Wien Museum Ausstellungskatalog „Wiener Typen - Klischees und Wirklichkeit“

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wien museum


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Herausgegeben von Wolfgang Kos


wien museum

Herausgegeben von Wolfgang Kos


inhalt

Wiener Typen. Klischees und Wirklichkeit 387. Sonderausstellung des Wien Museums Wien Museum Karlsplatz 25. April bis 6. Oktober 2013

Ausstellung

Katalog

Idee und Konzept Wolfgang Kos

Ausstellungproduktion Bärbl Schrems

Herausgeber Wolfgang Kos

Assistenz Felix Taschner

Registrar Laura Tomicek

Kuratorische Mitarbeit Sándor Békési Susanne Breuss Elisabeth Golzar Gerhard Milchrahm Martina Nußbaumer Felix Taschner

Objektverwaltung Letizia Fischer

Redaktion Katrin Ecker Felix Taschner

Recherchen Elke Doppler Katrin Ecker Julia Teresa Friehs Alexandra Hönigmann-Tempelmayr Iris Mochar Werner Michael Schwarz

Restaurierung Anne Biber Nora Gasser Marguerite Ifsits Sabine Imp Regula Künzli Alexandra Moser Karin Maierhofer Sabine Reinisch

Grafikproduktion CT Werbung Tibor Csongvai KG

Ausstellungsgrafik Perndl+Co / Gerhard Bauer, Elsa Bachmeyer, Nadine Melchior, Vera Kühn

Aufbau museom Werkstätten Wien Museum: Helmut Mayer Richard Weineck Christian Schierer Thomas Hanna Josef Brunner Reinhard Schneeberger

Gestaltung Audio Guide Johann Kneihs mit Unterstützung des Wiener Volksliedwerkes Übersetzung Nick Somers

Fotos Wien Museum Peter Kainz Fotos Ausstellung Klaus Pichler Lektorat Sarah Legler Jorghi Poll Philipp Rissel

Ausstellungsbau museum standarts

Architektur Thomas Hamann

Mediengestaltung ZONE

Grafische Gestaltung Perndl+Co / Josef Perndl, Elsa Bachmeyer

Schrift ITC Century, Berthold Akzidenz Grotesk, Rockwell Papier Hello Fet matt Druck Grasl Druck & Neue Medien GmbH Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibiografische Daten sind im Internet über http://dnb-d-nb.de abrufbar.

Licht Christian Hofer Medientechnik cat-x

Lektorat Walter Öhlinger

1. Auflage Copyright © 2013 by Wien Museum und Christian Brandstätter Verlag

Alle Rechte, auch die des ­auszugsweisen Abdrucks oder der Reproduktion einer A ­ bbildung, sind vorbehalten. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ohne ­Zu­stimmung des Verlages ist ­unzulässig. Dies gilt insbesondere für ­Vervielfältigungen, ­Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die ­Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. ISBN Buchhandelsausgabe: 978-3-85033-764-9 ISBN Museum: 978-3-85033-783-0 Kürzel der Autorinnen und Autoren ED Elke Doppler EG Elisabeth Golzar EMO Eva-Maria Orosz FT Felix Taschner GM Gerhard Milchram IM Iris Mochar MN Martina Nußbaumer MP Michael Ponstingl SaB Sándor Békési SuB Susanne Breuss WK Wolfgang Kos WÖ Walter Öhlinger Bildcredits: Otto Schmidt: „Wäschermädel“, 1886, Wien Museum, Inv.Nr. 75.668/13 (Titelbild) Otto Schmidt: „Der Wasserer (Wagen­wäscher)“, 1886, Wien Museum, Inv.Nr. 75.668/4 (1. Umschlagseite innen) Otto Schmidt: „Bei der B ­ urgmusik“, 1886, Wien Museum, Inv.Nr. 75.668/22 (Rückseite) Leopold Bachrich: „Wäschermädl“, 1877/78, Wien Museum, Inv.Nr. 72.601/2 Abb. S. 2: Hans Schließmann: ­„Wiener Typen“-Marsch von Johann Schrammel, 1893, Wienbibliothek im Rathaus

Hauptsponsor:

Abb. S. 24, 25 Didi Sattmann: Verkäufer von Konzertkarten, 2013

Ausstellungssponsor:

Abb. S. 358, 359: Hans Schließmann: Skizzenblatt zum Wiener Volksleben, um 1900

4

Aufsätze

Ausstellung „Wiener Typen“

14

Wolfgang Kos

106

X. Neues Medium, alte Muster „Wiener Typen“ von Otto Schmidt, ab 1873

26

J E NS W I E T O R S C H K E

114

XI. Typen werden Individuen Josef Engelhart, um 1900

32

E l i s a b eth G o l z a r

120

XII. Straßenfotografie, um 1900 Emanuel Wähner, Franz Kaiser und Emil Mayer

128

XIII. Das Elend der Deklassierten Hermine Heller-Ostersetzer, 1900

Ausstellung „Kaufrufe“ und „Wiener Szenen“

132

XIV. Direkt ins Museum Aquarelle von Isa Jechl, ab 1902

136

XV. Vertrautes in Massenauflage Reklamezettel und Ansichtskarten, um 1900

142

XVI. Zwischen den Zeiten Karikaturen von Rudolf Kristen, 1921

146

XVII. Die Stadt als Milieu Fotobände der Nachkriegszeit

Einleitung

Die Stadt als Tableau Zur kulturellen Konstruktion der „Wiener Typen“

Bilder führen durch den Klang der Stadt Die Entwicklung der europäischen Kaufrufgrafik

42

I. Straßentypen als Tafelschmuck Wiener Porzellanfiguren, 1745–1785

46

II. Individuen oder Typen? Der „Große Kaufruf“ von Johann Christian Brand, ab 1775

56

III. 100 preiswerte ­Kupferstiche „Kleiner Kaufruf“ von Jakob Adam, 1777–1780

64 IV. Mitspieler im städtischen Leben „Wiener Szenen“ von Georg Emanuel Opitz, 1803/1804 70

V. Große Nachfrage Verlage im Konkurrenzkampf, 1800–1826

78

VI. Erste Kaufrufe im Wiener Dialekt „Wiener Ausruffungen“ von Ferdinand Cosandier, um 1823

84

VII. Spielfiguren Die Typenwelt im Kleinformat, 1825–1880

90

VIII. Die Stadt im Kaleidoskop „Wien und die Wiener“, 1844

96 IX. Kritik an den Zuständen „Wiener Charaktere“ von Anton Zampis, 1844/1847

5


inhalt

Wiener Typen. Klischees und Wirklichkeit 387. Sonderausstellung des Wien Museums Wien Museum Karlsplatz 25. April bis 6. Oktober 2013

Ausstellung

Katalog

Idee und Konzept Wolfgang Kos

Ausstellungproduktion Bärbl Schrems

Herausgeber Wolfgang Kos

Assistenz Felix Taschner

Registrar Laura Tomicek

Kuratorische Mitarbeit Sándor Békési Susanne Breuss Elisabeth Golzar Gerhard Milchrahm Martina Nußbaumer Felix Taschner

Objektverwaltung Letizia Fischer

Redaktion Katrin Ecker Felix Taschner

Recherchen Elke Doppler Katrin Ecker Julia Teresa Friehs Alexandra Hönigmann-Tempelmayr Iris Mochar Werner Michael Schwarz

Restaurierung Anne Biber Nora Gasser Marguerite Ifsits Sabine Imp Regula Künzli Alexandra Moser Karin Maierhofer Sabine Reinisch

Grafikproduktion CT Werbung Tibor Csongvai KG

Ausstellungsgrafik Perndl+Co / Gerhard Bauer, Elsa Bachmeyer, Nadine Melchior, Vera Kühn

Aufbau museom Werkstätten Wien Museum: Helmut Mayer Richard Weineck Christian Schierer Thomas Hanna Josef Brunner Reinhard Schneeberger

Gestaltung Audio Guide Johann Kneihs mit Unterstützung des Wiener Volksliedwerkes Übersetzung Nick Somers

Fotos Wien Museum Peter Kainz Fotos Ausstellung Klaus Pichler Lektorat Sarah Legler Jorghi Poll Philipp Rissel

Ausstellungsbau museum standarts

Architektur Thomas Hamann

Mediengestaltung ZONE

Grafische Gestaltung Perndl+Co / Josef Perndl, Elsa Bachmeyer

Schrift ITC Century, Berthold Akzidenz Grotesk, Rockwell Papier Hello Fet matt Druck Grasl Druck & Neue Medien GmbH Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibiografische Daten sind im Internet über http://dnb-d-nb.de abrufbar.

Licht Christian Hofer Medientechnik cat-x

Lektorat Walter Öhlinger

1. Auflage Copyright © 2013 by Wien Museum und Christian Brandstätter Verlag

Alle Rechte, auch die des ­auszugsweisen Abdrucks oder der Reproduktion einer A ­ bbildung, sind vorbehalten. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ohne ­Zu­stimmung des Verlages ist ­unzulässig. Dies gilt insbesondere für ­Vervielfältigungen, ­Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die ­Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. ISBN Buchhandelsausgabe: 978-3-85033-764-9 ISBN Museum: 978-3-85033-783-0 Kürzel der Autorinnen und Autoren ED Elke Doppler EG Elisabeth Golzar EMO Eva-Maria Orosz FT Felix Taschner GM Gerhard Milchram IM Iris Mochar MN Martina Nußbaumer MP Michael Ponstingl SaB Sándor Békési SuB Susanne Breuss WK Wolfgang Kos WÖ Walter Öhlinger Bildcredits: Otto Schmidt: „Wäschermädel“, 1886, Wien Museum, Inv.Nr. 75.668/13 (Titelbild) Otto Schmidt: „Der Wasserer (Wagen­wäscher)“, 1886, Wien Museum, Inv.Nr. 75.668/4 (1. Umschlagseite innen) Otto Schmidt: „Bei der B ­ urgmusik“, 1886, Wien Museum, Inv.Nr. 75.668/22 (Rückseite) Leopold Bachrich: „Wäschermädl“, 1877/78, Wien Museum, Inv.Nr. 72.601/2 Abb. S. 2: Hans Schließmann: ­„Wiener Typen“-Marsch von Johann Schrammel, 1893, Wienbibliothek im Rathaus

Hauptsponsor:

Abb. S. 24, 25 Didi Sattmann: Verkäufer von Konzertkarten, 2013

Ausstellungssponsor:

Abb. S. 358, 359: Hans Schließmann: Skizzenblatt zum Wiener Volksleben, um 1900

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Aufsätze

Ausstellung „Wiener Typen“

14

Wolfgang Kos

106

X. Neues Medium, alte Muster „Wiener Typen“ von Otto Schmidt, ab 1873

26

J E NS W I E T O R S C H K E

114

XI. Typen werden Individuen Josef Engelhart, um 1900

32

E l i s a b eth G o l z a r

120

XII. Straßenfotografie, um 1900 Emanuel Wähner, Franz Kaiser und Emil Mayer

128

XIII. Das Elend der Deklassierten Hermine Heller-Ostersetzer, 1900

Ausstellung „Kaufrufe“ und „Wiener Szenen“

132

XIV. Direkt ins Museum Aquarelle von Isa Jechl, ab 1902

136

XV. Vertrautes in Massenauflage Reklamezettel und Ansichtskarten, um 1900

142

XVI. Zwischen den Zeiten Karikaturen von Rudolf Kristen, 1921

146

XVII. Die Stadt als Milieu Fotobände der Nachkriegszeit

Einleitung

Die Stadt als Tableau Zur kulturellen Konstruktion der „Wiener Typen“

Bilder führen durch den Klang der Stadt Die Entwicklung der europäischen Kaufrufgrafik

42

I. Straßentypen als Tafelschmuck Wiener Porzellanfiguren, 1745–1785

46

II. Individuen oder Typen? Der „Große Kaufruf“ von Johann Christian Brand, ab 1775

56

III. 100 preiswerte ­Kupferstiche „Kleiner Kaufruf“ von Jakob Adam, 1777–1780

64 IV. Mitspieler im städtischen Leben „Wiener Szenen“ von Georg Emanuel Opitz, 1803/1804 70

V. Große Nachfrage Verlage im Konkurrenzkampf, 1800–1826

78

VI. Erste Kaufrufe im Wiener Dialekt „Wiener Ausruffungen“ von Ferdinand Cosandier, um 1823

84

VII. Spielfiguren Die Typenwelt im Kleinformat, 1825–1880

90

VIII. Die Stadt im Kaleidoskop „Wien und die Wiener“, 1844

96 IX. Kritik an den Zuständen „Wiener Charaktere“ von Anton Zampis, 1844/1847

5


Aufsätze

152

S u s a n n e Bre u s s

158

Gerh a r d M i l chr a m

166

Gertr a u d Sch a l l er - P re s s l er

170

R u d i Pa l l a

174

P eter P a y er

178

Ausstellung Themen 208

Kreebs’n und Limonien, Schweewl und Bomad Alltags- und konsumhistorische Aspekte der Wiener Kaufruf- und Volkstypendarstellungen um 1800

Auswärtige Händler in Wien Tiroler Teppichhändler, Figurini, Zwiebelkroaten, jüdische Hausierer und griechische Kaufleute

Kaufrufe als Phänomen der Volksmusik Singende Straßenverkäufer und Dienstleister in Wien

Fetzn, Bana, ålt’s Eisn Abfallverwertung im 18. und 19. Jahrhundert

Der Hausmeister Ein unsterblicher Wiener?

Sándor Békési und M a rti n a N u s s b a u mer

Die Gondolieri Wiens oder die „Wienerischten aller Wiener“ Zur Karriere der Fiaker im symbolischen Inventar der Stadt

188

A n d re a s W ei g l

192

M ich a e l P o n s ti n g l

Im rechtsfreien Raum Berufliche Realität in der Gastronomie und beim Dienstpersonal

C hri s ti a n R a pp

Von Deutschmeistern und Hausierern Aus dem Typenspektrum der Wiener Publizistik um 1900

246

1. Woher sie kamen Wirtschaftsfaktor Wanderhandel

322

12. Fesch und resch Mythos Wäschermädl

2. Schleppen Große Lasten, weite Wege

330

13. Frau Sopherl Der derbe Schmäh der Marktfrauen

216

P eter P a y er

252

Nigerl und Gigerl Zur Geschichte zweier Feuilleton-Stars von Eduard Pötzl

258

3. Notwendiges und Sonstiges Warenangebot im Straßenhandel

336

14. Instandhaltung der Stadt Straßenberufe im öffentlichen Auftrag

222

K l a r a L ö f f l er

266

4. Kinderarbeit Einst ganz selbstverständlich

344

15. Am Rand des Vergnügens Schauplatz Prater

228

J o a chim K a l k a

272 5. Reparieren statt Wegwerfen Wanderhandwerker

348

16. Comeback des Fiakers Wiener Typen im Dienst des Tourismus

Der letzte ubiquitäre Kaufruf: -bee! Der Extraausgabenlärm in Karl Kraus’ Die letzten Tage der Menschheit

278 6. Ganz Unten Abfallverwertung

232

M a x W i n ter

238

Das Standelweib im Ensemble der Volkstypen Das Feuilleton als Ort der Verwienerung

284

7. Sehnsucht nach dem Vertrauten Wiener Typen in Neu-Wien

I ri s M o ch a r

294

8. Der Star unter den Wiener Typen Die Karriere des Fiakers

Beim Entschwinden im Gesang gefeiert Die Popularisierung von Wiener Typen im Wienerlied und Wiener Schlager des 20. Jahrhundert

302

9. Arme Musikanten Nicht immer Fidel

310

10. Die Gigerln von Wien Eine fiktive Figur wird populär

316

11. Der Pülcher Halbstark und kleinkriminell

Wiener Straßenhandel – Eine Umfrage auf der Straße Reportage aus der Arbeiter-Zeitung Nr. 95 vom 7.4.1901

Otto Schmidts Spektakel der Wiener Typen

202 M ich a e l a H a i b l mit Fe l i x T a s ch n er

Von Blumenweibern und Stubenmädchen Frauen in den Wiener Kaufruf- und Typenserien

6

7


Aufsätze

152

S u s a n n e Bre u s s

158

Gerh a r d M i l chr a m

166

Gertr a u d Sch a l l er - P re s s l er

170

R u d i Pa l l a

174

P eter P a y er

178

Ausstellung Themen 208

Kreebs’n und Limonien, Schweewl und Bomad Alltags- und konsumhistorische Aspekte der Wiener Kaufruf- und Volkstypendarstellungen um 1800

Auswärtige Händler in Wien Tiroler Teppichhändler, Figurini, Zwiebelkroaten, jüdische Hausierer und griechische Kaufleute

Kaufrufe als Phänomen der Volksmusik Singende Straßenverkäufer und Dienstleister in Wien

Fetzn, Bana, ålt’s Eisn Abfallverwertung im 18. und 19. Jahrhundert

Der Hausmeister Ein unsterblicher Wiener?

Sándor Békési und M a rti n a N u s s b a u mer

Die Gondolieri Wiens oder die „Wienerischten aller Wiener“ Zur Karriere der Fiaker im symbolischen Inventar der Stadt

188

A n d re a s W ei g l

192

M ich a e l P o n s ti n g l

Im rechtsfreien Raum Berufliche Realität in der Gastronomie und beim Dienstpersonal

C hri s ti a n R a pp

Von Deutschmeistern und Hausierern Aus dem Typenspektrum der Wiener Publizistik um 1900

246

1. Woher sie kamen Wirtschaftsfaktor Wanderhandel

322

12. Fesch und resch Mythos Wäschermädl

2. Schleppen Große Lasten, weite Wege

330

13. Frau Sopherl Der derbe Schmäh der Marktfrauen

216

P eter P a y er

252

Nigerl und Gigerl Zur Geschichte zweier Feuilleton-Stars von Eduard Pötzl

258

3. Notwendiges und Sonstiges Warenangebot im Straßenhandel

336

14. Instandhaltung der Stadt Straßenberufe im öffentlichen Auftrag

222

K l a r a L ö f f l er

266

4. Kinderarbeit Einst ganz selbstverständlich

344

15. Am Rand des Vergnügens Schauplatz Prater

228

J o a chim K a l k a

272 5. Reparieren statt Wegwerfen Wanderhandwerker

348

16. Comeback des Fiakers Wiener Typen im Dienst des Tourismus

Der letzte ubiquitäre Kaufruf: -bee! Der Extraausgabenlärm in Karl Kraus’ Die letzten Tage der Menschheit

278 6. Ganz Unten Abfallverwertung

232

M a x W i n ter

238

Das Standelweib im Ensemble der Volkstypen Das Feuilleton als Ort der Verwienerung

284

7. Sehnsucht nach dem Vertrauten Wiener Typen in Neu-Wien

I ri s M o ch a r

294

8. Der Star unter den Wiener Typen Die Karriere des Fiakers

Beim Entschwinden im Gesang gefeiert Die Popularisierung von Wiener Typen im Wienerlied und Wiener Schlager des 20. Jahrhundert

302

9. Arme Musikanten Nicht immer Fidel

310

10. Die Gigerln von Wien Eine fiktive Figur wird populär

316

11. Der Pülcher Halbstark und kleinkriminell

Wiener Straßenhandel – Eine Umfrage auf der Straße Reportage aus der Arbeiter-Zeitung Nr. 95 vom 7.4.1901

Otto Schmidts Spektakel der Wiener Typen

202 M ich a e l a H a i b l mit Fe l i x T a s ch n er

Von Blumenweibern und Stubenmädchen Frauen in den Wiener Kaufruf- und Typenserien

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10

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Einleitung

Abb. 2: Franz Högler: Tragantfiguren auf Bonbonschachteln, um 1840, Österreichisches Theatermuseum, Wien

(v.l.n.r.: Speisenkellner, Bandelkramer, Stutzer)

Wolfgang Kos

„Kaufrufe“

Alt-Wien. Die Stadt, die niemals war lautete der Titel einer großen und für das Wien Museum programmatischen Ausstellung, die 2004 im Künstlerhaus stattfand.1 Thema war Wiens Affinität zur nostalgischen Verklärung der angeblich guten, alten Zeit: Wie entstand diese und warum im späten 19. Jahrhundert, einer besonders dynamischen Epoche auf dem Weg Wiens zur modernen Metropole? Wie wurde aus einer angesichts massiver Demolierungen von Verlust­ängsten geprägten Retrostimmung manifeste Ideologie, wie aus Fortschrittskritik Sentimentalität? Und wie übersetzte sich der Topos „Alt-Wien“ in ein Set von retrospektiven Codes und damit ins kulturell Imaginäre, um dann als Ausdruck des „Ur-Wienerischen“ alle Bereiche der Unterhaltungskultur zu durchdringen? Neben Kapiteln über Demolierungen, Schubert als Personifizierung des Biedermeier („Schwammerls Wien“) oder die Anfänge der touristischen Wien-Promotion („Alt-Wien als Marke“) gab es auch einen Raum zu den Wiener Typen („Die verewigte Gemütlichkeit“). Die „Wiener Typen“, so Christian Rapp im Kapiteltext, „waren die Charakter-Darsteller auf der städtischen Bühne“.2 Sándor Békési nennt sie „die gesellschaftlichen Verkörperungen der Alt-Wien-Nostalgie“ im Rahmen einer „pittoresken Gegenerzählung zur Realität der Frühmoderne“.3 Mit „Wiener Typen“ bezeichnete man vor allem populäre Bildserien mit stereotypisierenden und ikonografisch stabilen Darstellungen von Straßenhändlern und anderen als stadttypisch geltenden Figuren: Wäschermädel und Standlerinnen, Scherenschleifer und „Zwiebelkrowoten“, stolze Fiaker und freche Schusterbuben. Als kulturelle Konstruktionen zirkulierten sie circa ab 1870 in vielerlei Medien wie Druckgrafik und Fotografie, waren aber auch beliebte ­Sujets in Feuilleton und Wienerlied.

Abb. 1: Johann Christian Brand:

„Vögelkrämer. Vendeur d´oiseaux“, aus der Serie „Zeichnungen nach dem gemeinen Volke Besonders Der Kaufruf in Wien“, 1798

(Vgl. II.2, S. 48)

14

Wiens wichtigste „Kaufrufe“ sind im ersten Teil der Ausstellung bzw. des Katalogs zu sehen, dieser reicht bis ungefähr 1850. Der zweite Teil gilt der Phase der explizit das Wienertum repräsentierenden „Wiener Typen“. Die Serien werden in Ausschnitten als „klassische“ Galerie auf weißen Wänden präsentiert, in scharfem Kontrast zu den mit starken Farben markierten „Themen“-Specials. Zwei Motive standen am Beginn dieses Ausstellungsprojekts: Einerseits gilt es einmal mehr, Wiens „urban legends“ auf die Spur kommen, vor allem aber sollen außergewöhnliche Bestände des Museums erstmals umfänglich präsentiert werden. Vor allem im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert kam es in Wien „zu einem beispiellosen Aufschwung“ der populären Druckgrafik, der zu einem „spezifischen Wiener Bilderkosmos“ führte.5 In der Sammlung des Wien Museums bilden druckgrafische und frühe fotografische Serien mit „Kaufrufen“, „Wiener Volksszenen“ und „Wiener Typen“ einen bedeutsamen und in Österreich in dieser Dichte und Qualität einzigartigen Bestand. Mehrere Ausstellungen des Wien Museums der letzten Jahre machten bereits andere Viennensia-Sammlungen des Hauses sichtbar: die Stadtfotografien von August Stauda (Wien war anders, 2006), die Vedutenserien des Verlags Artaria (Schöne Aussichten, 2007) oder die ebenfalls um 1800 erfolgreichen „Bildreportagen“ des Verlags Löschenkohl (Sensationen aus dem alten Wien, 2009).

Diese Ausstellung nimmt die Fäden von 2004 wieder auf, vertieft und erweitert sie – thematisch und in der Fülle des gezeigten Materials. Vor allem ist das Zeitspektrum wesentlich weiter gefasst, reicht die Ausstellung doch zurück bis zu den kulturhistorisch so wichtigen „Kaufrufen“, den Vorläufern der „Typen“-Genres. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kamen in Wien erstmals Darstellungen von aus­ wärtigen und lokalen Straßenhändlern und -händlerinnen sowie ambulanten Dienstleistern und ­ Taglöhnern auf den Markt4 – zuerst in Form von Porzellanfiguren, ab 1775 als Kupferstichserien, beginnend mit den berühmten „Bildern des gemeinen Volkes“ von Johann Christian Brand, die als „Großer Kaufruf“ in die österreichische ­Grafikgeschichte eingingen. Es handelte sich bei solchen Darstellungen um keine Wiener Erfindung, sondern um ein europäisches ­Phänomen, das in Paris, Bologna oder Paris schon eine l­ ange Vorgeschichte hinter sich hatte (Vgl. Beitrag Golzar). Ob in Zürich oder St. Petersburg: Man kann davon ausgehen, dass überall von Wanderhändlern Leinwände oder ­Kastanien verkauft wurden und dass man überall Scherenschleifer oder Laternenanzünder brauchte. Der für grafische Blätter ungewöhnlich anmutende Begriff „Kaufruf“ bezog sich auf die eindringlichen und je nach Beruf unterschiedlichen und standardisierten Rufe, mit denen Straßenverkäufer und Hausierer ihre Waren im Straßenlärm anpriesen, also eine frühe Form von Jingles (Vgl. Beitrag Schaller-Pressler). Entscheidend war die Werbewirksamkeit, also die sofortige Erkennbarkeit der Berufe und ihrer Angebote, wozu auch die für die Stadtbevölkerung pittoresk wirkenden Trachten der italienischen „Salamucci“ oder Tiroler Teppichhändler beitrugen. Das gilt auch für die bildlichen Darstellungen, die zwar als „lebensnah“ galten, jedoch nicht Individuen, sondern eben Typen und Rollen zeigen.

Blick von oben nach unten Allen Serien gemeinsam ist, dass sie aus kommerziellem Kalkül erschienen sind und sich an ein kauffreudiges Publikum wandten. Die Gestalter, die nicht als autonome Autorenkünstler agierten, mussten sich also an den jeweiligen Zeitmoden und Publikumserwartungen orientieren. Dass die Kaufruf- und Typendarstellungen stets in t­ eilweise 15


Einleitung

Abb. 2: Franz Högler: Tragantfiguren auf Bonbonschachteln, um 1840, Österreichisches Theatermuseum, Wien

(v.l.n.r.: Speisenkellner, Bandelkramer, Stutzer)

Wolfgang Kos

„Kaufrufe“

Alt-Wien. Die Stadt, die niemals war lautete der Titel einer großen und für das Wien Museum programmatischen Ausstellung, die 2004 im Künstlerhaus stattfand.1 Thema war Wiens Affinität zur nostalgischen Verklärung der angeblich guten, alten Zeit: Wie entstand diese und warum im späten 19. Jahrhundert, einer besonders dynamischen Epoche auf dem Weg Wiens zur modernen Metropole? Wie wurde aus einer angesichts massiver Demolierungen von Verlust­ängsten geprägten Retrostimmung manifeste Ideologie, wie aus Fortschrittskritik Sentimentalität? Und wie übersetzte sich der Topos „Alt-Wien“ in ein Set von retrospektiven Codes und damit ins kulturell Imaginäre, um dann als Ausdruck des „Ur-Wienerischen“ alle Bereiche der Unterhaltungskultur zu durchdringen? Neben Kapiteln über Demolierungen, Schubert als Personifizierung des Biedermeier („Schwammerls Wien“) oder die Anfänge der touristischen Wien-Promotion („Alt-Wien als Marke“) gab es auch einen Raum zu den Wiener Typen („Die verewigte Gemütlichkeit“). Die „Wiener Typen“, so Christian Rapp im Kapiteltext, „waren die Charakter-Darsteller auf der städtischen Bühne“.2 Sándor Békési nennt sie „die gesellschaftlichen Verkörperungen der Alt-Wien-Nostalgie“ im Rahmen einer „pittoresken Gegenerzählung zur Realität der Frühmoderne“.3 Mit „Wiener Typen“ bezeichnete man vor allem populäre Bildserien mit stereotypisierenden und ikonografisch stabilen Darstellungen von Straßenhändlern und anderen als stadttypisch geltenden Figuren: Wäschermädel und Standlerinnen, Scherenschleifer und „Zwiebelkrowoten“, stolze Fiaker und freche Schusterbuben. Als kulturelle Konstruktionen zirkulierten sie circa ab 1870 in vielerlei Medien wie Druckgrafik und Fotografie, waren aber auch beliebte ­Sujets in Feuilleton und Wienerlied.

Abb. 1: Johann Christian Brand:

„Vögelkrämer. Vendeur d´oiseaux“, aus der Serie „Zeichnungen nach dem gemeinen Volke Besonders Der Kaufruf in Wien“, 1798

(Vgl. II.2, S. 48)

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Wiens wichtigste „Kaufrufe“ sind im ersten Teil der Ausstellung bzw. des Katalogs zu sehen, dieser reicht bis ungefähr 1850. Der zweite Teil gilt der Phase der explizit das Wienertum repräsentierenden „Wiener Typen“. Die Serien werden in Ausschnitten als „klassische“ Galerie auf weißen Wänden präsentiert, in scharfem Kontrast zu den mit starken Farben markierten „Themen“-Specials. Zwei Motive standen am Beginn dieses Ausstellungsprojekts: Einerseits gilt es einmal mehr, Wiens „urban legends“ auf die Spur kommen, vor allem aber sollen außergewöhnliche Bestände des Museums erstmals umfänglich präsentiert werden. Vor allem im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert kam es in Wien „zu einem beispiellosen Aufschwung“ der populären Druckgrafik, der zu einem „spezifischen Wiener Bilderkosmos“ führte.5 In der Sammlung des Wien Museums bilden druckgrafische und frühe fotografische Serien mit „Kaufrufen“, „Wiener Volksszenen“ und „Wiener Typen“ einen bedeutsamen und in Österreich in dieser Dichte und Qualität einzigartigen Bestand. Mehrere Ausstellungen des Wien Museums der letzten Jahre machten bereits andere Viennensia-Sammlungen des Hauses sichtbar: die Stadtfotografien von August Stauda (Wien war anders, 2006), die Vedutenserien des Verlags Artaria (Schöne Aussichten, 2007) oder die ebenfalls um 1800 erfolgreichen „Bildreportagen“ des Verlags Löschenkohl (Sensationen aus dem alten Wien, 2009).

Diese Ausstellung nimmt die Fäden von 2004 wieder auf, vertieft und erweitert sie – thematisch und in der Fülle des gezeigten Materials. Vor allem ist das Zeitspektrum wesentlich weiter gefasst, reicht die Ausstellung doch zurück bis zu den kulturhistorisch so wichtigen „Kaufrufen“, den Vorläufern der „Typen“-Genres. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kamen in Wien erstmals Darstellungen von aus­ wärtigen und lokalen Straßenhändlern und -händlerinnen sowie ambulanten Dienstleistern und ­ Taglöhnern auf den Markt4 – zuerst in Form von Porzellanfiguren, ab 1775 als Kupferstichserien, beginnend mit den berühmten „Bildern des gemeinen Volkes“ von Johann Christian Brand, die als „Großer Kaufruf“ in die österreichische ­Grafikgeschichte eingingen. Es handelte sich bei solchen Darstellungen um keine Wiener Erfindung, sondern um ein europäisches ­Phänomen, das in Paris, Bologna oder Paris schon eine l­ ange Vorgeschichte hinter sich hatte (Vgl. Beitrag Golzar). Ob in Zürich oder St. Petersburg: Man kann davon ausgehen, dass überall von Wanderhändlern Leinwände oder ­Kastanien verkauft wurden und dass man überall Scherenschleifer oder Laternenanzünder brauchte. Der für grafische Blätter ungewöhnlich anmutende Begriff „Kaufruf“ bezog sich auf die eindringlichen und je nach Beruf unterschiedlichen und standardisierten Rufe, mit denen Straßenverkäufer und Hausierer ihre Waren im Straßenlärm anpriesen, also eine frühe Form von Jingles (Vgl. Beitrag Schaller-Pressler). Entscheidend war die Werbewirksamkeit, also die sofortige Erkennbarkeit der Berufe und ihrer Angebote, wozu auch die für die Stadtbevölkerung pittoresk wirkenden Trachten der italienischen „Salamucci“ oder Tiroler Teppichhändler beitrugen. Das gilt auch für die bildlichen Darstellungen, die zwar als „lebensnah“ galten, jedoch nicht Individuen, sondern eben Typen und Rollen zeigen.

Blick von oben nach unten Allen Serien gemeinsam ist, dass sie aus kommerziellem Kalkül erschienen sind und sich an ein kauffreudiges Publikum wandten. Die Gestalter, die nicht als autonome Autorenkünstler agierten, mussten sich also an den jeweiligen Zeitmoden und Publikumserwartungen orientieren. Dass die Kaufruf- und Typendarstellungen stets in t­ eilweise 15


sehr umfangreichen Serien herausgebracht wurden, hat einerseits damit zu tun, dass es sich um Sammelbilder handelte, und andererseits mit der Absicht, enzyklopädieartige Verzeichnisse der Straßenberufe anzulegen. Für so gut wie alle dargestellten Figuren gilt, dass sie aus der Unterschicht stammten und unter prekären Bedingungen ihr Geld verdienen mussten. Der Blick auf sie war also einer von oben nach unten – mit Ausnahme von Respektspersonen wie Wachmann und Hausmeister (Vgl. Beitrag Payer) – und geprägt von den Vorstellungen und Projektionen von Konsumenten, die sich mit den „Kaufrufen“ und „Typen“ Vertreter einer ihnen fremden Arbeitswelt in ihr Leben holten. Das ging nicht ohne Schematisierung, Romantisierung, Exotisierung und Verharmlosung ab. Die schweren Lebens- und Arbeitsumstände interessierten das Publikum und die Bildgestalter dagegen kaum. Trotz ihrer Tendenz zur Stereotypisierung sind die Abbildungen informative Zeitdokumente, die beispielweise von verschwundenen (und häufig vergessenen) Berufen wie Rastelbinder, Aschenmann oder Haderlumpenweib erzählen (Vgl. Beitrag Palla) oder von vormodernen Konsumgewohnheiten und Distributionswegen (Vgl. Beitrag Breuss). Zwischen Klischees und Wirklichkeit gab es einen ständigen Transfer: Die „Typen“ waren Kunstprodukte, die der Realität entnommen waren (Vgl. Beitrag Witschorke). Die Themen-Kapitel (im Katalog mit arabischen Zahlen versehen) zu „Kinderarbeit“, „Schleppen“ oder den „Armen Musikanten“ laden dazu ein, das Bildmaterial in Kombination mit anderen Quellen und Hintergrundinformationen gegen den Strich zu lesen, also den Blick auf einige Aspekte von beruflicher Realität und Darstellungsweisen zu richten. Dazu finden sich auch etliche Katalogbeiträge, etwa zur Herkunft der in Wien tätigen Hausierer und zur Organisation des bis ins frühe 19. Jahrhundert so wichtigen Wanderhandels (Vgl. Beitrag Milchram) bis hin zu den katastrophalen Arbeitsbedingungen in der Gastronomie (Vgl. Beitrag Weigl) oder zur Typisierung von Frauenfiguren, (Vgl. Beitrag Haibl). Andere Spezialthemen informieren über im TypenPersonal fest verankerte Berufe und ihre Bedeutung für das städtische Leben und die Ökonomie (Infrastrukturberufe, Flickhandwerker, Abfallsammler) ebenso wie über den Mythos von „Typen“, die speziell im späten 19. Jahrhundert Karriere machten – Wäschermädel, Marktfrau, Fiaker, Pülcher und der als „Gigerl“ bezeichnete Modegeck, der von einem Journalisten erfunden wurde.

verstanden, mittels derer eine Gruppe kollektive Identität konstruiert, „Eigenes“ in Abgrenzung zum „Anderen“. Die Entwicklung von den international austauschbaren Kaufrufdarstellungen des 18. Jahrhunderts zu den „Wiener Typen“ spiegelt diese semantische Verschiebung, wurden „Volksfiguren“ wie Fiaker oder Wäschermädel doch in der Deutung der meinungsbildenden Feuilletonisten zunehmend zu Repräsentanten des Wienerischen, im lokalpatriotischen ebenso wie im gemeinschaftsbildenden und ausschließenden Sinn. Sie wurden, um Klara Löffler zu zitieren, „eingewienert“. Die Abgrenzung galt einerseits der modernen und differenzierteren Gesellschaft, der gegenüber die „Wiener Typen“ für eine Welt der Übersicht und der sentimentalen Sehnsucht nach der angeblich guten alten Zeit standen. Zugleich ließ sich mittels der „Typen“ die Wiener Lebensart als Allein­ stellungs­ merkmal gegenüber anderen Stadtkulturen konstituieren, denen die harmonische Gemütlichkeit abgesprochen wurde. Erinnert sei an den um 1900 geführten Diskurs zwischen dem „schnellen“ Berlin und dem „­ langsamen“ Wien. Auch wenn es überall Straßentypen gab, in der Wiener Selbstsicht waren sie in Wien spezieller und „hochcharakteristischer“ (Friedrich Schlögl). Typisch für die feuilletonistische Wien-Verklärung war die Behauptung, dass es im Straßenbild keiner anderen Großstadt eine solche Fülle einzigartiger Volksfiguren gebe. Zitiert sei einer der einflussreichen Interpreten des Wienertums, Eduard Pötzl, der 1895 feststellte: „Das Wiener Straßenbild bietet Erscheinungen, die so recht geeignet sind, selbst dem flüchtigen Beobachter die stark ausgeprägte Subjectivität des Wieners darzuthun.“6 Zwar würden Bretzelmänner, Kutscher oder Rauchfangkehrer auch „in anderen Großstädte[n] auf der Bildfläche herumwimmeln“, doch darüber hinaus gebe es viele, „die außerhalb Wiens überhaupt nicht vorkommen oder doch in wesentlich veränderter Form“. Pötzl lässt dann eine Reihe von Wiener „Exklusiv-Typen“ auftreten: Der „Kästenbrater“ preise seine Ware „wohl kaum irgendwo“ mit dem Ruf „Maroni, Maroni arrostiti, bratene Aepfel!“ an. Auch der „Zwiefelkrawat“ oder „die kurzgeschützte und hochgestiefelte Slowakin mit ihrer ‚Spiegelei‘ [Spielzeug]“ gebe es ausschließlich in Wien, ebenso den Lumpensammler, das Lawendelweib, die Rastelbinder oder die nach der Annexion von Bosnien-Herzegowina in Wien hausierenden bosniakischen Tschibuk- und Messerhändler: „Sie alle gedeihen nur in der Wiener Luft.“ Mit dieser multikulturellen Idylle weist Pötzl auch auf Wiens zentrale Rolle in einem Vielvölkerstaat hin. Aus den anfänglichen idealtypischen Berufsdarstellungen ohne ausgeprägte lokale Zuschreibung wurden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit dem neuen Leitbegriff „Wiener Typen“ also Gesellschaftstypen, die ihre Stadt und deren Charakter und Mentalität repräsentierten.7 Damit waren sie in die Pflicht genommen, für eine bestimmt Deutung des Wienerischen zu werben. Denn im „cultural clash“ zwischen Alt-Wien und Neu-Wien schien die Physiognomie der Stadt doppelt gefährdet: Einerseits im Stadtbild, das von Demolierungen bedroht und tatsächlich drastisch verändert wurde, andererseits galt es, das urtümliche Wienertum zu bewahren.

Vom „gemeinen Volk“ zu den „Wiener Typen“ 1775 wurden die von Brand abgebildeten Figuren mit dem Begriff „gemeines Volk“ zusammengefasst, ungefähr ab 1800 war von „Volksszenen“ die Rede, später von „Wiener Typen“. Die Begriffe „Volk“ und „volkstümlich“ haben in diesen 100 Jahren eine wesentliche Veränderung durchlaufen. Im 18. Jahrhundert bezeichnete das „gemeine Volk“ relativ ideologiefrei vor allem die „breite Masse“, also Personen der unteren Gesellschaftsschicht. Mit der Aufladung des „Volkstümlichen“ durch Herder und die Romantik wurde unter „Volk“ verstärkt eine gemeinsame kulturelle Herkunft

1791 um 1875

1865

um 1880

um 1880

spätes 19. Jh. Abb. 3: v.ln.r.: Schusterbub, 1791 Vinzenz Katzler: Schusterbub, 1865, Sammlung Christian Brandstätter Otto Schmidt: „Wiener Typen“, Nr. 8: „Schusterbub“, um 1875 Schusterbub, um 1880 Ladislaus Eugen Petrovits: Leporello „Wiener Typen – Schusterbub“, um 1880 Werbezettel des Warenhauses Emil Storch, spätes 19. Jh., Sammlung Christian Brandstätter Isa Jechl: Ein Schusterbub, 1902 um 1910

16 1902

Ansichtskarte „Wiener Typen – Schusterbub“, um 1910 Spendenbeleg des Winterhilfswerks „Wiener Typen – Schusterbub“, 1940

1940


sehr umfangreichen Serien herausgebracht wurden, hat einerseits damit zu tun, dass es sich um Sammelbilder handelte, und andererseits mit der Absicht, enzyklopädieartige Verzeichnisse der Straßenberufe anzulegen. Für so gut wie alle dargestellten Figuren gilt, dass sie aus der Unterschicht stammten und unter prekären Bedingungen ihr Geld verdienen mussten. Der Blick auf sie war also einer von oben nach unten – mit Ausnahme von Respektspersonen wie Wachmann und Hausmeister (Vgl. Beitrag Payer) – und geprägt von den Vorstellungen und Projektionen von Konsumenten, die sich mit den „Kaufrufen“ und „Typen“ Vertreter einer ihnen fremden Arbeitswelt in ihr Leben holten. Das ging nicht ohne Schematisierung, Romantisierung, Exotisierung und Verharmlosung ab. Die schweren Lebens- und Arbeitsumstände interessierten das Publikum und die Bildgestalter dagegen kaum. Trotz ihrer Tendenz zur Stereotypisierung sind die Abbildungen informative Zeitdokumente, die beispielweise von verschwundenen (und häufig vergessenen) Berufen wie Rastelbinder, Aschenmann oder Haderlumpenweib erzählen (Vgl. Beitrag Palla) oder von vormodernen Konsumgewohnheiten und Distributionswegen (Vgl. Beitrag Breuss). Zwischen Klischees und Wirklichkeit gab es einen ständigen Transfer: Die „Typen“ waren Kunstprodukte, die der Realität entnommen waren (Vgl. Beitrag Witschorke). Die Themen-Kapitel (im Katalog mit arabischen Zahlen versehen) zu „Kinderarbeit“, „Schleppen“ oder den „Armen Musikanten“ laden dazu ein, das Bildmaterial in Kombination mit anderen Quellen und Hintergrundinformationen gegen den Strich zu lesen, also den Blick auf einige Aspekte von beruflicher Realität und Darstellungsweisen zu richten. Dazu finden sich auch etliche Katalogbeiträge, etwa zur Herkunft der in Wien tätigen Hausierer und zur Organisation des bis ins frühe 19. Jahrhundert so wichtigen Wanderhandels (Vgl. Beitrag Milchram) bis hin zu den katastrophalen Arbeitsbedingungen in der Gastronomie (Vgl. Beitrag Weigl) oder zur Typisierung von Frauenfiguren, (Vgl. Beitrag Haibl). Andere Spezialthemen informieren über im TypenPersonal fest verankerte Berufe und ihre Bedeutung für das städtische Leben und die Ökonomie (Infrastrukturberufe, Flickhandwerker, Abfallsammler) ebenso wie über den Mythos von „Typen“, die speziell im späten 19. Jahrhundert Karriere machten – Wäschermädel, Marktfrau, Fiaker, Pülcher und der als „Gigerl“ bezeichnete Modegeck, der von einem Journalisten erfunden wurde.

verstanden, mittels derer eine Gruppe kollektive Identität konstruiert, „Eigenes“ in Abgrenzung zum „Anderen“. Die Entwicklung von den international austauschbaren Kaufrufdarstellungen des 18. Jahrhunderts zu den „Wiener Typen“ spiegelt diese semantische Verschiebung, wurden „Volksfiguren“ wie Fiaker oder Wäschermädel doch in der Deutung der meinungsbildenden Feuilletonisten zunehmend zu Repräsentanten des Wienerischen, im lokalpatriotischen ebenso wie im gemeinschaftsbildenden und ausschließenden Sinn. Sie wurden, um Klara Löffler zu zitieren, „eingewienert“. Die Abgrenzung galt einerseits der modernen und differenzierteren Gesellschaft, der gegenüber die „Wiener Typen“ für eine Welt der Übersicht und der sentimentalen Sehnsucht nach der angeblich guten alten Zeit standen. Zugleich ließ sich mittels der „Typen“ die Wiener Lebensart als Allein­ stellungs­ merkmal gegenüber anderen Stadtkulturen konstituieren, denen die harmonische Gemütlichkeit abgesprochen wurde. Erinnert sei an den um 1900 geführten Diskurs zwischen dem „schnellen“ Berlin und dem „­ langsamen“ Wien. Auch wenn es überall Straßentypen gab, in der Wiener Selbstsicht waren sie in Wien spezieller und „hochcharakteristischer“ (Friedrich Schlögl). Typisch für die feuilletonistische Wien-Verklärung war die Behauptung, dass es im Straßenbild keiner anderen Großstadt eine solche Fülle einzigartiger Volksfiguren gebe. Zitiert sei einer der einflussreichen Interpreten des Wienertums, Eduard Pötzl, der 1895 feststellte: „Das Wiener Straßenbild bietet Erscheinungen, die so recht geeignet sind, selbst dem flüchtigen Beobachter die stark ausgeprägte Subjectivität des Wieners darzuthun.“6 Zwar würden Bretzelmänner, Kutscher oder Rauchfangkehrer auch „in anderen Großstädte[n] auf der Bildfläche herumwimmeln“, doch darüber hinaus gebe es viele, „die außerhalb Wiens überhaupt nicht vorkommen oder doch in wesentlich veränderter Form“. Pötzl lässt dann eine Reihe von Wiener „Exklusiv-Typen“ auftreten: Der „Kästenbrater“ preise seine Ware „wohl kaum irgendwo“ mit dem Ruf „Maroni, Maroni arrostiti, bratene Aepfel!“ an. Auch der „Zwiefelkrawat“ oder „die kurzgeschützte und hochgestiefelte Slowakin mit ihrer ‚Spiegelei‘ [Spielzeug]“ gebe es ausschließlich in Wien, ebenso den Lumpensammler, das Lawendelweib, die Rastelbinder oder die nach der Annexion von Bosnien-Herzegowina in Wien hausierenden bosniakischen Tschibuk- und Messerhändler: „Sie alle gedeihen nur in der Wiener Luft.“ Mit dieser multikulturellen Idylle weist Pötzl auch auf Wiens zentrale Rolle in einem Vielvölkerstaat hin. Aus den anfänglichen idealtypischen Berufsdarstellungen ohne ausgeprägte lokale Zuschreibung wurden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit dem neuen Leitbegriff „Wiener Typen“ also Gesellschaftstypen, die ihre Stadt und deren Charakter und Mentalität repräsentierten.7 Damit waren sie in die Pflicht genommen, für eine bestimmt Deutung des Wienerischen zu werben. Denn im „cultural clash“ zwischen Alt-Wien und Neu-Wien schien die Physiognomie der Stadt doppelt gefährdet: Einerseits im Stadtbild, das von Demolierungen bedroht und tatsächlich drastisch verändert wurde, andererseits galt es, das urtümliche Wienertum zu bewahren.

Vom „gemeinen Volk“ zu den „Wiener Typen“ 1775 wurden die von Brand abgebildeten Figuren mit dem Begriff „gemeines Volk“ zusammengefasst, ungefähr ab 1800 war von „Volksszenen“ die Rede, später von „Wiener Typen“. Die Begriffe „Volk“ und „volkstümlich“ haben in diesen 100 Jahren eine wesentliche Veränderung durchlaufen. Im 18. Jahrhundert bezeichnete das „gemeine Volk“ relativ ideologiefrei vor allem die „breite Masse“, also Personen der unteren Gesellschaftsschicht. Mit der Aufladung des „Volkstümlichen“ durch Herder und die Romantik wurde unter „Volk“ verstärkt eine gemeinsame kulturelle Herkunft

1791 um 1875

1865

um 1880

um 1880

spätes 19. Jh. Abb. 3: v.ln.r.: Schusterbub, 1791 Vinzenz Katzler: Schusterbub, 1865, Sammlung Christian Brandstätter Otto Schmidt: „Wiener Typen“, Nr. 8: „Schusterbub“, um 1875 Schusterbub, um 1880 Ladislaus Eugen Petrovits: Leporello „Wiener Typen – Schusterbub“, um 1880 Werbezettel des Warenhauses Emil Storch, spätes 19. Jh., Sammlung Christian Brandstätter Isa Jechl: Ein Schusterbub, 1902 um 1910

16 1902

Ansichtskarte „Wiener Typen – Schusterbub“, um 1910 Spendenbeleg des Winterhilfswerks „Wiener Typen – Schusterbub“, 1940

1940


Abb. 4: Anton Scharff: Medaille „Wiener Wäschermädel“, 1876

„Volksleben“ im Museum

„Wiener Typen“ wurde zum Markenbegriff für ein noch unzerstörtes Wien, zu einem poetisierten Synonym für die Seele der Stadt. Eine wichtige Rolle spielte dabei der ­Dialekt, in dem Autoren wie Pötzl ihre Wiener Figuren sprechen l­ assen, also der grobe, aber letztlich herzliche „Spruch“ von Marktweibern oder Fiakern. Eine gewisse Aufsässigkeit war den „Typen“ zugeschrieben, im tatsächlichen Gegensatz zur ­Gesellschaft standen sie aber nie. Bemerkenswert ist, dass im Typenkanon der Gründerzeit auch Fremde und Migranten ihren Platz hatten und oft mit Sympathie beschrieben wurden, solange sie so pittoresk auftraten wie die folkloristisch gekleideten Bosniaken oder „Kroaten“ (die zumeist Slowaken waren). Präsentiert wurden sie wie alle Typen als isolierte Einzelfiguren und standen damit im Gegensatz zur Masse des vor allem aus Zuwanderern rekrutierten Industrieproletariats. Arbeiter hatten keine Chance, in den die vorindustrielle Lebenswelt idealisierenden Typenkanon aufgenommen zu werden. Man könnte sagen, die Begeisterung für „Wiener Typen“ in Bild, Text und Lied kaschierte eine Krisensituation mit Zukunftsängsten. Es ist kein Zufall, dass in den 1920erJahren, also nach dem Zusammenbruch der Monarchie und dem daraus folgenden Bedeutungsverlust der Metropole Wien eine letzte Typen-Nostalgiewelle als Reaktion auf Verlustängste zu konstatieren war. Irgendwann aber verlor sich die Relevanz der Kunstfigur „Wiener Type“; heute muss man erklären, was damit gemeint ist.

Schon die erste historische Schau der Stadt Wien im Jahr der Weltausstellung 1873 enthielt einen eigenen Abschnitt mit „Figuren aus dem Wiener Volksleben“, in dem unter ­anderem Kaufruf-Grafiken von Brand, Zampis und Opitz zu sehen waren, also Serien, die auch in unserer Ausstellung in Ausschnitten gezeigt werden.8 Auch bei der Erstaufstellung des Historischen Museums im Jahr 1888 nahmen „Volksfiguren und Volks-Scenen“ einen fixen Platz ein. Der Zugang entsprach dem der Feuilletonistik, die mit Geschichten von Wäschermädchen, Marktweibern oder Schusterbuben und deren Verknüpfung mit einer verklärend-retrospektiven Interpretation der Stadtentwicklung großen Einfluss hatte und die Zeitstimmung prägte. Mit „Volksleben“ war im Museum in den folgenden Jahrzehnten natürlich kein soziologischer Querschnitt gemeint, sondern die selektive Auswahl von „gewöhnlichen“ Menschen und traditionelle Lebensweisen in Ergänzung zur Oberschicht, deren Lebenszeugnisse den Kern der Sammlung bildeten.9 1907 zählte der damalige Direktor der städtischen Sammlungen, Johann Eugen Probst, folgende Bereiche des „Volkslebens“ auf: „[…] die Erscheinungen des gesellschaftlichen Lebens im weitesten Sinne, Typen, Volksbelustigungen, Kostümbilder etc.“10 An einem Beispiel lässt sich zeigen, wie auch das Museum an der Typenproduktion beteiligt war und wie dominant in den Köpfen der Kuratoren des Museums die Typenklischees waren: Unter der Inventarnummer 66.144 wurde einst eine Medaille inventarisiert, die eine ­unbekannte Frau zeigt. Der zuständige Kurator glaubte, ein Wäschermädel zu erkennen und ließ seine erotische ­Projektion in die Definition des Objekts einfließen, 18

gehören die Karikaturen aus der Zeitschrift „Hans-Jörgel“ oder die Illustratoren, die in der Massenpresse und gemeinsam mit den Feuilletonisten im späten 19. Jahrhundert über Jahrzehnte hinweg die Typologie der „Typen“ prägten, zum Beispiel Theodor Zasche, Felician von Myrbach oder Hans Schließmann, der als Deutscher zu einem Viennensia-Spezialisten wurde. Von ihm sind in der Ausstellung zahlreiche Zeichnungen zu sehen.

indem er die Frau als ­ „Wäschermädel (Dékoltée)“ ­bezeichnete.11 Das Sammeln von künstlerischen und alltagsgeschichtlichen Bildzeugnissen vom „kleinen Leben“ bildete von Anfang an einen Schwerpunkt. Neben Ankäufen aus dem Kunsthandel waren vor allem Erwerbungen und Schenkungen von privaten Viennensia-Sammlern bedeutungsvoll. Erst dadurch kam es zu den fast lückenlosen Spezialbeständen „Kaufrufe“ und „Wiener Typen“. Der umfangreichste Zugang war der 1937 erfolgte Ankauf von 16.000 Objekten aus der Sammlung von August Heymann, einem der bedeutendsten Kunst- und Viennensia-Sammler Wiens. Eine große Zahl der Exponate dieser Ausstellung stammen aus der ­Heymann-Sammlung. Die Museumsarbeit nach 1945 spiegelt Veränderungen im volkskundlichen Umgang mit dem städtischen Leben. Daran wesentlich beteiligt war der Kulturhistoriker Hubert Kaut, der von 1946 bis 1976 am Historischen Museum tätig war. Ihm kommt das Verdienst zu, erstmals die Kaufruf- und Typenserien systematisch und vergleichend bearbeitet zu haben. Dazu ergänzte Kaut, ein begeisterter Sammler, die reichen Bestände durch wichtige Ankäufe, insbesondere im Bereich der populären Druckgrafik. Seine jahrzehntelange Pionierarbeit führte zum Buch Kaufrufe aus Wien, das bis heute als Standardwerk gilt.12 Unsere Ausstellung wäre ohne Kauts Forschungen und Entdeckungen kaum möglich, steht also gewissermaßen auf seinen Schultern – und auf jenen seiner Nachfolgerin, der Volkskundlerin Reingard Witzmann, die von 1976 bis 2008 Kuratorin im Wien Museum war. Seit 1976 hieß ihr Referat „Stadtvolkskunde und Soziologie“, um die urbane Alltagskunde gegenüber dem ursprünglich auf Bäuerliches spezialisierten Fach Volkskunde zu akzentuieren.13 Die „volkstümlichen“ Sammlungen wurden nun alltagsgeschichtlich und sozialkritisch interpretiert, was sich in innovativen Ausstellungen zu Themen wie Kindsein in Wien, Arbeitswelt oder Frauenleben im 19. Jahrhundert ausdrückte, in denen stets auch prekäre Lebensumstände angesprochen wurden. Auch Witzmann wandte der Druckgrafik des 19. Jahrhunderts besonderes Augenmerk zu, vor allem den „Mandlbögen“ der Wiener Verlage. Wichtige Ausstellungen waren Die kleine Welt des Bilderbogens. Der Wiener Verlag Trentsensky (1977) und Papierspiel und Bilderbogen aus Tokio und Wien (1997). Mit dem Fotobuch Wiener Typen mit Aufnahmen des bis dahin kaum bekannten Fotografen Otto Schmidt, für das Witzmann auch das Nachwort verfasste, wurde dieses Pionierwerk der Typenfotografie erstmals präsent.14 Auch die Arbeit von Reingard Witzmann floss in die Ausstellung ­Wiener Typen ein. Zu nennen ist schließlich Traude ­Fabich-Görg, die den Nachlass des Malers Josef Engelhart erschlossen hat, dem auch ein Kapitel in dieser Ausstellung gilt. Für den Katalog zur von Erika Oehring kuratierten Schau Josef Engelhart – Vorstadt und Salon verfasste sie einen Aufsatz zur Bedeutung der „Typen“ für Engelharts Werk, für die Ausstellung Ganz Unten einen zu dessen Bild Der Pülcher.15 Beide waren für die Arbeit am Projekt Wiener Typen sehr ­inspirierend. Andere wichtige Sammlungsbestände zum Thema „Volkstypen“ harren noch einer systematischen Bearbeitung. Dazu

Bild- und Mediengeschichte Historische Druckgrafik und kommerzielle Fotografie bilden eine vielfach befragbare „Bilddatenbank“, in der sich Kunstgeschichte, Populärkultur, urbane Sozialgeschichte und die Veränderungen des Alltagslebens miteinander verknüpfen. Ein Zugang ist ein bildgeschichtlicher, also das Bestreben, Bildzeugnisse möglichst vielfältig zu befragen. Ein nur teilweise erforschter Aspekt ist beispielsweise die Rezeptionsgeschichte der oft in großer Auflage erschienenen Grafikserien. Waren anfangs Sammler aus dem Adel und der elitären Oberschicht Zielgruppen, so konnte sich ab dem Biedermeier auch das Bürgertum und bald auch ein breites Publikum Abbildungen von Lumpensammlerinnen oder Bandelkramern leisten. Diese Ausstellung ist somit auch eine mediengeschichtliche. Denn es geht, um Gerhard Paul zu zitieren, „darum, Bilder über ihre zeichenhafte Abbildhaftigkeit als Medien zu untersuchen, die Sehweisen konditionieren, Wahrnehmungsmuster prägen, historische Deutungsweisen transportieren und die ästhetische Beziehung historischer Subjekte zu ihrer sozialen und politischen Wirklichkeit organisieren.“16 Die Überschrift des Kapitels mit den Fotos von Otto Schmidt lautet „Neues Medium, alte Muster“. Dieses Paradox trifft eigentlich für die gesamte Entwicklung zu: Der Übergang vom teuren Kupferstich zur preisgünstigeren Lithografie und zu den noch billigeren Ausschneidebögen veränderte weder das Personal der Straßentypen noch die Art der Darstellung. Bis hin zu Details wie die salopp über die Schulter getragenen Stiefel des Schusterbuben oder die in die Hüfte gestemmten Arme des Wäschermädels finden sich Kontinuitäten bis in das 20. Jahrhundert, obwohl sich das Stadtleben parallel dazu permanent veränderte. Auch mit den neuen Medien Fotografie, Ansichtskarte gab es kaum Neuinterpretationen und Bildfindungen, das zeigt etwa der frühe Stummfilm Typen und Szenen aus dem Wiener Volksleben. Im Fall der Kaufrufe und Volkstypen gilt also: The medium is not the message. Erst im Fernsehen änderte sich das: In Helmut Qualtingers TV-Stück Der Herr Karl wird, indem eine scheinbar gemütliche Wiener Type demaskiert wird, Monstrosität sichtbar. Auch der permanent schimpfende Volkscharakter „Mundl“ in Ernst Hintermeiers Fernsehserie Ein echter Wiener geht nicht unter stellt eine Anti-Type dar. Angesichts der langen Stereotypentradition war es uns wichtig, mit der Grafikerin Hermine Heller-Ostersetzer und dem Maler Josef Engelhart auch eigenständige und klischeefreiere Kunstpositionen aufzunehmen. Auch in der österreichischen Publizistik war um 1900 Sozialkritik die Ausnahme. Deshalb 19


Abb. 4: Anton Scharff: Medaille „Wiener Wäschermädel“, 1876

„Volksleben“ im Museum

„Wiener Typen“ wurde zum Markenbegriff für ein noch unzerstörtes Wien, zu einem poetisierten Synonym für die Seele der Stadt. Eine wichtige Rolle spielte dabei der ­Dialekt, in dem Autoren wie Pötzl ihre Wiener Figuren sprechen l­ assen, also der grobe, aber letztlich herzliche „Spruch“ von Marktweibern oder Fiakern. Eine gewisse Aufsässigkeit war den „Typen“ zugeschrieben, im tatsächlichen Gegensatz zur ­Gesellschaft standen sie aber nie. Bemerkenswert ist, dass im Typenkanon der Gründerzeit auch Fremde und Migranten ihren Platz hatten und oft mit Sympathie beschrieben wurden, solange sie so pittoresk auftraten wie die folkloristisch gekleideten Bosniaken oder „Kroaten“ (die zumeist Slowaken waren). Präsentiert wurden sie wie alle Typen als isolierte Einzelfiguren und standen damit im Gegensatz zur Masse des vor allem aus Zuwanderern rekrutierten Industrieproletariats. Arbeiter hatten keine Chance, in den die vorindustrielle Lebenswelt idealisierenden Typenkanon aufgenommen zu werden. Man könnte sagen, die Begeisterung für „Wiener Typen“ in Bild, Text und Lied kaschierte eine Krisensituation mit Zukunftsängsten. Es ist kein Zufall, dass in den 1920erJahren, also nach dem Zusammenbruch der Monarchie und dem daraus folgenden Bedeutungsverlust der Metropole Wien eine letzte Typen-Nostalgiewelle als Reaktion auf Verlustängste zu konstatieren war. Irgendwann aber verlor sich die Relevanz der Kunstfigur „Wiener Type“; heute muss man erklären, was damit gemeint ist.

Schon die erste historische Schau der Stadt Wien im Jahr der Weltausstellung 1873 enthielt einen eigenen Abschnitt mit „Figuren aus dem Wiener Volksleben“, in dem unter ­anderem Kaufruf-Grafiken von Brand, Zampis und Opitz zu sehen waren, also Serien, die auch in unserer Ausstellung in Ausschnitten gezeigt werden.8 Auch bei der Erstaufstellung des Historischen Museums im Jahr 1888 nahmen „Volksfiguren und Volks-Scenen“ einen fixen Platz ein. Der Zugang entsprach dem der Feuilletonistik, die mit Geschichten von Wäschermädchen, Marktweibern oder Schusterbuben und deren Verknüpfung mit einer verklärend-retrospektiven Interpretation der Stadtentwicklung großen Einfluss hatte und die Zeitstimmung prägte. Mit „Volksleben“ war im Museum in den folgenden Jahrzehnten natürlich kein soziologischer Querschnitt gemeint, sondern die selektive Auswahl von „gewöhnlichen“ Menschen und traditionelle Lebensweisen in Ergänzung zur Oberschicht, deren Lebenszeugnisse den Kern der Sammlung bildeten.9 1907 zählte der damalige Direktor der städtischen Sammlungen, Johann Eugen Probst, folgende Bereiche des „Volkslebens“ auf: „[…] die Erscheinungen des gesellschaftlichen Lebens im weitesten Sinne, Typen, Volksbelustigungen, Kostümbilder etc.“10 An einem Beispiel lässt sich zeigen, wie auch das Museum an der Typenproduktion beteiligt war und wie dominant in den Köpfen der Kuratoren des Museums die Typenklischees waren: Unter der Inventarnummer 66.144 wurde einst eine Medaille inventarisiert, die eine ­unbekannte Frau zeigt. Der zuständige Kurator glaubte, ein Wäschermädel zu erkennen und ließ seine erotische ­Projektion in die Definition des Objekts einfließen, 18

gehören die Karikaturen aus der Zeitschrift „Hans-Jörgel“ oder die Illustratoren, die in der Massenpresse und gemeinsam mit den Feuilletonisten im späten 19. Jahrhundert über Jahrzehnte hinweg die Typologie der „Typen“ prägten, zum Beispiel Theodor Zasche, Felician von Myrbach oder Hans Schließmann, der als Deutscher zu einem Viennensia-Spezialisten wurde. Von ihm sind in der Ausstellung zahlreiche Zeichnungen zu sehen.

indem er die Frau als ­ „Wäschermädel (Dékoltée)“ ­bezeichnete.11 Das Sammeln von künstlerischen und alltagsgeschichtlichen Bildzeugnissen vom „kleinen Leben“ bildete von Anfang an einen Schwerpunkt. Neben Ankäufen aus dem Kunsthandel waren vor allem Erwerbungen und Schenkungen von privaten Viennensia-Sammlern bedeutungsvoll. Erst dadurch kam es zu den fast lückenlosen Spezialbeständen „Kaufrufe“ und „Wiener Typen“. Der umfangreichste Zugang war der 1937 erfolgte Ankauf von 16.000 Objekten aus der Sammlung von August Heymann, einem der bedeutendsten Kunst- und Viennensia-Sammler Wiens. Eine große Zahl der Exponate dieser Ausstellung stammen aus der ­Heymann-Sammlung. Die Museumsarbeit nach 1945 spiegelt Veränderungen im volkskundlichen Umgang mit dem städtischen Leben. Daran wesentlich beteiligt war der Kulturhistoriker Hubert Kaut, der von 1946 bis 1976 am Historischen Museum tätig war. Ihm kommt das Verdienst zu, erstmals die Kaufruf- und Typenserien systematisch und vergleichend bearbeitet zu haben. Dazu ergänzte Kaut, ein begeisterter Sammler, die reichen Bestände durch wichtige Ankäufe, insbesondere im Bereich der populären Druckgrafik. Seine jahrzehntelange Pionierarbeit führte zum Buch Kaufrufe aus Wien, das bis heute als Standardwerk gilt.12 Unsere Ausstellung wäre ohne Kauts Forschungen und Entdeckungen kaum möglich, steht also gewissermaßen auf seinen Schultern – und auf jenen seiner Nachfolgerin, der Volkskundlerin Reingard Witzmann, die von 1976 bis 2008 Kuratorin im Wien Museum war. Seit 1976 hieß ihr Referat „Stadtvolkskunde und Soziologie“, um die urbane Alltagskunde gegenüber dem ursprünglich auf Bäuerliches spezialisierten Fach Volkskunde zu akzentuieren.13 Die „volkstümlichen“ Sammlungen wurden nun alltagsgeschichtlich und sozialkritisch interpretiert, was sich in innovativen Ausstellungen zu Themen wie Kindsein in Wien, Arbeitswelt oder Frauenleben im 19. Jahrhundert ausdrückte, in denen stets auch prekäre Lebensumstände angesprochen wurden. Auch Witzmann wandte der Druckgrafik des 19. Jahrhunderts besonderes Augenmerk zu, vor allem den „Mandlbögen“ der Wiener Verlage. Wichtige Ausstellungen waren Die kleine Welt des Bilderbogens. Der Wiener Verlag Trentsensky (1977) und Papierspiel und Bilderbogen aus Tokio und Wien (1997). Mit dem Fotobuch Wiener Typen mit Aufnahmen des bis dahin kaum bekannten Fotografen Otto Schmidt, für das Witzmann auch das Nachwort verfasste, wurde dieses Pionierwerk der Typenfotografie erstmals präsent.14 Auch die Arbeit von Reingard Witzmann floss in die Ausstellung ­Wiener Typen ein. Zu nennen ist schließlich Traude ­Fabich-Görg, die den Nachlass des Malers Josef Engelhart erschlossen hat, dem auch ein Kapitel in dieser Ausstellung gilt. Für den Katalog zur von Erika Oehring kuratierten Schau Josef Engelhart – Vorstadt und Salon verfasste sie einen Aufsatz zur Bedeutung der „Typen“ für Engelharts Werk, für die Ausstellung Ganz Unten einen zu dessen Bild Der Pülcher.15 Beide waren für die Arbeit am Projekt Wiener Typen sehr ­inspirierend. Andere wichtige Sammlungsbestände zum Thema „Volkstypen“ harren noch einer systematischen Bearbeitung. Dazu

Bild- und Mediengeschichte Historische Druckgrafik und kommerzielle Fotografie bilden eine vielfach befragbare „Bilddatenbank“, in der sich Kunstgeschichte, Populärkultur, urbane Sozialgeschichte und die Veränderungen des Alltagslebens miteinander verknüpfen. Ein Zugang ist ein bildgeschichtlicher, also das Bestreben, Bildzeugnisse möglichst vielfältig zu befragen. Ein nur teilweise erforschter Aspekt ist beispielsweise die Rezeptionsgeschichte der oft in großer Auflage erschienenen Grafikserien. Waren anfangs Sammler aus dem Adel und der elitären Oberschicht Zielgruppen, so konnte sich ab dem Biedermeier auch das Bürgertum und bald auch ein breites Publikum Abbildungen von Lumpensammlerinnen oder Bandelkramern leisten. Diese Ausstellung ist somit auch eine mediengeschichtliche. Denn es geht, um Gerhard Paul zu zitieren, „darum, Bilder über ihre zeichenhafte Abbildhaftigkeit als Medien zu untersuchen, die Sehweisen konditionieren, Wahrnehmungsmuster prägen, historische Deutungsweisen transportieren und die ästhetische Beziehung historischer Subjekte zu ihrer sozialen und politischen Wirklichkeit organisieren.“16 Die Überschrift des Kapitels mit den Fotos von Otto Schmidt lautet „Neues Medium, alte Muster“. Dieses Paradox trifft eigentlich für die gesamte Entwicklung zu: Der Übergang vom teuren Kupferstich zur preisgünstigeren Lithografie und zu den noch billigeren Ausschneidebögen veränderte weder das Personal der Straßentypen noch die Art der Darstellung. Bis hin zu Details wie die salopp über die Schulter getragenen Stiefel des Schusterbuben oder die in die Hüfte gestemmten Arme des Wäschermädels finden sich Kontinuitäten bis in das 20. Jahrhundert, obwohl sich das Stadtleben parallel dazu permanent veränderte. Auch mit den neuen Medien Fotografie, Ansichtskarte gab es kaum Neuinterpretationen und Bildfindungen, das zeigt etwa der frühe Stummfilm Typen und Szenen aus dem Wiener Volksleben. Im Fall der Kaufrufe und Volkstypen gilt also: The medium is not the message. Erst im Fernsehen änderte sich das: In Helmut Qualtingers TV-Stück Der Herr Karl wird, indem eine scheinbar gemütliche Wiener Type demaskiert wird, Monstrosität sichtbar. Auch der permanent schimpfende Volkscharakter „Mundl“ in Ernst Hintermeiers Fernsehserie Ein echter Wiener geht nicht unter stellt eine Anti-Type dar. Angesichts der langen Stereotypentradition war es uns wichtig, mit der Grafikerin Hermine Heller-Ostersetzer und dem Maler Josef Engelhart auch eigenständige und klischeefreiere Kunstpositionen aufzunehmen. Auch in der österreichischen Publizistik war um 1900 Sozialkritik die Ausnahme. Deshalb 19


Abb. 6: Johann Michael Kupfer: „Der letzte Tanz auf dem Sechsschimmelberg“, 1893

Abb. 5: Film:

„Typen und Szenen aus dem Wiener Alltagsleben“, 1911, Produktion: Österreichischungarische Kino-Industrie, Produzent: Anton Kolm, Wien Österreich­ isches Filmarchiv

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wird in diesem Katalog eine der wichtigsten Reportagen über das Arbeitsleid von Maronibratern oder jugendlichen Orangenverkäuferin nachgedruckt (Vgl. Beitrag Winter). Eine Ausstellung konzentriert sich natürlich auf bildliche Medien und verzerrt damit. Speziell beim Thema Straßentypen ist aufgrund der Bedeutung von musikalischen Kaufrufen wie „Lavendel Kafts! Kafts an La-ven-dl!“ oder „Ha-der-lump, Ha-der-lump, Ba-ner, Glas-scherm!“ die akustische Dimension unumgänglich, wozu auch die vielen Wienerlieder zu zählen sind. Auch Posse und Operette trugen wesentlich zur Popularisierung bei, können aber nur in Szenenfotos repräsentiert werden. Die so wichtige Kultursparte Feuilleton kann nur mit gelegentlichen Zitaten und einigen Büchern in Vitrinen präsent sein. Das bürgerliche Feuilleton, eine Mischform von Literatur und Journalismus, war im späten 19. Jahrhundert der wichtigste Ort bei der Popularisierung von Volkstypen und der Reflexion über die Veränderungen Wiens. Besonders beliebt waren in den Zeitungen heitere Lokalskizzen mit teilweise fiktionalen Schilderungen von „merkwürdigen Figuren“ und althergebrachten Lebensweisen. Stars des Genres waren Friedrich Schlögl, Eduard Pötzl und Vinzenz Chiavacci. Ihre Humoresken-Sammlungen hatten Titel wie Wiener Luft, Wiener Blut oder Wiener Typen. Bedroht schien die Wiener „Urwüchsigkeit“, die ­„Wiener Typen“ symbolisierten die schützenswerte vormoderne Stadt. Charakterisiert wurden sie mit wiederkehrenden Adjektiven: Die Wäscherinnen waren „drall und kerngesund“,

die Schusterbuben „drollig und frech“. Vor allem hatten die Wiener Originale für Lokalkolorit zu sorgen. Eduard Pötzl: „Sie geben Physiognomie, Farbe, Eigenart den altertümlich engen oder sich modern weitenden Straßen.“17 Während die Feuilletonisten und Literaten in der Ausstellung nur Kleinauftritte haben, sind sie im Katalog gut vertreten (Vgl. die Beiträge von Payer, Rapp, Löffler und Kalka).

Permanenter Abschied Schon vor 1900 erschienen Feuilletons mit elegischen Nachrufen auf verschwundene „Wiener Typen“ oder Klagen darüber, dass die „echten“ Typen durch weniger authentische abgelöst wurden. Auch in der bildenden Kunst finden sich häufig Abschiede, etwa das 1893 entstandene Gemälde von Johann Kupfer mit dem Titel Der letzte Tanz auf dem Sechsschimmelberg. Pendants dazu sind zahlreiche Veduten, auf denen verschwindende Gassen und Häuser dargestellt wurden. Quer durch das 20. Jahrhundert finden sich Bild- und Artikeltitel wie Der letzte Scherenschleifer, Der letzte Werkelmann oder Der letzte Fiaker. Der Fiaker stieg im 19. Jahrhundert zum souveränen Star unter den „Wiener Typen“ auf, doch mit Beginn der Konkurrenz durch das Autotaxi begann der Abstieg, der speziell in den 1920erJahren mit zahlreichen Nachrufen kommentiert wurde. Erst einige Jahrzehnte später hatte der Fiaker ein überraschendes Comeback, diesmal jedoch nicht als ­Verkehrsmittel, 21


Abb. 6: Johann Michael Kupfer: „Der letzte Tanz auf dem Sechsschimmelberg“, 1893

Abb. 5: Film:

„Typen und Szenen aus dem Wiener Alltagsleben“, 1911, Produktion: Österreichischungarische Kino-Industrie, Produzent: Anton Kolm, Wien Österreich­ isches Filmarchiv

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wird in diesem Katalog eine der wichtigsten Reportagen über das Arbeitsleid von Maronibratern oder jugendlichen Orangenverkäuferin nachgedruckt (Vgl. Beitrag Winter). Eine Ausstellung konzentriert sich natürlich auf bildliche Medien und verzerrt damit. Speziell beim Thema Straßentypen ist aufgrund der Bedeutung von musikalischen Kaufrufen wie „Lavendel Kafts! Kafts an La-ven-dl!“ oder „Ha-der-lump, Ha-der-lump, Ba-ner, Glas-scherm!“ die akustische Dimension unumgänglich, wozu auch die vielen Wienerlieder zu zählen sind. Auch Posse und Operette trugen wesentlich zur Popularisierung bei, können aber nur in Szenenfotos repräsentiert werden. Die so wichtige Kultursparte Feuilleton kann nur mit gelegentlichen Zitaten und einigen Büchern in Vitrinen präsent sein. Das bürgerliche Feuilleton, eine Mischform von Literatur und Journalismus, war im späten 19. Jahrhundert der wichtigste Ort bei der Popularisierung von Volkstypen und der Reflexion über die Veränderungen Wiens. Besonders beliebt waren in den Zeitungen heitere Lokalskizzen mit teilweise fiktionalen Schilderungen von „merkwürdigen Figuren“ und althergebrachten Lebensweisen. Stars des Genres waren Friedrich Schlögl, Eduard Pötzl und Vinzenz Chiavacci. Ihre Humoresken-Sammlungen hatten Titel wie Wiener Luft, Wiener Blut oder Wiener Typen. Bedroht schien die Wiener „Urwüchsigkeit“, die ­„Wiener Typen“ symbolisierten die schützenswerte vormoderne Stadt. Charakterisiert wurden sie mit wiederkehrenden Adjektiven: Die Wäscherinnen waren „drall und kerngesund“,

die Schusterbuben „drollig und frech“. Vor allem hatten die Wiener Originale für Lokalkolorit zu sorgen. Eduard Pötzl: „Sie geben Physiognomie, Farbe, Eigenart den altertümlich engen oder sich modern weitenden Straßen.“17 Während die Feuilletonisten und Literaten in der Ausstellung nur Kleinauftritte haben, sind sie im Katalog gut vertreten (Vgl. die Beiträge von Payer, Rapp, Löffler und Kalka).

Permanenter Abschied Schon vor 1900 erschienen Feuilletons mit elegischen Nachrufen auf verschwundene „Wiener Typen“ oder Klagen darüber, dass die „echten“ Typen durch weniger authentische abgelöst wurden. Auch in der bildenden Kunst finden sich häufig Abschiede, etwa das 1893 entstandene Gemälde von Johann Kupfer mit dem Titel Der letzte Tanz auf dem Sechsschimmelberg. Pendants dazu sind zahlreiche Veduten, auf denen verschwindende Gassen und Häuser dargestellt wurden. Quer durch das 20. Jahrhundert finden sich Bild- und Artikeltitel wie Der letzte Scherenschleifer, Der letzte Werkelmann oder Der letzte Fiaker. Der Fiaker stieg im 19. Jahrhundert zum souveränen Star unter den „Wiener Typen“ auf, doch mit Beginn der Konkurrenz durch das Autotaxi begann der Abstieg, der speziell in den 1920erJahren mit zahlreichen Nachrufen kommentiert wurde. Erst einige Jahrzehnte später hatte der Fiaker ein überraschendes Comeback, diesmal jedoch nicht als ­Verkehrsmittel, 21


sondern als kostümierter Wien-Darsteller und Sehenswürdigkeit im Dienst des Tourismus (Vgl. Beitrag Békési/ Nußbaumer). Das reale Verschwinden von Berufen ­ bedeutete keineswegs, dass sie nicht als Bildsujet oder in fiktiven Figuren weiterleben konnten – als zeitlose, aus dem ­gesellschaftlichen Wandel herausgelöste Märchenfiguren. Ein anschauliches Beispiel dafür ist der Erfolgsfilm Hallo Dienstmann mit Hans Moser und Paul Hörbiger. Dieses Loblied auf eine Symbolfigur des „kleinen Mannes“ entstand 1951 und damit zu einem Zeitpunkt, in dem in Wien nur mehr ganz wenige Dienstmänner arbeiteten.18 Mir ist übrigens bewusst, dass auch die Ausstellung und das Katalogbuch „Wiener Typen“, trotz des H ­ interfragens von Stereotypen, nostalgische Gefühle auslösen wird. Das ist unumgänglich. Ich selbst erinnere mich daran, wie in unserer Gasse am Rand von Wien regelmäßig der „Hasenhäutlmann“ mit dem Pferdewagen seine Tour ­ machte, um wiederverkaufbare Altwaren (heute sagt man „Sperrmüll“) einzusammeln. Er schaute recht ramponiert aus und kündigte sich, nicht anders als die Kaufrufer 150 Jahre vorher, mit einem lauten Ruf an. Ob er auch eine Glocke dabei hatte, weiß ich nicht mehr. Vor allem das langgezogene „a“, das fast wie ein „o“ klang, hörte man schon, wenn er in unsere Gasse einbog.

1 Wolfgang Kos, Christian Rapp (Hg.): Alt-Wien, die Stadt, die niemals war. Katalog Wien Museum, Wien 2004. 2 Ebd., S. 475. 3 Sándor Békési: Die Erfindung von „Alt-Wien“ oder: Stadterzählungen zwischen Pro- und Retrospektive, in: Monika Sommer, Heidemarie Uhl (Hg.): Mythos Alt-Wien, Spannungsfelder urbaner Identitäten, Innsbruck/Wien/Bozen 2009, S. 52, S. 57. 4 Im Buch Europäische Kaufrufe werden die Kaufrufer in fünf Gruppen eingeteilt: Öffentliche Ausrufer (z.B. Nachtwächter), Verkäufer von Waren an den Endverkäufer (Lebensmittel, Haushaltswaren, Waren des gehobenen Gebrauchs), Ambulante Handwerker und Taglöhner (z.B. Scherenschleifer, Wasserträger), Jahrmarktsleute (z.B. Schausteller, Straßenmusikanten, Speisenverkäufer), Ankäufer oder Sammler von Altmaterial. Vgl.: C.P. Maurenbacher (Hg.): Europäische Kaufrufe 1. Straßenhändler in graphischen Darstellungen Mitteleuropas, England und Rußland, Dortmund 1980, S. 8. 5 Reingard Witzmann: Imagination des Bildes – Die populäre Druckgrafik um 1800 in Wien, in: Olaf Bockhorn, Helmut P. Fielhauer (Hg.): Kulturelles Erbe und Aneignung, Festschrift für Richard Wolfram zum 80. Geburtstag, S. 257–263. 6 Eduard Pötzl: Von der Straße, in: Wiener Stadt – Lebensbilder aus der Gegenwart, Prag/Wien 1895, S. 47. Ebendort auch die folgenden Zitate. 7 Friedrich Schlögl nannte 1886 Figuren wie Fiaker und Wäscherin „öffentliche Charaktere“ und „die markantesten Chargen und Straßentypen“. Friedrich Schlögl: Wiener Volksleben, in: Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild. Wien und Niederösterreich, Wien 1886, S. 121. 8 Katalog der historischen Ausstellung der Stadt Wien, 1873. Gezeigt wurden Kaufruf- und Typendruckgrafiken von Zampis, Ranftl, Brand (20 Blätter), Kininger (7 Blätter), Opitz (48 Blätter), Lanzedelly (6 Blätter), Passini (10 Blätter) und Mahlknecht (28 Blätter) aus „Wien und die Wiener“. Zum Teil handelte es sich um Leihgaben. 9 Zit. nach Reingard Witzmann: Vom Volksleben zur Alltagskunde, in: Hundert Jahre Historisches Museum der Stadt Wien, Wien 1988, S. 38. 10 Bauprogramm für ein städtisches historisches Museum. Brief an den Bürgermeister von J.E. Probst und Posselt, 9. Nov. 1907. Zit. nach Witzmann, ebd. S. 40. 11 Für den Depotfund ist Ralph Gleis zu danken. 12 Hubert Kaut: Kaufrufe aus Wien, Volkstypen und Straßenszenen in der Wiener Graphik von 1775 bis 1914, Wien/München, 1970. 13 Seit 2004 existiert das Department „Geschichte und Stadtleben“. 14 Reingard Witzmann: Wiener Typen – Historische Alltagsfotos aus dem 19. Jahrhundert, Dortmund 1982. 15 Traute Fabich-Görg: Wiener Typen – groß im Bild, in: Erika Oehring (Hg.): Josef Engelhart – Vorstadt und Salon (Katalog Wien Museum), Wien, 2009, S. 56–63; Traute Fabich-Görg: Der Pülcher, Pastell von Josef Engelhart, 1888, in: Werner Michael Schwarz, Margarethe Szeless, Lisa Wögenstein (Hg.): Ganz Unten – Die Entdeckung des Elends (Katalog Wien Museum), Wien 2007, S. 77–82. 16 Gerhard Paul: Von der Historischen Bildkunde zur Visual History, in: Gerhard Paul (Hg.): Visual History. Ein Studienbuch, Göttingen 2006, S. 25. 17 Vgl. Abb. 6, S. 21. 18 Fritz Keller: Hallo Dienstmann!, in: Wiener Geschichtsblätter 62, Jg. 2007, S. 1–16.

Abb. 7: Filmprogramm „Hallo Dienstmann“, 1951, Regie: Franz Antel, Darsteller: Paul Hörbiger, Hans Moser

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sondern als kostümierter Wien-Darsteller und Sehenswürdigkeit im Dienst des Tourismus (Vgl. Beitrag Békési/ Nußbaumer). Das reale Verschwinden von Berufen ­ bedeutete keineswegs, dass sie nicht als Bildsujet oder in fiktiven Figuren weiterleben konnten – als zeitlose, aus dem ­gesellschaftlichen Wandel herausgelöste Märchenfiguren. Ein anschauliches Beispiel dafür ist der Erfolgsfilm Hallo Dienstmann mit Hans Moser und Paul Hörbiger. Dieses Loblied auf eine Symbolfigur des „kleinen Mannes“ entstand 1951 und damit zu einem Zeitpunkt, in dem in Wien nur mehr ganz wenige Dienstmänner arbeiteten.18 Mir ist übrigens bewusst, dass auch die Ausstellung und das Katalogbuch „Wiener Typen“, trotz des H ­ interfragens von Stereotypen, nostalgische Gefühle auslösen wird. Das ist unumgänglich. Ich selbst erinnere mich daran, wie in unserer Gasse am Rand von Wien regelmäßig der „Hasenhäutlmann“ mit dem Pferdewagen seine Tour ­ machte, um wiederverkaufbare Altwaren (heute sagt man „Sperrmüll“) einzusammeln. Er schaute recht ramponiert aus und kündigte sich, nicht anders als die Kaufrufer 150 Jahre vorher, mit einem lauten Ruf an. Ob er auch eine Glocke dabei hatte, weiß ich nicht mehr. Vor allem das langgezogene „a“, das fast wie ein „o“ klang, hörte man schon, wenn er in unsere Gasse einbog.

1 Wolfgang Kos, Christian Rapp (Hg.): Alt-Wien, die Stadt, die niemals war. Katalog Wien Museum, Wien 2004. 2 Ebd., S. 475. 3 Sándor Békési: Die Erfindung von „Alt-Wien“ oder: Stadterzählungen zwischen Pro- und Retrospektive, in: Monika Sommer, Heidemarie Uhl (Hg.): Mythos Alt-Wien, Spannungsfelder urbaner Identitäten, Innsbruck/Wien/Bozen 2009, S. 52, S. 57. 4 Im Buch Europäische Kaufrufe werden die Kaufrufer in fünf Gruppen eingeteilt: Öffentliche Ausrufer (z.B. Nachtwächter), Verkäufer von Waren an den Endverkäufer (Lebensmittel, Haushaltswaren, Waren des gehobenen Gebrauchs), Ambulante Handwerker und Taglöhner (z.B. Scherenschleifer, Wasserträger), Jahrmarktsleute (z.B. Schausteller, Straßenmusikanten, Speisenverkäufer), Ankäufer oder Sammler von Altmaterial. Vgl.: C.P. Maurenbacher (Hg.): Europäische Kaufrufe 1. Straßenhändler in graphischen Darstellungen Mitteleuropas, England und Rußland, Dortmund 1980, S. 8. 5 Reingard Witzmann: Imagination des Bildes – Die populäre Druckgrafik um 1800 in Wien, in: Olaf Bockhorn, Helmut P. Fielhauer (Hg.): Kulturelles Erbe und Aneignung, Festschrift für Richard Wolfram zum 80. Geburtstag, S. 257–263. 6 Eduard Pötzl: Von der Straße, in: Wiener Stadt – Lebensbilder aus der Gegenwart, Prag/Wien 1895, S. 47. Ebendort auch die folgenden Zitate. 7 Friedrich Schlögl nannte 1886 Figuren wie Fiaker und Wäscherin „öffentliche Charaktere“ und „die markantesten Chargen und Straßentypen“. Friedrich Schlögl: Wiener Volksleben, in: Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild. Wien und Niederösterreich, Wien 1886, S. 121. 8 Katalog der historischen Ausstellung der Stadt Wien, 1873. Gezeigt wurden Kaufruf- und Typendruckgrafiken von Zampis, Ranftl, Brand (20 Blätter), Kininger (7 Blätter), Opitz (48 Blätter), Lanzedelly (6 Blätter), Passini (10 Blätter) und Mahlknecht (28 Blätter) aus „Wien und die Wiener“. Zum Teil handelte es sich um Leihgaben. 9 Zit. nach Reingard Witzmann: Vom Volksleben zur Alltagskunde, in: Hundert Jahre Historisches Museum der Stadt Wien, Wien 1988, S. 38. 10 Bauprogramm für ein städtisches historisches Museum. Brief an den Bürgermeister von J.E. Probst und Posselt, 9. Nov. 1907. Zit. nach Witzmann, ebd. S. 40. 11 Für den Depotfund ist Ralph Gleis zu danken. 12 Hubert Kaut: Kaufrufe aus Wien, Volkstypen und Straßenszenen in der Wiener Graphik von 1775 bis 1914, Wien/München, 1970. 13 Seit 2004 existiert das Department „Geschichte und Stadtleben“. 14 Reingard Witzmann: Wiener Typen – Historische Alltagsfotos aus dem 19. Jahrhundert, Dortmund 1982. 15 Traute Fabich-Görg: Wiener Typen – groß im Bild, in: Erika Oehring (Hg.): Josef Engelhart – Vorstadt und Salon (Katalog Wien Museum), Wien, 2009, S. 56–63; Traute Fabich-Görg: Der Pülcher, Pastell von Josef Engelhart, 1888, in: Werner Michael Schwarz, Margarethe Szeless, Lisa Wögenstein (Hg.): Ganz Unten – Die Entdeckung des Elends (Katalog Wien Museum), Wien 2007, S. 77–82. 16 Gerhard Paul: Von der Historischen Bildkunde zur Visual History, in: Gerhard Paul (Hg.): Visual History. Ein Studienbuch, Göttingen 2006, S. 25. 17 Vgl. Abb. 6, S. 21. 18 Fritz Keller: Hallo Dienstmann!, in: Wiener Geschichtsblätter 62, Jg. 2007, S. 1–16.

Abb. 7: Filmprogramm „Hallo Dienstmann“, 1951, Regie: Franz Antel, Darsteller: Paul Hörbiger, Hans Moser

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