Wien Museum „William Kinderman, Beethoven. Ein politischer Künstler in revolutionären Zeiten.“

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EETHOVE

William Kinderman

Ludwig van Beethoven war zweifellos einer der größten Komponisten aller Zeiten, sein einzigartiges musikalisches Erbe dominiert nach wie vor die Konzertsäle der Welt. Und er war ein enorm politischer Künstler. Als Zeitzeuge einer turbulenten Epoche – von der Französischen ­Revolution über die Napoleonischen Kriege und den ­Wiener Kongress bis zur Ära Metternich – bewahrte er den Mächtigen gegenüber selbst dann kühle Distanz, wenn er finanziell auf sie angewiesen war. William Kinderman, Pianist, Musikwissenschaftler und ausgewiesener Beethoven-Kenner, setzt sich in seiner brillanten Analyse auf die Spur von politischer Realität und Utopie im Œuvre Beethovens und stellt beides in Beziehung zu den politischen Herausforderungen der Gegenwart. Auf diese Weise wirft Kinderman ein völlig neues Licht auf so grandiose Werke wie Fidelio, Egmont, Eroica und die neunte Sinfonie.

BEETHOVEN

O FREUNDE, NICHT DIESE TÖNE!

ISBN 978-3-222-15052-4

www.styriabooks.at

William Kinderman

Ein politischer Künstler in ­revolutionären Zeiten



William Kinderman

BEETHOVEN


William Kinderman

BEETHOVEN Ein politischer Kßnstler in revolutionären Zeiten Aus dem Englischen von Barbara Sternthal


William Kinderman

BEETHOVEN Ein politischer Kßnstler in revolutionären Zeiten Aus dem Englischen von Barbara Sternthal


INHALT Vorwort 7 EINS Eine Geschichte aus zwei Städten – von Bonn nach Wien 11 ZWEI Das Erhabene und das »umgekehrte Erhabene«

35

DREI Beethoven in Heiligenstadt

61

VIER Der Weg zur Eroica

83

FÜNF Leonore, der »Engel der Freiheit«

107

SECHS Von Grätz über Wagram nach Leipzig

133

SIEBEN Ein doppeltes Frösteln: Beethoven im Wien Metternichs 155 ACHT Damals und heute: Die neunte Sinfonie

179

Anhang 204


INHALT Vorwort 7 EINS Eine Geschichte aus zwei Städten – von Bonn nach Wien 11 ZWEI Das Erhabene und das »umgekehrte Erhabene«

35

DREI Beethoven in Heiligenstadt

61

VIER Der Weg zur Eroica

83

FÜNF Leonore, der »Engel der Freiheit«

107

SECHS Von Grätz über Wagram nach Leipzig

133

SIEBEN Ein doppeltes Frösteln: Beethoven im Wien Metternichs 155 ACHT Damals und heute: Die neunte Sinfonie

179

Anhang 204


VORWORT

Seit Langem gilt er als einer der größten Komponisten aller Zeiten: Ludwig van Beethoven. Übersehen wurde dabei oft, dass er auch ein ausnehmend politischer Künstler war. Die Französische Revolution, die Schreckensherr­ schaft, Aufstieg und Fall Napoleon Bonapartes, die Schlachten bei Wagram und Leipzig, der Wiener Kongress und die darauffolgende Ära politischer Unterdrü­ ckung: Es waren einige der turbulentesten Epochen europäischer Geschichte, die Beethoven miterlebte. Er war von der großzügigen Unterstützung adeliger Mäzene abhängig, dennoch zertrümmerte er 1806 eine Büste seines Förderers Fürst Lichnowsky und hielt kühle Distanz zu Kaiser Franz I. von Österreich. Eine Aussöhnung mit Napoleons Absolutismus oder jenem in Österreich unter Metternich, der bis über den Tod des Komponisten 1827 hinaus andauerte, war für Beethoven undenkbar. Heute, zwei Jahrhunderte später, erfreut sich Beethovens musikalisches Ver­ mächtnis einer erstaunlichen Strahlkraft. Während wir 2020 das Beethovenjahr feiern und bereits wieder darüber hinausdenken, scheint es an der Zeit, die politische Bedeutung des Komponisten genau zu untersuchen. Denn es ist das politische Narrativ seiner Werke, das zu deren bemerkenswerter Beständig­ keit beiträgt. Im Zusammenhang steht das mit Ereignissen, die größer sind als jeder Einzelne. Beethoven, der im politisch progressiven Bonn aufwuchs, immatrikulierte sich 1789 an der neu gegründeten Bonner Universität – genau in jenem Jahr, als im nahen Frankreich die Revolution ausbrach. Als er 1792 seine Karriere als Musiker in Wien fortsetzte, traf er dort auf eine künstlerisch reiche, politisch jedoch extrem reaktionäre Situation. Beethovens in diesem Umfeld riskante Bewunderung für Napoleon Bonaparte, der damals Erster Konsul der Republik Frankreich war, kühlte bald ab. Trotzdem faszinierte ihn der spätere Kaiser der Franzosen weiterhin und in seiner kulturellen Welt sah er sich als eine Art Rivale – als ein »Generalissimus« im Reich der Klänge. In späteren Jahren, als seine Welt mit dem zunehmenden Gehörverlust immer stiller wurde, schuf er jene Werke, die bis heute nachhaltigen Einfluss haben. Darunter die neunte Sinfonie, deren Ursprünge bis in Beethovens Jugendjahre in Bonn zurückreichen. 7


VORWORT

Seit Langem gilt er als einer der größten Komponisten aller Zeiten: Ludwig van Beethoven. Übersehen wurde dabei oft, dass er auch ein ausnehmend politischer Künstler war. Die Französische Revolution, die Schreckensherr­ schaft, Aufstieg und Fall Napoleon Bonapartes, die Schlachten bei Wagram und Leipzig, der Wiener Kongress und die darauffolgende Ära politischer Unterdrü­ ckung: Es waren einige der turbulentesten Epochen europäischer Geschichte, die Beethoven miterlebte. Er war von der großzügigen Unterstützung adeliger Mäzene abhängig, dennoch zertrümmerte er 1806 eine Büste seines Förderers Fürst Lichnowsky und hielt kühle Distanz zu Kaiser Franz I. von Österreich. Eine Aussöhnung mit Napoleons Absolutismus oder jenem in Österreich unter Metternich, der bis über den Tod des Komponisten 1827 hinaus andauerte, war für Beethoven undenkbar. Heute, zwei Jahrhunderte später, erfreut sich Beethovens musikalisches Ver­ mächtnis einer erstaunlichen Strahlkraft. Während wir 2020 das Beethovenjahr feiern und bereits wieder darüber hinausdenken, scheint es an der Zeit, die politische Bedeutung des Komponisten genau zu untersuchen. Denn es ist das politische Narrativ seiner Werke, das zu deren bemerkenswerter Beständig­ keit beiträgt. Im Zusammenhang steht das mit Ereignissen, die größer sind als jeder Einzelne. Beethoven, der im politisch progressiven Bonn aufwuchs, immatrikulierte sich 1789 an der neu gegründeten Bonner Universität – genau in jenem Jahr, als im nahen Frankreich die Revolution ausbrach. Als er 1792 seine Karriere als Musiker in Wien fortsetzte, traf er dort auf eine künstlerisch reiche, politisch jedoch extrem reaktionäre Situation. Beethovens in diesem Umfeld riskante Bewunderung für Napoleon Bonaparte, der damals Erster Konsul der Republik Frankreich war, kühlte bald ab. Trotzdem faszinierte ihn der spätere Kaiser der Franzosen weiterhin und in seiner kulturellen Welt sah er sich als eine Art Rivale – als ein »Generalissimus« im Reich der Klänge. In späteren Jahren, als seine Welt mit dem zunehmenden Gehörverlust immer stiller wurde, schuf er jene Werke, die bis heute nachhaltigen Einfluss haben. Darunter die neunte Sinfonie, deren Ursprünge bis in Beethovens Jugendjahre in Bonn zurückreichen. 7


Wie Mozart war auch Beethoven ein versierter Improvisator, für den sprung­ hafte Spontaneität, dramatische Überraschungen und ästhetische Risikobereit­ schaft wesentlich waren. Beethovens Ziel war es, starke Gefühle im Hier und Jetzt zu vermitteln. Die Glut des Augenblicks, die Momentaufnahme intensiver menschlicher Empfindungen erscheinen in jeder Hinsicht ewig. Wenn Leonore dem schändlichen Pizarro die Worte »Töt erst sein Weib!« entgegenschleudert, wenn der Bariton die orchestralen Turbulenzen der Neunten mit »O Freunde, nicht diese Töne!« beruhigt, dann tragen diese Gesten eine weit über den un­ mittelbaren Kontext hinausreichende, substanzielle Geisteshaltung in sich. Wie konnte ein Komponist »Symbole des Vortrefflichen« (um es mit Schil­ lers Worten zu formulieren) ersinnen, die eine Freiheit und soziale Reformen abbilden, die sich in der damaligen Realität kaum erreichen ließen – weder in den autokratischen deutschsprachigen Ländern noch in der chaotischen Repu­ blik Frankreich und wahrscheinlich nicht einmal in unserer Gegenwart? Wie konnte die fünfte Sinfonie zum Widerstand gegen den Faschismus wachrütteln und die Pastorale, die sechste Sinfonie, in den Dienst unserer zeitgenössischen Umweltschutzbewegung treten? Die Globalisierung der Gesellschaft lässt der Musik Beethovens eine neue, frische Wahrnehmung angedeihen. Seit Adrian Leverkühn, der Protagonist aus Thomas Manns Doktor Faustus, versucht hat, das Versprechen, das Beethovens Neunte birgt, zu zerstören, ist viel Zeit vergangen. Mann, der sein Buch nach der Flucht vor Hitlers Regime im kalifornischen Exil schrieb, platzierte seine verzweifelte Botschaft vor dem Hintergrund von Beethovens leuchtender letzter Sinfonie. Wie wir noch sehen werden, nahm Beethoven in seinen Entwürfen positiver Symbole (unter denen An die Freude das am meisten gefeierte ist) diese dystopischen Schatten bereits vorweg. Seit damals hat der Traum der Neunten den Globus umschlungen – von den rituellen Massen­ inszenierungen Japans bis zu einem Flashmob im katalonischen Sabadell, dessen Videoaufzeichnung mittlerweile mehr als 85 Millionen Menschen auf YouTube gesehen haben. Dieser aufregende Weg, der noch lange nicht zu Ende ist, ist ein Resultat unserer Historie, eine sehr menschliche, von Schmerz und Opfer, Standhaftigkeit und Mut geprägte Geschichte.

Seite 8: J. S. Lyser: Beethoven in Heiligenstadt. Zeitgenössische Zeichnung. © akg-images/picturedesk.com 9


Wie Mozart war auch Beethoven ein versierter Improvisator, für den sprung­ hafte Spontaneität, dramatische Überraschungen und ästhetische Risikobereit­ schaft wesentlich waren. Beethovens Ziel war es, starke Gefühle im Hier und Jetzt zu vermitteln. Die Glut des Augenblicks, die Momentaufnahme intensiver menschlicher Empfindungen erscheinen in jeder Hinsicht ewig. Wenn Leonore dem schändlichen Pizarro die Worte »Töt erst sein Weib!« entgegenschleudert, wenn der Bariton die orchestralen Turbulenzen der Neunten mit »O Freunde, nicht diese Töne!« beruhigt, dann tragen diese Gesten eine weit über den un­ mittelbaren Kontext hinausreichende, substanzielle Geisteshaltung in sich. Wie konnte ein Komponist »Symbole des Vortrefflichen« (um es mit Schil­ lers Worten zu formulieren) ersinnen, die eine Freiheit und soziale Reformen abbilden, die sich in der damaligen Realität kaum erreichen ließen – weder in den autokratischen deutschsprachigen Ländern noch in der chaotischen Repu­ blik Frankreich und wahrscheinlich nicht einmal in unserer Gegenwart? Wie konnte die fünfte Sinfonie zum Widerstand gegen den Faschismus wachrütteln und die Pastorale, die sechste Sinfonie, in den Dienst unserer zeitgenössischen Umweltschutzbewegung treten? Die Globalisierung der Gesellschaft lässt der Musik Beethovens eine neue, frische Wahrnehmung angedeihen. Seit Adrian Leverkühn, der Protagonist aus Thomas Manns Doktor Faustus, versucht hat, das Versprechen, das Beethovens Neunte birgt, zu zerstören, ist viel Zeit vergangen. Mann, der sein Buch nach der Flucht vor Hitlers Regime im kalifornischen Exil schrieb, platzierte seine verzweifelte Botschaft vor dem Hintergrund von Beethovens leuchtender letzter Sinfonie. Wie wir noch sehen werden, nahm Beethoven in seinen Entwürfen positiver Symbole (unter denen An die Freude das am meisten gefeierte ist) diese dystopischen Schatten bereits vorweg. Seit damals hat der Traum der Neunten den Globus umschlungen – von den rituellen Massen­ inszenierungen Japans bis zu einem Flashmob im katalonischen Sabadell, dessen Videoaufzeichnung mittlerweile mehr als 85 Millionen Menschen auf YouTube gesehen haben. Dieser aufregende Weg, der noch lange nicht zu Ende ist, ist ein Resultat unserer Historie, eine sehr menschliche, von Schmerz und Opfer, Standhaftigkeit und Mut geprägte Geschichte.

Seite 8: J. S. Lyser: Beethoven in Heiligenstadt. Zeitgenössische Zeichnung. © akg-images/picturedesk.com 9


EINS

EINE GESCHICHTE AUS ZWEI STÄDTEN – VON BONN NACH WIEN

»Es steckt was Revolutionäres in der Musik!« Diese Reaktion auf Beethoven stammt angeblich von jenem habsburgischen Monarchen, der während der gesamten Zeit, in der Beethoven in Wien lebte – von 1792 bis 1827 –, regierte. Kaiser Franz spürte etwas in Beethovens Musik, das ihm verdächtig erschien und sein Misstrauen weckte. »Es steckt was Revo­ lutionäres in der Musik!« weist auf eine Qualität in der Musik, die dem Kaiser Unbehagen verursachte. Auf derartige Beiklänge reagierte der Monarch alarmiert. Immerhin war er der Neffe von Marie-Antoinette, jener österreichischen Erzherzogin, die als Ehe­ frau König Ludwigs XVI. Königin von Frankreich wurde. Im Jahr 1793, vier Jah­ re nach dem Ausbruch der Französischen Revolution und bald nach Beethovens Ankunft in Wien, waren Ludwig und Marie-Antoinette eingekerkert worden, bevor man beide in Paris enthauptete. Angesichts dieses Schreckens war es vor­ dringliche Priorität des Habsburgerkaisers, während seiner Regentschaft jede derartige Revolution in Österreich zu verhindern. Mit starrköpfiger Beharrlichkeit überdauerte Franz schließlich seinen weit­ aus brillanteren französischen Rivalen Napoleon Bonaparte. Anders als der erbliche Kaiser von Österreich war der Korse aus bescheidenen Verhältnissen gekommen und hatte sich während der Aufstände im Jahrzehnt nach der Französischen Revolution nach oben gearbeitet. Seine bemerkenswerten militä­ rischen Erfolge machten Napoleon berühmt, 1799 wurde er Erster Konsul der Französischen Republik. 11


EINS

EINE GESCHICHTE AUS ZWEI STÄDTEN – VON BONN NACH WIEN

»Es steckt was Revolutionäres in der Musik!« Diese Reaktion auf Beethoven stammt angeblich von jenem habsburgischen Monarchen, der während der gesamten Zeit, in der Beethoven in Wien lebte – von 1792 bis 1827 –, regierte. Kaiser Franz spürte etwas in Beethovens Musik, das ihm verdächtig erschien und sein Misstrauen weckte. »Es steckt was Revo­ lutionäres in der Musik!« weist auf eine Qualität in der Musik, die dem Kaiser Unbehagen verursachte. Auf derartige Beiklänge reagierte der Monarch alarmiert. Immerhin war er der Neffe von Marie-Antoinette, jener österreichischen Erzherzogin, die als Ehe­ frau König Ludwigs XVI. Königin von Frankreich wurde. Im Jahr 1793, vier Jah­ re nach dem Ausbruch der Französischen Revolution und bald nach Beethovens Ankunft in Wien, waren Ludwig und Marie-Antoinette eingekerkert worden, bevor man beide in Paris enthauptete. Angesichts dieses Schreckens war es vor­ dringliche Priorität des Habsburgerkaisers, während seiner Regentschaft jede derartige Revolution in Österreich zu verhindern. Mit starrköpfiger Beharrlichkeit überdauerte Franz schließlich seinen weit­ aus brillanteren französischen Rivalen Napoleon Bonaparte. Anders als der erbliche Kaiser von Österreich war der Korse aus bescheidenen Verhältnissen gekommen und hatte sich während der Aufstände im Jahrzehnt nach der Französischen Revolution nach oben gearbeitet. Seine bemerkenswerten militä­ rischen Erfolge machten Napoleon berühmt, 1799 wurde er Erster Konsul der Französischen Republik. 11


Leidenschaftlich hoffte Beethoven zu jener Zeit, der Einfluss dieser fran­ zösischen Leitfigur würde positiv auf Politik und Kultur wirken. Doch so viel Zuversicht war in Österreich nicht realistisch. Anders als sein Vorgänger Kaiser Joseph II. in den 1780er-Jahren war Kaiser Franz kein progressiver Lenker seines Staates, sondern fühlte sich durch Napoleons soziale und politische Reformen bedroht. 1794 war des Kaisers »Grauen vor ›Demokratie‹ ebenso krankhaft geworden wie seine Feindseligkeit gegenüber jeder Art von Veränderung«. Ein Historiker wies darauf hin, dass der Kaiser »überall Verschwörung roch« und sich seine Angst vor Revolution zu einer »institutionalisierten Paranoia« ver­ festigte. Dieser politische Hintergrund steckt den Rahmen für unsere Erkundung der politischen Überzeugungen Beethovens ab. Der junge Komponist hatte den Geist der Auf klärung in den 1780er-Jahren förmlich aufgesogen – Immanuel Kants »Kritiken«, liberale Reformen, kultureller Tatendrang –, aber auch den Schrecken und die Polarisierung erlebt, die auf den Ausbruch der Französi­ schen Revolution 1789 folgten. Erstaunlich, wie kraftvoll sich das Erbe eines Musikers im Jahr 2020 zeigt – immerhin ein Vierteljahrtausend nach seiner Geburt. Diese Tatsache lässt sich teilweise mit der universellen Sprache der Musik erklären. Sie macht es zum Beispiel möglich, dass das »Freude«-Thema der neunten Sinfonie die Hymne der Europäischen Union wurde, während Friedrich Schillers Verse selbst nie offiziell übernommen wurden. Ein anderer Faktor ist die zunehmende Polarisierung der Politik des 21. Jahrhunderts. Es sind merkwürdige Parallelen, die die Ära Beethovens mit unserer Gegenwart verbinden. Viele, die den Ausbruch der Französischen Revolution begrüßt hatten, waren bald desillusioniert. Das ähnelt dem 1989 beginnenden Zusam­ menbruch der Sowjetunion, der zu einem fehlgeleiteten Optimismus über ein bevorstehendes Zeitalter der Demokratie führte. Beethovens Welt zu erkunden bedeutet, sich Spannungen und Wider­ sprüchen gegenüberzusehen – den über weite Strecken erfolglosen Reformen des aufgeklärten Absolutismus unter Joseph II. und dem prekären Reiz des revolutionären Frankreichs, dem deutschen »Flickenteppich« aus Klein- und Mittelstaaten, den Beethoven in jungen Jahren erlebte, und der autokratischen Habsburgermonarchie, der französisch-deutschen Grenzregion am Rhein und der Hauptstadt des ausgedehnten vielsprachigen Reiches an der Donau. Außerhalb der verwirrenden Komplexität historischer Voraussetzungen formt der Künstler Visionen seiner Vorstellungskraft. Es ist aufregend, sich mit dem Bestreben des Komponisten auseinanderzusetzen, auf das ganze Durcheinander einer turbulenten Epoche zu reagieren. Während Napoleon Bonapartes Auf­ stieg und Fall auf der Bühne der Welt nichts als längst vergangene Geschichte

ist, haben Beethovens musikalisches Vermächtnis und damit seine Reaktion auf die politischen Umstände seiner Zeit bis heute unvermindert Bestand, auch wenn das Potenzial seines Werks nach wie vor nicht ausgeschöpft ist. Verständ­ nis und Wertschätzung profitieren vom Wissen um den Zusammenhang. Wie wir sehen werden, vermitteln die kontrastreichen Erzählstränge der Werke Beethovens weitaus mehr als ein neutrales Abspielen von Tönen. Wie war es für den sechzehnjährigen Hofmusiker Beethoven, im Jahr 1787 für drei Monate von Bonn nach Wien zu reisen? Welche Erfahrungen mach­ te er, als er im Revolutionsjahr 1789 an der Bonner Universität inskribierte? Wie formte sein Aufwachsen im Rheinland während einer Schlüsselära seine Einstellungen gegenüber Ästhetik und Politik? Welche Rolle spielten seine musikalischen Vorgänger Wolfgang Amadeus Mozart und Joseph Haydn für seinen künstlerischen Weg? Die Regentschaft Kaiser Josephs II. brachte eine Welle von Reformen von oben, die der Vernunft folgen wollten: die »weiße Revolution« des aufgeklärten Absolutismus. Joseph II. nahm für sich in Anspruch, die französischen Revolu­ tionäre von 1789 hätten etwas angestrebt, das er längst zustande zu bringen ver­ sucht hatte. Im Jahr 1783 verkündete er: »Ich habe die von Vorurteilen und ein­ gewurzelten alten Gewohnheiten entsprungenen Umstände durch Auf klärung geschwächt und mit Beweisen bestritten.« Er dämmte die Macht der Kirche ein, förderte religiöse Toleranz, war ein Verfechter des Gedankens menschlicher Gleichheit, hob die Leibeigenschaft ebenso auf wie viele Privilegien von Adel, Hof, Klerus, Zünften und Städten. Unzähligen Bittstellern gewährte Joseph II. eine persönliche Audienz. Als Herrscher befürwortete er Kants Definition der Auf klärung als einen »Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit«. Er reformierte die Volksschulen, ließ Krankenhäuser errichten und trat Obskurantismus und religiösem Aberglauben entgegen. Die soziale Revolution erwies sich als zerbrechlich, stammte sie doch von einem Herrscher, der umgeben war von Ministern aus altem Adel. In welchen Fallstricken sich Josephs II. Tugenden verfangen konnten, illustriert seine Unterstützung von Mozarts Oper Le nozze di Figaro. Der Kaiser verstand etwas von Musik und hatte 1782 bereits Mozarts deutsches Singspiel Die Entführung aus dem Serail gefördert. Vier Jahre später arbeitete Mozart mit dem Librettis­ ten Lorenzo da Ponte zusammen, der das zweite Stück der Figaro-Trilogie von Pierre-Augustin Caron de Beaumarchais adaptiert hatte. Im Paris des Jahres 1784 war das Stück, das aristokratische Vorrechte und soziale Ungleichheit angreift, eine Sensation gewesen. Da Joseph II. 1785 seine Erlaubnis für eine Aufführung des Dramas in Wien verweigert hatte, begann eine Rezension von Mozarts Figaro in der Wiener Realzeitung mit der Feststellung, man würde

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Leidenschaftlich hoffte Beethoven zu jener Zeit, der Einfluss dieser fran­ zösischen Leitfigur würde positiv auf Politik und Kultur wirken. Doch so viel Zuversicht war in Österreich nicht realistisch. Anders als sein Vorgänger Kaiser Joseph II. in den 1780er-Jahren war Kaiser Franz kein progressiver Lenker seines Staates, sondern fühlte sich durch Napoleons soziale und politische Reformen bedroht. 1794 war des Kaisers »Grauen vor ›Demokratie‹ ebenso krankhaft geworden wie seine Feindseligkeit gegenüber jeder Art von Veränderung«. Ein Historiker wies darauf hin, dass der Kaiser »überall Verschwörung roch« und sich seine Angst vor Revolution zu einer »institutionalisierten Paranoia« ver­ festigte. Dieser politische Hintergrund steckt den Rahmen für unsere Erkundung der politischen Überzeugungen Beethovens ab. Der junge Komponist hatte den Geist der Auf klärung in den 1780er-Jahren förmlich aufgesogen – Immanuel Kants »Kritiken«, liberale Reformen, kultureller Tatendrang –, aber auch den Schrecken und die Polarisierung erlebt, die auf den Ausbruch der Französi­ schen Revolution 1789 folgten. Erstaunlich, wie kraftvoll sich das Erbe eines Musikers im Jahr 2020 zeigt – immerhin ein Vierteljahrtausend nach seiner Geburt. Diese Tatsache lässt sich teilweise mit der universellen Sprache der Musik erklären. Sie macht es zum Beispiel möglich, dass das »Freude«-Thema der neunten Sinfonie die Hymne der Europäischen Union wurde, während Friedrich Schillers Verse selbst nie offiziell übernommen wurden. Ein anderer Faktor ist die zunehmende Polarisierung der Politik des 21. Jahrhunderts. Es sind merkwürdige Parallelen, die die Ära Beethovens mit unserer Gegenwart verbinden. Viele, die den Ausbruch der Französischen Revolution begrüßt hatten, waren bald desillusioniert. Das ähnelt dem 1989 beginnenden Zusam­ menbruch der Sowjetunion, der zu einem fehlgeleiteten Optimismus über ein bevorstehendes Zeitalter der Demokratie führte. Beethovens Welt zu erkunden bedeutet, sich Spannungen und Wider­ sprüchen gegenüberzusehen – den über weite Strecken erfolglosen Reformen des aufgeklärten Absolutismus unter Joseph II. und dem prekären Reiz des revolutionären Frankreichs, dem deutschen »Flickenteppich« aus Klein- und Mittelstaaten, den Beethoven in jungen Jahren erlebte, und der autokratischen Habsburgermonarchie, der französisch-deutschen Grenzregion am Rhein und der Hauptstadt des ausgedehnten vielsprachigen Reiches an der Donau. Außerhalb der verwirrenden Komplexität historischer Voraussetzungen formt der Künstler Visionen seiner Vorstellungskraft. Es ist aufregend, sich mit dem Bestreben des Komponisten auseinanderzusetzen, auf das ganze Durcheinander einer turbulenten Epoche zu reagieren. Während Napoleon Bonapartes Auf­ stieg und Fall auf der Bühne der Welt nichts als längst vergangene Geschichte

ist, haben Beethovens musikalisches Vermächtnis und damit seine Reaktion auf die politischen Umstände seiner Zeit bis heute unvermindert Bestand, auch wenn das Potenzial seines Werks nach wie vor nicht ausgeschöpft ist. Verständ­ nis und Wertschätzung profitieren vom Wissen um den Zusammenhang. Wie wir sehen werden, vermitteln die kontrastreichen Erzählstränge der Werke Beethovens weitaus mehr als ein neutrales Abspielen von Tönen. Wie war es für den sechzehnjährigen Hofmusiker Beethoven, im Jahr 1787 für drei Monate von Bonn nach Wien zu reisen? Welche Erfahrungen mach­ te er, als er im Revolutionsjahr 1789 an der Bonner Universität inskribierte? Wie formte sein Aufwachsen im Rheinland während einer Schlüsselära seine Einstellungen gegenüber Ästhetik und Politik? Welche Rolle spielten seine musikalischen Vorgänger Wolfgang Amadeus Mozart und Joseph Haydn für seinen künstlerischen Weg? Die Regentschaft Kaiser Josephs II. brachte eine Welle von Reformen von oben, die der Vernunft folgen wollten: die »weiße Revolution« des aufgeklärten Absolutismus. Joseph II. nahm für sich in Anspruch, die französischen Revolu­ tionäre von 1789 hätten etwas angestrebt, das er längst zustande zu bringen ver­ sucht hatte. Im Jahr 1783 verkündete er: »Ich habe die von Vorurteilen und ein­ gewurzelten alten Gewohnheiten entsprungenen Umstände durch Auf klärung geschwächt und mit Beweisen bestritten.« Er dämmte die Macht der Kirche ein, förderte religiöse Toleranz, war ein Verfechter des Gedankens menschlicher Gleichheit, hob die Leibeigenschaft ebenso auf wie viele Privilegien von Adel, Hof, Klerus, Zünften und Städten. Unzähligen Bittstellern gewährte Joseph II. eine persönliche Audienz. Als Herrscher befürwortete er Kants Definition der Auf klärung als einen »Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit«. Er reformierte die Volksschulen, ließ Krankenhäuser errichten und trat Obskurantismus und religiösem Aberglauben entgegen. Die soziale Revolution erwies sich als zerbrechlich, stammte sie doch von einem Herrscher, der umgeben war von Ministern aus altem Adel. In welchen Fallstricken sich Josephs II. Tugenden verfangen konnten, illustriert seine Unterstützung von Mozarts Oper Le nozze di Figaro. Der Kaiser verstand etwas von Musik und hatte 1782 bereits Mozarts deutsches Singspiel Die Entführung aus dem Serail gefördert. Vier Jahre später arbeitete Mozart mit dem Librettis­ ten Lorenzo da Ponte zusammen, der das zweite Stück der Figaro-Trilogie von Pierre-Augustin Caron de Beaumarchais adaptiert hatte. Im Paris des Jahres 1784 war das Stück, das aristokratische Vorrechte und soziale Ungleichheit angreift, eine Sensation gewesen. Da Joseph II. 1785 seine Erlaubnis für eine Aufführung des Dramas in Wien verweigert hatte, begann eine Rezension von Mozarts Figaro in der Wiener Realzeitung mit der Feststellung, man würde

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heutzutage eben singen, was auszusprechen verboten sei. Da Ponte hatte zwar ein paar revolutionäre Frechheiten von Beaumarchais ausgelassen, dafür jedoch eigene hinzugefügt. Obwohl der aufgeklärte Kaiser der Aufführung der Oper zugestimmt hatte, beschädigte sie Mozarts Position innerhalb des Adels. Die Subskriptionslisten für seine Instrumentalkonzerte, bislang von Mitgliedern des Hochadels gezeichnet, schmolzen im Nachhall des Figaro, der ja auf dem die Aristokratie kritisierenden und eigentlich verbotenen Beaumarchais-Stück beruhte, rasch zusammen. Es gibt Parallelen zwischen Mozarts 1786 einsetzenden Schwierigkeiten und den politischen Problemen, die den zunehmend isolierten Kaiser plagten, dessen Reformen nach seinem Tod 1790 vielfach revidiert wurden. Dieses außergewöhnliche Jahrzehnt, in dem die Macht dem Volk zu dienen versuchte, sollte mit Don Giovanni noch eine weitere Mozart-Oper sehen: mit drei Gesell­ schaftsklassen auf der Bühne, deren jede von einer eigenen Musik dargestellt wird. Alle drei Schichten treffen im selben Ballsaal aufeinander, wo sie von ihrem aristokratischen Gastgeber Don Giovanni im Namen der Freiheit begrüßt werden. Beethoven besuchte Wien erstmals in der Zeit von Januar bis April 1787. Als er eintraf, wurde Mozart gerade in Prag gefeiert, wo sein Figaro so enorm erfolgreich war, dass er den Auftrag zum Don Giovanni erhielt, der im Oktober 1787 in der böhmischen Hauptstadt uraufgeführt werden sollte. Zu dieser Zeit residierte Mozart noch in repräsentablen Wiener Wohnungen, bevor er aufgrund finanzieller Engpässe aus der Inneren Stadt wegzog. In den Wochen zwischen Mozarts Rückkehr aus Prag am 12. Februar und Beethovens Abreise im April gab es hinreichende Gelegenheiten für eine Begegnung der beiden Komponisten, zumal es seine Verbindungen zum Adel waren, die dem Jünge­ ren den Besuch ermöglicht hatten. Berichten zufolge hörte Beethoven Mozart spielen. Anekdoten darüber, dass Beethoven für Mozart improvisiert hätte, sind zwar plausibel, aber nicht belegt. Beethovens Beschäftigung mit Don Giovanni spiegelt sich in verschiedenen Werken – von der Mondscheinsonate bis zu den Diabelli-Variationen – wider. Und zu jener Zeit, als ein Aufeinandertreffen mög­ lich war, konzentrierte sich Mozart ganz auf diese Oper. Joseph Haydn auf der anderen Seite lebte damals nach wie vor isoliert in Eisenstadt, wo er dem Fürstenhof der Esterházy diente. Erst nach dem Tod seines Dienstherrn Fürst Nikolaus im Jahr 1790 war er frei und kam dank seiner Englandaufenthalte zu beachtlichem Wohlstand. Bereits 1785 war in einer Londoner Zeitung das Ansinnen zu lesen, man möge Haydn, diesen »Shakespeare der Musik«, im Namen der Freiheit kidnappen und nach England bringen: »Käme es für manche aufstrebende Jünglinge nicht einer erfolgreichen

Pilgerfahrt gleich, ihn vor seinem Schicksal zu retten und nach Großbritannien zu verpflanzen, jenes Land, für das seine Musik gemacht zu sein scheint?« Da sich Bonn auf Haydns Route befand, unterbrach er dort seine Reise von Wien nach London im Dezember 1790 ebenso wie seine Rückfahrt im Juli 1792. Zu diesem Zeitpunkt trafen einander Haydn und der junge Beethoven, der ihm an­ scheinend seine bis dahin eindrucksvollste Komposition zeigte: die Kantate auf den Tod Kaiser Josephs II., eine Hommage auf den erst kurz zuvor verstorbenen österreichischen Monarchen. Die Lebensläufe des großen musikalischen Triumvirats Haydn–Mozart– Beethoven erstrecken sich über die Ära der Französischen Revolution, wobei sich der umwälzende Einfluss dieses politischen Ereignisses besonders stark im Werk des jüngsten der drei niederschlug. Der jugendliche Beethoven sog den Geist der Auf klärung förmlich auf. Zu seinen Bonner Lehrern und Mentoren gehörten viele, die eng mit aktiven Organisationen jener Zeit verbunden waren – mit Freimaurern, Illuminaten und der Lesegesellschaft. Beethovens Umzug nach Wien bald nach dem Ausbruch der Revolution in Frankreich brachte ihn in ein kulturell reiches Umfeld, die Politik in den habsburgischen Landen nahm nun jedoch eine reaktionäre Richtung. Die Stadt, in der sich Mozart 1781 und Haydn 1790 niedergelassen hatten, wurde 1792 Beethovens Heimat. Es war jenes Jahr, in dem der Konflikt eskalierte und Krieg ausbrach zwischen dem revolutionären Frankreich und absolutistischen Staaten wie Österreich, wo man die Entwicklung in Frankreich beklommen verfolgte. In seinem Tagebuch hielt Beethoven jenen Moment fest, in dem er auf seiner Reise nach Österreich dem Postkutscher ein Trinkgeld gab, als dieser »wie ein Teufel« durch den enger wer­ denden Frontbereich zwischen französischen und hessischen Truppen fuhr. Dieser ereignisreiche historische Hintergrund ist essenziell für das Verstehen von Beethovens turbulenter politischer Gegenwart und er hilft uns auch die Art und Weise zu begreifen, in der seine Musik kulturelle Werte ausdrückt. Die Hoffnungen und unerfüllten Versprechen der Französischen Revolution spielten für die schöpferische Arbeit Beethovens eine große Rolle. Seine Skepsis gegenüber Kaiser Franz und seine Ambivalenz gegenüber Napoleon spiegeln seine Reaktion auf weitreichende Ereignisse wider. Die unerschütterliche Begeisterung des Komponisten für die Prinzipien der Französischen Revolu­ tion existierte parallel zu seiner Geringschätzung repressiver absolutistischer Herrschaft. Zentrale Aspekte seiner ästhetischen Auffassung und seiner musikalischen Inhalte sind untrennbar damit verbunden. Kunstwerke müssen äußere Umstände nicht unbedingt widerspiegeln, können jedoch antagonisti­ sche Werte darstellen. Wie wir sehen werden, bezieht sich die Schilderung von Heroismus in der Eroica auf einen mythischen Zusammenhang, der Bonapartes

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heutzutage eben singen, was auszusprechen verboten sei. Da Ponte hatte zwar ein paar revolutionäre Frechheiten von Beaumarchais ausgelassen, dafür jedoch eigene hinzugefügt. Obwohl der aufgeklärte Kaiser der Aufführung der Oper zugestimmt hatte, beschädigte sie Mozarts Position innerhalb des Adels. Die Subskriptionslisten für seine Instrumentalkonzerte, bislang von Mitgliedern des Hochadels gezeichnet, schmolzen im Nachhall des Figaro, der ja auf dem die Aristokratie kritisierenden und eigentlich verbotenen Beaumarchais-Stück beruhte, rasch zusammen. Es gibt Parallelen zwischen Mozarts 1786 einsetzenden Schwierigkeiten und den politischen Problemen, die den zunehmend isolierten Kaiser plagten, dessen Reformen nach seinem Tod 1790 vielfach revidiert wurden. Dieses außergewöhnliche Jahrzehnt, in dem die Macht dem Volk zu dienen versuchte, sollte mit Don Giovanni noch eine weitere Mozart-Oper sehen: mit drei Gesell­ schaftsklassen auf der Bühne, deren jede von einer eigenen Musik dargestellt wird. Alle drei Schichten treffen im selben Ballsaal aufeinander, wo sie von ihrem aristokratischen Gastgeber Don Giovanni im Namen der Freiheit begrüßt werden. Beethoven besuchte Wien erstmals in der Zeit von Januar bis April 1787. Als er eintraf, wurde Mozart gerade in Prag gefeiert, wo sein Figaro so enorm erfolgreich war, dass er den Auftrag zum Don Giovanni erhielt, der im Oktober 1787 in der böhmischen Hauptstadt uraufgeführt werden sollte. Zu dieser Zeit residierte Mozart noch in repräsentablen Wiener Wohnungen, bevor er aufgrund finanzieller Engpässe aus der Inneren Stadt wegzog. In den Wochen zwischen Mozarts Rückkehr aus Prag am 12. Februar und Beethovens Abreise im April gab es hinreichende Gelegenheiten für eine Begegnung der beiden Komponisten, zumal es seine Verbindungen zum Adel waren, die dem Jünge­ ren den Besuch ermöglicht hatten. Berichten zufolge hörte Beethoven Mozart spielen. Anekdoten darüber, dass Beethoven für Mozart improvisiert hätte, sind zwar plausibel, aber nicht belegt. Beethovens Beschäftigung mit Don Giovanni spiegelt sich in verschiedenen Werken – von der Mondscheinsonate bis zu den Diabelli-Variationen – wider. Und zu jener Zeit, als ein Aufeinandertreffen mög­ lich war, konzentrierte sich Mozart ganz auf diese Oper. Joseph Haydn auf der anderen Seite lebte damals nach wie vor isoliert in Eisenstadt, wo er dem Fürstenhof der Esterházy diente. Erst nach dem Tod seines Dienstherrn Fürst Nikolaus im Jahr 1790 war er frei und kam dank seiner Englandaufenthalte zu beachtlichem Wohlstand. Bereits 1785 war in einer Londoner Zeitung das Ansinnen zu lesen, man möge Haydn, diesen »Shakespeare der Musik«, im Namen der Freiheit kidnappen und nach England bringen: »Käme es für manche aufstrebende Jünglinge nicht einer erfolgreichen

Pilgerfahrt gleich, ihn vor seinem Schicksal zu retten und nach Großbritannien zu verpflanzen, jenes Land, für das seine Musik gemacht zu sein scheint?« Da sich Bonn auf Haydns Route befand, unterbrach er dort seine Reise von Wien nach London im Dezember 1790 ebenso wie seine Rückfahrt im Juli 1792. Zu diesem Zeitpunkt trafen einander Haydn und der junge Beethoven, der ihm an­ scheinend seine bis dahin eindrucksvollste Komposition zeigte: die Kantate auf den Tod Kaiser Josephs II., eine Hommage auf den erst kurz zuvor verstorbenen österreichischen Monarchen. Die Lebensläufe des großen musikalischen Triumvirats Haydn–Mozart– Beethoven erstrecken sich über die Ära der Französischen Revolution, wobei sich der umwälzende Einfluss dieses politischen Ereignisses besonders stark im Werk des jüngsten der drei niederschlug. Der jugendliche Beethoven sog den Geist der Auf klärung förmlich auf. Zu seinen Bonner Lehrern und Mentoren gehörten viele, die eng mit aktiven Organisationen jener Zeit verbunden waren – mit Freimaurern, Illuminaten und der Lesegesellschaft. Beethovens Umzug nach Wien bald nach dem Ausbruch der Revolution in Frankreich brachte ihn in ein kulturell reiches Umfeld, die Politik in den habsburgischen Landen nahm nun jedoch eine reaktionäre Richtung. Die Stadt, in der sich Mozart 1781 und Haydn 1790 niedergelassen hatten, wurde 1792 Beethovens Heimat. Es war jenes Jahr, in dem der Konflikt eskalierte und Krieg ausbrach zwischen dem revolutionären Frankreich und absolutistischen Staaten wie Österreich, wo man die Entwicklung in Frankreich beklommen verfolgte. In seinem Tagebuch hielt Beethoven jenen Moment fest, in dem er auf seiner Reise nach Österreich dem Postkutscher ein Trinkgeld gab, als dieser »wie ein Teufel« durch den enger wer­ denden Frontbereich zwischen französischen und hessischen Truppen fuhr. Dieser ereignisreiche historische Hintergrund ist essenziell für das Verstehen von Beethovens turbulenter politischer Gegenwart und er hilft uns auch die Art und Weise zu begreifen, in der seine Musik kulturelle Werte ausdrückt. Die Hoffnungen und unerfüllten Versprechen der Französischen Revolution spielten für die schöpferische Arbeit Beethovens eine große Rolle. Seine Skepsis gegenüber Kaiser Franz und seine Ambivalenz gegenüber Napoleon spiegeln seine Reaktion auf weitreichende Ereignisse wider. Die unerschütterliche Begeisterung des Komponisten für die Prinzipien der Französischen Revolu­ tion existierte parallel zu seiner Geringschätzung repressiver absolutistischer Herrschaft. Zentrale Aspekte seiner ästhetischen Auffassung und seiner musikalischen Inhalte sind untrennbar damit verbunden. Kunstwerke müssen äußere Umstände nicht unbedingt widerspiegeln, können jedoch antagonisti­ sche Werte darstellen. Wie wir sehen werden, bezieht sich die Schilderung von Heroismus in der Eroica auf einen mythischen Zusammenhang, der Bonapartes

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für den Wiener Kongress geschriebene Kantate Der glorreiche Augenblick – zu rehabilitieren. Eine andere revisionistische Herangehensweise verknüpft Beet­ hovens späten musikalischen Stil mit der reaktionären Ausrichtung der öster­ reichischen Politik Metternichs. In einem radikaleren Ansatz wird der Wert der Freiheit an sich angezweifelt, indem Autonomie als leere Hülle oder getarnte Autorität demaskiert wird. Reduktionistische Sichtweisen verweisen auf den Reiz des Neuen oder den Anschein von Raffinesse – beides würde auf Kosten der ästhetischen Substanz und der historischen Genauigkeit gehen. Weit viel­ versprechender erweist sich da die Suche nach einem schöpferischen Potenzial jenseits konventioneller Auffassungen. Um 1814, während des Wiener Kongresses, als Beethoven mehr Aufmerk­ samkeit erhielt und mehr Geld verdiente als jemals zuvor oder danach, erklärte der Komponist, lieber als alle Monarchen und Monarchien sei ihm das »geistige Reich«: »Mir ist das geistige Reich das liebste, und die oberste aller geistigen und weltlichen Monarchien.« Vor dem Hintergrund von Beethovens ereignis­ reichem Leben unternimmt der folgende Essay eine Erkundungsreise durch dessen künstlerisches »geistiges Reich«.

Versagen, zum Helden zu werden, bloßstellt. Die Idee einer transformierenden Kraft der Kunst, wie sie von Künstlerkollegen – darunter Friedrich Schiller, Johann Wolfgang von Goethe und Jean Paul Richter – propagiert wurde, übte großen Einfluss auf Beethovens Schöpferkraft aus. Dokumente aus Beethovens letzten Jahren zeugen davon, dass er nach wie vor über politische Belange nachdachte und häufig enttäuscht von den Herrschenden war. Im September 1825 unterhielt sich Beethoven mit seinem Pariser Verleger Moritz Schlesinger, der seine Antworten und Kommentare für den tauben Komponisten in ein Konversationsheft schrieb. Schlesinger hielt fest, »wäre [Napoleon] statt unersättlicher Welteroberer 1ter Konsul geblieben, so wär er einer der größten je existierenden Menschen«. Beethovens Antwort ist zwar unbekannt, doch Schlesingers Replik »Der Ehrgeiz« benennt wohl jenen charakterlichen Makel, der Napoleon in Beethovens Augen als wahren Helden disqualifizierte. Über den österreichischen Kaiser Franz spottete Schlesinger während dieser Unterhaltung: »Der Kaiser ist aber ein dummes Vieh, er sagt, ich brauch kein’ Gelehrten, gute Bürger will ich.« Ein anderer Kommentar, der Aufschluss über Beethovens konfliktbehaftete Haltung gegenüber Napoleon gibt, stammt von Johann Doležalek, und zwar aus dem Februar 1827, als der Komponist im Sterben lag. Nachdem er sich über das französische Königsgeschlecht der Bourbonen beschwert hatte, sagte Beethoven über Napoleon: »In dem Scheißkerl habe ich mich geirrt.« Beethovens Bekenntnis, er hätte falsche Hoffnungen in Napoleon gesetzt, stimmt mit unterschiedlichen Quellen überein, die seine Karriere und seine künstlerischen Errungenschaften in neuem Licht erscheinen lassen. Der Komponist war weit davon entfernt, sich der Politik gegenüber indifferent zu verhalten. Seine Affinität zum Werk Schillers und zu dessen Ideen vom affirmativen Kunstwerk, das Widerstandspotenzial hat, und vom Streben nach »Symbolen des Vortrefflichen« waren von enormer Bedeutung. Der Stoff für Beethovens Oper Fidelio, für den er ein düsteres reales Ereignis aus der Zeit der Schreckensherrschaft in Frankreich wählte, ist von bestechend aktueller politischer Relevanz. Außergewöhnlich ist auch der Einfluss, den Beethovens letzte Sinfonie mit dem Chorsatz nach Schillers Gedicht An die Freude hat – ein Werk, das den Komponisten lange beschäftigt hatte und über das er, wie sich aus den Manuskripten ablesen lässt, einige Zweifel hegte, da er auch einen rein instrumentalen Schlusssatz skizzierte. Allerdings haben einige zeitgenössische Kommentatoren skeptischere, alternative Sichtweisen auf Beethovens kulturelles und politisches Format ent­ wickelt. In einem dieser Zugänge wird auch der Versuch unternommen, jene Stücke des Komponisten, die besonders propagandistisch waren – darunter die

Während Beethovens prägender Jugendjahre war das Rheinland alles andere als ein beschaulich-friedvoller Ort. Der in Bonn wehende politische Wind unter­ schied sich radikal von jenem, dem Beethoven in Österreich begegnen sollte. Als junger Hofmusiker profitierte er von einem glücklichen Zusammenwirken anregender Entwicklungen. Da Erzherzog Maximilian Franz, Kaiser Josephs II. jüngster Bruder, seit 1784 als Kurfürst in Bonn residierte, bestanden enge Ver­ bindungen zwischen der kleinen Stadt am Rhein und der fernen, zehnmal so großen Residenzstadt an der Donau. Maximilian Franz setzte jenes Reform­ werk, das sein Vorgänger Kurfürst Maximilian Friedrich begonnen hatte, fort – ein Reformwerk, nicht unähnlich jenem Josephs II. in Wien. Der Klerus wurde an die Kandare genommen, die Kunst und ihre Institutionen wurden neu organisiert und gefördert, die Akademie Bonn 1785 in den Rang einer Univer­ sität erhoben. Johannes Neeb wurde engagiert, um die Philosophie Immanuel Kants zu lehren, Männer wie der spätere Revolutionär Eulogius Schneider und Friedrich Schillers Freund Bartholomäus Ludwig Fischenich unterrichteten griechische Literatur, Ästhetik, Ethik und Rechtswissenschaften. Im Laufe der 1780er-Jahre wurde Bonn zu einem Zentrum der Auf klärung, jener fragilen und doch so enorm produktiven Geistesströmung, die liberale Re­ formen von oben und nicht aufgrund drohender Revolutionen von unten aus­ löste. Bonn hätte ein zweites Weimar werden können. Doch die Umwälzungen im Gefolge der französischen Okkupation spülten Maximilian Franz’ Regent­

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für den Wiener Kongress geschriebene Kantate Der glorreiche Augenblick – zu rehabilitieren. Eine andere revisionistische Herangehensweise verknüpft Beet­ hovens späten musikalischen Stil mit der reaktionären Ausrichtung der öster­ reichischen Politik Metternichs. In einem radikaleren Ansatz wird der Wert der Freiheit an sich angezweifelt, indem Autonomie als leere Hülle oder getarnte Autorität demaskiert wird. Reduktionistische Sichtweisen verweisen auf den Reiz des Neuen oder den Anschein von Raffinesse – beides würde auf Kosten der ästhetischen Substanz und der historischen Genauigkeit gehen. Weit viel­ versprechender erweist sich da die Suche nach einem schöpferischen Potenzial jenseits konventioneller Auffassungen. Um 1814, während des Wiener Kongresses, als Beethoven mehr Aufmerk­ samkeit erhielt und mehr Geld verdiente als jemals zuvor oder danach, erklärte der Komponist, lieber als alle Monarchen und Monarchien sei ihm das »geistige Reich«: »Mir ist das geistige Reich das liebste, und die oberste aller geistigen und weltlichen Monarchien.« Vor dem Hintergrund von Beethovens ereignis­ reichem Leben unternimmt der folgende Essay eine Erkundungsreise durch dessen künstlerisches »geistiges Reich«.

Versagen, zum Helden zu werden, bloßstellt. Die Idee einer transformierenden Kraft der Kunst, wie sie von Künstlerkollegen – darunter Friedrich Schiller, Johann Wolfgang von Goethe und Jean Paul Richter – propagiert wurde, übte großen Einfluss auf Beethovens Schöpferkraft aus. Dokumente aus Beethovens letzten Jahren zeugen davon, dass er nach wie vor über politische Belange nachdachte und häufig enttäuscht von den Herrschenden war. Im September 1825 unterhielt sich Beethoven mit seinem Pariser Verleger Moritz Schlesinger, der seine Antworten und Kommentare für den tauben Komponisten in ein Konversationsheft schrieb. Schlesinger hielt fest, »wäre [Napoleon] statt unersättlicher Welteroberer 1ter Konsul geblieben, so wär er einer der größten je existierenden Menschen«. Beethovens Antwort ist zwar unbekannt, doch Schlesingers Replik »Der Ehrgeiz« benennt wohl jenen charakterlichen Makel, der Napoleon in Beethovens Augen als wahren Helden disqualifizierte. Über den österreichischen Kaiser Franz spottete Schlesinger während dieser Unterhaltung: »Der Kaiser ist aber ein dummes Vieh, er sagt, ich brauch kein’ Gelehrten, gute Bürger will ich.« Ein anderer Kommentar, der Aufschluss über Beethovens konfliktbehaftete Haltung gegenüber Napoleon gibt, stammt von Johann Doležalek, und zwar aus dem Februar 1827, als der Komponist im Sterben lag. Nachdem er sich über das französische Königsgeschlecht der Bourbonen beschwert hatte, sagte Beethoven über Napoleon: »In dem Scheißkerl habe ich mich geirrt.« Beethovens Bekenntnis, er hätte falsche Hoffnungen in Napoleon gesetzt, stimmt mit unterschiedlichen Quellen überein, die seine Karriere und seine künstlerischen Errungenschaften in neuem Licht erscheinen lassen. Der Komponist war weit davon entfernt, sich der Politik gegenüber indifferent zu verhalten. Seine Affinität zum Werk Schillers und zu dessen Ideen vom affirmativen Kunstwerk, das Widerstandspotenzial hat, und vom Streben nach »Symbolen des Vortrefflichen« waren von enormer Bedeutung. Der Stoff für Beethovens Oper Fidelio, für den er ein düsteres reales Ereignis aus der Zeit der Schreckensherrschaft in Frankreich wählte, ist von bestechend aktueller politischer Relevanz. Außergewöhnlich ist auch der Einfluss, den Beethovens letzte Sinfonie mit dem Chorsatz nach Schillers Gedicht An die Freude hat – ein Werk, das den Komponisten lange beschäftigt hatte und über das er, wie sich aus den Manuskripten ablesen lässt, einige Zweifel hegte, da er auch einen rein instrumentalen Schlusssatz skizzierte. Allerdings haben einige zeitgenössische Kommentatoren skeptischere, alternative Sichtweisen auf Beethovens kulturelles und politisches Format ent­ wickelt. In einem dieser Zugänge wird auch der Versuch unternommen, jene Stücke des Komponisten, die besonders propagandistisch waren – darunter die

Während Beethovens prägender Jugendjahre war das Rheinland alles andere als ein beschaulich-friedvoller Ort. Der in Bonn wehende politische Wind unter­ schied sich radikal von jenem, dem Beethoven in Österreich begegnen sollte. Als junger Hofmusiker profitierte er von einem glücklichen Zusammenwirken anregender Entwicklungen. Da Erzherzog Maximilian Franz, Kaiser Josephs II. jüngster Bruder, seit 1784 als Kurfürst in Bonn residierte, bestanden enge Ver­ bindungen zwischen der kleinen Stadt am Rhein und der fernen, zehnmal so großen Residenzstadt an der Donau. Maximilian Franz setzte jenes Reform­ werk, das sein Vorgänger Kurfürst Maximilian Friedrich begonnen hatte, fort – ein Reformwerk, nicht unähnlich jenem Josephs II. in Wien. Der Klerus wurde an die Kandare genommen, die Kunst und ihre Institutionen wurden neu organisiert und gefördert, die Akademie Bonn 1785 in den Rang einer Univer­ sität erhoben. Johannes Neeb wurde engagiert, um die Philosophie Immanuel Kants zu lehren, Männer wie der spätere Revolutionär Eulogius Schneider und Friedrich Schillers Freund Bartholomäus Ludwig Fischenich unterrichteten griechische Literatur, Ästhetik, Ethik und Rechtswissenschaften. Im Laufe der 1780er-Jahre wurde Bonn zu einem Zentrum der Auf klärung, jener fragilen und doch so enorm produktiven Geistesströmung, die liberale Re­ formen von oben und nicht aufgrund drohender Revolutionen von unten aus­ löste. Bonn hätte ein zweites Weimar werden können. Doch die Umwälzungen im Gefolge der französischen Okkupation spülten Maximilian Franz’ Regent­

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schaft 1794 hinweg, weniger als zwei Jahre nach Beethovens Abreise. Niemand jedoch hätte diese Ereignisse ein paar Jahre zuvor prophezeien können. Als ältester überlebender Sohn eines Alkoholikers – seine geliebte Mutter war bereits 1787 gestorben – schlug Beethoven psychologisch betrachtet den Pfad in Richtung Kompensation durch außergewöhnliche Leistungen ein. An­ dererseits dürfte das tyrannische, verletzende Verhalten seines Vaters Beetho­ vens Widerstandskräfte gestählt haben. Insgesamt schufen seine schwierige Va­ terbeziehung und der frühe Verlust seiner Mutter eine Leere, die von Freunden, Vorbildern, Kunst und Ideen gefüllt wurde. Um 1784 geriet Beethoven über seine enge Freundschaft mit Franz Gerhard Wegeler in den Einflussbereich der kultivierten Familie von Breuning, die ihn mit deutscher Literatur und Poesie vertraut machte. Während der Sommer dieser Jahre dürfte er immer einige Zeit auf dem Landsitz der von Breuning in Kerpen westlich von Köln verbracht haben, wo die verwitwete Helena von Breuning eine schützende Mutterrolle gegenüber Beethoven einnahm. Wegeler wiederum studierte während der 1780er-Jahre in Wien Medizin und half, den Weg für Beethovens Rückkehr nach Wien zu ebnen. Jahre später, als ihn die Symptome seiner unheilbaren Taubheit quälten, bekannte Beethoven Wegeler gegenüber dieses Problem. Ein bedeutendes Vorbild war der Komponist und Hoforganist Christian Gottlob Neefe, ein aus Sachsen stammender Protestant, der in Leipzig studiert hatte. Neefe war ein begeisterter Bewunderer Johann Sebastian Bachs und eifrig bemüht, dessen Vermächtnis weiterzugeben. Auch seine ersten Begegnungen mit der Musik von Carl Philipp Emanuel Bach, Haydn und Mozart verdankte Beethoven Neefe. Unter Neefes eigenen größeren Kompositionen befinden sich zwölf beeindruckende Serenaden nach Oden von Friedrich Gottlieb Klopstock. Im Jahr 1782 vertonte Neefe mit Dem Unendlichen (für vier Chorstimmen und Orchester) eine weitere Ode Klopstocks. Dieses Stück ist Teil jenes größeren Ganzen, aus dem acht Jahre später Beethovens gewichtige Kantate auf den Tod Kaiser Josephs II. hervorgehen sollte. Neefe war Freimaurer, übernahm später einen Part im Illuminatenorden und trat schließlich der Lesegesellschaft bei – allesamt der Auf klärung nahestehen­ de Organisationen. Die beiden letztgenannten Vereinigungen erfüllten in den 1780er-Jahren weitgehend die Aufgaben der 1776 in Bonn gegründeten Frei­ maurerloge, die sich infolge der Repressalien Kaiserin Maria Theresias aufgelöst hatte. Zu den Mitgliedern des 1781 gegründeten Bonner Kapitels des Illumina­ tenordens gehörten viele, die Beethoven eng verbunden waren, darunter der Hornist und spätere Verleger Nikolaus Simrock sowie der Geiger Franz Ries, der Vater von Beethovens Schüler und Freund Ferdinand Ries. Neefe war ein Anführer dieser Gruppe. Als der Illuminatenorden 1785 aufgelöst wurde, setzte 18

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der Bonner Zirkel seine Aktivitäten in der Lese- und Erholungsgesellschaft fort. Zu ihren Mitgliedern zählten viele der Schlüsselfiguren rund um Beethoven während seiner letzten Bonner Jahre, auch Graf Ferdinand Waldstein, der Beethoven in Wien wesentliche Kontakte vermittelte und in das Stammbuch des jungen Komponisten schrieb: »Durch ununterbrochenen Fleiß erhalten Sie: Mozart’s Geist aus Haydens [sic] Händen.« Welche Bedeutung die Lesegesell­ schaft für Beethoven hatte, mag man an der Tatsache ermessen, dass sie die Kantate auf den Tod Kaiser Josephs II. in Auftrag gab. Eine weitere wesentliche, vielfach noch unterschätzte Figur in einer prä­ genden Phase von Beethovens Erziehung war der »Säkularkleriker« Eulogius Schneider, der sich dem Prinzip der Volksauf klärung verschrieben hatte: Die Grundsätze der Auf klärung müssten öffentlich verkündet werden, um solcher­ art die Freiheit der Gedanken, die Menschenrechte, die Überwindung der Aris­ tokratie und die Zurückweisung der kirchlichen Autorität zu fördern. Liberté,

Links: Eulogius Schneider: »Gedichte«. Titelseite. Privatsammlung Luigi Bellofatto Rechts: Eine Seite aus »Gedichte«, die Beethoven als Abonnenten ausweist: Hr. van Be[e]thoven, Hofmus[ikus]. Privatsammlung Luigi Bellofatto

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schaft 1794 hinweg, weniger als zwei Jahre nach Beethovens Abreise. Niemand jedoch hätte diese Ereignisse ein paar Jahre zuvor prophezeien können. Als ältester überlebender Sohn eines Alkoholikers – seine geliebte Mutter war bereits 1787 gestorben – schlug Beethoven psychologisch betrachtet den Pfad in Richtung Kompensation durch außergewöhnliche Leistungen ein. An­ dererseits dürfte das tyrannische, verletzende Verhalten seines Vaters Beetho­ vens Widerstandskräfte gestählt haben. Insgesamt schufen seine schwierige Va­ terbeziehung und der frühe Verlust seiner Mutter eine Leere, die von Freunden, Vorbildern, Kunst und Ideen gefüllt wurde. Um 1784 geriet Beethoven über seine enge Freundschaft mit Franz Gerhard Wegeler in den Einflussbereich der kultivierten Familie von Breuning, die ihn mit deutscher Literatur und Poesie vertraut machte. Während der Sommer dieser Jahre dürfte er immer einige Zeit auf dem Landsitz der von Breuning in Kerpen westlich von Köln verbracht haben, wo die verwitwete Helena von Breuning eine schützende Mutterrolle gegenüber Beethoven einnahm. Wegeler wiederum studierte während der 1780er-Jahre in Wien Medizin und half, den Weg für Beethovens Rückkehr nach Wien zu ebnen. Jahre später, als ihn die Symptome seiner unheilbaren Taubheit quälten, bekannte Beethoven Wegeler gegenüber dieses Problem. Ein bedeutendes Vorbild war der Komponist und Hoforganist Christian Gottlob Neefe, ein aus Sachsen stammender Protestant, der in Leipzig studiert hatte. Neefe war ein begeisterter Bewunderer Johann Sebastian Bachs und eifrig bemüht, dessen Vermächtnis weiterzugeben. Auch seine ersten Begegnungen mit der Musik von Carl Philipp Emanuel Bach, Haydn und Mozart verdankte Beethoven Neefe. Unter Neefes eigenen größeren Kompositionen befinden sich zwölf beeindruckende Serenaden nach Oden von Friedrich Gottlieb Klopstock. Im Jahr 1782 vertonte Neefe mit Dem Unendlichen (für vier Chorstimmen und Orchester) eine weitere Ode Klopstocks. Dieses Stück ist Teil jenes größeren Ganzen, aus dem acht Jahre später Beethovens gewichtige Kantate auf den Tod Kaiser Josephs II. hervorgehen sollte. Neefe war Freimaurer, übernahm später einen Part im Illuminatenorden und trat schließlich der Lesegesellschaft bei – allesamt der Auf klärung nahestehen­ de Organisationen. Die beiden letztgenannten Vereinigungen erfüllten in den 1780er-Jahren weitgehend die Aufgaben der 1776 in Bonn gegründeten Frei­ maurerloge, die sich infolge der Repressalien Kaiserin Maria Theresias aufgelöst hatte. Zu den Mitgliedern des 1781 gegründeten Bonner Kapitels des Illumina­ tenordens gehörten viele, die Beethoven eng verbunden waren, darunter der Hornist und spätere Verleger Nikolaus Simrock sowie der Geiger Franz Ries, der Vater von Beethovens Schüler und Freund Ferdinand Ries. Neefe war ein Anführer dieser Gruppe. Als der Illuminatenorden 1785 aufgelöst wurde, setzte 18

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der Bonner Zirkel seine Aktivitäten in der Lese- und Erholungsgesellschaft fort. Zu ihren Mitgliedern zählten viele der Schlüsselfiguren rund um Beethoven während seiner letzten Bonner Jahre, auch Graf Ferdinand Waldstein, der Beethoven in Wien wesentliche Kontakte vermittelte und in das Stammbuch des jungen Komponisten schrieb: »Durch ununterbrochenen Fleiß erhalten Sie: Mozart’s Geist aus Haydens [sic] Händen.« Welche Bedeutung die Lesegesell­ schaft für Beethoven hatte, mag man an der Tatsache ermessen, dass sie die Kantate auf den Tod Kaiser Josephs II. in Auftrag gab. Eine weitere wesentliche, vielfach noch unterschätzte Figur in einer prä­ genden Phase von Beethovens Erziehung war der »Säkularkleriker« Eulogius Schneider, der sich dem Prinzip der Volksauf klärung verschrieben hatte: Die Grundsätze der Auf klärung müssten öffentlich verkündet werden, um solcher­ art die Freiheit der Gedanken, die Menschenrechte, die Überwindung der Aris­ tokratie und die Zurückweisung der kirchlichen Autorität zu fördern. Liberté,

Links: Eulogius Schneider: »Gedichte«. Titelseite. Privatsammlung Luigi Bellofatto Rechts: Eine Seite aus »Gedichte«, die Beethoven als Abonnenten ausweist: Hr. van Be[e]thoven, Hofmus[ikus]. Privatsammlung Luigi Bellofatto

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égalité, fraternité – mit Vehemenz vertrat Schneider die Ideale der Französischen Revolution und versuchte diese praktisch umzusetzen. Doch sein leidenschaft­ liches Eintreten für die Prinzipien der Auf klärung ließen Schneider auf jeder seiner Karrierestufen Grenzen der Konvention und der Autorität überschreiten, was immer wieder Konflikte verursachte. Im Jahr 1789, am Vorabend der Revolution, erhielt Schneider seine Berufung zum Professor der Ästhetik und der Kunst an der Bonner Universität. Gleich­ zeitig begann Schiller Geschichte an der Universität von Jena zu unterrichten. Und es war exakt dieses Revolutionsjahr, in dem sich der um eine Generation jüngere Beethoven an der Universität von Bonn einschrieb. Dieses zeitliche Zu­ sammentreffen war durchaus dazu angetan, den jungen Komponisten zu beein­ drucken, sah er es doch als Beispiel dafür, wie Ideen das menschliche Schicksal ganz real beeinflussen konnten. Unter all seinen Lehrern war Schneider der-­ jenige, an dessen Karriere bald höchst anschaulich sowohl Möglichkeiten als auch Gefahren politischen Handelns abzulesen waren. Viele seiner Texte stellte Schneider in dem Band Gedichte zusammen, der 1790 publiziert wurde. Auf der Subskriptionsliste für das Buch stand auch »Hofmusikus Bethoven« [sic] (Abb. S. 19). Eine ganze Reihe von Belegen zeugt davon, wie bedeutsam Schneider für Beethoven in jener Zeit war. Es war Schneider, der – als Mitglied der Lesegesellschaft – den Vorschlag machte, Kaiser Josephs II. Tod mit einem musikalischen Werk zu gedenken, womit er die Joseph-Kantate initiierte. Schneider selbst verfasste eine poetische Elegie auf den Tod Josephs II., die in seine Gedichte Eingang fand. Teile des KantatenTextes, darunter die Phrase »Ungeheuer des Fanatismus«, widerspiegeln Schnei­ ders Einfluss, dessen Interesse für zeitgenössische Poeten wie Klopstock oder Gellert sich mit jenem Beethovens deckt. Zweifellos hinterließ der talentierte Redner Schneider mit seinem Gespür für rhetorisches Pathos einen tiefen Ein­ druck bei dem jungen Komponisten. Besonders nachhaltig dürfte Schneiders scharfe Kritik am katholischen Ritus und an der strengen kirchlichen Lehrmei­ nung im Verband mit seinen deistischen oder pandeistischen Überzeugungen gewirkt haben. Eine der Dichtungen, in denen Schneider seine Gesinnung darlegte, ist An die Theologie: Lebe wohl Theologie! Lange hast du mich gequälet, Weibermärchen mir erzählet, Und gedacht, ich glaubte sie. Speise, wen du willst, mit Luft, Hülle dich in falschen Schimmer: 20

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Lebe wohl! Uns trennt auf immer Eine himmelweite Kluft. Ganz anders klingt, was Schneider über die Natur schrieb: Heilige Mutter Natur! Bist du denn stiefmütterlich mit Dem katholischen Deutschlande umgegangen? Nein! Wer dies behauptet, der Ist ein Undankbarer, ein Lästerer wider dich … Heilige Mutter Natur! Beethovens Unwille, sich dem Dogma zu fügen oder eine Messe zu besuchen, ist ebenso gut dokumentiert wie seine leidenschaftliche Hingabe an die Natur. Oft zog er während der Sommermonate aus Wien in eines der nahen länd­ lichen Dörfer, eine langjährige Gewohnheit, die mit seinem sechsmonatigen Aufenthalt in Heiligenstadt 1802 ihren Anfang nahm. Wahrscheinlich erinnerte ihn die Landschaft um Heiligenstadt an das Rheinland, ist die Lage von Bonn mit dem Rhein und dem Siebengebirge doch jener von Wien an der Donau mit dem Kahlenberg und dem Leopoldsberg durchaus vergleichbar, auch wenn sich Bonn und Siebengebirge an gegenüberliegenden Rheinufern befinden. Aufgrund seiner unverblümt geäußerten Ansichten und scharfen Attacken auf den Katholizismus wurde Eulogius Schneider 1791 in Bonn entlassen, fand jedoch eine neue Wirkungsstätte im nahen Straßburg in Frankreich, wo er unter dem Revolutionsregime schnell berühmt wurde. Schneider war führend am Sturz von Bürgermeister Philippe Friedrich Dietrich beteiligt und über­ setzte 1792 als erster die Marseillaise für die vorwiegend Deutsch sprechenden Elsässer. Etwa zur selben Zeit entwickelte der aus Deutschland stammende Pariser Klavierbauer Tobias Schmidt den Prototyp einer Hinrichtungsmaschine, die bald zur Anwendung kommen sollte. Schmidts Guillotine-Patent stellte sich als weitaus profitabler heraus als der Verkauf seiner Musikinstrumente. Schneider trug entscheidend dazu bei, dass Joseph II. in Beethovens Joseph-Kantate als Bezwinger des »Ungeheuers des Fanatismus« dargestellt wurde. Die Ironie daran ist, dass Schneider in glühender politischer Leiden­ schaft selbst Grenzen überschritt und als öffentlicher Ankläger während der Schreckensherrschaft 1793 dreißig Menschen auf die Guillotine schickte. Kurz danach wurde auch Schneider ein Opfer des Regimes von Maximilien de Robes­pierre: Er wurde verhaftet und im April 1794 enthauptet (Abb. S. 22). Beethoven hat Schneider auch in späteren Jahren nicht vergessen, was an einer Eintragung in einem seiner Konversationshefte abzulesen ist. VO N B O N N NAC H W I E N

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égalité, fraternité – mit Vehemenz vertrat Schneider die Ideale der Französischen Revolution und versuchte diese praktisch umzusetzen. Doch sein leidenschaft­ liches Eintreten für die Prinzipien der Auf klärung ließen Schneider auf jeder seiner Karrierestufen Grenzen der Konvention und der Autorität überschreiten, was immer wieder Konflikte verursachte. Im Jahr 1789, am Vorabend der Revolution, erhielt Schneider seine Berufung zum Professor der Ästhetik und der Kunst an der Bonner Universität. Gleich­ zeitig begann Schiller Geschichte an der Universität von Jena zu unterrichten. Und es war exakt dieses Revolutionsjahr, in dem sich der um eine Generation jüngere Beethoven an der Universität von Bonn einschrieb. Dieses zeitliche Zu­ sammentreffen war durchaus dazu angetan, den jungen Komponisten zu beein­ drucken, sah er es doch als Beispiel dafür, wie Ideen das menschliche Schicksal ganz real beeinflussen konnten. Unter all seinen Lehrern war Schneider der-­ jenige, an dessen Karriere bald höchst anschaulich sowohl Möglichkeiten als auch Gefahren politischen Handelns abzulesen waren. Viele seiner Texte stellte Schneider in dem Band Gedichte zusammen, der 1790 publiziert wurde. Auf der Subskriptionsliste für das Buch stand auch »Hofmusikus Bethoven« [sic] (Abb. S. 19). Eine ganze Reihe von Belegen zeugt davon, wie bedeutsam Schneider für Beethoven in jener Zeit war. Es war Schneider, der – als Mitglied der Lesegesellschaft – den Vorschlag machte, Kaiser Josephs II. Tod mit einem musikalischen Werk zu gedenken, womit er die Joseph-Kantate initiierte. Schneider selbst verfasste eine poetische Elegie auf den Tod Josephs II., die in seine Gedichte Eingang fand. Teile des KantatenTextes, darunter die Phrase »Ungeheuer des Fanatismus«, widerspiegeln Schnei­ ders Einfluss, dessen Interesse für zeitgenössische Poeten wie Klopstock oder Gellert sich mit jenem Beethovens deckt. Zweifellos hinterließ der talentierte Redner Schneider mit seinem Gespür für rhetorisches Pathos einen tiefen Ein­ druck bei dem jungen Komponisten. Besonders nachhaltig dürfte Schneiders scharfe Kritik am katholischen Ritus und an der strengen kirchlichen Lehrmei­ nung im Verband mit seinen deistischen oder pandeistischen Überzeugungen gewirkt haben. Eine der Dichtungen, in denen Schneider seine Gesinnung darlegte, ist An die Theologie: Lebe wohl Theologie! Lange hast du mich gequälet, Weibermärchen mir erzählet, Und gedacht, ich glaubte sie. Speise, wen du willst, mit Luft, Hülle dich in falschen Schimmer: 20

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Lebe wohl! Uns trennt auf immer Eine himmelweite Kluft. Ganz anders klingt, was Schneider über die Natur schrieb: Heilige Mutter Natur! Bist du denn stiefmütterlich mit Dem katholischen Deutschlande umgegangen? Nein! Wer dies behauptet, der Ist ein Undankbarer, ein Lästerer wider dich … Heilige Mutter Natur! Beethovens Unwille, sich dem Dogma zu fügen oder eine Messe zu besuchen, ist ebenso gut dokumentiert wie seine leidenschaftliche Hingabe an die Natur. Oft zog er während der Sommermonate aus Wien in eines der nahen länd­ lichen Dörfer, eine langjährige Gewohnheit, die mit seinem sechsmonatigen Aufenthalt in Heiligenstadt 1802 ihren Anfang nahm. Wahrscheinlich erinnerte ihn die Landschaft um Heiligenstadt an das Rheinland, ist die Lage von Bonn mit dem Rhein und dem Siebengebirge doch jener von Wien an der Donau mit dem Kahlenberg und dem Leopoldsberg durchaus vergleichbar, auch wenn sich Bonn und Siebengebirge an gegenüberliegenden Rheinufern befinden. Aufgrund seiner unverblümt geäußerten Ansichten und scharfen Attacken auf den Katholizismus wurde Eulogius Schneider 1791 in Bonn entlassen, fand jedoch eine neue Wirkungsstätte im nahen Straßburg in Frankreich, wo er unter dem Revolutionsregime schnell berühmt wurde. Schneider war führend am Sturz von Bürgermeister Philippe Friedrich Dietrich beteiligt und über­ setzte 1792 als erster die Marseillaise für die vorwiegend Deutsch sprechenden Elsässer. Etwa zur selben Zeit entwickelte der aus Deutschland stammende Pariser Klavierbauer Tobias Schmidt den Prototyp einer Hinrichtungsmaschine, die bald zur Anwendung kommen sollte. Schmidts Guillotine-Patent stellte sich als weitaus profitabler heraus als der Verkauf seiner Musikinstrumente. Schneider trug entscheidend dazu bei, dass Joseph II. in Beethovens Joseph-Kantate als Bezwinger des »Ungeheuers des Fanatismus« dargestellt wurde. Die Ironie daran ist, dass Schneider in glühender politischer Leiden­ schaft selbst Grenzen überschritt und als öffentlicher Ankläger während der Schreckensherrschaft 1793 dreißig Menschen auf die Guillotine schickte. Kurz danach wurde auch Schneider ein Opfer des Regimes von Maximilien de Robes­pierre: Er wurde verhaftet und im April 1794 enthauptet (Abb. S. 22). Beethoven hat Schneider auch in späteren Jahren nicht vergessen, was an einer Eintragung in einem seiner Konversationshefte abzulesen ist. VO N B O N N NAC H W I E N

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der Gründung der Mainzer Republik reiste er 1793 als deren Abgesandter nach Paris. Am 30. März – zwei Tage, bevor Eulogius Schneider enthauptet wurde – nahm der Nationalkonvent das Ansuchen der Delegierten zur Angliederung des jungen Freistaates Mainz an Frankreich an. Zu Forsters Leidwesen wurde das Gebiet der Mainzer Republik bald darauf wieder von österreichisch-preu­ ßischen Koalitionstruppen erobert. Forster, nun zum Verräter erklärt, starb Anfang 1794 einsam in Paris. In den von Schiller und Goethe gemeinsam verfassten Xenien, satirischen Epigrammen von 1797, bezogen sich die beiden sowohl auf Schneider als auch auf Forster. Das Epigramm mit der Nr. 337 trägt den Titel Unglückliche Eilfertigkeit und kritisiert Schneiders unermüdlichen Ehrgeiz und jähen Fall: Ach, wie sie Freiheit schrien und Gleichheit, geschwind wollt’ ich folgen, Und weil die Trepp’ mir zu lang deuchte, so sprang ich vom Dach.

Leben und Karrieren standen in den Jahren nach der Revolution nicht selten auf des Messers Schneide. Ein Beispiel dafür ist auch Georg Forster, der bekannte Naturforscher, Ethnologe und Reiseschriftsteller, der seinen Vater Johann Forster auf James Cooks zweiter Weltumsegelung begleitete. Georg Forsters Buch, das 1780 unter dem Titel Reise um die Welt auf Deutsch er­ schien, machte ihn berühmt und beeinflusste Goethe, Johann Gottfried Her­ der und Alexander von Humboldt. In einem Tagebuch, das Beethoven 1812 zu schreiben begann, kopierte er Ausschnitte aus Forsters deutscher Übersetzung von Sakontala, einem Sanskrit-Drama aus dem 5. Jahrhundert von Kalidasa, der dafür alte indische Quellen verwendet hatte. Dieselbe Übersetzung faszi­ nierte in den 1790er-Jahren Goethe und auch Schiller, der festhielt, »dass es im ganzen griechischen Altertum keine poetische Darstellung schöner Weib­ lichkeit oder schöner Liebe gibt, die nur von Ferne an die Sakontala reichte«. Forster, prominenter Freimaurer und wohl auch Illuminat, wurde 1788 Ober­ bibliothekar an der Universität Mainz, vier Jahre, bevor die Franzosen diesen Teil des Rheinlands besetzten. Als Anhänger der Revolutionsideale Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit schloss er sich den Bestrebungen an, auf deut­ schem Boden eine Republik nach französischem Modell zu gründen. Nach

Ein weiteres Beispiel für die prekäre Lage nach der Revolution ist von Beet­ hovens engem Freund Franz Wegeler überliefert. Als er, Rektor der Bonner Universität und versierter Arzt, den Studenten jeden Kontakt mit infizierten französischen Soldaten während der Besetzung untersagte, um die Verbreitung ansteckender Krankheiten zu verhindern, wurde Wegeler in einem Artikel der Pariser Tageszeitung Moniteur bezichtigt, fanatischer Gegner der Republik Frankreich zu sein. »Damals«, hielt er später fest, »war noch la queue de Robespierre kaum weniger giftig, als sein Kopf es gewesen, und es galt den meinigen zu retten.« Vernünftigerweise folgte er darauf hin Beethoven 1794 nach Wien. Wie findet der von politischen Idealen inspirierte Künstler inmitten pola­ risierender Ideologien und wiederkehrender Kriegswirren seinen Weg? In Beethovens Augen brachte kein Künstler durch Vernunft gebändigte politische Überzeugungen so gut zum Ausdruck wie Friedrich Schiller, dessen Ideen einer ästhetischen Erziehung großen Einfluss auf den Komponisten hatten. Eine Stu­ die über Schillers Wirkung auf Beethoven in Bonn macht darauf aufmerksam, wie zeitgenössische Dramatik und Literatur die Ansichten des jungen Kompo­ nisten geformt haben und wie er später mit eigenen Werken auf die Denker und Schriftsteller seiner Zeit reagierte. Schiller bekundete keine besondere Affinität zur Revolution in Frankreich. Doch aufgrund des Renommees, das ihm sein frühes Drama Die Räuber (1781) in revolutionären Kreisen eingebracht hatte, erhob der Nationalkonvent »Monsieur Gille« zum Ehrenbürger der Republik. Eine Ironie ist das insofern, als dieses Drama eine gnadenlose Darstellung von reinstem Besitzindividualis­ mus ist: Karl Moor, Idealist, Kopf einer Räuberbande und von Schiller in einem

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VO N B O N N NAC H W I E N

Links: Porträt Eulogius Schneider. Aus: »Gedichte«. Privatsammlung Luigi Bellofatto Rechts: Christian Wilhelm Ketterlinus: »Eulogius Schneiders Hinrichtung am 1. April 1794 in Paris«. Kupferstich. Historisches Museum Straßburg.

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der Gründung der Mainzer Republik reiste er 1793 als deren Abgesandter nach Paris. Am 30. März – zwei Tage, bevor Eulogius Schneider enthauptet wurde – nahm der Nationalkonvent das Ansuchen der Delegierten zur Angliederung des jungen Freistaates Mainz an Frankreich an. Zu Forsters Leidwesen wurde das Gebiet der Mainzer Republik bald darauf wieder von österreichisch-preu­ ßischen Koalitionstruppen erobert. Forster, nun zum Verräter erklärt, starb Anfang 1794 einsam in Paris. In den von Schiller und Goethe gemeinsam verfassten Xenien, satirischen Epigrammen von 1797, bezogen sich die beiden sowohl auf Schneider als auch auf Forster. Das Epigramm mit der Nr. 337 trägt den Titel Unglückliche Eilfertigkeit und kritisiert Schneiders unermüdlichen Ehrgeiz und jähen Fall: Ach, wie sie Freiheit schrien und Gleichheit, geschwind wollt’ ich folgen, Und weil die Trepp’ mir zu lang deuchte, so sprang ich vom Dach.

Leben und Karrieren standen in den Jahren nach der Revolution nicht selten auf des Messers Schneide. Ein Beispiel dafür ist auch Georg Forster, der bekannte Naturforscher, Ethnologe und Reiseschriftsteller, der seinen Vater Johann Forster auf James Cooks zweiter Weltumsegelung begleitete. Georg Forsters Buch, das 1780 unter dem Titel Reise um die Welt auf Deutsch er­ schien, machte ihn berühmt und beeinflusste Goethe, Johann Gottfried Her­ der und Alexander von Humboldt. In einem Tagebuch, das Beethoven 1812 zu schreiben begann, kopierte er Ausschnitte aus Forsters deutscher Übersetzung von Sakontala, einem Sanskrit-Drama aus dem 5. Jahrhundert von Kalidasa, der dafür alte indische Quellen verwendet hatte. Dieselbe Übersetzung faszi­ nierte in den 1790er-Jahren Goethe und auch Schiller, der festhielt, »dass es im ganzen griechischen Altertum keine poetische Darstellung schöner Weib­ lichkeit oder schöner Liebe gibt, die nur von Ferne an die Sakontala reichte«. Forster, prominenter Freimaurer und wohl auch Illuminat, wurde 1788 Ober­ bibliothekar an der Universität Mainz, vier Jahre, bevor die Franzosen diesen Teil des Rheinlands besetzten. Als Anhänger der Revolutionsideale Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit schloss er sich den Bestrebungen an, auf deut­ schem Boden eine Republik nach französischem Modell zu gründen. Nach

Ein weiteres Beispiel für die prekäre Lage nach der Revolution ist von Beet­ hovens engem Freund Franz Wegeler überliefert. Als er, Rektor der Bonner Universität und versierter Arzt, den Studenten jeden Kontakt mit infizierten französischen Soldaten während der Besetzung untersagte, um die Verbreitung ansteckender Krankheiten zu verhindern, wurde Wegeler in einem Artikel der Pariser Tageszeitung Moniteur bezichtigt, fanatischer Gegner der Republik Frankreich zu sein. »Damals«, hielt er später fest, »war noch la queue de Robespierre kaum weniger giftig, als sein Kopf es gewesen, und es galt den meinigen zu retten.« Vernünftigerweise folgte er darauf hin Beethoven 1794 nach Wien. Wie findet der von politischen Idealen inspirierte Künstler inmitten pola­ risierender Ideologien und wiederkehrender Kriegswirren seinen Weg? In Beethovens Augen brachte kein Künstler durch Vernunft gebändigte politische Überzeugungen so gut zum Ausdruck wie Friedrich Schiller, dessen Ideen einer ästhetischen Erziehung großen Einfluss auf den Komponisten hatten. Eine Stu­ die über Schillers Wirkung auf Beethoven in Bonn macht darauf aufmerksam, wie zeitgenössische Dramatik und Literatur die Ansichten des jungen Kompo­ nisten geformt haben und wie er später mit eigenen Werken auf die Denker und Schriftsteller seiner Zeit reagierte. Schiller bekundete keine besondere Affinität zur Revolution in Frankreich. Doch aufgrund des Renommees, das ihm sein frühes Drama Die Räuber (1781) in revolutionären Kreisen eingebracht hatte, erhob der Nationalkonvent »Monsieur Gille« zum Ehrenbürger der Republik. Eine Ironie ist das insofern, als dieses Drama eine gnadenlose Darstellung von reinstem Besitzindividualis­ mus ist: Karl Moor, Idealist, Kopf einer Räuberbande und von Schiller in einem

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Links: Porträt Eulogius Schneider. Aus: »Gedichte«. Privatsammlung Luigi Bellofatto Rechts: Christian Wilhelm Ketterlinus: »Eulogius Schneiders Hinrichtung am 1. April 1794 in Paris«. Kupferstich. Historisches Museum Straßburg.

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Kommentar einmal als Ungeheuer bezeichnet, teilt die Macht nicht, sondern schwelgt in gewalttätiger Kriminalität – der Zweck heiligt die Mittel, lautet das Prinzip. Die Räuber sind kein Drama über Rebellion an sich, sondern eine Kritik am Ethos der Rebellen und an der anmaßenden Ambition Karl Moors. Friedrich Schillers Don Carlos, 1787 – noch vor seinem Umzug nach Jena und später nach Weimar – vollendet, vermittelt, dass individuelle Selbstkultivierung vor jedem revolutionären Idealismus steht. Signifikant taucht dieses Werk in Beethovens Bonner Stammbuch, aber auch in anderen Quellen auf. Von der in­ tensiven Beschäftigung des Komponisten mit diesem Werk zeugen zwei Zitate, die er in den 1790er-Jahren Freunden übermittelte: Ich bin nicht schlimm, mein Vater – heißes Blut Ist meine Bosheit, mein Verbrechen Jugend. Schlimm bin ich nicht, schlimm wahrlich nicht – wenn auch Oft wilde Wallungen mein Herz verklagen, mein Herz ist gut. (2. Akt, 2. Auftritt) Die Wahrheit ist vorhanden für den Weisen, die Schönheit für ein fühlend Herz. Sie beide gehören für einander. (4. Akt, 21. Auftritt) Das erste Zitat stammt von dem verzweifelten Carlos, dessen geliebte Elisabeth von Valois seinen Vater, König Philipp, geheiratet hatte. Im zweiten Zitat spricht Marquis de Posa eben jene Königin Elisabeth an. Er tritt für die Einheit von Denken und Fühlen, von Kopf und Herz ein, was Schiller und Beethoven glei­ chermaßen überzeugt befürworteten. Aus derselben Szene im 4. Akt stammt ein weiteres Zitat in Beethovens Bonner Abschieds-Stammbuch. Er hält einen Gedanken Marquis de Posas fest, den dieser kurz vor seinem freiwilligen Opfer­ tod an Carlos und die Nachwelt richtet: Sagen Sie ihm, dass er für die Träume seiner Jugend Soll Achtung tragen, wenn er Mann sein wird, Nicht öffnen soll dem tötenden Insekte Gerühmter besserer Vernunft das Herz Der zarten Götterblume – dass er nicht Soll irre werden, wenn des Staubes Weisheit Begeisterung, die Himmelstochter, lästert. 24

EINS

Im Januar 1793, ein paar Wochen nach Beethovens Eintreffen in Wien, berichte­ te Schillers Freund Bartholomäus Ludwig Fischenich aus Bonn Charlotte Schil­ ler, dass der junge Komponist daran denke, ein anderes bekanntes Werk des Poeten zu vertonen, und zwar eine Ode aus der Entstehungszeit des Don Carlos. Fischenich beschrieb Beethoven als einen »jungen Mann, dessen musikalische Talente allgemein angerühmt werden und den nun der Kurfürst nach Wien zu Haydn geschickt hat. Er wird«, fuhr Fischenich fort, »auch Schillers ›Freude‹, und zwar jede Strophe bearbeiten. Ich erwarte etwas Vollkommenes, denn so viel ich ihn kenne, ist er ganz für das Große und Erhabene.« Erst Jahrzehnte später, mit der neunten Sinfonie, erfüllte Beethoven sein jugendliches Vorhaben, Schillers An die Freude zu vertonen. Mit dieser späten Verwirklichung demonstrierte Beethoven wahrlich, dass er »die Träume seiner Jugend« geachtet hat, während er nach dem »Großen und Erhabenen« suchte, und dass er nicht daran »irre« wurde, wenn er hörte, dass »des Staubes Weis­ heit / Begeisterung, die Himmelstochter, lästerte«. Schiller selbst hatte sich in einem Brief an seinen Freund und Mäzen Christian Gottfried Körner aus dem Jahr 1800 von der Ode distanziert. Er bezeichnete sie als »von der Realität ab­ gewandt« und dass der Wert, den das Gedicht hat, »auch nur für uns und nicht für die Welt, noch für die Dichtkunst« gilt. Wie erstaunt wäre wohl Schiller gewesen, hätte er erlebt, wie später dieses Gedicht durch Beethovens Musik die ganze Welt umschließen und Millionen auf beispiellose Weise in seinen Bann ziehen sollte. Das literarische Engagement des jungen Beethoven zeigt sich auch in der erhaltenen Skizze einer Vertonung von Mephistopheles’ Flohlied, einer Schlüsselszene in Auerbachs Keller aus Goethes Faust. Es ist beeindruckend, dass der junge Komponist Goethes Faust, ein Fragment bereits kurz nach dessen Veröffentlichung 1790 kannte und darauf musikalisch antwortete, auch wenn die definitive Realisierung der Vertonung erst 1809 vollendet werden sollte. Auerbachs Keller, in dem in Goethes Drama das Flohlied gesungen wurde, ist sowohl ein realer Ort in Leipzig als auch fiktive Kulisse, vor der sich Leben und Kunst mischen. Er entspricht sowohl dem Gasthaus Zehrgarten auf dem Bon­ ner Marktplatz, einem bevorzugten Treffpunkt in Beethovens Jugendjahren, als auch den Wirtshäusern und Weinlokalen, in denen sich der Komponist mit Freunden in seinen späteren Wiener Jahren traf. Goethe besuchte Auerbachs Keller als Student in den Jahren zwischen 1765 und 1768, was dem hochpoliti­ schen Lied – eine scharfe Kritik an Nepotismus und Günstlingswirtschaft – eine autobiografische Note verleiht. Im Faust ist Mephistos Flohlied eines aus einer Handvoll derber Trinklieder, die in Auerbachs Keller gesungen werden. Das Lied beginnt mit »Es war einmal VO N B O N N NAC H W I E N

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Kommentar einmal als Ungeheuer bezeichnet, teilt die Macht nicht, sondern schwelgt in gewalttätiger Kriminalität – der Zweck heiligt die Mittel, lautet das Prinzip. Die Räuber sind kein Drama über Rebellion an sich, sondern eine Kritik am Ethos der Rebellen und an der anmaßenden Ambition Karl Moors. Friedrich Schillers Don Carlos, 1787 – noch vor seinem Umzug nach Jena und später nach Weimar – vollendet, vermittelt, dass individuelle Selbstkultivierung vor jedem revolutionären Idealismus steht. Signifikant taucht dieses Werk in Beethovens Bonner Stammbuch, aber auch in anderen Quellen auf. Von der in­ tensiven Beschäftigung des Komponisten mit diesem Werk zeugen zwei Zitate, die er in den 1790er-Jahren Freunden übermittelte: Ich bin nicht schlimm, mein Vater – heißes Blut Ist meine Bosheit, mein Verbrechen Jugend. Schlimm bin ich nicht, schlimm wahrlich nicht – wenn auch Oft wilde Wallungen mein Herz verklagen, mein Herz ist gut. (2. Akt, 2. Auftritt) Die Wahrheit ist vorhanden für den Weisen, die Schönheit für ein fühlend Herz. Sie beide gehören für einander. (4. Akt, 21. Auftritt) Das erste Zitat stammt von dem verzweifelten Carlos, dessen geliebte Elisabeth von Valois seinen Vater, König Philipp, geheiratet hatte. Im zweiten Zitat spricht Marquis de Posa eben jene Königin Elisabeth an. Er tritt für die Einheit von Denken und Fühlen, von Kopf und Herz ein, was Schiller und Beethoven glei­ chermaßen überzeugt befürworteten. Aus derselben Szene im 4. Akt stammt ein weiteres Zitat in Beethovens Bonner Abschieds-Stammbuch. Er hält einen Gedanken Marquis de Posas fest, den dieser kurz vor seinem freiwilligen Opfer­ tod an Carlos und die Nachwelt richtet: Sagen Sie ihm, dass er für die Träume seiner Jugend Soll Achtung tragen, wenn er Mann sein wird, Nicht öffnen soll dem tötenden Insekte Gerühmter besserer Vernunft das Herz Der zarten Götterblume – dass er nicht Soll irre werden, wenn des Staubes Weisheit Begeisterung, die Himmelstochter, lästert. 24

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Im Januar 1793, ein paar Wochen nach Beethovens Eintreffen in Wien, berichte­ te Schillers Freund Bartholomäus Ludwig Fischenich aus Bonn Charlotte Schil­ ler, dass der junge Komponist daran denke, ein anderes bekanntes Werk des Poeten zu vertonen, und zwar eine Ode aus der Entstehungszeit des Don Carlos. Fischenich beschrieb Beethoven als einen »jungen Mann, dessen musikalische Talente allgemein angerühmt werden und den nun der Kurfürst nach Wien zu Haydn geschickt hat. Er wird«, fuhr Fischenich fort, »auch Schillers ›Freude‹, und zwar jede Strophe bearbeiten. Ich erwarte etwas Vollkommenes, denn so viel ich ihn kenne, ist er ganz für das Große und Erhabene.« Erst Jahrzehnte später, mit der neunten Sinfonie, erfüllte Beethoven sein jugendliches Vorhaben, Schillers An die Freude zu vertonen. Mit dieser späten Verwirklichung demonstrierte Beethoven wahrlich, dass er »die Träume seiner Jugend« geachtet hat, während er nach dem »Großen und Erhabenen« suchte, und dass er nicht daran »irre« wurde, wenn er hörte, dass »des Staubes Weis­ heit / Begeisterung, die Himmelstochter, lästerte«. Schiller selbst hatte sich in einem Brief an seinen Freund und Mäzen Christian Gottfried Körner aus dem Jahr 1800 von der Ode distanziert. Er bezeichnete sie als »von der Realität ab­ gewandt« und dass der Wert, den das Gedicht hat, »auch nur für uns und nicht für die Welt, noch für die Dichtkunst« gilt. Wie erstaunt wäre wohl Schiller gewesen, hätte er erlebt, wie später dieses Gedicht durch Beethovens Musik die ganze Welt umschließen und Millionen auf beispiellose Weise in seinen Bann ziehen sollte. Das literarische Engagement des jungen Beethoven zeigt sich auch in der erhaltenen Skizze einer Vertonung von Mephistopheles’ Flohlied, einer Schlüsselszene in Auerbachs Keller aus Goethes Faust. Es ist beeindruckend, dass der junge Komponist Goethes Faust, ein Fragment bereits kurz nach dessen Veröffentlichung 1790 kannte und darauf musikalisch antwortete, auch wenn die definitive Realisierung der Vertonung erst 1809 vollendet werden sollte. Auerbachs Keller, in dem in Goethes Drama das Flohlied gesungen wurde, ist sowohl ein realer Ort in Leipzig als auch fiktive Kulisse, vor der sich Leben und Kunst mischen. Er entspricht sowohl dem Gasthaus Zehrgarten auf dem Bon­ ner Marktplatz, einem bevorzugten Treffpunkt in Beethovens Jugendjahren, als auch den Wirtshäusern und Weinlokalen, in denen sich der Komponist mit Freunden in seinen späteren Wiener Jahren traf. Goethe besuchte Auerbachs Keller als Student in den Jahren zwischen 1765 und 1768, was dem hochpoliti­ schen Lied – eine scharfe Kritik an Nepotismus und Günstlingswirtschaft – eine autobiografische Note verleiht. Im Faust ist Mephistos Flohlied eines aus einer Handvoll derber Trinklieder, die in Auerbachs Keller gesungen werden. Das Lied beginnt mit »Es war einmal VO N B O N N NAC H W I E N

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ein König, der hatt’ einen großen Floh« und mündet in einem eindringlich-lau­ ten Chorrefrain, mit dem die letzten Zeilen, in denen es um diese enervie­ renden Parasiten geht, betont werden: »Wir knicken und ersticken / Doch gleich, wenn einer sticht.« Das abschließende, von allen trinkfreudigen Gästen gesungene Couplet fasst die politische Bedeutung zusammen: Der nutzlose Floh ist der spezielle Günstling des Königs – fein gekleidet und Empfänger un­ verdienter Ehren. Der Floh steigt in den Rang eines Ministers auf, womit auch dessen Verwandte reiche, großspurige Höflinge und immun für jedwede Kritik werden. In der geschützten Distanz, die Auerbachs Keller darstellte, mussten die Gäste ihre Missachtung jedoch nicht verbergen. Im sechsten Kapitel kehren wir nochmals zu diesem Lied zurück, das 1810, als es gedruckt erschien, eine kontextbezogene Bedeutung hatte, deren Relevanz bezogen auf unwürdige politische Zustände bis heute anhält. Chorgesang von etwas erhabenerer Art findet sich in Beethovens Vertonung von Der freie Mann, ein Lied aus seinen letzten Bonner Jahren, das später, wie Wegeler belegte, von den Freimaurern verwendet wurde. Der Text von dem blinden französisch-deutschen Dichter Gottlieb Konrad Pfeffel war im Hamburger Musenalmanach von 1792 erschienen. Die Eröffnungszeilen hatte Wegeler für Freimaurer-Zeremonien adaptiert. Sie lauteten nun: »Was ist des Maurers Ziel?« Die Phrase »freier Mann« war von großer Aktualität und tauchte auch am Ende von Eulogius Schneiders Ode an die Französische Revolution auf: »Ein freier Mann ist der Franzos!« Im ersten Entwurf Beethovens beginnt Der freie Mann mit vier Männer­ stimmen in geradem Takt in C-Dur (Abb. unten). Die ersten sechs Noten – sie umreißen das melodische Muster mit einem ansteigenden C-Dur-Dreiklang,

Skizzenvergleich: »Der freie Mann« und das Finale der fünften Sinfonie

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der schrittweise abwärts geführt wird, während die dritte Note verlängert, die vierte aber verkürzt ist – erinnern an den Beginn des letzten Satzes der fünften Sinfonie, ein Werk, das fast zwanzig Jahre später vollendet wurde (Abb. S. 26). Diese thematischen Parallelen – umfassendes Motiv, Rhythmus, Tonart und Charakter – sind zu signifikant, als dass es sich um einen Zufall handeln könnte. Es zeigt einmal mehr, wie ein musikalisches Kernstück aus Beethovens Jugend­ zeit zu einem Ehrenplatz in einer seiner berühmtesten Kompositionen kam. Dabei ist die Idee nicht allein auf Der freie Mann und das Finale der Fünften beschränkt. Eine Parallelpassage findet sich in jenem bewegenden Abschnitt des Trauermarsches der Eroica, wenn die Oboe die Melodie übernimmt und die Musik von c-Moll in C-Dur verschiebt, womit das steigende Schema C–E–G zu hören ist und das gehaltene G einem ausdrucksstarken schrittweisen Abstieg nachgibt. Die dritte Strophe von Der freie Mann lautet: Wer, wer ist ein freier Mann? Dem nicht Geburt noch Titel, Nicht Samtrock oder Kittel Den Bruder bergen kann; Der ist ein freier Mann! Der ist ein freier Mann! »Samtrock« und »Kittel« beziehen sich auf die Kleidung von Aristokraten und Geistlichen, deren Stand sie nicht über andere Bürger erheben sollte. Beetho­ vens musikalisches Narrativ verstärkt Pfeffels egalitäre Botschaft, wonach sich kein freier Mensch einer Willkürherrschaft unterordnen dürfe. Die Kernaus­ sagen Brüderlichkeit und Gemeinschaft, die sich auch in der Entscheidung für ein Chorlied widerspiegeln, werden im Finale der fünften Sinfonie noch erhöht, wenn das gesamte Orchester – erweitert um zusätzliche Instrumente wie Posaunen und Piccoloflöte – in einem Tutti seine eindringliche Wirkung entfaltet. Ein Klangvokabular mit rhetorischen Assoziationen zu Befreiungsideen entwickelte sich zur umfangreichsten kompositorischen Einzelleistung aus Beethovens Bonner Jahren: seine Joseph-Kantate von 1790. Erst im Jahr 1884, beinahe ein ganzes Jahrhundert, nachdem Beethoven Bonn verlassen hatte, tauchte die Partitur der Kantate auf, die in breiteren Kreisen auch heute noch eher unbekannt ist. Zur Aufführung kam das Werk 1790 nicht, was wahr­ scheinlich daran lag, dass es die Musiker technisch überforderte. Dabei hätte Beethoven auf die Kantate – eine bemerkenswert prophetische Einzelkom­ position seiner Bonner Jahre – mit Berechtigung stolz sein können. Nach der VO N B O N N NAC H W I E N

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ein König, der hatt’ einen großen Floh« und mündet in einem eindringlich-lau­ ten Chorrefrain, mit dem die letzten Zeilen, in denen es um diese enervie­ renden Parasiten geht, betont werden: »Wir knicken und ersticken / Doch gleich, wenn einer sticht.« Das abschließende, von allen trinkfreudigen Gästen gesungene Couplet fasst die politische Bedeutung zusammen: Der nutzlose Floh ist der spezielle Günstling des Königs – fein gekleidet und Empfänger un­ verdienter Ehren. Der Floh steigt in den Rang eines Ministers auf, womit auch dessen Verwandte reiche, großspurige Höflinge und immun für jedwede Kritik werden. In der geschützten Distanz, die Auerbachs Keller darstellte, mussten die Gäste ihre Missachtung jedoch nicht verbergen. Im sechsten Kapitel kehren wir nochmals zu diesem Lied zurück, das 1810, als es gedruckt erschien, eine kontextbezogene Bedeutung hatte, deren Relevanz bezogen auf unwürdige politische Zustände bis heute anhält. Chorgesang von etwas erhabenerer Art findet sich in Beethovens Vertonung von Der freie Mann, ein Lied aus seinen letzten Bonner Jahren, das später, wie Wegeler belegte, von den Freimaurern verwendet wurde. Der Text von dem blinden französisch-deutschen Dichter Gottlieb Konrad Pfeffel war im Hamburger Musenalmanach von 1792 erschienen. Die Eröffnungszeilen hatte Wegeler für Freimaurer-Zeremonien adaptiert. Sie lauteten nun: »Was ist des Maurers Ziel?« Die Phrase »freier Mann« war von großer Aktualität und tauchte auch am Ende von Eulogius Schneiders Ode an die Französische Revolution auf: »Ein freier Mann ist der Franzos!« Im ersten Entwurf Beethovens beginnt Der freie Mann mit vier Männer­ stimmen in geradem Takt in C-Dur (Abb. unten). Die ersten sechs Noten – sie umreißen das melodische Muster mit einem ansteigenden C-Dur-Dreiklang,

Skizzenvergleich: »Der freie Mann« und das Finale der fünften Sinfonie

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der schrittweise abwärts geführt wird, während die dritte Note verlängert, die vierte aber verkürzt ist – erinnern an den Beginn des letzten Satzes der fünften Sinfonie, ein Werk, das fast zwanzig Jahre später vollendet wurde (Abb. S. 26). Diese thematischen Parallelen – umfassendes Motiv, Rhythmus, Tonart und Charakter – sind zu signifikant, als dass es sich um einen Zufall handeln könnte. Es zeigt einmal mehr, wie ein musikalisches Kernstück aus Beethovens Jugend­ zeit zu einem Ehrenplatz in einer seiner berühmtesten Kompositionen kam. Dabei ist die Idee nicht allein auf Der freie Mann und das Finale der Fünften beschränkt. Eine Parallelpassage findet sich in jenem bewegenden Abschnitt des Trauermarsches der Eroica, wenn die Oboe die Melodie übernimmt und die Musik von c-Moll in C-Dur verschiebt, womit das steigende Schema C–E–G zu hören ist und das gehaltene G einem ausdrucksstarken schrittweisen Abstieg nachgibt. Die dritte Strophe von Der freie Mann lautet: Wer, wer ist ein freier Mann? Dem nicht Geburt noch Titel, Nicht Samtrock oder Kittel Den Bruder bergen kann; Der ist ein freier Mann! Der ist ein freier Mann! »Samtrock« und »Kittel« beziehen sich auf die Kleidung von Aristokraten und Geistlichen, deren Stand sie nicht über andere Bürger erheben sollte. Beetho­ vens musikalisches Narrativ verstärkt Pfeffels egalitäre Botschaft, wonach sich kein freier Mensch einer Willkürherrschaft unterordnen dürfe. Die Kernaus­ sagen Brüderlichkeit und Gemeinschaft, die sich auch in der Entscheidung für ein Chorlied widerspiegeln, werden im Finale der fünften Sinfonie noch erhöht, wenn das gesamte Orchester – erweitert um zusätzliche Instrumente wie Posaunen und Piccoloflöte – in einem Tutti seine eindringliche Wirkung entfaltet. Ein Klangvokabular mit rhetorischen Assoziationen zu Befreiungsideen entwickelte sich zur umfangreichsten kompositorischen Einzelleistung aus Beethovens Bonner Jahren: seine Joseph-Kantate von 1790. Erst im Jahr 1884, beinahe ein ganzes Jahrhundert, nachdem Beethoven Bonn verlassen hatte, tauchte die Partitur der Kantate auf, die in breiteren Kreisen auch heute noch eher unbekannt ist. Zur Aufführung kam das Werk 1790 nicht, was wahr­ scheinlich daran lag, dass es die Musiker technisch überforderte. Dabei hätte Beethoven auf die Kantate – eine bemerkenswert prophetische Einzelkom­ position seiner Bonner Jahre – mit Berechtigung stolz sein können. Nach der VO N B O N N NAC H W I E N

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Entdeckung des Werks bemerkte Johannes Brahms begeistert: »Es ist alles und durchaus Beethoven. Man könnte, wenn auch kein Name auf dem Titelblatt stände, auf keinen anderen raten.« Ein Blick auf die Partitur verrät, weshalb Beethoven die Kantate auch in spä­ teren Jahren nie veröffentlichte, hatte er doch zwei der außergewöhnlichsten Passagen seiner Oper Fidelio aus dem Kantatenmaterial destilliert. Ein Vergleich zwischen der Kantate und der Oper (die 1805, also fünfzehn Jahre später, auf die Bühne kam) macht uns auf eine universale Qualität in Beethovens Kunst aufmerksam, die verbindende Kraft gigantischer Schlichtheit, die in der besten Musik seiner Bonner Jahre bereits präsent ist. Strukturiert ist die Joseph-Kantate symmetrisch aus sieben Nummern. Die Chorstücke zu Beginn und am Ende betrauern den Tod des Kaisers: »Tot! Tot! Tot, stöhnt es durch die öde Nacht, die öde Nacht.« Dieses Wehklagen in c-Moll wird von einer Reihe von Rezitativen und Arien eingerahmt, in deren Zentrum eine Sopranarie mit dem Text »Da stiegen die Menschen ans Licht« positioniert ist. Es sind die mit dem verstorbenen Kaiser gleichgesetzten positiven Werte der Auf klärung, die mit dieser ambitionierten Musik vermittelt werden. Dunkelheit und die Leere des Todes werden Licht und Hoffnung gegenüber­ gestellt. Die musikalische Symbolkraft ist derart unstrittig, dass Beethoven die Motive und die Orchestrierung später vollständig für seine Oper übernehmen konnte. Auch im Fidelio tritt die Auseinandersetzung mit dem drohenden Tod in Erscheinung: Florestans Gefängnisarie beginnt mit »Gott! Welch Dunkel hier!« und wird mit den Worten »Öd ist es um mich her. Nichts lebet außer mir« fortgesetzt. Das durchdringende hohe G auf »Gott!« weicht der tieferen, resignierenden Phrase »Welch Dunkel hier«, womit die Dualität aus Hoffnung und Verzweiflung in eine einzige Äußerung zusammengefasst wurde. In der Kantate trauert der Chor in c-Moll, für die Gefängnisszene in seiner Oper wählte Beethoven hingegen die um eine Quinte tiefere Tonart f-Moll. Das ermöglicht den leuchtenden Wechsel zu F-Dur für Florestans Delirium und seine Visionen von Leonore, was wiederum tonal zur späteren Sostenuto-assaiPassage in derselben Tonart passt, wenn Volk und befreite Gefangene ge­ meinsam Zeugen davon werden, wie auch Florestan seine Ketten verliert. Ein durchdringender Aufschrei weist auf eine innere Vision hin, die ihrerseits eine erlösende Szene kollektiver Befreiung von Tyrannei andeutet – solche Erzähl­ formen verleihen der Musik psychologische Tiefe. Beethovens c-Moll-Pathos ist ein langer roter Faden, der seinen Anfang mit den Neun Variationen auf einen Marsch von Ernst Christoph Dressler nahm, die der Zwölfjährige 1783 komponierte. Auch die Joseph-Kantate findet sich an einem Punkt dieser Linie, die sich über die Sonate Pathétique, den Trauermarsch der

Eroica und die fünfte Sinfonie bis zur letzten Sonate op. 111 verlängert. Eine kurze Vorschau auf Beethovens Oper illustriert die Verflochtenheit von Ästhe­ tik und Ethik, die den Großteil seines Werks prägt. Trotz eines anderen Noten­ schlüssels geistert die dunkle Rhetorik der Joseph-Kantate durch die Orchester­ musik zu Pizarros Kerker. Tiefe, weiche Oktaven auf F wechseln mit hohen, durchdringenden Akkorden in den höheren Registern, gekennzeichnet durch Holzbläser und Hörner. Die beiden hohen Anfangsakkorde steigen vom C zum Des – eine Phrase, die sich darauf bei den Streichern umkehrt, um zu einem bewegten Gestus zu werden, einem Seufzen voll des menschlichen Leides. Mit dem Wissen um die Kantate können wir diese Eröffnungsakkorde – beide forte – als etwas erkennen, dessen Sinn durch seine Vorgeschichte geprägt wurde. Beethoven hörte diese krassen Klänge sicherlich als einen Widerhall der »Tot, Tot«-Stimmung aus dem Eingangs- und Schlusschor seiner Kantate. Der letzte Akt des Fidelio umfasst – vor dem Hintergrund der Befreiungs­ idee – eine ansteigende klangliche Polarität von f-Moll nach C-Dur. Beethovens Wahl von f-Moll, das eine perfekte Quinte unter C liegt, hilft in diesem Zu­ sammenhang mit, die Ahnung von Tiefe zu vermitteln. Innerhalb der Grenzen eines einzigen Schauplatzes entfaltet sich das Drama über den Zeitraum eines einzigen Tages – die Komprimierung von Zeit und Ort bündelt die Handlung des Fidelio. Pizarros Gefängnis wirft seinen Schatten auf die Behausung Roccos, des Kerkermeisters, und seiner Tochter Marzelline. Aufgrund des moralisch kompromittierten Umfelds, wie es ein politisches Gefängnis darstellt, bewegen sich ihre Existenzen in den engen Grenzen von Eigeninteresse und ambivalen­ tem Verhalten. Unter all jenen, die hier eingekerkert sind, ist es Florestan, der im tiefsten Verlies weggeschlossen wurde – buchstäblich lebendig begraben, und zwar direkt unter den Wohnräumen von Rocco und Marzelline. Leonores Odyssee – ihr Abstieg in die dunklen Verliese, gefolgt vom Auf­ stieg in ein helles Licht, das für die Auf klärung steht – wird deutlich in jenen symbolischen musikalischen Elementen angekündigt, die Beethoven aus seiner Joseph-Kantate extrahierte. Das Misslingen von Josephs Reformen, der Verrat an den Prinzipien der Französischen Revolution oder Napoleons Rückkehr zur Tyrannei – all das ist Teil eines spannungsreichen Prozesses, der bis heute fortdauert. Der Aufstieg der Menschen zum Licht mag als politischer Vorgang problematisch bleiben, doch die negativen historischen Beispiele wie Despotis­ mus und repressiver Machtmissbrauch erinnern daran, dass es unerlässlich ist, Zynismus zu zügeln und ethische Normen im Auge zu behalten. Der hymnische, feierliche Klang der Sopranarie in seiner Kantate erinnert an die beharrliche Standhaftigkeit des humanistischen Geistes in Beethovens Kunst. »Da stiegen die Menschen ans Licht« besteht aus aufsteigenden Quarten:

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Entdeckung des Werks bemerkte Johannes Brahms begeistert: »Es ist alles und durchaus Beethoven. Man könnte, wenn auch kein Name auf dem Titelblatt stände, auf keinen anderen raten.« Ein Blick auf die Partitur verrät, weshalb Beethoven die Kantate auch in spä­ teren Jahren nie veröffentlichte, hatte er doch zwei der außergewöhnlichsten Passagen seiner Oper Fidelio aus dem Kantatenmaterial destilliert. Ein Vergleich zwischen der Kantate und der Oper (die 1805, also fünfzehn Jahre später, auf die Bühne kam) macht uns auf eine universale Qualität in Beethovens Kunst aufmerksam, die verbindende Kraft gigantischer Schlichtheit, die in der besten Musik seiner Bonner Jahre bereits präsent ist. Strukturiert ist die Joseph-Kantate symmetrisch aus sieben Nummern. Die Chorstücke zu Beginn und am Ende betrauern den Tod des Kaisers: »Tot! Tot! Tot, stöhnt es durch die öde Nacht, die öde Nacht.« Dieses Wehklagen in c-Moll wird von einer Reihe von Rezitativen und Arien eingerahmt, in deren Zentrum eine Sopranarie mit dem Text »Da stiegen die Menschen ans Licht« positioniert ist. Es sind die mit dem verstorbenen Kaiser gleichgesetzten positiven Werte der Auf klärung, die mit dieser ambitionierten Musik vermittelt werden. Dunkelheit und die Leere des Todes werden Licht und Hoffnung gegenüber­ gestellt. Die musikalische Symbolkraft ist derart unstrittig, dass Beethoven die Motive und die Orchestrierung später vollständig für seine Oper übernehmen konnte. Auch im Fidelio tritt die Auseinandersetzung mit dem drohenden Tod in Erscheinung: Florestans Gefängnisarie beginnt mit »Gott! Welch Dunkel hier!« und wird mit den Worten »Öd ist es um mich her. Nichts lebet außer mir« fortgesetzt. Das durchdringende hohe G auf »Gott!« weicht der tieferen, resignierenden Phrase »Welch Dunkel hier«, womit die Dualität aus Hoffnung und Verzweiflung in eine einzige Äußerung zusammengefasst wurde. In der Kantate trauert der Chor in c-Moll, für die Gefängnisszene in seiner Oper wählte Beethoven hingegen die um eine Quinte tiefere Tonart f-Moll. Das ermöglicht den leuchtenden Wechsel zu F-Dur für Florestans Delirium und seine Visionen von Leonore, was wiederum tonal zur späteren Sostenuto-assaiPassage in derselben Tonart passt, wenn Volk und befreite Gefangene ge­ meinsam Zeugen davon werden, wie auch Florestan seine Ketten verliert. Ein durchdringender Aufschrei weist auf eine innere Vision hin, die ihrerseits eine erlösende Szene kollektiver Befreiung von Tyrannei andeutet – solche Erzähl­ formen verleihen der Musik psychologische Tiefe. Beethovens c-Moll-Pathos ist ein langer roter Faden, der seinen Anfang mit den Neun Variationen auf einen Marsch von Ernst Christoph Dressler nahm, die der Zwölfjährige 1783 komponierte. Auch die Joseph-Kantate findet sich an einem Punkt dieser Linie, die sich über die Sonate Pathétique, den Trauermarsch der

Eroica und die fünfte Sinfonie bis zur letzten Sonate op. 111 verlängert. Eine kurze Vorschau auf Beethovens Oper illustriert die Verflochtenheit von Ästhe­ tik und Ethik, die den Großteil seines Werks prägt. Trotz eines anderen Noten­ schlüssels geistert die dunkle Rhetorik der Joseph-Kantate durch die Orchester­ musik zu Pizarros Kerker. Tiefe, weiche Oktaven auf F wechseln mit hohen, durchdringenden Akkorden in den höheren Registern, gekennzeichnet durch Holzbläser und Hörner. Die beiden hohen Anfangsakkorde steigen vom C zum Des – eine Phrase, die sich darauf bei den Streichern umkehrt, um zu einem bewegten Gestus zu werden, einem Seufzen voll des menschlichen Leides. Mit dem Wissen um die Kantate können wir diese Eröffnungsakkorde – beide forte – als etwas erkennen, dessen Sinn durch seine Vorgeschichte geprägt wurde. Beethoven hörte diese krassen Klänge sicherlich als einen Widerhall der »Tot, Tot«-Stimmung aus dem Eingangs- und Schlusschor seiner Kantate. Der letzte Akt des Fidelio umfasst – vor dem Hintergrund der Befreiungs­ idee – eine ansteigende klangliche Polarität von f-Moll nach C-Dur. Beethovens Wahl von f-Moll, das eine perfekte Quinte unter C liegt, hilft in diesem Zu­ sammenhang mit, die Ahnung von Tiefe zu vermitteln. Innerhalb der Grenzen eines einzigen Schauplatzes entfaltet sich das Drama über den Zeitraum eines einzigen Tages – die Komprimierung von Zeit und Ort bündelt die Handlung des Fidelio. Pizarros Gefängnis wirft seinen Schatten auf die Behausung Roccos, des Kerkermeisters, und seiner Tochter Marzelline. Aufgrund des moralisch kompromittierten Umfelds, wie es ein politisches Gefängnis darstellt, bewegen sich ihre Existenzen in den engen Grenzen von Eigeninteresse und ambivalen­ tem Verhalten. Unter all jenen, die hier eingekerkert sind, ist es Florestan, der im tiefsten Verlies weggeschlossen wurde – buchstäblich lebendig begraben, und zwar direkt unter den Wohnräumen von Rocco und Marzelline. Leonores Odyssee – ihr Abstieg in die dunklen Verliese, gefolgt vom Auf­ stieg in ein helles Licht, das für die Auf klärung steht – wird deutlich in jenen symbolischen musikalischen Elementen angekündigt, die Beethoven aus seiner Joseph-Kantate extrahierte. Das Misslingen von Josephs Reformen, der Verrat an den Prinzipien der Französischen Revolution oder Napoleons Rückkehr zur Tyrannei – all das ist Teil eines spannungsreichen Prozesses, der bis heute fortdauert. Der Aufstieg der Menschen zum Licht mag als politischer Vorgang problematisch bleiben, doch die negativen historischen Beispiele wie Despotis­ mus und repressiver Machtmissbrauch erinnern daran, dass es unerlässlich ist, Zynismus zu zügeln und ethische Normen im Auge zu behalten. Der hymnische, feierliche Klang der Sopranarie in seiner Kantate erinnert an die beharrliche Standhaftigkeit des humanistischen Geistes in Beethovens Kunst. »Da stiegen die Menschen ans Licht« besteht aus aufsteigenden Quarten:

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eine sinnbildliche Form, die mit Themen in seinen späteren Instrumental- und Vokalwerken vergleichbar ist. Die steigenden Quarten sind das thematische Muster für eine Musik, die den Widerstand gegen Konflikte thematisiert. Es fin­ det sich nicht nur im Fidelio, sondern auch im Adagio cantabile der Sonate Pathétique, in der Fuge der vorletzten Klaviersonate (As-Dur op. 110) und im »Dona nobis pacem« der Missa solemnis. Jedes dieser Themen ist unverwechselbar. Der geschmeidige Rhythmus steigender Quarten, gefolgt von schrittweisen, dolce fallenden Sequenzen, die in der Kantate eine größere Klangfolge umfassen, steht stellvertretend für die Verwirklichung einer erneuerten Gemeinschaft. Die sowohl für den Fidelio als auch für die Joseph-Kantate gültige politische Bedeutung besteht in der Idee einer verschütteten Freiheit, einem von autori­ tären Mächten bedrohten und unterdrückten humanistischen Vermächtnis. Schillers Marquis von Posa stirbt, nachdem er die politische Befreiung der Niederlande mit Begriffen fordert, die dem progressiven liberalen Gedankengut der 1780er-Jahre entsprechen. Der aufgeklärte Monarch Joseph II. wurde 1790 ebenso begraben wie viele seiner Reformen. Der eingekerkerte Freiheitskämp­ fer aus Beethovens Oper wurde nach einem Reformer gestaltet, welcher der Schreckensherrschaft zum Opfer gefallen war. Nachdem Florestan der Macht gegenüber die Wahrheit ausgesprochen hatte, fand er sich in den Tiefen von Pizarros Gefängnis lebendig begraben. Pizarro verkörpert – in der Sprache von Beethovens früher Kantate – das des­ potische »Ungeheuer des Fanatismus«. Der Gefängnisgouverneur ist besessen von seiner persönlichen Ehrenhaftigkeit, ist egozentrisch in der Abwicklung sei­ ner offiziellen Aufgaben, eingebildet, skrupellos, korrupt und korrumpierend. Damit pervertiert er den Staat zu einem Instrument seiner persönlichen Macht. Er tobt, als Florestan versucht, seine Verstöße und Übergriffe zu enthüllen. »Schon war ich nah im Staube«, erinnert sich Pizarro, und reagiert mit Schikane und dem Versuch, seinen Kritiker zu vernichten und das zu vertuschen. Pizar­ ros Soldaten fürchten seinen Zorn, die Gefangenen seine Späher. Pizarro ver­ sucht, Rocco zu bestechen, damit dieser den Mord ausführt. Hätte er sein Ziel erreicht, wären sowohl Rocco als auch Fidelio zu Komplizen geworden. Als der Chor der Gefangenen und der Bürger Don Fernando im Finale der Oper begrüßt, antwortet dieser auf die untertänige Bitte um Gerechtigkeit mit den von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit geprägten leuchtenden Worten: Nicht länger Kniet sklavisch nieder, Tyrannenstrenge sei mir fern. Es sucht der 30

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Bruder seine Brüder, Und kann er helfen, Hilft er gern. Fernando hatte gedacht, Florestan sei tot. Er war verschwunden, gefoltert und dem Tod durch Pizarros Hand preisgegeben. Florestans Befreiung steht sinn­ bildlich auch für die Befreiung der anderen Gefangenen, ist doch Leonores mit­ fühlender Blick offen auch für deren Leiden. Wenn Leonore den Gefangenen die Ketten abnimmt, hören wir aus der Joseph-Kantate extrahierte Musik. Und wir erleben einen Augenblick exemplarisch vorgeführter Bürgertugenden, die Fernando in seiner Rolle als Repräsentant einer aufgeklärten Monarchie oder eines rechtens konstituierten revolutionären Staates anerkennt und achtet. Pizarro und Fernando sind nicht als voll ausgeprägte Individuen angelegt. Vielmehr stellen sie gegensätzliche Prinzipien dar: despotische Macht einer­ seits, humanistisches Mitgefühl und bürgerliche Tugend andererseits. Aufgrund dieses dualistischen Rahmens und der Tatsache, dass die Handlung von Frank­ reich nach Spanien verlegt wurde, lässt sich die Oper immer wieder auf aktuel­ le politische Zusammenhänge übertragen. Im Jahr 1945, am Ende des Dritten Reichs, schrieb Thomas Mann: »Wie durfte denn Beethovens Fidelio, diese geborene Festoper für den Tag der deutschen Selbstbefreiung, im Deutschland der zwölf Jahre nicht verboten sein? … Denn welchen Stumpfsinn brauchte es, in Himmlers Deutschland den Fidelio zu hören, ohne das Gesicht mit den Händen zu bedecken und aus dem Saal zu stürzen!« Die politische Relevanz von Beethovens Musik bleibt evident. Was ist die symbolische Bedeutung von Pizarros Zitadelle? Eine Burg, deren Gefangene kollektiv freigelassen werden, erinnert zwangsläufig an die Bastille und den Sturm auf dieses Gefängnis am 14. Juli 1789. Eulogius Schneider, immer bereit, auf die Zeitläufte zu reagieren, zitierte in einer seiner Vorlesungen an der Uni­ versität sein Gedicht, das entstanden war, als ihn die Neuigkeiten vom Fall der Bastille erreicht hatten: Gefallen ist des Despotismus Kette, Beglücktes Volk! Von deiner Hand: Des Fürsten Thron ward dir zur Freiheitsstätte, Das Königreich zum Vaterland. Kein Federzug, kein: »Dies ist unser Wille«, Entscheidet mehr des Bürgers Los. Dort liegt sie im Schutte, die Bastille, Ein freier Mann ist der Franzos! VO N B O N N NAC H W I E N

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eine sinnbildliche Form, die mit Themen in seinen späteren Instrumental- und Vokalwerken vergleichbar ist. Die steigenden Quarten sind das thematische Muster für eine Musik, die den Widerstand gegen Konflikte thematisiert. Es fin­ det sich nicht nur im Fidelio, sondern auch im Adagio cantabile der Sonate Pathétique, in der Fuge der vorletzten Klaviersonate (As-Dur op. 110) und im »Dona nobis pacem« der Missa solemnis. Jedes dieser Themen ist unverwechselbar. Der geschmeidige Rhythmus steigender Quarten, gefolgt von schrittweisen, dolce fallenden Sequenzen, die in der Kantate eine größere Klangfolge umfassen, steht stellvertretend für die Verwirklichung einer erneuerten Gemeinschaft. Die sowohl für den Fidelio als auch für die Joseph-Kantate gültige politische Bedeutung besteht in der Idee einer verschütteten Freiheit, einem von autori­ tären Mächten bedrohten und unterdrückten humanistischen Vermächtnis. Schillers Marquis von Posa stirbt, nachdem er die politische Befreiung der Niederlande mit Begriffen fordert, die dem progressiven liberalen Gedankengut der 1780er-Jahre entsprechen. Der aufgeklärte Monarch Joseph II. wurde 1790 ebenso begraben wie viele seiner Reformen. Der eingekerkerte Freiheitskämp­ fer aus Beethovens Oper wurde nach einem Reformer gestaltet, welcher der Schreckensherrschaft zum Opfer gefallen war. Nachdem Florestan der Macht gegenüber die Wahrheit ausgesprochen hatte, fand er sich in den Tiefen von Pizarros Gefängnis lebendig begraben. Pizarro verkörpert – in der Sprache von Beethovens früher Kantate – das des­ potische »Ungeheuer des Fanatismus«. Der Gefängnisgouverneur ist besessen von seiner persönlichen Ehrenhaftigkeit, ist egozentrisch in der Abwicklung sei­ ner offiziellen Aufgaben, eingebildet, skrupellos, korrupt und korrumpierend. Damit pervertiert er den Staat zu einem Instrument seiner persönlichen Macht. Er tobt, als Florestan versucht, seine Verstöße und Übergriffe zu enthüllen. »Schon war ich nah im Staube«, erinnert sich Pizarro, und reagiert mit Schikane und dem Versuch, seinen Kritiker zu vernichten und das zu vertuschen. Pizar­ ros Soldaten fürchten seinen Zorn, die Gefangenen seine Späher. Pizarro ver­ sucht, Rocco zu bestechen, damit dieser den Mord ausführt. Hätte er sein Ziel erreicht, wären sowohl Rocco als auch Fidelio zu Komplizen geworden. Als der Chor der Gefangenen und der Bürger Don Fernando im Finale der Oper begrüßt, antwortet dieser auf die untertänige Bitte um Gerechtigkeit mit den von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit geprägten leuchtenden Worten: Nicht länger Kniet sklavisch nieder, Tyrannenstrenge sei mir fern. Es sucht der 30

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Bruder seine Brüder, Und kann er helfen, Hilft er gern. Fernando hatte gedacht, Florestan sei tot. Er war verschwunden, gefoltert und dem Tod durch Pizarros Hand preisgegeben. Florestans Befreiung steht sinn­ bildlich auch für die Befreiung der anderen Gefangenen, ist doch Leonores mit­ fühlender Blick offen auch für deren Leiden. Wenn Leonore den Gefangenen die Ketten abnimmt, hören wir aus der Joseph-Kantate extrahierte Musik. Und wir erleben einen Augenblick exemplarisch vorgeführter Bürgertugenden, die Fernando in seiner Rolle als Repräsentant einer aufgeklärten Monarchie oder eines rechtens konstituierten revolutionären Staates anerkennt und achtet. Pizarro und Fernando sind nicht als voll ausgeprägte Individuen angelegt. Vielmehr stellen sie gegensätzliche Prinzipien dar: despotische Macht einer­ seits, humanistisches Mitgefühl und bürgerliche Tugend andererseits. Aufgrund dieses dualistischen Rahmens und der Tatsache, dass die Handlung von Frank­ reich nach Spanien verlegt wurde, lässt sich die Oper immer wieder auf aktuel­ le politische Zusammenhänge übertragen. Im Jahr 1945, am Ende des Dritten Reichs, schrieb Thomas Mann: »Wie durfte denn Beethovens Fidelio, diese geborene Festoper für den Tag der deutschen Selbstbefreiung, im Deutschland der zwölf Jahre nicht verboten sein? … Denn welchen Stumpfsinn brauchte es, in Himmlers Deutschland den Fidelio zu hören, ohne das Gesicht mit den Händen zu bedecken und aus dem Saal zu stürzen!« Die politische Relevanz von Beethovens Musik bleibt evident. Was ist die symbolische Bedeutung von Pizarros Zitadelle? Eine Burg, deren Gefangene kollektiv freigelassen werden, erinnert zwangsläufig an die Bastille und den Sturm auf dieses Gefängnis am 14. Juli 1789. Eulogius Schneider, immer bereit, auf die Zeitläufte zu reagieren, zitierte in einer seiner Vorlesungen an der Uni­ versität sein Gedicht, das entstanden war, als ihn die Neuigkeiten vom Fall der Bastille erreicht hatten: Gefallen ist des Despotismus Kette, Beglücktes Volk! Von deiner Hand: Des Fürsten Thron ward dir zur Freiheitsstätte, Das Königreich zum Vaterland. Kein Federzug, kein: »Dies ist unser Wille«, Entscheidet mehr des Bürgers Los. Dort liegt sie im Schutte, die Bastille, Ein freier Mann ist der Franzos! VO N B O N N NAC H W I E N

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Die im Mittelalter errichtete Bastille mit ihren acht Türmen, die lange als Staatsgefängnis gedient hatte, war zu einem Symbol totalitärer Unterdrückung geworden. Ebenso wie die Exekution König Ludwigs XVI. oder die Einführung eines neuen Revolutionskalenders wurde auch der Abriss der Bastille 1790 als Wendepunkt einer historischen und politischen Entwicklung betrachtet. Doch nichts davon verhindert Macht und Unterjochung. Regiert der Mob, wird to­ talitäres Unrecht meistens durch Umstände ersetzt, die ebenso unvollkommen oder sogar noch schlimmer sind. Die ursprüngliche historische Vorlage für Beethovens Oper war nicht der Sturm auf die Bastille von 1789, sondern die Befreiung politischer Häftlinge wäh­ rend einer Episode der Schreckensherrschaft 1793/94. Fidelio hat seine Wurzeln in einem faktischen, mit postrevolutionären Exzessen verbundenen Geschehen, orientiert sich jedoch darüber hinaus an einer Vielzahl weiterer Bezugspunkte. Deshalb kann die Oper angemessen weder als revolutionär noch als reaktionär beschrieben werden. Stattdessen wird mit ästhetischen Mitteln eine progressive politische Haltung propagiert. Die Oper wird zur moralischen Instanz oder, um es mit Schiller zu formulieren, zu einem »Symbol des Vortrefflichen«. In neunten Brief seiner Ästhetischen Erziehung von 1796 empfahl Schiller, der Künstler »strebe, auf dem Bunde des Möglichen mit dem Notwendigen, das Ideal zu erzeugen. Dieses präge er aus in Täuschung und Wahrheit, präge es in die Spiele seiner Ein­ bildungskraft und in den Ernst seiner Taten, präge es aus in allen sinnlichen und geistigen Formen und werfe es schweigend in die unendliche Zeit.« So ist, wie Ernst Bloch es ausdrückte, »jeder künftige Bastillensturm … in Fidelio intendiert«. Die markanteste Bühnenmusik der Oper ist die off-stage gespielte zweifache Trompetenfanfare, die von einem Gefängnisturm erklingt. Die Wache bläst die Trompete Pizarros strikten Anweisungen gemäß, um den Gouverneur vor der Ankunft des Ministers zu warnen. In einer ironischen, dramatischen Umkehr – einer Art prometheischem Diebstahl – wird Pizarro dieser Geste jedoch beraubt, die nun das Gegenteil der ursprünglichen Intention vermittelt. Abgesehen von ihrer Rolle als ein mit militärischer und königlicher Autorität assoziiertes Signalinstrument hat die Trompete auch biblische Konnotationen. Sieben Trompeten erschallen in der Offenbarung des Johannes und der Tag der Auferstehung wird durch eine Trompete, geblasen auf dem heiligen Felsen in Jerusalem, angekündigt. Proklamationen werden unter Trompetenklang verkündet. Trompeten tauchten oftmals in den Zeremonien der Französischen Revolution auf, so etwa ein Trompetenpaar, das während Robespierres »Fest des Höchsten Wesens« (1794) erklang. Das verblüffende Timing, mit dem die Trompete das atemlose Vokalquartett im Verlies unterbricht – wenn Leonore Pizarro in Schach hält –, verschafft allen

eine Ruhepause. Anstatt Pizarro zu dienen, unterstreicht der Trompetenklang nun Leonores Eingreifen als tugendhaftes Handeln. Damit wird gleichzeitig eine Ereigniskette unterbrochen, die andernfalls den ursprünglich erwarteten tragischen Verlauf genommen hätte. Die Trompetenfanfaren markieren einen Stillstand der Zeit, eröffnen Momente der Besinnung und halten den rasanten Handlungsverlauf an. Der künstlerische Diskurs wird damit auf ein höheres, distanzierteres Niveau gehoben und regt dazu an, die umfassende Bedeutung des Ganzen zu bedenken. Heute, zwei Jahrhunderte nach Beethoven, sind Größenwahn und die Trom­ peten-und-Trommel-Prahlerei à la Pizarro weithin im Vormarsch. 1788 schrieb James Madison: »Ich vertraue auf das große republikanische Prinzip, dass die Menschen über Tugend und Intelligenz verfügen, um Männer zu wählen, die Tugend und Weisheit besitzen.« Eine naive Überzeugung, wie es scheint, zu­ mal in einer Zeit ausufernder Propaganda und ebenso unfähiger wie ehrloser Staatsführungen. Wie soll man reagieren, wenn ein gewaltiger Demagoge unter dem Applaus seines Klüngels einen ebenso gewaltigen Turm aus Lügen errichtet? In der bemerkenswerten Novelle Tonio Kröger beschrieb Thomas Mann seinen Protagonisten als jemanden, den Schillers Don Carlos zutiefst bewegt. Und wie Beethoven beschäftigen auch Kröger vor allem die zwischenmenschlichen Beziehungen rund um den Humanisten Marquis von Posa im vierten Akt: »Es sind Stellen darin, … die so schön sind, dass es einem einen Ruck gibt, dass es gleichsam knallt. … Da ist zum Beispiel die Stelle, wo der König geweint hat, weil er von dem Marquis betrogen ist …, aber der Marquis hat ihn nur dem Prinzen zuliebe betrogen, verstehst du, für den er sich opfert. Und nun kommt aus dem Kabinett in das Vorzimmer die Nachricht, dass der König geweint hat. ›Geweint?‹ ›Der König geweint?‹ Alle Hofmänner sind fürchterlich betreten, und es geht einem durch und durch, denn es ist ein schrecklich starrer und strenger König. Aber man begreift es so gut, dass er geweint hat, und mir tut er eigentlich mehr leid als der Prinz und der Marquis zusammengenommen. Er ist immer so ganz allein und ohne Liebe, und nun glaubt er einen Menschen gefunden zu haben, und der verrät ihn …« Bei Schiller ist der isolierte König selbst ein Gefangener, ein Opfer seines eigenen Systems, was aus seiner erschreckenden Begegnung mit dem Groß­ inquisitor gegen Ende klar hervorgeht. Dabei gab es bei Posas früherer Audienz beim König einen kurzen Augenblick, in dem Letzterer durch politisches Handeln Gutes hätte erreichen können. Posas idealistisches Argument für den politischen Fortschritt – die Befreiung der Niederlande – beruht auf seiner Überzeugung, die Welt würde sich bald zum Besseren wandeln:

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Die im Mittelalter errichtete Bastille mit ihren acht Türmen, die lange als Staatsgefängnis gedient hatte, war zu einem Symbol totalitärer Unterdrückung geworden. Ebenso wie die Exekution König Ludwigs XVI. oder die Einführung eines neuen Revolutionskalenders wurde auch der Abriss der Bastille 1790 als Wendepunkt einer historischen und politischen Entwicklung betrachtet. Doch nichts davon verhindert Macht und Unterjochung. Regiert der Mob, wird to­ talitäres Unrecht meistens durch Umstände ersetzt, die ebenso unvollkommen oder sogar noch schlimmer sind. Die ursprüngliche historische Vorlage für Beethovens Oper war nicht der Sturm auf die Bastille von 1789, sondern die Befreiung politischer Häftlinge wäh­ rend einer Episode der Schreckensherrschaft 1793/94. Fidelio hat seine Wurzeln in einem faktischen, mit postrevolutionären Exzessen verbundenen Geschehen, orientiert sich jedoch darüber hinaus an einer Vielzahl weiterer Bezugspunkte. Deshalb kann die Oper angemessen weder als revolutionär noch als reaktionär beschrieben werden. Stattdessen wird mit ästhetischen Mitteln eine progressive politische Haltung propagiert. Die Oper wird zur moralischen Instanz oder, um es mit Schiller zu formulieren, zu einem »Symbol des Vortrefflichen«. In neunten Brief seiner Ästhetischen Erziehung von 1796 empfahl Schiller, der Künstler »strebe, auf dem Bunde des Möglichen mit dem Notwendigen, das Ideal zu erzeugen. Dieses präge er aus in Täuschung und Wahrheit, präge es in die Spiele seiner Ein­ bildungskraft und in den Ernst seiner Taten, präge es aus in allen sinnlichen und geistigen Formen und werfe es schweigend in die unendliche Zeit.« So ist, wie Ernst Bloch es ausdrückte, »jeder künftige Bastillensturm … in Fidelio intendiert«. Die markanteste Bühnenmusik der Oper ist die off-stage gespielte zweifache Trompetenfanfare, die von einem Gefängnisturm erklingt. Die Wache bläst die Trompete Pizarros strikten Anweisungen gemäß, um den Gouverneur vor der Ankunft des Ministers zu warnen. In einer ironischen, dramatischen Umkehr – einer Art prometheischem Diebstahl – wird Pizarro dieser Geste jedoch beraubt, die nun das Gegenteil der ursprünglichen Intention vermittelt. Abgesehen von ihrer Rolle als ein mit militärischer und königlicher Autorität assoziiertes Signalinstrument hat die Trompete auch biblische Konnotationen. Sieben Trompeten erschallen in der Offenbarung des Johannes und der Tag der Auferstehung wird durch eine Trompete, geblasen auf dem heiligen Felsen in Jerusalem, angekündigt. Proklamationen werden unter Trompetenklang verkündet. Trompeten tauchten oftmals in den Zeremonien der Französischen Revolution auf, so etwa ein Trompetenpaar, das während Robespierres »Fest des Höchsten Wesens« (1794) erklang. Das verblüffende Timing, mit dem die Trompete das atemlose Vokalquartett im Verlies unterbricht – wenn Leonore Pizarro in Schach hält –, verschafft allen

eine Ruhepause. Anstatt Pizarro zu dienen, unterstreicht der Trompetenklang nun Leonores Eingreifen als tugendhaftes Handeln. Damit wird gleichzeitig eine Ereigniskette unterbrochen, die andernfalls den ursprünglich erwarteten tragischen Verlauf genommen hätte. Die Trompetenfanfaren markieren einen Stillstand der Zeit, eröffnen Momente der Besinnung und halten den rasanten Handlungsverlauf an. Der künstlerische Diskurs wird damit auf ein höheres, distanzierteres Niveau gehoben und regt dazu an, die umfassende Bedeutung des Ganzen zu bedenken. Heute, zwei Jahrhunderte nach Beethoven, sind Größenwahn und die Trom­ peten-und-Trommel-Prahlerei à la Pizarro weithin im Vormarsch. 1788 schrieb James Madison: »Ich vertraue auf das große republikanische Prinzip, dass die Menschen über Tugend und Intelligenz verfügen, um Männer zu wählen, die Tugend und Weisheit besitzen.« Eine naive Überzeugung, wie es scheint, zu­ mal in einer Zeit ausufernder Propaganda und ebenso unfähiger wie ehrloser Staatsführungen. Wie soll man reagieren, wenn ein gewaltiger Demagoge unter dem Applaus seines Klüngels einen ebenso gewaltigen Turm aus Lügen errichtet? In der bemerkenswerten Novelle Tonio Kröger beschrieb Thomas Mann seinen Protagonisten als jemanden, den Schillers Don Carlos zutiefst bewegt. Und wie Beethoven beschäftigen auch Kröger vor allem die zwischenmenschlichen Beziehungen rund um den Humanisten Marquis von Posa im vierten Akt: »Es sind Stellen darin, … die so schön sind, dass es einem einen Ruck gibt, dass es gleichsam knallt. … Da ist zum Beispiel die Stelle, wo der König geweint hat, weil er von dem Marquis betrogen ist …, aber der Marquis hat ihn nur dem Prinzen zuliebe betrogen, verstehst du, für den er sich opfert. Und nun kommt aus dem Kabinett in das Vorzimmer die Nachricht, dass der König geweint hat. ›Geweint?‹ ›Der König geweint?‹ Alle Hofmänner sind fürchterlich betreten, und es geht einem durch und durch, denn es ist ein schrecklich starrer und strenger König. Aber man begreift es so gut, dass er geweint hat, und mir tut er eigentlich mehr leid als der Prinz und der Marquis zusammengenommen. Er ist immer so ganz allein und ohne Liebe, und nun glaubt er einen Menschen gefunden zu haben, und der verrät ihn …« Bei Schiller ist der isolierte König selbst ein Gefangener, ein Opfer seines eigenen Systems, was aus seiner erschreckenden Begegnung mit dem Groß­ inquisitor gegen Ende klar hervorgeht. Dabei gab es bei Posas früherer Audienz beim König einen kurzen Augenblick, in dem Letzterer durch politisches Handeln Gutes hätte erreichen können. Posas idealistisches Argument für den politischen Fortschritt – die Befreiung der Niederlande – beruht auf seiner Überzeugung, die Welt würde sich bald zum Besseren wandeln:

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Das Jahrhundert ist meinem Ideal nicht reif. Ich lebe Ein Bürger derer, welche kommen werden. Eine Einstellung, die dem Tadel des Großinquisitors am König diametral gegenübersteht. Hier herrscht Absolutismus über Veränderung, Tod über das Leben: Wozu Menschen? Menschen sind Für Sie nur Zahlen, weiter nichts. Was für Beethoven zählt, ist Posas Vision einer leuchtenden Zukunft – »Freude … Tochter aus Elysium«, jenes Gedicht von Schiller, das etwa zur selben Zeit entstand. Die originale Version von An die Freude aus dem Jahr 1785 ermöglicht einen kurzen Blick in vollständig gewandelte politische Gefilde: »Bettler werden Fürstenbrüder / wo dein sanfter Flügel weilt« ist unmissverständlicher als die spätere Version, die Beethoven vertonte: »Alle Menschen werden Brüder …« Beethoven ergriff seine Chance, um zu Posas Befreiungsvision zurückzukeh­ ren, als er 1810 die Musik zu Goethes Drama Egmont schrieb, das große inhalt­ liche Affinität zu Schillers Don Carlos aufweist. Die mitreißende Apotheose der Siegessinfonie im Egmont ist ein weiteres Beispiel für den politischen Charakter eines Werkes, dessen Wurzeln weit in Beethovens prägende Jahre in Bonn zurückreichen.

ZWEI

DAS ERHABENE UND DAS »UMGEKEHRTE ERHABENE«

Am 2. August 1794, kurz nach dem Fall Robespierres und dem Ende der Schreckensherrschaft in Frankreich, entschlüpften Beethoven ein paar hitzige Kommentare in einem Brief an seinen frankophilen Freund, den Bonner Musikverleger und Hornisten Nikolaus Simrock: Hier ist es sehr heiß; die Wiener sind bange, sie werden bald kein Gefrornes mehr haben können, da der Winter so wenig kalt war, so ist das Eis rar. Hier hat man verschiedene Leute von Bedeutung eingezogen, man sagt, es hätte eine Revolution ausbrechen sollen – aber ich glaube, so lange der Österreicher noch braunes Bier und Würstel hat, revoltiert er nicht. Es heißt, die Tore zu den Vorstädten sollen nachts um 10 Uhr gesperrt werden. Die Soldaten haben scharf geladen. Man darf nicht zu laut sprechen hier, sonst gibt die Polizei einem Quartier. Zu diesen »verschiedenen Leuten von Bedeutung« zählte auch der Freimaurer Franz Hebenstreit. Der leidenschaftliche Demokrat und Wiener Jakobiner war ein Anhänger der Französischen Revolution, wurde wegen Hochverrats ange­ klagt und im Januar 1795 öffentlich gehängt. Als Reaktion auf die reaktionärrepressive Kehrtwende der habsburgischen Politik ab 1792 hatte Hebenstreit eine Kriegsmaschine in Form eines Streitwagens entworfen, von der er hoffte, sie würde die Franzosen in ihrem Kampf gegen die österreichische Kavallerie

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