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Ich hörte so rasend gern was von Deiner Arbeit.“ Friedl Dickers Freundschaft mit Stefan Wolpe und Viktor Ullmann
by Wien Museum
Heidy Zimmermann
Als 20-Jährige schrieb sich Friedl Dicker im Oktober 1918 am Seminar für Komposition bei Arnold Schönberg ein. Dies mag erstaunen, war Dicker doch auf visuellem Gebiet vielseitig ausgebildet, dürfte aber auf musikalischem nur spärliche Vorkenntnisse mitgebracht haben; dass sie als Kind oder Jugendliche Musikunterricht genossen hätte, ist jedenfalls nicht überliefert. Erhärtete Fakten zu ihren Neigungen sind rar, und manches, wie die Fest stellung, dass Dicker „ohne Musik nicht leben“ konnte, „ihre Abende in Konzertsälen“ verbracht und ihre Zeichnungen „gesungen“ habe, basiert auf späteren Erinnerungen von Freunden und Schülerinnen.1 Dass die vielseitige Künstlerin eine Leidenschaft für Musik hatte und der Arbeit ihrer komponierenden Freunde echtes Interesse entgegenbrachte, wird manifest an musikalischen Projekten, an denen sie beteiligt war, wie auch in mehreren Widmungskompositionen. Freilich hatten etliche Protagonisten der Wiener Moderne wie auch die führenden Köpfe des Bauhauses starke interdisziplinäre Interessen und zielten in ihrer Ästhetik immer wieder auf Berührungspunkte zwischen Musik und bildender Kunst. Einige von ihnen –prominent Arnold Schönberg oder Paul Klee – waren selbst auf beiden Gebieten aktiv. Bei Friedl Dicker waren es wohl vor allem persönliche Verbindungen, die sie zur Teilnahme an Schönbergs Seminaren motivierten. Ihre engste Freundin Anny Wottitz war im letzten Jahr des Ersten Weltkriegs mit Viktor Ullmann liiert, während dieser als Freiwilliger an der österreichisch-ungarischen Grenze diente.2 Als angehender Komponist stand Ullmann schon länger dem Wiener Schönberg-Kreis nahe und warb kräftig für dessen Veranstaltungen. Nach seiner Entlassung aus dem Kriegsdienst im April 1918 nahm er an den Wandertagen einer Gruppe von Wiener Jugendlichen teil, in der er nicht nur Annys Schwester Rozsi Wottitz und Friedl Dicker begegnete, sondern auch seine spätere erste Ehefrau Martha Koref kennenlernte.3 So kam es, dass sich im Herbst 1918 am Seminar für Komposition eine bunt gemischte Gruppe von kunst- und musikbegeisterten jungen Leuten einfand, von denen einige – wie Ullmann, Dicker und Wottitz oder der Musiktheoretiker Erwin Ratz – die Kunst zur Profession machten, während andere – etwa Dolly und Viktor Schlichter oder Martha Koref – später kaum mehr künstlerisch produktiv waren. Schönbergs Kurse in Harmonielehre, Kontrapunkt und Analyse, die von 1918 bis 1920 in den Schulen der Reformpädagogin Eugenie Schwarzwald stattfanden, waren weniger als Frontalunterricht denn als offenes Gespräch zwischen Dozent und Lernenden konzipiert. Das Unterrichtsangebot enthielt auch eine soziale Komponente, insofern als das Kursgeld auf Selbsteinschätzung der Teilnehmenden basierte und diesen die Wahl ließ, sich als „Schüler“ einzuschreiben und sich am Ende des Jahres einer Prüfung zu unterziehen oder lediglich als „Hörer“ teilzunehmen. Auf „Frieda“ Dickers Anmeldung, mit der sie sich in den Hauptkurs „Harmonielehre I“ und das Nebenfach „Analyse“ (samt Sprechstunde) inskribierte, ist diese Unterscheidung nicht ausgewiesen.4 Doch scheint sie die Kurse über alle neun Monate des ersten Studienjahres besucht zu haben. In dieser Zeit dürfte sie nicht nur mit Werken des klassischen Repertoires vertraut geworden, sondern auch zeitgenössischen Kompositionen der modernsten Richtungen begegnet sein. Dickers Name erscheint nämlich in der Adressatenliste des Vereins für musikalische Privataufführungen,5 jenes von Schönberg gegründeten Forums, das sich zur Aufgabe gemacht hatte, „Künstlern und Kunstfreunden eine wirkliche und genaue Kenntnis moderner Musik zu verschaffen“6. In den seit November 1918 regelmäßig stattfindenden Konzerten wurden aktuelle Werke von Debussy, Mahler, Strawinsky und Skrjabin, von Berg, Busoni, Bartók und anderen aufgeführt. Als Interpreten traten auch Bekannte von Dicker auf, etwa die Sängerin Emmy Heim und der Pianist Eduard Steuermann.7
Friedl Dicker in Weimar, um 1920 (die Brandspuren in der unteren rechten Ecke rühren von einem Wohnungsbrand her, der 1970 in Wolpes New Yorker Apartment ausbrach), Basel, Paul Sacher Stiftung, Sammlung Stefan Wolpe
Ob es im Sommer 1918 zwischen Dicker und Ullmann zu einer „Affäre“ kam, wie der Ullmann-Biograf Ingo Schultz vermutet,8 lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Gut vorstellbar, dass sich unter den 20-Jährigen jenes Wiener Kreises in einer Atmosphäre von Jugendbewegung und Kunstbegeisterung verschiedenste Intensitäten freundschaftlicher oder amouröser Annäherung ergaben. Jedenfalls trennten sich die Wege Dickers und Ullmanns auch geografisch, nachdem Ullmann im Mai 1919 seine Kommilitonin Martha Koref geheiratet hatte und mit ihr nach Prag übersiedelt war. Dicker folgte im Oktober desselben Jahres ihrem Lehrer Johannes Itten ans Bauhaus nach Weimar. Als Dokument der Freundschaft ist das Manuskript eines Liedes erhalten, das Ullmann viele Jahre später Dicker gewidmet hat. Davon soll weiter unten die Rede sein. Am Bauhaus in Weimar gehörte zu den typischen Rahmenbedingungen, dass an manchen Projekten wechselweise Kunst, Tanz, Musik und andere Disziplinen beteiligt waren. Oft fanden junge Talente erst hier zur spezifischen Ausrichtung ihres künstlerischen Weges. Stefan Wolpe etwa, der das Gymnasium in Berlin noch vor dem Abitur verlassen hatte, hielt sich in den Sommern 1920 und 1921 in Weimar auf und machte dort prägende Erfahrungen. Wie sein Freund, der Maler Max Bronstein (nach 1933 Mordechai Ardon), war er von Else Schlomann, einer wohlhabenden Anwaltsgattin, die eine Villa in Berlin-Dahlem bewohnte und sich der Förderung junger Künstler verschrieben hatte, ans Bauhaus empfohlen worden. Während er sich auch zeichnerisch artikulierte,9 schrieb Wolpe in den Monaten am Bauhaus seine ersten von ihm als gültig erachteten Lieder und Klavierstücke. Darunter finden sich zwei Adagios, die Friedl Dicker gewidmet sind und die von der Verliebtheit des 18-Jährigen gegenüber der vier Jahre älteren temperamentvollen Frau zeugen. Das erste Adagio mit dem Titel „Gesang, weil ich etwas Teures verlassen muss“ gehört zu einem Konvolut von vier Stücken, die Wolpe seiner Gönnerin Else Schlomann zugeeignet hat. Es ist in zwei Handschriften überliefert, einer – nicht betitelten – ersten Niederschrift sowie einer Reinschrift, die auf den 6. September 1920 datiert ist und die schlichte Widmung „Für Friedl“ trägt. Auf der Rückseite des nur eine Seite umfassenden frei atonalen Stücks findet sich – gleichsam als Indiz für den Anlass – eine viertaktige Skizze mit der Überschrift „Zart“ und der Anweisung „Vielmal wiederholen!! Und immer, immer reiner und schöner!“; dazu die andeutende Notiz „4.IX.1920, wo mir die Friedl musikalisch so [?] geschehen ist.“10 Wenige Wochen später, am 27. September 1920, schrieb Wolpe ein weiteres Adagio, das mitsamt seiner Widmung „Für den verklärtesten aller Menschen, für Friedl“ an recht prominenter Stelle publiziert worden ist. Der Dirigent Hermann Scherchen, ein Anwalt moderner Musik und Gründer der Zeitschrift Melos, druckte das anspruchsvolle Stück als faksimilierte Notenbeilage im Dezemberheft des ersten Jahrgangs.11 Die Expressivität des dichten chromatischen Satzes wird in diesem Adagio durch Vortragsbezeichnungen begleitet, die in ihrer ungewöhnlichen Fülle einen Eindruck von der Gefühlslage des jungen Komponisten, gelegentlich seines (unerwiderten) Verliebtseins, vermitteln: „zart“, heißt es da mehrfach, auch „Maestoso“, „voller Wehmut“, „innig“, „noch inniger“ und „ganz, ganz innig (fast eine leidenschaftliche Innigkeit!)“.12 Dazu passt die Erinnerung des Musikwissenschaftlers Hans Heinz Stuckenschmidt, der im Sommer 1923 am Bauhaus weilte. Aus der Distanz eines halben Jahrhunderts formuliert, erscheint sie schemenhaft, als Stimmungsbild jedoch sprechend: „Wolpe saß meistens einsam in einer Ecke und schrieb wieder einmal eines seiner ekstatischen Klavierstücke, das er Friedl Dicker widmete […].“13 Immerhin konnte
Dolly Schlichter, Friedl Dicker und Stefan Wolpe in Weimar, um 1920, Basel, Paul Sacher Stiftung, Sammlung Stefan Wolpe
Wolpe während seiner Aufenthalte am Bauhaus bei Dicker wohnen, kam gelegentlich auch bei Franz Singer unter und bezeichnete sich fallweise als „glücklich“.14 (Abb. S. 38 und 42) Dicker, die ihre Beziehung zum Atelierpartner Singer nach seiner Heirat und der Geburt seines Sohnes weiterführte, konnte sich auf Wolpes schwärmerische Werbung nicht einlassen, doch war sie auf Anhieb fasziniert von seinem Wesen und empfand eine besondere menschliche Nähe, die sie ihn auch spüren ließ. Ihrer Freundin Anny vertraute sie an: „[Stefan] ist überhaupt ein Glück. Und neben ihm kann man, will man sich nur öffnen, wohl zum ‚wahren‘ Leben kommen. Viel Äußeres macht einen schon noch nervös; aber so einem strahlenden Herzen halten wohl keinerlei Kleinlichkeiten Stand.“15 Als er im Sommer 1921 kurz vor seinem 19. Geburtstag bei ihr erkrankte, pflegte sie ihn, fütterte ihn auf und resümierte: „Er ist der einzige Mensch, den es giebt. In seiner Güte unfassbar, in seiner Stärke zu bewundern.“16 Während sich der junge Komponist mit seinem ewig suchenden Naturell vorübergehend Anny Wottitz zuwandte, fuhr Dicker fort, ihrer Freundin sein Ergehen und seine Vorzüge zu schildern: „Der Stephan ist still und verändert, weiterentwickelt, streng, edel. Man müsste neben ihm leben, um nur zu lernen von ihm, man kann ruhig werden und lernt zu leben.“17 Im Oktober 1922 steckte sie Wolpe einen klärenden Zuspruch zu, den dieser datiert und unter seinen Tagebuchblättern aufgehoben hat: „Stephan, stärkster wunderfester unter Menschen, ich sage Dir nichts als es wird ein ebenbürtiger Mensch Dir werden, lass von den Qualen, Du wirst alles Vergangene, Häßliche verwinden u. neu aufleuchten. Das Schöne bleibt ewig in Dir.“18 Gegen Mitte der 1920er Jahre bilanzierte Dicker gegenüber Wottitz: „Stephan […] gehört zu den wundervollsten, eigensten, stärksten Menschen. Und wenn ich nachdenke, wer zu meinem Herzenskreis überhaupt neu dazu gekommen ist, so ist nur er es.“19 Wolpe haderte in seinem Tagebuch mit der Aussichtslosigkeit seines Liebeswerbens, bis er sich abfand mit dem „Glücksgefühl, dass Dich [Friedl] die Bekennung einer freundschaftlichen Vision so schön, so homogen, so rein als möglich erreiche“20. Die Beziehung zwischen Dicker und Wolpe scheint sich schließlich in eine von beiden Seiten getragene Freundschaft gewandelt zu haben, eine Freundschaft, die später auch dem Exil und der Distanz zwischen Prag und Jerusalem standhielt. Ein weiteres Widmungsstück aus den frühen Jahren ist die Vertonung des bekannten Hölderlin-Gedichts Hälfte des Lebens (Abb. S. 41). Der Text scheint durchaus programmatisch gewählt und mag auf der Seite Wolpes eine Zäsur markiert haben, die eine dauerhafte Künstlerfreundschaft ermöglichte. Hälfte des Lebens entstand 1924 und wurde zusammen mit vier weiteren Liedern unter dem Titel Fünf Lieder nach Hölderlin zum Opus 1 erklärt. Das letzte Lied dieses Zyklus, Zufriedenheit, ist übrigens Emmy Heim gewidmet, Franz Singers Ehefrau seit 1921. Das zweite Lied wiederum, Diotima, eignete Wolpe 1927 Olga (Ola) Okuniewska zu, der Malerin, die mit Dicker bei Itten studiert hatte und die in diesem Jahr seine erste Ehefrau wurde.21 Dass die hier angesprochenen Musikstücke die Zeitläufte und Wolpes doppelte Emigration überdauerten, ist der Pianistin Irma Schoenberg zu verdanken; sie konnte Ende März 1933 seine Manuskripte aus der verlassenen Schlomann-Villa retten und dank ihres rumänischen Passes sicher über die Schweizer Grenze nach Zürich bringen. Auch Wolpe selbst, als Jude, Linker und Modernist dreifach gefährdet, verließ NS-Deutschland mit Schoenbergs Hilfe bereits 1933. Aus einer zionistischen Familie stammend und mit wachem politischem Bewusstsein ausgestattet, war sie es, die den Weg über Wien und Bukarest nach Palästina bahnte, wo das Paar
Friedl Dicker, Porträt von Stefan Wolpe, ohne Datum, Kohlezeichnung auf Velin, 42,4 x 34,3 cm, Basel, Paul Sacher Stiftung, Sammlung Stefan Wolpe
nach der Ankunft 1934 heiratete.22 Angesichts der Tatsache, dass sich sämtliche hier erwähnten Widmungskompositionen nur im Nachlass ihres jeweiligen Autors erhalten haben, mag man sich fragen, was Dicker überhaupt von diesen Stücken wusste. Zeigte ihr Wolpe die Manuskripte? Spielte er ihr die Stücke vor? Erstellte er gar eine Abschrift für sie, für den Fall, dass das Original verloren ginge? Oder blieben ihr die Zueignungen verborgen? All dies lässt sich kaum ergründen. Von realem Austausch zeugen hingegen einige Projekte, bei denen Wolpe und Dicker auf unterschiedliche Weise künstlerisch zusammengearbeitet haben. Im Sommer 1923, während beide in Berlin lebten und Dicker dort ihr Atelier mit Singer führte, kooperierten sie bei einer Inszenierung von Shakespeares Kaufmann von Venedig, die die Theatergesellschaft Die Truppe unter der Regie von Berthold Viertel realisierte. Von Dickers und Singers Gestaltung des Bühnenbilds und der Kostüme sind 18 Entwürfe erhalten.23 Wolpes Bühnenmusik hingegen ist verloren, seine Beteiligung lediglich durch ein Zeitungsinserat belegt.24 Umgekehrt verhält es sich bei einem Puppenspiel, das ebenfalls im Sommer 1923 in Arbeit war, als in Weimar die BauhausWoche vorbereitet wurde. Von dort schrieb Dicker, die sich bekanntlich schon früh für verschiedene Formen des Puppentheaters interessiert hat, an ihre Freundin Anny: „Das Schattenspiel ist immer noch nicht fertig.“ Und fügte hinzu: „Dem Stefan geht es jetzt gut. Er arbeitet wahnsinnig und ist munter und frisch. Gott sei es 1000mal gedankt.“25 Während Dickers Teil dieser Arbeit verloren ist, hat sich bei Wolpe das Manuskript dieser Schattenspiel-Musik erhalten, das mit „Sommer 1923“ datiert ist. Es handelt sich um eine einsätzige Komposition für drei Frauenstimmen auf einen anonymen Text, der eine Art Parodie auf einen mittelalterlichen MarienHymnus darstellt.26 Für Wolpe war dieses Projekt wichtig genug, dass er in einer Mitte der 1960er Jahre im Hinblick auf den Wiedergutmachungsantrag an Deutschland verfassten biografischen Notiz erwähnte, er sei „Komponist eines Schatten-Marienspiels von Friedl Dicker“ gewesen.27 Mitte der 1920er Jahre entwarf Dicker auch einen Umschlag für eine Ausgabe von Wolpes Klavierkompositionen, die jedoch nicht zur Veröffentlichung gelangte.28 Eine weitere Zusammenarbeit ist noch Ende der 1920er Jahre dokumentiert, als Dicker bereits wieder in Wien ansässig war. Im Libretto zur Kammeroper Schöne Geschichten (1927–1929) hielt Wolpe fest, „die szenischen Vorschläge sind von Friedl Dicker. Wien“.29 Diese der neuen Sachlichkeit verpflichtete Kurzoper für Andeutungsbühne, Schauspieler, Sänger, Marionetten, Chor und kleines Orchester besteht aus sieben Szenen, in denen bekannte (vor allem jüdische) Witze und Erzählungen pointenreich dargeboten werden. Dass Dicker und Wolpe hier eng zusammengearbeitet haben, ist auch vor dem Hintergrund ihrer jüdischen Herkunft zu sehen – ein Faktor, der seit Mitte der 1920er Jahre an Bedeutung gewann und schließlich als verbindendes Schicksalsmoment beider Leben bestimmen sollte. In der Literatur über Wolpe und Dicker wird das Verhältnis zwischen den beiden zumeist als temporäre, aussichtslose Schwärmerei eines Teenagers für eine ältere, bereits einem anderen verbundene Frau dargestellt, so wie es sich um 1920/21 zeigt. Berücksichtigt man aber die verschiedenen Zeugnisse auch der späteren Jahre, ergibt sich das Bild innerster Vertrautheit, eines Zusammengehörigkeitsgefühls, das immer wieder den Zauber der Anziehung erzeugt haben mag. Den Widmungskompositionen Wolpes stehen auf der Seite Dickers drei Porträts gegenüber, die alle um 1920 oder kurz danach entstanden sind. Neben einem stilisierten kolorierten Profil30 und einem skizzierten Halbprofil, das ebenfalls Wolpes Gesichtszüge trägt,31 ist es eine ausgearbeitete Kohlezeichnung, die sich im Nachlass von Anny Wottitz erhalten hat.32 Alle drei Zeichnungen
sind auf Velinpapier ausgeführt, doch nur das Kohleporträt trägt eine Signatur und damit den Stempel des Abgeschlossenen (Abb. S. 44). Auf dem großzügig bemessenen Format ist der Kopf leicht dezentriert gesetzt, sodass sich der leere Raum dem nach links unten gerichteten Blick öffnet. Im Vergleich zu anderen Porträts aus der Zeit formuliert Dicker in diesem Bildnis einen ganz persönlichen Ausdruck, der über eine realistische Darstellung hinausgeht. In der Reduktion auf Gesicht und Halspartie, den hochgezogenen Brauen, den kantigen Konturen und dem gewölbten Kopf scheint eine bekümmerte Stimmung des Künstlers eingefangen, die den 20-Jährigen wesentlich älter wirken lässt, aber durchaus charakteristisch erscheint. Es ist ungewiss, ob die beiden sich noch sahen, als Wolpe im Herbst 1933 vorübergehend nach Wien kam, denn Dicker war schon seit dem Sommer nicht mehr dort angemeldet.33 Ihre erhaltenen Briefe an den Freund (ca. 1933–1938) dokumentieren aber aufs Eindrücklichste ihr Angewiesensein auf alte Verbindungen, ihre künstlerischen Krisen und ihren Entschluss, sich in der Ehe mit Pavel Brandeis zu stabilisieren. Stets ohne Nennung von Ort und Datum, schrieb sie an Wolpe: „In diesem faulenden Stück Mitteleuropa zu sitzen macht alles, von der eigenen Verfassung gar nicht zu sprechen, fragwürdig und traurig.“34 Nachdem dieser in Jerusalem angekommen war, träumte sie von einem Wiedersehen: „Ich hoffe immer noch auf das Wunder, das mich zu Euch nach Palästina bringen soll […].“35 Um 1935, von ihrem Cousin Pavel berichtend und Pläne für eine Ausreise nach England reflektierend, drängte sie: „Ich würde leidenschaftlich gern was von Dir hören; von Deinen Arbeiten! Dich selbst sähe ich gern. Drum schreib mir viel und oft.“36 Schließlich als Bilanz: „Stefan, mein Lieber, gut ist doch eine Freundschaft, die unbedenklich [?] ist, […] wenigstens ist es mir unmöglich, Dich anders, als zu meinem Inventar [zu] rechnen [?].“37 Nachdem Wolpe Ende 1938 nach New York emigriert war, scheint der Kontakt abgebrochen zu sein. Auch ob Dicker und Ullmann sich Mitte der 1930er Jahre in Prag wiederbegegnet sind, kann vorläufig nicht dokumentiert werden. Es ist gut möglich, waren sie doch beide 1933 in die von deutschsprachigen Emigranten überflutete Stadt gezogen, und in Beziehungsnetzen der Emigration pflegte man sich übereinander auf dem Laufenden zu halten. Dicker schlug bekanntlich Möglichkeiten zur Emigration nach Palästina und England aus,38 während Ullmann Bekannte in der Schweiz und in Südafrika vergeblich um Hilfe anging. Im Herbst 1942 wurden beide, im Abstand von wenigen Wochen, mit ihrem Lebenspartner nach Theresienstadt deportiert. Dort arbeitete Dicker künstlerisch mit Kindern, lehrte sie, „mit Farben zu spielen, Bewegungen nach Musik zu machen oder nach einem bestimmten Takt“.39 Eine Schülerin, die den Holocaust überlebt hat, erinnerte sich: „Sie hat zum Beispiel in einem bestimmten Takt auf den Tisch geklopft und wir sollten diese Bewegungen im entsprechenden Rhythmus zeichnen.“40 In solchen didaktischen Methoden lässt sich ein Interesse und Verständnis für Musik erkennen. Dass es in Theresienstadt, wo Ullmann die produktivste Periode seines kompositorischen Schaffens erlebte, erneut zu einem Kontakt gekommen ist, bezeugt das Manuskript von Wendla im Garten (Abb. S. 45). Ullmann hatte das Lied schon 1918 für Dicker geschrieben, der Monolog der jugendlichen Wendla aus Frank Wedekinds Frühlings Erwachen (2. Akt, 6. Szene) dürfte dem damaligen Lebensgefühl entsprechen. Allerdings steht nicht fest, wie werkgetreu die Komposition aus dem Gedächtnis niedergeschrieben oder wieweit sie dabei abgeändert wurde. Mit der erneuten Widmung zu Dickers Geburtstag am 30. Juli 1944 brachte Ullmann jedenfalls eine Verbundenheit zum Ausdruck, mit der er die Distanz eines Vierteljahrhunderts überbrückte: „Sind wir anders als vor … Jahren, da ich Dir, liebe Friedl, das nämliche Lied zum Geburtstage widmete? Nein – wir sind zueinander ‚die Alten‘ geblieben und bleiben es!“41 Keine zehn Wochen später wurden Dicker und Ullmann im Abstand von einigen Tagen nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Dass Ullmanns Manuskripte erhalten geblieben sind, verdankt sich seinem Entschluss, sie in Theresienstadt seinem Freund Emil Utitz anzuvertrauen.42 Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs – Wolpe war nun im zweiten Exil in New York – wurde der Tod Dickers für diesen ein schmerzhafter Stachel und die Erinnerung an sie ein fester Orientierungspunkt. „I must avenge Friedl“, äußerte er gegenüber seiner dritten Ehefrau, der Dichterin Hilda Morley (geb. Auerbach).43 Die Idee, Dickers Tod zu „rächen“, scheint Ausdruck des Gedenkens zu sein und seines Bewusstseins für die Notwendigkeit, Zeugnis abzulegen.44 „How much death can anyone of us take“, schrieb er, der Toten gedenkend, „Friedl’s collapse in the gas chamber of Oswiecim, […] Berthold Viertel’s this year and now Dylans [Thomas].“45 In Erinnerung blieben aber auch helle Momente. Das bescheidene Talent eines ehemaligen Kompositionsschülers etwa wurde von Wolpe – mit Bezug auf Dicker – relativiert: „Aber er ist ein lieber Mensch (würde Friedl sagen).“46 Am schönsten mag eine von Wolpe überlieferte Anekdote das unverbrüchliche Vertrauen zwischen ihm und Dicker fassen: Bei einer Verabredung in einem Kaffeehaus habe er, in der festen Zuversicht, Friedl würde bald kommen, über 24 Stunden auf sie gewartet; wonach sie, auf ihn zutretend, bemerkt habe, sie habe gewusst, dass er auf sie warten würde.47
1 Elena Makarova: Friedl Dicker-Brandeis. Ein Leben für Kunst und Lehre. Wien – Weimar – Prag – Hronov – Theresienstadt – Auschwitz (Ausstellungskatalog Palais Harrach, Wien 1999), Wien/München 1999, S. 15 (ohne Nachweis). 2 Aus einem Brief von Anny Wottitz an ihre Schwester Rozsi geht hervor, dass sie und Ullmann sich im Frühjahr 1917 – während seines Kriegsdienstes an der österreichisch-ungarischen Grenze – näherkamen. Brief von Anny an Rozsi Wottitz, 21.5.1917, Paul Sacher Stiftung, Basel (künftig PSS), Sammlung Viktor Ullmann. Über Ullmann im Kriegsdienst berichten fünf weitere Briefe von Joška Szirmai an Anny Wottitz, die zwischen Oktober 1917 und Juni 1918 geschrieben wurden (ebd.). 3 Ingo Schultz: Viktor Ullmann. Leben und Werk, Kassel 2008, S. 71. 4 Bildarchiv des Arnold Schönberg Center (http://archive.schoenberg.at), TM 3746. 5 Alban Berg: Briefentwürfe, Aufzeichnungen, Familienbriefe, Das „Bergwerk“. Aus den Beständen der Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek, hg. v. Herwig Knaus, Thomas Leibnitz, Wilhelmshaven 2006, S. 200. 6 Alban Berg: Prospekt des „Vereins für musikalische Privataufführungen“, in: Schönbergs Verein für musikalische Privataufführungen (Musik-Konzepte, Bd. 36), München 1984, S. 2–7, hier S. 2. 7 Walter Szmolyan: Die Konzerte des Wiener Schönberg-Vereins, in: Schönbergs Verein 1984 (wie Anm. 6), S. 101–103. 8 Schultz 2008 (wie Anm. 3), S. 70. 9 Im Bauhaus-Archiv Berlin (Inv.-Nr. 687) hat sich eine Zeichnung aus dem Nachlass von Franz Singer erhalten, die eine Gruppe von Musikern darstellt und auf der Rückseite die Aufschrift „An Friedl“ trägt. Abgebildet bei Brigid Cohen: Stefan Wolpe and the AvantGarde Diaspora, Cambridge 2012, S. 102. 10 Stefan Wolpe: Gesang, weil ich etwas Teures verlassen muss, Reinschrift, PSS, Sammlung Stefan Wolpe, veröffentlicht in: Stefan Wolpe: Klaviermusik 1920–1929, hg. v. Thomas Phleps, Hamburg/New York 1997, S. 8–9. 11 Stefan Wolpe: Adagio, Notenbeilage zu: Melos 1 (Dezember 1920), kritische Edition, in: Stefan Wolpe: Klaviermusik 1920–1929, S. 12–17. Das Originalmanuskript ist verschollen. 12 Ebd. 13 Hans Heinz Stuckenschmidt: Musik am Bauhaus, Berlin 1978, S. 8. 14 Stefan Wolpe an Anny Wottitz, Brief vom August 1921, PSS, Sammlung Stefan Wolpe. 15 Friedl Dicker an Anny Wottitz, Weimar, Sommer 1921, Universität für angewandte Kunst Wien, Kunstsammlung und Archiv (künftig UAK), Inv.-Nr. 12.884/1a. 16 Ebd. Hervorhebung im Original. Das Wort „Mensch“ hat in der aschkenasisch-jüdischen Community und im Licht der jiddischen Sprache eine eigene emphatische Färbung und meint eine integre, großherzige Person. 17 Dicker an Wottitz, Dresden 1922 (?), UAK, Inv.-Nr. 12.883/3. 18 Friedl Dicker, Briefnotiz (1922), in: Stefan Wolpe, Diary 1924–1927, S. 89–90, PSS, Sammlung Stefan Wolpe, Hervorhebung im Original. 19 Dicker an Wottitz, o. O. u. D., UAK, Inv.-Nr. 13.702/4a. 20 Stefan Wolpe, Diary 1928–1930, S. 83, PSS, Sammlung Stefan Wolpe, Hervorhebung im Original. 21 Das Paar ließ sich 1933 wieder scheiden, hatte aber eine gemeinsame Tochter, die Pianistin Katharina Wolpe (1931–2013). 22 Nora Born (Hg.): Das Gesetz harmonischer oder dis-harmonischer Entsprechungen. Irma und Stefan Wolpe – Briefwechsel 1933–1972, München 2016. 23 Abgebildet in: Hochschule für angewandte Kunst Wien (Hg.): Franz Singer, Friedl Dicker. 2 x Bauhaus in Wien (Ausstellungskatalog Heiligenkreuzerhof, Hochschule für angewandte Kunst Wien), Wien 1988, S. 24. 24 Berliner Tageblatt, Sonntag, 9.9.1923, Nr. 423 (Morgenausgabe). In einem Brief an Anny Wottitz teilt Dicker mit: „Vor ein paar Tagen war also Premiere. Wir hatten einen großen Publikumserfolg, aber schlechte Presse.“ Dicker an Wottitz, o. O. u. D., UAK, Inv.-Nr. 13.706/3. 25 Dicker an Wottitz, Weimar, Sommer 1923, UAK, Inv.-Nr. 13.701/4. 26 Stefan Wolpe: Schattenspiel-Musik (PSS, Sammlung Stefan Wolpe), Edition von Nora Born und Austin Clarkson, New York/ Hamburg 2019. 27 Wolpes Erinnerung verschiebt zwar den Sachverhalt auf das Jahr 1926 und das Bauhaus Dessau, zeugt aber von einem starken Erlebnis. Stefan Wolpe: Biographische Notiz (1960er Jahre), PSS, Sammlung Stefan Wolpe. 28 Stefan Wolpe: Klaviermusik 1920–1929, S. 47; vgl. Dicker an Wottitz, o. O. u. D.: „[Wolpe] ist begeistert und außer sich über den Einband gewesen“, UAK, Inv.-Nr. 13.702/4a. Der Umschlagentwurf ist verschollen. 29 Stefan Wolpe: Schöne Geschichten (1927–1929), Typoskript des Szenarios mit handschriftlichen Eintragungen, PSS, Sammlung Stefan Wolpe. 30 Klassik Stiftung Weimar, Inv.-Nr. KK 11462. 31 UAK, Inv.-Nr. 12.242. 32 Heidy Zimmermann: Friedl Dicker und Stefan Wolpe. Porträt einer Freundschaft, in: Mitteilungen der Paul Sacher Stiftung 21 (2008), S. 20–24, hier S. 22. 33 Katharina Hövelmann: Bauhaus in Wien? Möbeldesign, Innenraumgestaltung und Architektur der Wiener Ateliergemeinschaft von Friedl Dicker und Franz Singer, Wien 2021, S. 429; Wolpes Mitteilung „Friedl Dicker ist in Prag“ an Else Schlomann, 22.9.1933, PSS, Sammlung Stefan Wolpe. 34 Dicker an Wolpe, o. O. u. D. (1934, Brief 5), PSS, Sammlung Stefan Wolpe. 35 Dicker an Wolpe, o. O. u. D. (1934, Brief 1), PSS, Sammlung Stefan Wolpe. 36 Dicker an Wolpe, o. O. u. D. (1935, Brief 4). Ein Jahr später erneut: „Ich hörte so rasend gern was von Deiner Arbeit.“ (1936, Brief 7), PSS, Sammlung Stefan Wolpe. 37 Dicker an Wolpe, o. O. u. D. (1936, Brief 3), PSS, Sammlung Stefan Wolpe; das Geschriebene ist aufgrund eines Wasserschadens am Dokument schwer entzifferbar. 38 Hövelmann 2021 (wie Anm. 33), S. 168; Makarova 2000 (wie Anm. 1), S. 26. 39 Helga Pollack-Kinsky: Mein Theresienstädter Tagebuch 1943–1944 und die Aufzeichnungen meines Vaters Otto Pollack, hg. v. Hannelore Brenner, Berlin 2014, S. 91. 40 Ebd. 41 Viktor Ullmann: Wendla im Garten (1944), Partiturreinschrift, S. 1, PSS, Sammlung Viktor Ullmann; Edition in Viktor Ullmann: Sämtliche Lieder, hg. v. Axel Bauni und Christian Hoesch, Mainz 2004, S. 2–5. 42 Zur Überlieferung des Nachlasses vgl. Sammlung Viktor Ullmann: Musikmanuskripte, bearb. v. Heidy Zimmermann und Tina Kilvio Tüscher, Mainz 2007, S. 5–6. 43 Zit. n. Zimmermann 2008 (wie Anm. 32), S. 24. 44 Cohen 2012 (wie Anm. 9), S. 271. 45 Wolpe an Hilda Morley, 13.11.1953, PSS, Sammlung Stefan Wolpe. 46 Wolpe an Irma Wolpe, 8.–12.8.1955, in: Briefwechsel 2016 (wie Anm. 22), S. 353. 47 Zimmermann 2008 (wie Anm. 32), S. 22.
Mitarbeiterinnen im Atelier, um 1930, AGS