atem, manchmal ... die letzte Szene, diese ÉVA M A RTON Ü BER H A R RY K U PFER


wahnsinnige Szene, ich habe fast gewünscht, die Statue stürzt tatsächlich um und dann sterbe ich endlich unter meinem Vater, unter diesem schrecklichen Monument, also: »Was hast Du mit mir gemacht, Vater? Was hast Du?« Und das habe ich nicht ganz erreicht, mit dem ganzen Mord usw. Und diese entsetzliche Leere, diese entsetzliche Frustration, das muss ich noch verstärken und verschärfen. Sie haben schon alles angedeutet, sich selbst physisch ungeheuer viel abverlangt. Also im Liegen, in den verrücktesten Stellungen singen. Beispielsweise am Ende der Klytämnestra-Szene, wenn Sie sich auf den Fuß legen und an den Seilen, mit dem Kopf nach unten, nicht? Das ist ja unglaublich. Die Wirkung ist natürlich grandios. Ich habe das nicht wegen der Wirkung gemacht. Das ist Harry. Mein Mann sagte gestern, ich habe solche Sachen gemacht, die ich früher nicht gemacht hätte. Weil, Harry hat mir das erlaubt. Er hat gesagt: »In dem Rahmen, den wir festgelegt haben, gebe ich Dir absolute Freiheit. Du kannst machen, was Du willst jetzt. Sei frei, sei ein denkender, schöpferischer Mensch. Wenn ich sehe, Du machst meine Regie nach, dann bin ich traurig.« Da habe ich mich innerlich wahnsinnig gefreut. Und danach bin ich viel mutiger geworden. Elektra ist meiner Meinung nach überhaupt nicht so stark wie viele meiner Vorgängerinnen sie auf der Bühne gestaltet haben. Sie kann nicht so stark sein, weil sie nicht lebt wie ein Mensch. Sie ist nicht in der Gesellschaft. Sie ist wirklich wie ein Tier. Sie isst nicht richtig, sie schläft nicht mehr, sie hat schlaflose Nächte. Darüber haben wir sehr viel gesprochen. Sie ist nicht mehr, was sie war. Von ihr ist nur der Name Elektra geblieben. Der Hass ist noch da, aber eigentlich ist sie nicht so stark, etwas alleine zu tun. EM:

So findet er für jeden Sänger den für ihn passenden Weg. Haben Sie rausgekriegt, wie er das schafft? Er macht seine blauen Augen auf. Er lacht und fragt: »Wie hast Du geschlafen?« Das ist die Frage. »Wie hast Du geschlafen?« Was kann ich sagen? »Gut.« Dann sagt er mir am nächsten Tag: »Ich habe auch das erste Mal gut geschlafen, weil ich weiß, Du wirst alles machen, wovon ich geträumt und was ich mir ausgedacht habe.« Das war das größte Kompliment. EM:

Was ich auch unglaublich eindrucksvoll finde, ist nach dem »Orest«-Aufschrei das Aufeinanderzulaufen und das AneinanderVorbeilaufen.

DIET ER K R A NZ

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EM:

Das ist verrückt ... das ist verrückt ... das ist verrückt. Sie kann niemand umarmen. Niemanden.

Die menschliche Beziehung ist in der Realität schon nicht mehr ­möglich. Nein, nein, nein. Sie kann nicht mehr. Und dann auch dieser kleine Monolog dann nachher, das ist nicht mehr für Orest, das ist für sie selbst. Und das ist Harrys. Da habe ich gesagt: »Das ist deine Sache. Diese leise Sache. Finde das, mache das.« Das war so interessant für uns beide, weil das ist wirklich sehr gemeinsam. Ein gemeinsames Arbeiten ... EM:

Dieter Kranz

Reinhard Heinrichs Kostüme für Elektra Die Anregungen für die Elektra-Kostüme habe ich schon lange in mir herumgetragen. Irgendwann bekam ich ein Fotobuch in die Hand von einer Wiener Fotografin, Madame de Ora. Sie hat die Gesell­schaft der Jahrhundertwende fotografiert, in der Zeit, in der die Elektra entstanden ist. Das Buch habe ich dem Harry Kupfer gezeigt, weil ich so begeistert war von diesen merkwürdigen Fotos einer Gesellschaft, die längst verschwunden ist, aber in der Kleidung doch eine ganz hohe Kultur hatte. Besonders interessant fand ich, wie die Kleidung den Charakter oft verdeckt und auf eigenartige Weise doch auch enthüllt. Harry Kupfer war sofort fasziniert davon. Hinzu kommt noch bei Harry Kupfer, dass die Leute auf der Bühne extreme körperliche Aktionen haben. Und dann muss ich immer was erfinden, dass die Leute sich bewegen können. Das ist viel schwerer, als sich der Laie das vorstellen kann. Und noch etwas kommt hinzu: Elektra sagt von sich selbst: »Ich war eines Königs Tochter«. Deswegen trägt sie einen Mantel von ihrem Vater, den sie in irgendeiner Ecke gefunden hat. Der ist schon völlig von Motten zerfressen, wie Mutter sagt, und sie trägt diesen Mantel und sie gibt ihn nie her. Sie stirbt darin. Und wir wissen ja alle, dass Kleidungsstücke ein Fetisch sind. Das ist ja das Schöne bei Harry Kupfer, wenn man ihm so etwas anbietet, dann springt er mit seinem ungeheuren Gespür sofort an.

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R EIN H A R D HEIN R ICHS KOST ÜME


KOLUMN EN T IT EL

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Michael Walter

EINE VER­ SCHRÄN­KUNG VON TEXT, MUSIK UND SZENE

Anmerkungen zur Musik und ästhetischen Konstruktion der Elektra


Bringt man die Ähnlichkeiten zwischen Salome und Elektra auf den musikalisch-stofflichen Grund, besteht kein Zweifel daran, dass Strauss’ Erinnerung an das, was ihn an den beiden Stoffen reizte, richtig war: die Möglichkeit, Gegensätze musikalisch drastisch darzustellen, »schärfste Personencharakteristik« und die Möglichkeit zur musikalischen Gestaltung von Steigerungen. In beiden Opern – in Salome weniger als in Elektra – hatte Strauss diese Möglichkeiten selbst durch seine Texteinrichtung eröffnet. Das dramaturgisch kompositorische System beider Opern musste unter diesen Umständen identisch sein, was auch für die Harmonik galt. Schon der Beginn von Elek­ tra unterscheidet sich strukturell nicht vom Beginn der Salome: Hatte Strauss dort die schwüle orientalische Atmosphäre durch einen einzigen, tonartlich nicht dingfest zu machenden Klarinettenaufgang evoziert, so evoziert er in der Elektra das Archaische (und als dessen hervorstechendes Merkmal das Brutale) durch das Namensmotiv des Agamemnon in den ersten Takten. Dadurch wird zugleich deutlich, was die Oper bestimmen wird: die Musik und nicht der Text. Im Fortissimo setzt das Orchester ein, wobei die zwei Sechzehntel des Auftakts zwar von allen Streichern, aber noch nicht von allen Bläsern gespielt werden. Erst nach diesem Auftakt, wenn sich der Vorhang öffnet, schreibt Strauss einen gewaltigen zweitaktigen Akkord aller Bläser in d-Moll vor, bei dem Pauke und Große Trommel einen Triller ausführen. Die Streicher setzen zu diesem Akkord aus und markieren im zweiten Takt durch ihren Pizzicato-Ton lediglich den in der Bassklarinette erscheinenden letzten Ton des Namensmotivs. Keine Tonart wird definiert, kein Takt, im Grunde nicht einmal ein Motiv, denn Pauke, Große Trommel und Bassklarinette verlängern ausklingend den Bläserschlag, während das Gespräch der Mägde beginnt. Der erratische Bläserakkord widerspricht, weil er völlig undifferenziert die Bläser zum bloßen Geräuschinstrument macht, aber auch, weil er zwar einen Klang, aber keine Tonart festlegt, den Regeln geordneter Musik. Musikalisch ist er gewissermaßen vorzivilisatorisch. Zugleich aber stellt sich Strauss, wohl ­keineswegs zufällig, in die Operntradition. Denn der d-Moll-Akkord ist zu auffallend, um nur zufällig gewählt zu sein, er ist die Referenz zu einer ­anderen berühmten Griechenoper, nämlich zu Glucks 1767 uraufgeführter »Reformoper« Alceste und ihrer berühmten d-Moll-Intrada (die von JeanJacques Rousseau kritisiert wurde und an die Mozart in der Don GiovanniOuvertüre anknüpfte). Der Bezug zu Gluck ist symptomatisch dafür, dass Elektra, eben weil Strauss als Gegenmodell eine literarisch-kunstgeschichtliche und keine musikdramatische Tradition vor Augen hatte, viel mehr der Tradition der Wagner-Nachfolge verpflichtet ist als Salome. Elektra konnte nicht über Traditionen der Operngeschichte triumphieren, weil es diese – mit Ausnahme von August Bungerts Homerischer Welt, deren einzelne Opern aber Solitäre ohne Auswirkungen auf die Operngeschichte blieben – Traditionen nicht gab (ein Bezug auf die opera seria des 18. Jahrhunderts wäre wenig 87

MICH A EL WA LT ER


sinnvoll gewesen). Strauss war konzeptionell immer dann am überzeugendsten, wenn er sich gegen die Tradition richten konnte. Für Elektra fehlte jenes musikdramatische Pendant, gegen das Strauss die Oper richten konnte, so dass als Ausweg nur blieb, an das eigene Werk anzuknüpfen, um modern zu sein, und Bezug auf die Operngeschichte zu nehmen (das gilt auch für die auf Wagner zurückführbare Akkumulation von Leitmotiven, die in ihrer ­jeweils auftretenden Gesamtheit den Sinn der einzelnen Textpassagen ­determinierte). Dieser Ausweg war notwendig, um Elektra überhaupt zu ­legitimieren, sollte sie nicht als bloße Salome-Kopie erscheinen. Während Salome mit einer lyrischen Melodie Narraboths beginnt, verzichtet Strauss in Elektra zunächst vollständig auf jede Melodiebildung. Das Gespräch der Mägde ist rezitativisch gehalten (auch hier greift Strauss auf die ältere Operntradition zurück) und für die musikalische Entwicklung bedeutungslos. Stattdessen reihen sich kaleidoskopartig musikalische Gesten aneinander: Eine seltsam unmotivierte Trillerfigur in den Holzbläsern, ein crescendierender Sechzehntelaufgang des Orchesters, der überraschend von einem mit Dämpfer gespielten Sforzando-Schlag der Hörner abgebrochen wird, im Fortissimo folgt dann ein durch weitgespannte abwärts führende Non- und Septsprünge geprägtes Motiv in einem durch eine eingefügte Sechzehntelpause verschärften punktierten Rhythmus, dann kurze crescendierende Akkorde von Hörnern und Pauken, deren nachschlagender Endton durch Steicher-Sforzati auf einer schwachen Taktzeit betont wird, schließlich der Anflug einer Melodie in Violine und Oboe, die bizarr geformt ist, weil ihr Verlauf völlig unregelmäßig ist und der Hörer nicht weiß, ob die in ihr enthaltenen Sechzehntel nur Floskeln oder essenziell sind und bei der auf engstem Raum ein Widerspruch zwischen den melodischen Sprüngen innerhalb der Sechzehntel und den Sekundschritten ihrer melodischen Umgebung besteht, eine ­Melodie, die schließlich nicht lyrisch weitergeführt wird, sondern in Synkopen verklingt. Dann folgt die erneute Aufnahme des Rezitativs, ohne dass Strauss je ein tonales Zentrum ausprägen würde. Gewiss, dies ließe sich durch den rezitativischen Charakter erklären, der keines tonalen Zentrums bedarf. Doch ist das nicht der Sinn des Beginns, sondern nur die Wahl eines geeigneten formalen Mittels. Denn Strauss’ Musik ist szenisch determiniert: zu den ­crescendierenden Sechzehntelketten des Orchesters kommt Elektra »aus dem schon dunkelnden Hausflur gelaufen«. Zum gedämpften HörnerSforzato »drehen sich [alle] nach ihr um« und zu den grotesken punktierten Sprung-Rhythmen lautet die Regieanweisung der Partitur: »Elektra springt zurück wie ein Tier in seinen Schlupfwinkel, den einen Arm vor dem Gesicht«. In der Zusammenhanglosigkeit der nicht tonal zentrierten Motive, deren musikalische Gestik aus der Pantomime des Bühnenspiels erklärt wird, manifestiert sich das Archaische, das vor-musikalische, das allein durch das Bühnengeschehen mit Sinn angefüllt wird. Dramatisch vorwärtstreibenden Zusammenhang stiftet Strauss zunächst durch die Textlogik der ersten beiden MICH A EL WA LT ER

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Sätze der Mägde, die zugleich den Zusammenhang zur nachfolgenden ­Pantomime Elektras herstellen, die wiederum garantiert, dass der unlogische musikalische Verlauf dramatisch logisch wird. Der Beginn der Elektra ist nichts anderes als Filmmusik avant la lèttre, als das berühmte mikey-­mousing Max Steiners in den Hollywood-Filmen der 1930er-Jahre – das natürlich unter anderem von Strauss’scher Musik abgeleitet war. Strauss’ Zuschauer weiß noch nichts vom Sinn der Motive, insbesondere kann er das Namensmotiv des Agamemnon nicht erklären. Erst später wird deutlich, dass mit dem Eröffnungsakkord – und ganz im Gegensatz zu Hofmannsthal – der Schatten des toten Vaters über alles und jedes, was in der Oper vorkommt, geworfen wird. Im weiteren Verlauf der Szene wird Strauss die disparaten musikalischen Einheiten (nicht immer sind es Motive) wieder vor allem durch die Textlogik des Mägde-Rezitativs zusammenhalten, doch wirkt der pantomimische Auftritt Elektras weiter, weil er, im Sinne einer plausiblen szenischen Exposition einer Musik, die sich eben nicht, wie bei den Tondichtungen, zum musikalischen Verlauf im emphatischen Sinn verdichtet, die Rezeptionsbedingung für das Folgende ist. In dieser Verschränkung von Text, Musik und Pantomime, bei der die unabhängigen Elemente ihren Sinn erst im dramatischen Ganzen erweisen, geht Strauss in diesem Beginn über Salome hinaus. Freilich wird daraus kein neues Konzept, denn wie in Salome schon, illustriert Strauss reflexhaft Worte: Zum »gingen wir zu zweit« der dritten Magd ertönen im Fagott ›gehende‹ Achtel und das berichtete »Pfauchen« Elektras findet sofort sein unmittelbares Pendant in den Blechbläsern. Das Schlagen Elektras »mit einem Strohwisch« wird ganz trivial mit dem Schlagen der Rute im Orchester verdeutlicht. Selbst welchem »Tier« Elektra ähnelt, erfährt man, wenn nach den Worten »giftig, wie eine wilde Katze« in den Streichern kurz auf jenes Motiv alludiert wird, zu dem Elektra »wie ein Tier in seinen Schlupfwinkel« zurücksprang. Strauss hatte im instrumentalen Schlüsselwerk der Moderne, seiner Tondichtung Don Juan, eine jener »poetischen Ideen« überzeugend verwirklicht, die seine Tondichtungen von bloßer Programmmusik unterschieden. Mehr und mehr hatte er in den Tondichtungen jedoch gegen das ästhetische Prinzip der »poetischen Idee« verstoßen, indem er immer mehr auf illustrative musikalische Ideen rekurrierte, was schon deswegen ein Verstoß gegen das ästhetische Prinzip war, weil eine »poetische Idee« nicht in die Niederungen des Illustrativen – also des Konkreten – gestoßen werden konnte, ohne des Nicht-Konkreten, dessen die »poetische Idee« bedurfte, um wirksam sein zu können, verlustig zu gehen. Dieses Problem ­umging Strauss mit jenen Opern, die die konzeptionelle Weiterführung der Tondichtungen waren, also Salome und Elektra, denn in diesen war eine Handlung zugrunde gelegt, die ohne ästhetische Einbuße musikalische ­Illustration zu legitimieren geeignet war. Beschränkte sich die Illustration in Salome jedoch auf Äußerliches – etwa das Stampfen der Römer – und 89

EIN E V ER­S CHR Ä N ­K U NG VON T EX T, MUSIK U N D SZEN E


­ nmittelbar Fassbares, so war in Elektra die Fasslichkeit verloren gegangen, u denn die Motive illustrierten vor allem das Innere psychischer Vorgänge in hochkomplexer Weise. Strauss hat in allen seinen Orchesterwerken den Satz durch die ungewöhnliche Polyphonie der Mittelstimmen verdichtet und so nicht selten im eigentlichen Wortsinn überwältigende Wirkungen zustande gebracht. In Elektra kam es aber nicht auf die Wirkung an, sondern darauf, dass das Geflecht der Motive gehört und verstanden wurde. Wie immer­ hatte Strauss noch keine konkrete Klangvorstellung der Details der Partitur (Elektra wurde bezeichnenderweise von Strauss zunächst auch deswegen nicht selbst dirigiert, weil ihm die Partitur zu kompliziert war). Umso mehr wollte er die Motivkombinationen zum ersten Mal im realen Klangbild nachvollziehen. Der Komponist selbst war offenbar eher daran interessiert als an der Wirkung der Oper: er wollte die Konstruktion auf ihre Stichhaltigkeit hin und nicht auf ihren Effekt überprüfen. Verstanden werden musste Elektra über das Erkennen der musikalischen Motive und der von ihnen hergestellten Beziehungen. Durchschlagende dramatische Effekte dagegen erzielte Strauss über die Schockwirkung der Musik.

EIN E V ERSCHR A N K U NG VON T EX T, MUSIK U N D SZEN E

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Franz Welser-Möst

MUSIK, DIE AUS EINEM KOMMT Spricht man mit unterschiedlichen Menschen über Richard Strauss’ Elektra, dreht sich das Gespräch immer wieder um die Erkennungsszene zwischen Orest und der Titelheldin. Kein Wunder, zählt diese Passage doch zu den berührendsten, bewegendsten und »stärksten« der Opernliteratur. Für mich gibt es allerdings einen Moment in der Oper, der noch direkter auf den Kern des Dramas, auf die Charakterstruktur Elektras und die Grundfragen des Werkes Bezug nimmt und in vielem der Schlüssel zum Verständnis der gesamten Oper ist. Nämlich: Ein Satz Elektras am Ende des Stücks, die Antwort auf die Frage der Chrysothemis’, ob sie denn den Lärm, die allgemeine Begeisterung über Orests Wiederkehr nicht höre? Elektra darauf: »Ob ich die Musik nicht höre? Sie kommt doch aus mir!« Eine Zentralstelle! Denn alles, was sich an diesem Abend ereignet, alles was an Drama passiert, entsteht ja mit ihr, entspringt in ihr, in ihrem Kopf. Das meinte Hofmannsthal in seinem Libretto, als er Elektra diese finalen Worte gab, und das meinte Strauss in der Musik, die folgt: Ein dionysischer, rauschhafter Tanz, der alles über Elektra und ihre obsessive Liebe zu ihrem Vater erzählt, aber auch über die unglaubliche innere Kraft, die diese Figur hat – nicht nur bei Strauss, sondern seit jeher, seit der griechischen Antike. Was aber ist nun dieser Tanz? Pures Glück? Befreiung? Eine Entrückung? Und: Gibt es Trübungen? Wenn man genau hinhört, merkt man, wie das Motiv des Schlachtopfers auftaucht und dominanter und dominanter wird. Es beginnt in den Kontrabässen und Celli, erfasst mehr und mehr das ganze Orchester: Elektra wird zum Schlachtopfer ihrer eigenen zwanghaften Rachelust. Daher findet sich am Ende der Oper auch die Regiebemerkung »Elektra stürzt zusammen« – sie hat ihre sich selbst auferlegte Aufgabe vollbracht, ihr einziges Sehnen, die Rache, ist erfüllt. Was also bleibt ihr noch, als zu 91

FR A NZ W ELSER-MÖST


sterben? Und dass Strauss in einem gleißenden C-Dur endet, ist nichts anderes, als das musikalisch beschriebene Verglühen der Protagonistin. Die Sprachlosigkeit im Tanz am Ende der Oper verweist wiederum nicht nur darauf, dass dem Getanen nichts mehr hinzugefügt werden kann, sondern auch auf den Aspekt des Logikverzichts im Mythos generell. Es muss nichts erklärt werden, weil es intuitiv verständlich ist oder aber gar nicht erklärt werden könnte: Denn was ist ein Mythos? Er ist der Traum eines Volkes. Und Träume sind vielleicht deutbar, man kann Licht ins Dunkel bringen, aber sie sind zunächst einmal nicht an die Logik eines wachen Tages gebunden, sondern frei. Diese Freiheit von Logik in logisch-schlüssige Worte zu fassen: das wollten die Autoren der Oper nicht. Daher spricht an dieser Stelle die Musik, und nur die Musik. Die Nähe der Oper zu den bahnbrechenden Studien über Hysterie von Sigmund Freud und Josef Breuer, erstmals veröffentlicht 1895, ist nicht nur offensichtlich, sondern gehört zum innersten Wesenskern des Werks. Denn was ist Elektra anderes, als Sigmund Freud in Musik gesetzt? Denken wir nur daran, was zwischen Klytämnestra und Elektra verhandelt wird, was sich zwischen Chrysothemis und Elektra abspielt, selbst die Mägde-Szene ist mit ihrer psychologischen Unterfütterung spannend. Im Grunde ist ja die ganze Oper ein Psycho-Krimi! Gerade darum finde ich auch die obengenannte Passage so wesentlich! Und wäre ich ein Regisseur, so inszenierte ich die ganze Oper in einem riesigen Kopf, als Innensicht des Gehirns, der Psyche, des Geistes der Elektra. Dieser psychologische Grundimpuls bleibt nicht nur auf die Bühne beschränkt, sondern greift über die Figuren der Handlung hinaus, ergreift auch uns Ausführenden. Im Studienprozess, der mich tief ins Innere des Werks hineinführt, muss ich mich den intensiv wirkenden Kräften der Oper stellen und befinde mich in einer intime Nähe zu den Charakteren, ihren Wünschen, Trieben, Hoffnungen und Motivationen: Ich bin gefangen von dem Werk, von seinen Figuren, lebe in dieser Schein-Realität, sie kreist ständig um mich. Einfach die Partitur weglegen und aus dem Zusammenhang heraustreten: das kann ich nicht. Ein fruchtbarer, aber auch zuweilen belastender Zustand, wenn es eben um beklemmende Themen wie in Elektra geht. Diese Oper greift das Nervenkostüm an, vor allem auch im Nachhinein. Die schlaflosen Nächte hat also nicht nur Klytämnestra, sondern auch der Dirigent. Nun stellt sich freilich vor allem in solchen Momenten die Frage, wie sich ein Dirigent zum Rauschhaften verhält? Distanziert er sich? Oder darf er sich mitreißen lassen? Ich zitierte da immer gerne den großen Fritz Kortner, der einmal zu seinen Schauspielern sagte: »Auf der Bühne müsst ihr nicht weinen – aber das Publikum.« Ein weiser Satz! Denn wir sind ja dazu da, dem Publikum ein Werk so nahe zu bringen, dass es von ihm ergriffen wird. Zwar müssen auch wir Ausführenden berührt werden, doch darf uns das nicht im Weg stehen. Immer muss klar sein: Ich habe als Dirigent eine Funktion, FR A NZ W ELSER-MÖST

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und diese muss ich auch erfüllen. Ganz besonders bei Strauss! Zwischen den ekstatischen Momenten und dem zuweilen großen Orchesterapparat mit all seinen Farben sind die genaue Einhaltung der Form, das Ordnen und das Grenzen-Setzen unabdingbare Bedingungen, wenn man nicht Gefahr laufen will, dass das Werk durch seinen intensiven Ausdruck außer Rand und Band gerät und alles in einem unkontrollierten Klangeindruck untergeht. Ganz nebenbei: Eine ungemein kräfteraubende Oper, auch für den Dirigenten! Kein Wunder, dass Karajan in Hinblick auf die psychischen und physischen Herausforderungen meinte, dass man sie mit 60 aus der Hand legen soll. Ich werde diesem Ratschlag folgen, zwar nicht mit 60, doch nicht viel später. Mit ein bisschen Wehmut, aber dem tröstlichen Wissen, dass sich durch die Erkenntnis, dass jedes Ding seine Zeit hat, eine höhere Konzentration auf den aktuellen Moment ergibt.

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MUSIK, DIE AUS EIN EM KOM MT


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Der natürliche Mehrwert

© Wiener Staatsoper | Michael Pöhn


Impressum Richard Strauss ELEKTRA Saison 2020/2021 (Premiere der Produktion: 10. Juni 1989) HERAUSGEBER Wiener Staatsoper GmbH, Opernring 2, 1010 Wien Direktor: Dr. Bogdan Roščić Musikdirektor: Philippe Jordan Kaufmännische Geschäftsführerin: Dr. Petra Bohuslav Redaktion: Sergio Morabito, Lothar Knessl, Andreas Láng, Oliver Láng Gestaltung & Konzept: Fons Hickmann M23, Berlin Layout & Satz: Gabi Adébisi-Schuster, Annette Sonnewend (WerkstattWienBerlin) Hersteller: Druckerei Walla GmbH TEXTNACHWEISE – ORIGINALBEITRÄGE Andreas Láng und Oliver Láng, Über dieses Programmbuch – Franz Welser-Möst, Musik, die aus einem kommt – Oliver Láng, Auf dem Weg zur Feuerseele (Originalbeitrag für das Programmheft 2015) – Andreas Láng, Ganz einfach ging’s nicht von der Hand (Originalbeitrag für das Programmheft 2015) – Andreas Láng, Von wütenden Dissonanzen, ­Wirrverschlungenem und archaischer Monumentalität (Originalbeitrag für das Programmheft 2015) – Georg Titscher, Elektra und Orest (Originalbeitrag für das Programmheft 2015) – Erwin Ringel, Der ElektraKomplex (Originalbeitrag für das Programmheft 1989) – Pia Janke, Geschehenes und Veränderung (Original­ eitrag für das Programmheft 1989) ÜBERNAHMEN UND ÜBERSETZUNGEN Johann Jakob Bachofen, Das Mutterrecht, aus: Der Mythos von Orient und Occident, Beck, München, 1926 – Josef Breuer, Sigmund Freud, Studien über Hysterie, Deuticke, 1895 – Heiner Müller, Elektratext, aus: Theater-Arbeit, Rotbuch Verlag, Berlin, 1975 – Erwin Rohde, Psyche, Tübingen, 1890/93 – Christa Wolf, Kassandra, Luchterhand, Darmstadt, 1983 – Michael Walter, Eine Verschränkung von Text, Musik und Szene, aus: Richard Strauss, Der griechische Germane, Musik-Konzepte 129/130, hg. von Ulrich Tadday, München 2005 – Michael Walter, Kreativität durch Reibungswiderstand, aus: Elektra – germanisches Fortissimo und ästhetische Konstruktion, edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag GmbH, München Die Texte von Dieter Kranz über Harry Kupfers Elektra stammen aus Der Gegenwart auf der Spur, Der Opernregisseur Harry Kupfer, Herder Verlag, 2005, S. 235ff – Der Text von Gertrud Eysoldt ist ein Ausschnitt eines Vortrags, den sie 1949 hielt. – Der Text von Hermann Bahr stammt aus 1909.

BILDNACHWEISE Szenenfotos aus Vorstellungen dieser Produktion an der Wiener Staatsoper 1989–2012 Axel Zeininger und Michael Pöhn / Wiener Staatsoper GmbH S. 2 Janice Baird und Agnes Baltsa S. 33 Brigitte Fassbaender S. 46 Christa Ludwig S. 69 Falk Struckmann S. 84 Linda Watson S. 85 Ain Anger S. 90 Éva Marton WEITERE ABBILDUNGEN Coverbild: IMAGNO / Christian Skrein / Getty Images AKG-Images: S. 7, 8, 11 (Fundacio Gala-Salvador Dalí), 15 (Damaskus, Nationalmuseum), 18, 21 (Désiré-­ Magloire Bourneville, Paul Regnard), 29, 39 (Eduard Steichen), 50 (Manuel Cohen), 55 Rechteinhaber, die nicht erreicht werden konnten, werden zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten.


Agamemnon! Agamemnon! Wo bist du, Vater? Hast du nicht die Kraft, dein Angesicht herauf zu mir zu schleppen? Generalsponsoren der Wiener Staatsoper


ELEKTRA

ELEKTRA Richard Strauss

INHALT 3

Die Handlung Synopsis in English Über dieses Programmbuch Elektratext → Heiner Müller Auf dem Weg zur Feuerseele → Oliver Láng Das Mutterrecht → Johann Jakob Bachofen Kassandra → Christa Wolf Der Fall Anna O. → Josef Breuer Der Elektra-Komplex → Erwin Ringel Ganz einfach ging’s nicht von der Hand → Andreas Láng Krea­tivität durch Reibungswiderstand → Michael Walter Ein Mahner an uns alle → Gertrud Eysoldt Ge­schehenes und ­Ver­änderung → Pia Janke Elektra und Orest → Georg Titscher Erinne­rungen an die ersten Auf­füh­rungen meiner Opern: Elektra → Richard Strauss Eine namenlose Heiterkeit war’s → Hermann Bahr Von wütenden Dissonanzen, Wirr­verschlungenem und archaischer Monumentalität → Andreas Láng Harry Kupfers Elektra → Dieter Kranz Eine Ver­schrän­kung von Text, Musik und Szene

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→ Michael Walter

→ wiener-staatsoper.at

Musik, die aus einem kommt → Franz Welser-Möst Impressum

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