ATELIER BAUHAUS, WIEN

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Atelier Bauhaus, Wien Friedl Dicker und Franz Singer

Atelier Bauhaus, Wien Friedl Dicker und Franz Singer

Axonometrische Ansicht des Schrankraums, 1929/30, Bleistift, Buntstift und Deckfarbe auf Karton, 61,2 × 64 cm, BHA, Inv.-Nr. 2019/37

Atelier Bauhaus, Wien Friedl Dicker und Franz Singer

Katharina Hövelmann, Andreas Nierhaus, Georg Schrom (Hg.)

Axonometrische Ansicht des Schrankraums mit ausgezogenem Diwan, 1929/30, Bleistift, Buntstift und Deckfarbe auf Karton, 52,8 × 49 cm, BHA, Inv.-Nr. 2019/47

Vorwort

Matti Bunzl

15 Wohnen – ein Vergnügen Katharina Hövelmann, Andreas Nierhaus, Georg Schrom

25 Metropole trifft Provinz. Die Wiener Itten-Schüler am Weimarer Bauhaus Ute Ackermann

39 „Ich hörte so rasend gern was von Deiner Arbeit.“ Friedl Dickers Freundschaft mit Stefan Wolpe und Viktor Ullmann Heidy Zimmermann 49 Architektur als Bühne. Die Laboratorien von Friedl Dicker und Franz Singer Georg Schrom 61 „Gespieltes Zeug“. Die Baukästen des Ateliers Paul-Reza Klein 71 Aufklappen! Architekturzeichnungen von Friedl Dicker und Franz Singer Klaus Jan Philipp 81 „Das moderne Wohnprinzip“. Möbeldesign von Friedl Dicker und Franz Singer Katharina Hövelmann

99 Soziales Design 1933. Franz Singer und das Rote Wien Eva-Maria Orosz

109 Mit dem Raum spielen. Bauten des Ateliers Franz Singer Andreas Nierhaus

121 Friedl Dicker –Lehrstunden der Freiheit Elena Makarova

131 Werkverzeichnis der Raumgestaltungen, Bauten und Theaterarbeiten Katharina Hövelmann

403 Werkverzeichnis der Designobjekte Katharina Hövelmann

422 Literatur und Quellen 428 Biografien Friedl Dicker und Franz Singer Katharina Hövelmann 434 Biografien der Wiener Itten-Schüler*innen Katharina Hövelmann 441 Namensregister 445 Abbildungsnachweis 446 Abkürzungsverzeichnis 446 Leihgeber der Ausstellung 446 Dank 448 Impressum

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Wir denken die Geschichte der Architektur fast unweigerlich in Gebäuden, meist sehr großen Gebäuden. Das Barock erscheint uns exemplarisch in Fischer von Erlachs Karlskirche oder Hildebrandts Belvedere, der Historismus in Hansens Parlament oder Schmidts Rathaus, die frühe Moderne in Wagners Postsparkasse oder dem Looshaus für Goldman & Salatsch verwirklicht.

Architektur ist aber wesentlich mehr als die Bauten, die uns umgeben. Sie ist eine Form des Denkens, Sprechens und Handelns. Sie ist der Versuch, den gemein schaftlichen Raum sinnvoll, effizient und ästhetisch zu verstehen, zu erschließen und zu verändern. Gestaltung ist dabei immer eine soziale Praxis. Niemand baut alleine. Aber auch die Ideen zur Architektur existieren nie in einem Vakuum, sondern werden erst durch ihre Zirkulation manifest.

All das erklärt die Notwendigkeit dieser Ausstellung sowie der vorliegenden Publikation. Friedl Dicker und Franz Singer waren Architekten und Gestalter, die uns keine Gebäude hinterlassen haben – weder große noch kleine. Dies ist vor allem den Schrecken des Nationalsozialismus geschuldet. Aber auch während der 1920er Jahre, der Zeit ihres Studiums am Bauhaus und des darauf folgenden projektbezogenen Arbeitsverbunds, war der Output an Gebautem durchaus überschaubar.

Und doch sind Dicker und Singer zentrale Figuren in der österreichischen Architektur- und Designgeschichte. Wie Ausstellung und Publikation eindrucks voll zeigen, waren sie die Speerspitze einer Avantgarde, die der Demokratisierung moderner Funktionalität das Wort redete. Hier ging es nicht zuletzt um eine dis kursive Revolution, die nach gleichermaßen konkreten wie radikalen Lösungen für kollektive Probleme strebte. Solche Ansätze waren auch in der Architektur des Roten Wien vorhanden. Bei all ihrer sozialen Fortschrittlichkeit waren die Gemeindebauten architektonisch jedoch durchaus konventionell gedacht. Sie führten Otto Wagners unbegrenzte Großstadt weiter und blieben in der Logik des Designs vor allem den Ansprüchen bürgerlicher Konventionen verpflichtet. Dicker und Singer dachten weitaus radikaler. Es ging ihnen nicht um Reprä sentation, sondern um Multifunktionalität. Kleine Räume sollten multiplen Nutzun gen zugeführt werden – eine Systematik, die wiederum einer neuen Formensprache bedurfte. Diese kam vom Bauhaus, insbesondere in seiner Rezeption der De-StijlBewegung. Farben standen im Zentrum der funktional bestimmten Ästhetik. Sie waren nicht mehr dekorativer Nebengedanke, sondern konstitutives Element für die Erschließung gebauter Räume.

Ausstellung und Publikation zeigen die konzeptionelle Wirkungsmacht der Arbeiten von Dicker und Singer, auch wenn die von ihnen gestalteten Gebäude, Wohnungen und Innenräume zerstört wurden. Es war vor allem die Zirkulation der gestalterischen Ideen in Publikationen, die nachhaltigen Einfluss ausübten. Sie konfrontierten eine sich früh konstituierende moderate Moderne mit radikaleren Ideen, die erst sehr viel später zu gebauter Realität wurden.

Atelier Bauhaus, Wien. Friedl Dicker und Franz Singer ermöglicht unseren Besucherinnen und Besuchern, in dieses faszinierende Diskurs-Moment einzutauchen. Ausstellung und Buch sind der erste Versuch dieser Größenordnung, die umfassende gestalterische Praxis Dickers und Singers zu rekonstruieren. Die viel schichtige Herangehensweise ermöglicht nicht nur die Einordnung der Baukünstler

7 Vorwort

in die Wiener und österreichische Architekturgeschichte, sie erlaubt auch eine Neu bewertung der Spannweite gestalterischer Ideen in der Zwischenkriegszeit.

Ich bin dem Bauhaus-Archiv – Museum für Gestaltung, Berlin und seiner Direktorin Annemarie Jaeggi außerordentlich dankbar für das Entgegenkommen und die professionelle Zusammenarbeit bei der Verwirklichung dieses bereits vor mehreren Jahren von Andreas Nierhaus initiierten Projektes. Zum ersten Mal werden die in Berlin erhaltenen Zeichnungen und Fotografien mit den Beständen im Archiv Georg Schrom in Wien zusammengeführt und damit die Arbeit des ‚Ateliers Bauhaus, Wien‘ rekonstruiert. Vor allem gilt mein Dank aber den Kurator*innen Katharina Hövelmann, Andreas Nierhaus und Georg Schrom. Die Ausstellung basiert zu großen Teilen auf einem Konzept von Katharina Hövelmann, das ursprünglich für das Bauhaus-Archiv erstellt wurde. Die nun vorliegenden Ergebnisse der Teamarbeit, sowohl Ausstellung als auch Publikation, sind exemplarisch für den kulturhistorisch orientierten Blick auf Architekturgeschichte, den wir im Wien Museum vertreten.

Großer Dank auch an Isabelle Exinger-Lang für die Ausstellungsproduktion, Irina Morzé für die kuratorische Assistenz und Sonja Gruber für die Betreuung der Publikation, weiters an die Registrar*innen Andrea Glatz und Johannes Semotan, für das Lektorat an Eva Maria Widmair (Publikation) und Arnold Klaffenböck (Ausstellungstexte) sowie an Joanna White für die Übersetzung. Mein Dank gilt nicht zuletzt den Restaurator*innen Anaïs Bérenger, Andreas Gruber und Johanna Volke, die sich der aufwendigen konservatorischen Betreuung und Reinigung der Zeich nungen angenommen haben. Die Gestaltung der Ausstellung lag in den Händen von Georg Schrom und Nikolay Ivanov, die für die Räume des MUSA eine den Arbeiten von Dicker und Singer angemessene Formensprache gefunden haben. Gleiches gilt für die grafische Gestaltung der Ausstellung und dieses Buches, für die in bewährter Weise Christof Nardin und das Team von Bueronardin verantwortlich zeichnen.

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Friedl Dicker, Selbstbildnis, 1931, Fotocollage und Deckfarbe, 70 × 50 cm, Privatsammlung
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Franz Singer, um 1930, UAK
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Wohnung Téry-Buschmann, Berlin, 1930, Speisezimmer, Glaspositiv, AGS

Wohnung Téry-Buschmann, Berlin, 1930, Wohnzimmer, Glaspositiv, AGS

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„Sesselgarnitur aus dem Buffet“, um 1927/28, Bleistift, Aquarell, Deckfarbe und Collage auf Papier, 74 × 51 cm, AGS

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Wohnen – ein Vergnügen

„Ein Wohnzimmer ist zugleich Esszimmer, oft Gastzimmer, das Schlafzimmer ist zugleich Arbeitszimmer, und alle Räume müssen für den Tagesaufenthalt zu verwenden, müssen verwandelbar sein“, so definierten Friedl Dicker und Franz Singer ihr „modernes Wohnprinzip“.1 Der Titel eines Manuskripts von 1930/31 bringt es auf den Punkt: „Wohnen – selbst im Raum beschränkt wohnen – ein Vergnügen“.2 In ihrer Ateliergemeinschaft entstanden Entwürfe für Möbel, Wohnungen und ganze Häuser, die von ihrer Ausbildung am Bauhaus geprägt waren. Klare stereometrische Formen, sorgfältig aufeinander abgestimmte Materialien und Farben, funktionale Flexibilität und gestalterisches Raffinement, verbunden mit einer spielerischen Ent wurfshaltung, sind Kennzeichen der Arbeiten des Ate liers. Die Möbel waren häufig klappbar, stapelbar und platzsparend konzipiert und fester Bestandteil der Einrichtung, die je nach Nutzung ein unterschiedliches Erscheinungsbild annehmen konnte. Mit dieser betont ‚modernen‘, von der Wiener Tradition weitgehend unbelasteten Formensprache trafen Dicker und Singer und ihr Team den Geschmack einer jungen, aufge schlossenen, vorwiegend jüdischen Klientel aus einem künstlerisch-intellektuellen Milieu, die nach Alternativen zur etablierten Wohnkultur eines Josef Hoffmann oder Josef Frank suchte.

Teamwork

Franz Singer und Friedl Dicker, die beide aus einer jüdischen Wiener Familie kamen, waren Schüler an Johannes Ittens privater Kunstschule, als sie im Jahr 1919 mit etwa 16 weiteren jungen Künstlerinnen und Künst lern das Nachkriegswien verließen, um ihrem Lehrer an das von Walter Gropius neu gegründete Staatliche Bau haus in Weimar zu folgen. Sie gehörten damit zur ersten

Schülergeneration an der einflussreichsten künstleri schen Ausbildungsstätte des 20. Jahrhunderts, die die Vorstellung von der sozialen, ökonomischen und kulturel len Funktion von Architektur, Design und bildender Kunst revolutionierte. Nachdem sie 1923 das Bauhaus verlas sen hatten, gründeten Dicker und Singer zunächst die Werkstätten bildender Kunst in Berlin, die sich auf die Fertigung von kunstgewerblichen Produkten sowie Büh nenbildern und Kostümen für Theaterproduktionen spe zialisiert hatten. 1925 etablierte Friedl Dicker mit einer Kollegin ein Atelier in Wien, dem sich bald Franz Singer anschloss. In Teamarbeit entstanden Raumgestaltungen und Bauten mit eigens entworfenen Möbeln, Leuchten, Kachelöfen und Textilien. Zu den Mitarbeiter*innen zähl ten Hans Biel, Bruno Pollak, Leopoldine Schrom und Anna Szabó. Dicker und Singer hatten einen künstlerisch-handwerklichen Zugang, der auf das frühe Bau haus zurückzuführen war, während die Mitarbeiter*innen, die alle an der Technischen Hochschule in Wien (heute TU) studiert hatten, die architektonisch-technische Kom petenz mitbrachten. Die Ateliergemeinschaft stellte einen projektbezogenen Arbeitsverbund dar, in dem ein jun ges Team von Gestalterinnen und Gestaltern gemeinsam Ideen entwickelte und umsetzte.

Um die Arbeitsweise im Atelier zu verstehen, ist es wichtig zu wissen, dass die 1970 im Zuge der ersten Ausstellung eingeführte und in der Literatur mittlerweile etablierte Bezeichnung „Atelier Singer-Dicker“ von Friedl Dicker und Franz Singer nicht verwendet wurde. Obwohl sie von 1925 bis 1931 eng zusammenarbeiteten, verstand Singer Friedl Dicker vermutlich weniger als formelle Partnerin denn als Mitarbeiterin. Sämtliche Raumgestaltungen und Bauten des Ateliers wurden in Architekturzeitschriften unter Singers Namen veröffent licht, und auch auf den Zeichnungen reklamiert Singer sein „geistiges Eigentum“ für sich. Obwohl Dickers Ideen in viele Bereiche, darunter auch in das Möbeldesign,

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Katharina Hövelmann, Andreas Nierhaus, Georg Schrom

eingeflossen sind, beschäftigte sie sich vor allem mit Farbkonzepten, dem Entwurf von Textilien und FotoRetuschen. Sie fertigte Möbelbezüge, Gurtbespannun gen, Vorhänge und Wandteppiche an, arbeitete parallel aber auch für Textilfirmen wie die in Stuttgart ansässige Pausa A.G. und die Wiener Firma B. Spiegler & Söhne Die unbestrittene künstlerische Eigenständigkeit Friedl Dickers, die sich in ihrem malerischen Werk ebenso zeigt wie in der eindrucksvollen frühen Skulptur Anna Selbdritt (Abb. S. 18), steht in einem heute kaum mehr auflösbaren Spannungsverhältnis zu ihrem Verschwinden hinter dem Namen des „Ateliers Franz Singer“ (Abb. S. 19). Gewiss ist, dass Friedl Dicker aus diesem Hintergrund die Arbei ten des Ateliers über die Jahre wie keine zweite Person neben Franz Singer geprägt hat.

In der Öffentlichkeit war das Atelier auf Aus stellungen – Kunstschau 1927, Wiener Raumkünst ler 1929/30 – vertreten, wo neben Möbeln auch Möbelmodelle und die für die Architekturavant garde der 1920er Jahre charakteristischen farbigen

Friedl Dicker, Entwürfe für Gurtbespannungen, um 1924–1930, Buntstift auf Papier, 29,3 × 20,9 cm, AGS

axonometrischen Zeichnungen gezeigt wurden. In hohem Maß präsent war das Atelier auch in Architek turzeitschriften, Illustrierten und Büchern, über die mit Fotografien und Besprechungen ein internationales Publikum angesprochen werden konnte.

Die Auftraggeber*innen für die Möbel, Wohnungen und Bauten stammten allerdings vorwiegend aus dem familiären Umfeld und dem Wiener Freundes- und Bekanntenkreis von Singer und Dicker. Dazu kamen sozial orientierte Aufträge des Roten Wien, allen voran die Einrichtung des Montessori-Kindergartens im Goethehof (WV 75, Abb. S. 20), das Projekt Möbelhilfe (WV 117) und die nicht realisierten Projekte in Zusam menarbeit mit dem Verein Jugend in Arbeit: der Ausbau des Alten Rathauses zu einem Jugendhort, einer Volks bibliothek und einer Kunststelle (WV 116).

Friedl Dicker, die um 1931 der Kommunistischen Partei Österreichs beitrat, wurde im November 1931 aufgrund des Vorwurfs, an Passfälschungen beteiligt gewesen zu sein, verhaftet. Ihr verstärktes politisches

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Friedl Dicker, Schriftliche Angaben und Muster zur Gestaltung der Wohnung Téry-Buschmann, um 1929/30, AGS

Engagement wird neben privaten Gründen Anlass gewesen sein, dass sie nicht mehr primär für die Ateliergemeinschaft tätig war. Auch Dickers künstleri sche Arbeit wurde nun verstärkt politisch geprägt, wie eine Reihe eindrucksvoller gesellschaftskritischer Colla gen beweist (Abb. S. 23). Als Dicker aus der Ateliergemeinschaft ausschied, verlegte Singer das Atelier in die Räumlichkeiten seiner Privatwohnung im 6. Bezirk. Die politischen Umwälzungen der 1930er Jahre wirkten sich in dramatischer Weise auf das Leben von Friedl Dicker und Franz Singer aus: Nach der Auflösung der KPÖ unter dem autoritären Bundeskanzler Engelbert Dollfuß emigrierte Dicker 1933 in die Tsche choslowakei, Franz Singer ließ sich 1934 in London nie der und führte von dort aus das Wiener Atelier weiter, während er parallel dazu an Projekten für England arbei tete. Friedl Dicker wurde 1942 in das Konzentrations lager Theresienstadt (Terezín) deportiert, wo sie Kindern Zeichenunterricht gab; ihre pädagogische Hingabe, die dem Schrecken des NS-Terrors trotzte, sollte Jahrzehnte

nach dem Ende des Krieges der Ausgangspunkt für ihre Wiederentdeckung sein. 1944 wurde Friedl Dicker in Auschwitz ermordet.

Auch die zumeist jüdischen Auftraggeber*innen des Ateliers aus Österreich, der Tschechoslowakei und dem Deutschen Reich wurden durch das NS-Regime zur Flucht gezwungen. Die meisten Arbeiten von Franz Singer und Friedl Dicker gingen in dieser Zeit verloren. Der Montessori-Kindergarten im Goethehof wurde 1938 geschlossen, das Gästehaus Auersperg-Hériot (WV 115), eines der bemerkenswertesten Dokumente des Neuen Bauens in Wien, wurde im Zweiten Weltkrieg beschädigt und in den 1950er Jahren abgerissen. Von den vielen Wohnungseinrichtungen haben sich meist nur Einzelstücke in Museen und Privatsammlungen erhalten. Es ist daher ein außerordentlicher Glücksfall, dass das Archiv des Ateliers zu einem großen Teil bewahrt blieb – auf geteilt auf das Bauhaus-Archiv Berlin und das Archiv Georg Schrom in Wien. Die in diesen Beständen ent haltenen schriftlichen Unterlagen, Zeichnungen, Modelle

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Friedl Dicker, geometrisches Gewebe, um 1924, 60 × 65 cm, AGS

und Fotografien veranschaulichen die intensive und vielseitige Tätigkeit des Ateliers und bilden zugleich den Kern der Ausstellung im Wien Museum.

Ein Wiener Bauhaus-Atelier

Im Wien der 1920er und 1930er Jahre stellen die Ein richtungen und Bauten der Ateliergemeinschaft von Dicker und Singer eine Ausnahmeerscheinung dar. Von den zeichnerisch aufwendig gestalteten, in Farbe aus geführten Darstellungen ihrer Projekte mithilfe iso metrischer Axonometrien und Perspektiven über die Standardisierungstendenzen im Hausbau, die Multifunktionalität der Möbel und die Verwendung von Stahl rohr und Sperrholz im Möbeldesign bis hin zum Einsatz von Farbe im Raum arbeitete das Atelier ganz in der Art des Bauhauses. Zugleich sind aber auch Einflüsse des Wiener und internationalen Umfelds zu spüren.

Ein Schlüssel zum Verständnis der Arbeiten des Ateliers ist der ab 1919 am Bauhaus gemeinsam mit Franz Scala entwickelte „Phantasus“-Baukasten (WV D-3, Abb. S. 21). Im Baukasten kommt nicht nur der für das Werk von Dicker und Singer essenzielle Aspekt des Spielerischen zum Ausdruck, sondern auch der Standardisierungsgedanke, der am Bauhaus im „Baukasten im Großen“ (Walter Gropius) gipfelte: Aus standardisierten Elementen sollten unterschiedliche Hausformationen zusammengefügt werden. Singer griff den Gedanken des modularen Bauens für seine „wach senden Häuser“ mit Einbaumöbeln auf. Auch das Formenvokabular des „Phantasus“-Baukastens findet sich im baukünstlerischen Werk von Dicker und Singer wieder.

In der verschachtelten Anordnung einzelner Raum kuben auf verschiedenen Niveaus und dem Einsatz von Podesten lassen sich Korrespondenzen mit dem „Raum plan“ von Adolf Loos feststellen. Beim Gästehaus Auersperg-Hériot erinnern die Ausgestaltung der Dach terrasse, die Pfeiler und Wendeltreppen wiederum an Bauten von Le Corbusier, was auf jene „künstlerische Ungebundenheit“ hinweist, die Friedrich Achleitner den beiden attestierte.3

Dicker und Singer erklärten Variabilität zum Credo ihrer Möbel und Raumgestaltungen. Dieses Merkmal zeigt neben der sozialen Komponente, die vorsah, in beschränkten Wohnverhältnissen Möbel unterschiedlich einzusetzen, eine Verbindung zum Bauhaus. Andererseits sind aber auch Bezüge zu Künstler*innen des rus sischen Konstruktivismus erkennbar, die kinetische Aspekte ihrer Arbeiten auf Möbel übertrugen. Das Motiv der Veränderbarkeit lässt sich außerdem mit der anfangs

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Friedl Dicker, Skulptur Anna Selbdritt, um 1920, BHA

von beiden ausgeübten Theaterarbeit und dem spiele rischen Herangehen an Funktionalität verbinden. Durch die Schiebe-, Klapp- und Stapelmechanismen der Möbel und Einrichtungen wurden die Nutzer*innen in die Gestal tung des Wohnraums mit einbezogen und elementaris tische und kinetische Aspekte der modernen Kunst auf die angewandten Bereiche übertragen. Ebenso erscheint Johannes Ittens Ansatz realisiert, der in seinem 1921 erschienenen Werk Utopia forderte, dass ein Kunstwerk erlebt werden müsse.

Dickers und Singers Funktionalität äußerte sich viel eher als ästhetische Haltung denn als wirklich prak tisch und zeigte sich auch an den Äußerungen der Auf traggeber*innen, die um Reparatur knarrender Fauteuils mit sich auflösender Gurtbespannung baten, die Möbel rückblickend als „Lederriemen-Monster“ bezeichneten oder sich an „verhasste“ Klappbetten erinnerten.4 Auch in Fachkreisen stand man vor allem einer Serienherstel lung skeptisch gegenüber. Der „Kistenkasten“ auf der Ausstellung Wiener Raumkünstler (WV 71) wurde in der Zeitschrift Die Form als „Tischlein-deck-dich-Scherz“ 5 bezeichnet, und der Architekt Florian Adler, Sohn Margit Téry-Buschmanns, war der Meinung, dass die Möbel zwar innovativ, aber „in konstruktiver Hinsicht eher

plump […] und ganz und gar nicht geeignet für die Her stellung in großer Serie“ seien.6 Elmar Berkovich, der Leiter der Möbelwerkstätte des niederländischen Einrichtungsgeschäfts Metz & Co., befand die Herstellungs kosten aufgrund der komplizierten Konstruktionen als zu hoch.7 Verhandlungen mit größeren Herstellern wie dem tschechoslowakischen Stahlrohrmöbelproduzenten Mücke-Melder oder der britischen The Grovewood Company mündeten ebenfalls nicht in eine serielle Herstellung. Die funktionale Intention, die sich bei Dicker und Singer in Stapel-, Klapp- und Schiebemechanis men äußerte, war eine Art Markenzeichen ihrer Arbeit und hatte vor allem symbolischen Charakter. Achleitner asso ziierte Ungebundenheit, Offenheit und Toleranz mit ihrem Möbeldesign, aber auch zeitgeistige Unterhaltung.8 Kunst in den Gestaltungsprozess einzubeziehen war zur Zeit von Dickers und Singers Studium am Bau haus eine zentrale Vorgabe. Ihre Raumgestaltungen, die Singer als „Raumkompositionen“ bezeichnete, knüpfen an die Forderung des Bauhaus-Gründungsmanifests an, künstlerische Prinzipien auf Gebrauchsgegenstände und den Bau zu übertragen. In den Möbeldesigns und Raumgestaltungen des Ateliers wurde dieses künstlerische Prinzip in der Wirklichkeit eines nicht zuletzt von

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Postkarte Atelier Franz Singer, Wien, AGS
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Collage zum Kindergarten im Goethehof, 1932, BHA

individuellen Auftraggeberwünschen bestimmten Arbeitsalltags auf die Probe gestellt. Der jugendliche Optimis mus, der aus den Entwürfen des Ateliers sprach, fiel nach nur wenigen Jahren jäh dem NS-Terror zum Opfer. Das kulturelle Milieu, in dem die Arbeiten von Franz Singer und Friedl Dicker entstanden, wurde ebenso zerstört wie ihre Wohnungseinrichtungen und Möbel. Umso wertvol ler sind für uns jene visuellen Dokumente, die in diesem Band zum Großteil erstmals veröffentlicht werden.

Stand der Forschung

Das Werk von Friedl Dicker und Franz Singer wurde zunächst vor allem entlang von Ausstellungen erforscht. Anlässlich einer umfangreichen Schenkung von Franz Singers Schwester Frieda Stoerk, die nach seinem Tod den Londoner Nachlass verwaltete, fand 1970 die erste

Ausstellung Friedl Dicker, Franz Singer im damals noch in Darmstadt angesiedelten Bauhaus-Archiv unter des sen Gründungsdirektor Hans Maria Wingler statt.9 1988 stellten Georg Schrom und Stefanie Trauttmans dorff erstmals in Wien die Ausstellung Franz Singer, Friedl Dicker. 2 x Bauhaus in Wien im Heiligenkreuzer hof der Universität für angewandte Kunst zusammen.10 Die Kataloge der zwei Ausstellungen lieferten grund legende Informationen zu den Biografien der beiden Designer und präsentierten ausgewählte Projekte und Möbel.

Während die Biografie Franz Singers kaum erforscht wurde, beschäftigte sich die Kunstpädagogin Elena Makarova ausführlich mit Leben und Werk Friedl Dickers. Ihre langjährigen Recherchen mündeten in die 1999/2000 weltweit gezeigte Wanderausstellung Friedl Dicker-Brandeis. Ein Leben für Kunst und Lehre11 . Eine erste Biografie Dickers war bereits 1969 im

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Franz Singer, Franz Scala, Bauteile der verschiedenen Prototypen des „Phantasus“-Baukastens, um 1924, AGS

Ausstellungskatalog 50 Years Bauhaus erschienen.12 2022 zeigte das Lentos Kunstmuseum Linz eine FriedlDicker-Retrospektive, während die Universität für ange wandte Kunst Wien die hauseigene Dicker-Sammlung präsentierte.13

Bereits im Jahr 2021 erschien die 2018 appro bierte Dissertation von Katharina Hövelmann in Buch form, die erstmals die Ateliergemeinschaft auf der Grundlage umfassender Quellenstudien bearbeitet und das Werk Dickers und Singers kontextualisiert hatte.14 Diese Forschungen bildeten die Basis für das inhaltliche Konzept der Ausstellung, die nun in Kooperation mit dem Bauhaus-Archiv Berlin im Wien Museum realisiert werden kann. Mit dem hier erstmals publizier ten Werkverzeichnis ist die Grundlage für eine vertie fende Auseinandersetzung mit den Arbeiten des Ateliers gelegt.

Zur Ausstellung

Die Ausstellung im Wien Museum bietet anhand von Zeichnungen, Fotografien, Modellen und Möbeln den bislang umfangreichsten Überblick über das vielseitige Schaffen von Friedl Dicker, Franz Singer und ihrem Team. Es wird weniger nach der Autorschaft einzelner Werke oder Werkgruppen gefragt, als vielmehr der kollaborative Charakter der Arbeit im ‚Atelier Bauhaus, Wien‘ hervorgehoben. Unter dem Namen „Atelier Franz Singer“ schuf eine ganze Reihe kreativer Köpfe – unter ihnen nicht wenige Frauen – künstlerisch unverwechselbare Möbel, Wohnungseinrichtungen und Bauten.

Die Ausstellung ist chronologisch angelegt, um Leben und Werk Dickers und Singers auch in der historischen Gebundenheit darzustellen: Die eigen ständige Arbeit der beiden setzt in den noch von der Erfahrung des Ersten Weltkriegs geprägten, zugleich der Zukunft zugewandten 1920er Jahren ein, hat ihren Höhepunkt in der Zeit der Weltwirtschaftskrise um 1930 und wird durch den NS-Terror brutal been det. Das Wiener Atelier wird 1938 aufgelöst – damit endet auch seine Geschichte. Für das Wiener Design der Nachkriegszeit blieben die Arbeiten Singers und Dickers wirkungslos.

Den Auftakt bildet der bereits erwähnte „Phan tasus“-Baukasten, der in seiner abstrahierten Räum lichkeit und spielerischen Wandelbarkeit die Ideen des Ateliers geradezu idealtypisch widerspiegelt. Der frühen Zeit in Wien, Weimar und Berlin ist das erste Kapitel der Ausstellung gewidmet. Ausgewählte Zeichnungen und Gemälde machen die Schulung bei Johannes Itten,

die Lehrjahre am Bauhaus und die ersten künstlerisch selbstständigen Schritte in den Werkstätten bildender Kunst nachvollziehbar. Daran schließt sich der Hauptteil an, der die wichtigsten Arbeiten des Ateliers von 1925 bis 1939 in eindrucksvollen Zeichnungen, Fotografien und ausgewählten Möbelstücken vorstellt: Der Bogen spannt sich von modernistischen Wohnungen und Geschäftslokalen bis zum Gästehaus Hériot und dem Montessori-Kindergarten im Goethehof, denen eigene Kapitel gewidmet sind. Das letzte Kapitel skizziert die Lebenswege der beiden Protagonist*innen nach dem Ende der gemeinsamen Arbeit im Atelier: Die politi schen Collagen Friedl Dickers werden Singers Entwür fen für Siedlungshäuser in Palästina gegenübergestellt. Friedl Dicker und Franz Singer haben ein Werk hinterlassen, das heute aufgrund seiner konsequenten Modernität ästhetisch faszinierend wirkt und auch aktuelle Designarbeit inspirieren kann. Das Ende der Ausstellung führt deshalb zurück an ihren Anfang: Der „Phantasus“-Baukasten kann erstmals als Nachbau in der Praxis erprobt werden (Rekonstruktion: HTL Mödling, Thomas Radatz, Recherche: Paul-Reza Klein und Georg Schrom). Ein erster Schritt zu einer Reakti vierung der gestalterischen Ideen aus dem ‚Atelier Bauhaus, Wien‘.

Die Publikation

Den Hauptteil dieser Publikation bildet das von Katharina Hövelmann erstellte kommentierte Werkverzeichnis mit sämtlichen bekannten Raumgestaltungen, Bauten und Theaterarbeiten. Die reiche Ausstattung mit vorwiegend unpublizierten Zeichnungen und Fotografien soll die verlorenen Arbeiten des Ateliers veranschaulichen. Die Essays erweitern die Perspektive um zentrale Aspekte im Werk von Dicker und Singer: Ute Ackermann widmet sich dem Wiener Kreis um Johannes Itten, der in den ersten Jahren des Bauhauses prägend war; Heidy Zimmermann rückt die bisher zu wenig berücksich tigten Verbindungen zwischen Friedl Dicker und der zeitgenössischen Musik in den Mittelpunkt; Georg Schrom berichtet über die Mitarbeiter*innen des Ateliers und ausgewählte Projekte; Paul-Reza Klein analysiert mit den Baukästen zentrale Entwürfe des Ateliers. Die außergewöhnlichen axonometrischen Darstellungen sind Gegenstand des Beitrags von Klaus Jan Philipp; Katharina Hövelmann untersucht die Möbelentwürfe im Kontext der zeitgenössischen Designs, Eva-Maria Orosz das sozial orientierte Projekt Möbelhilfe, Andreas Nierhaus die Bauten des Ateliers. Elena Makarova schließlich widmet sich den pädagogischen Absichten

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Friedl Dicker, „So sieht sie aus, mein Kind, diese Welt“, Fotocollage, 1931/32, Glasnegativ, UAK

Friedl Dickers, die sie im Kontext der Kinderzeichen kurse in Theresienstadt formulierte und praktizierte.

Die Biografien jener weitgehend vergessenen Bauhäusler, die sich gemeinsam mit Friedl Dicker und Franz Singer auf den Weg von Wien nach Weimar gemacht hatten, wurden für diese Publikation von Katharina Hövelmann neu recherchiert und sind im Anhang des Bandes zu finden.

Der Anspruch des Buches deckt sich mit dem der Ausstellung: Beide möchten dazu beitragen, dem ‚Atelier Bauhaus, Wien‘ den Stellenwert innerhalb der Geschichte des modernen Designs zu geben, der ihm gebührt: als dem bemerkenswert konsequenten Versuch, ausgehend von der Lehre des Bauhauses und in Auseinandersetzung mit den lokalen Traditionen, eine unverwechselbare formale Sprache für ein ästhe tisch fortschrittliches, ökonomisches und dennoch komfortables Wohnen und Alltagsleben in der Moderne zu finden. In dieser Hinsicht haben die Arbeiten von Dicker und Singer auch im 21. Jahrhundert nichts an Aktualität verloren.

1 o. A.: Das moderne Wohnprinzip: Ökonomie der Zeit, des Raumes, des Geldes und der Nerven, in: Kölner Tageblatt, 29./30.8.1931, o. S.

2 o. A.: Textentwurf „Wohnen – selbst im Raum beschränkt wohnen –ein Vergnügen“, um 1930/31, Archiv Georg Schrom (künftig AGS).

3 Friedrich Achleitner: …sondern der Zukunft, in: Hochschule für angewandte Kunst (Hg.): Franz Singer, Friedl Dicker. 2 x Bauhaus in Wien (Ausstellungskatalog Heiligenkreuzerhof, Hochschule für angewandte Kunst Wien), Wien 1988, S. 6.

4 Brief Peter Heller an Matthias Boeckl, 10.2.1993, Archiv Georg Schrom.

5 Wilhelm Lotz: Möbel und Wohnraum, in: Die Form. Zeitschrift für gestaltende Arbeit 2 (1931), S. 41–59, hier S. 42.

6 Florian Adler: Eine Wohnung im Rückblick, in: Hochschule für angewandte Kunst 1988 (wie Anm. 3), S. 32–34, hier S. 32.

7 Archiv Metz & Co., Liste von Elmar Berkovich, Inv.-Nr. 977–203.

8 Friedrich Achleitner 1988 (wie Anm. 3), S. 6.

9 Peter Wilberg-Vignau: Friedl Dicker, Franz Singer (Ausstellungskatalog Bauhaus-Archiv Darmstadt), Darmstadt 1970.

10 Hochschule für angewandte Kunst 1988 (wie Anm. 3).

11 Elena Makarova: Friedl Dicker-Brandeis. Ein Leben für Kunst und Lehre, Wien u. a. 1999.

12 Wulf Herzogenrath (Hg.): 50 Years Bauhaus (Ausstellungskatalog Illinois Institute of Technology Chicago), Chicago 1969.

13 Brigitte Reutner-Doneus/Hemma Schmutz (Hg.): Friedl Dicker-Brandeis. Bauhaus-Schülerin, Avantgarde-Malerin, Kunstpädagogin (Ausstellungskatalog Lentos Kunstmuseum Linz), München 2022; Stefanie Kitzberger, Cosima Rainer, Linda Schädler (Hg.): Friedl Dicker-Brandeis. Werke aus der Samm lung der Universität für angewandte Kunst Wien, Berlin 2022.

14 Katharina Hövelmann: Bauhaus in Wien? Möbeldesign, Innenraumgestaltung und Architektur der Wiener Ateliergemeinschaft von Friedl Dicker und Franz Singer, Wien/Köln 2021.

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Metropole trifft Provinz. Die Wiener Itten-Schüler am Weimarer Bauhaus

Ute Ackermann

In Weimar

Schon vor der Bauhaus-Gründung im Frühjahr 1919 hatte innerhalb der „gemütlichen Kunstschule“1 in Weimar Aufbruchsstimmung geherrscht. Schüler for derten „den Ausbau der Hochschule zu einer Reform akademie[,] an der Malerei, Plastik, Architektur u. Kunstgewerbe Hand in Hand gehen“2. Insgesamt 46 Studierende hatten sich in der Freien Vereinigung orga nisiert. In der Stadt wurde kolportiert, dass sie Mitbestimmungsrechte „besonders bei der Anstellung und Absetzung von Lehrkräften“3 durchgesetzt hätten. Mit Beginn des ersten Bauhaus-Semesters im Mai 1919 waren diese Studierenden hoch motiviert, „jeden Einzel nen zur Mitarbeit zu gewinnen“4. Auf ihrer Agenda stan den die „Verbreitung der Ziele des Bauhauses“ und „die Erweiterung der freien Vereinigung in veränderter Form“ zu einer Arbeitsgemeinschaft sämtlicher Studierender des Bauhauses Weimar.5 Gropius setzte auf ihre Initiative und ersuchte die in Weimar gut vernetzten Schülervertreter, „insbesondere der Verbreitung falscher und völlig irreführender Ansichten und Gerüchte in der Bürgerschaft und unter den Studierenden durch Aufklärung entgegenzuarbeiten“6. Die Schülerzeitschrift Der Austausch wurde zur Diskussionsplattform am jun gen Bauhaus (Abb. S. 26). Einen ersten Höhepunkt der Aktivitäten stellte das Einführungsfest für Gropius am  5. Juni 1919 dar. Gropius’ programmatische Forderung an die Künstler, sich auf das Handwerk zurückzubesin nen, las man allerdings als Konzentration auf die hand werkliche Seite der einzelnen Gattungen, nicht aber als Absage an die Malerei als Lehrfach. Dies sollte sich im Verlauf der ersten Semester als eklatante Fehleinschät zung seitens der ehemaligen Hochschulprofessoren und einiger Schüler herausstellen. Im Sommersemester 1919 hatten von insgesamt 182 Schülern am Bauhaus bereits 153 an der Vorgängerschule studiert.

Diese jungen Leute wollte Gropius nun für eine Bau haus-Gemeinschaft gewinnen. Identitätsstiftend wirkten dabei die gemeinschaftlichen Aktivitäten zur Gründung der Bauhaus-Kantine, der Wettbewerb für das erste Bauhaus-Signet und die Planung einer Bauhaus-Sied lung. Nach einer euphorischen Anfangszeit enttäuschten die Ergebnisse der ersten Schülerausstellung den Bauhaus-Direktor: „Nicht ein Maler oder Bildhauer hat Kompositionsideen gebracht […].“7 Stattdessen hätten die Schüler „viele schöne Rahmen, prachtvolle Aufmachung, fertige Bilder“8 gezeigt. Es schien für Gropius an der Zeit, „Farbe [zu] bekennen, damit jeder eine klare Stellung zu mir und meinen Plänen findet“9. Das Ziel war hoch gesteckt: „Der Durchschnittspießer darf uns auf keinen Fall das Tempo angeben.“10 Doch keiner der beiden neu berufenen Meister Lyonel Feininger und Gerhard Marcks verfügte über ein pädagogisches Kon zept oder Lehrerfahrung, um die im Bauhausprogramm formulierten Ziele mit Leben zu erfüllen.

In Wien

In Wien erlebte der Künstler Johannes Itten zur Jahres wende 1918/19 einen Höhepunkt in seiner pädagogischen Laufbahn. Sein ungewöhnlicher Zeichenunter richt wurde als so revolutionär wahrgenommen, dass Adolf Loos ihn 1919 in seinem Text Richtlinien für ein Kunstamt einer modernen künstlerischen Ausbildung zugrunde legte.11 Gropius, der sich stark für die Kunst schulreform interessierte, dürften diese Ausführungen kaum entgangen sein. Den „fabelhaften Kerl“12 Johannes Itten hatte Gropius im Haus seiner Frau Alma Mahler wohl im Sommer 1918 in Wien kennengelernt. Die erste Ausstellung von Schülerarbeiten aus der Itten-Schule im November 1918 war so erfolgreich, dass Itten daraufhin Lehraufträge angeboten wurden, die er jedoch ablehnte.13

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Es ist sehr wahrscheinlich, dass Walter Gropius diese Ausstellung gesehen hatte, als er gestand, dass er weder Ittens Bilder noch die seiner Schüler verstünde, Itten sich aber, wenn er Lust habe, nach Weimar zu kom men, eingeladen fühlen solle, am Bauhaus mitzutun.14 Im Unterschied zu den Wiener Angeboten hatte Gropius mit seiner Einladung an das Bauhaus Erfolg.

Die Möglichkeit, 1916 von Stuttgart nach Wien zu wechseln und eine eigene Schule zu gründen, hatte Itten der Überzeugungs- und Finanzkraft seiner Schüle rin Agathe Mark zu verdanken.15 (Abb. S. 27) Seine ers ten Schüler*innen waren Marie Cyrenius, Richard Mark, der Bruder von Agathe, Anna Höllering, Margit Téry, Emmy Anbelang. Sie alle waren mit der jungen Gönnerin befreundet. Auch Franz Singer gehörte zu ihrem Kreis, denn Agathe hatte 1916 seinen Cousin, Moritz August Kornfeld, geheiratet.16 Spätestens ab 1917 war Singer dann auch mit Itten in Kontakt.17

Im Jahr 1919 hatte Itten bereits 20 Schüler. Viel wertvoller als das sicher eher bescheidene Einkommen, das er mit einem halben Tag Unterricht pro Woche erzielte, waren die Kontakte, die Itten in seiner Wiener Zeit knüpfen konnte. Durch seine gut vernetzten Schüle rinnen und Schüler lernte er die wichtigsten Exponenten der Wiener Kunstszene kennen und kam mit dem Kreis um Genia Schwarzwald, eine engagierte Schulreformerin, in Kontakt. Im Schwarzwald’schen Salon ver kehrten unter anderen Adolf Loos, Rainer Maria Rilke, Robert Musil, Alma Mahler und Else Lasker-Schüler. Franz Singer lernte im Kreis um Genia Schwarzwald seine spätere Ehefrau, die Sängerin Emmy Heim, kennen. Einige von Ittens Schülern, darunter Friedl Dicker, Erwin Ratz, Viktor Schlichter, Alice Moller und Anny Wottitz, besuchten Schönbergs Kompositionskurse, die in den Räumen des Schwarzwald-Kreises stattfanden. Neben diesen Verbindungen lassen sich noch einige Schnitt stellen zwischen den Itten-Schülern finden, die darauf verweisen, auf welchen Wegen sie in die private Kunst schule gefunden hatten. So gehörte Marie Cyrenius nicht nur zum engeren Freundeskreis von Agathe MarkKornfeld, sie hatte auch zugleich mit ihr an der Wiener Kunstgewerbeschule studiert. Über sie könnten weitere Kunstgewerbeschüler, so Friedl Dicker, Sofie Korner und Franz Schlichter, von Ittens Unterricht erfahren haben. Andere Schnittstellen ergeben sich aus dem Interesse an der Psychoanalyse, das der Freud-Schüler Milan Morgenstern mit einigen anderen Itten-Schülern teilte. Hier könnte wiederum der Salon Schwarzwald als Begegnungsort gedient haben, wo Vorträge zu diesem Thema stattfanden. Neben den engen, zum Teil verwandtschaftlichen Beziehungen innerhalb von Ittens Schüler schaft entstanden innige Freundschaften, wie jene zwi schen Anny Wottitz und Friedl Dicker oder Carl Auböck, Walther Heller, Franz Probst und Anna Höllering, die ein Leben lang Bestand hatten.

Die Wiener kommen!

Sollte die Bauhaus-Idee Realität werden, war die Mit arbeit eines so innovativen und durchsetzungsstarken Pädagogen wie Itten für Gropius’ Vorhaben zwingend notwendig. Gropius warb heftig um ihn und zeigte sich zu Kompromissen bereit. Zunächst organisierte er für Johannes Itten das Tempelherrenhaus im Park an der Ilm als Atelier, in das sich dieser bei seinem ersten Besuch sofort verliebt hatte (Abb. S. 28). Da Itten sein Kommen davon abhängig machte, dass seine Wiener Schüler in Weimar mit Wohnraum versorgt würden, räumte Gropius den Studierenden ein, in den Arbeits-

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Der Austausch. Veröffentlichungen der Studierenden am Staatlichen Bauhaus zu Weimar, Titelholzschnitt von Hans Groß, Buchdruck, 1919, Klassik Stiftung Weimar, Museen
27
Johannes Itten, Titelblatt „Frau Agathe [Mark] und allen meinen Schülern gewidmet“ (mit handschriftlicher Widmung an den Drucker Albert Berger) sowie drei Blätter aus der Itten-Mappe, 1919, Lithografien, Wien Museum

räumen wohnen zu dürfen.18 Nachdem Franz Singer die Lage auf dem Weimarer Wohnungsmarkt eruiert hatte, war Ende August für fast alle Itten-Schüler Wohnraum gefunden. Lediglich sechs Studierende, die über geringe finanzielle Mittel verfügten, sollten im Prellerhaus unter gebracht werden, was unproblematisch zu bewerkstelligen war, aber bei den älteren Studierenden für Unmut sorgte.19 Gropius ersparte den Wiener BauhausAspiranten – wenn auch nach einigem Zögern – die sonst für die Aufnahme am Bauhaus zwingend notwendige Vorlage von Arbeiten.20 Mit 20 Wiener Schülern imple mentierte Itten seine Schule auch personell in die ent stehende Institution Bauhaus und erreichte durch die Zugeständnisse seitens der Direktion eine Art Sonderstatus für diese starke Gruppe, was ihr Selbstverständ nis ungemein stärkte. Bei der Realisierung des BauhausProgramms wirkte dies alles als Katalysator.

Die Protokollsprache, in der der Inhalt der semes tereröffnenden Sitzung vom Oktober 1919 wiedergege ben ist, macht mit einem unangenehmen Pragmatismus

spürbar, was sich nun am Bauhaus ändern sollte. Auf Ittens Vorschlag hin wurde „beschlossen, von jetzt ab von jedem Studierenden ein grundsätzliches Probesemester zu verlangen, nach dessen Abschluß über die Verwendbarkeit der einzelnen Schüler vom Meisterrat Beschluß gefaßt wird“21. Hatte Gropius als Gründer des Bauhauses und Reformator der alten Akademie im ersten Semester die Sympathien der reformwilligen Studierenden gewinnen können, regierte Itten nun mit strenger Hand und unbestechlichem Blick über die Lehre am Bauhaus. Er vollzog, was Gropius nicht ver mocht hatte. Zunächst bildeten die Protagonisten Gropius und Itten eine Doppelspitze, in der Itten gewis sermaßen als Exekutive figurierte. Im „summenden und brodelnden“ Bauhaus feierte der Direktor, ihn gewon nen zu haben: „Das Bauhaus ist wie ein Bienenstock voll Summen und Brodeln. […] und ich bin froh, daß ich ihn mir errungen habe.“ 22 Itten beschrieb die Atmosphäre am Bauhaus im Wintersemester 1919/20 als „herrliches Arbeiten mit vielen begeisterten jungen Leuten“23 . Er erklärte: „Wer hier versagen wird, ist für mich als Künstler, als Schüler abgetan.“24 Dies galt in erster Linie für die Klasse des ehemaligen Hochschulprofessors Max Thedy, die sich weigerte, Ittens Maßnahmen zu folgen, und auf dem Arbeiten nach dem Modell bestand.25 Auch stilistisch gingen die Wiener Schüler eigene Wege. Während einige der Weimarer Hochschüler pathetische Themen in expressionistischer Bildsprache umsetzten und sich vor allem in der Druckwerkstatt bei Feininger eingeschrieben hatten, vertraten die Wiener Schüler eher einen kalligrafisch fantasievollen, deutlich leichteren Stil.26

Gropius berichtete – vollkommen im Einklang mit Ittens Vorstellungen und Maßnahmen –, gemeinsam mit Itten, „das ganze Bauhaus auf den Kopf gestellt, die Modelle herausgeworfen“ und sich kurzerhand bis Weihnachten nur noch auf die Produktion von Spielzeug verlegt zu haben.27 Im Gegensatz dazu nahm Itten für sich allein in Anspruch, „mit einem kräftigen Schlage die alte akademische Tradition des Akt- und Naturzeichnens“ gepackt und „alle schöpferische Tätigkeit zur Wurzel […] zum Spiel zurück geführt“28 zu haben (Abb. S. 29). Sein Fazit lautete: „Ich habe ‚reine‘ gemacht. Ich habe seit einer Woche das ganze Bauhaus unter mir.“29 Hatte Gropius Itten nach Weimar berufen, um am Bau haus mitzutun, erhob der charismatische Pädagoge nun Anspruch auf uneingeschränkte Führung, der von seinen Schülern mitgetragen wurde.

Ittens Unterricht fand samstags von 8 bis 17 Uhr statt. In der übrigen Zeit fertigten die Schüler und Schü lerinnen als Vorbereitung auf die Werkstattarbeit Materiestudien (Abb. S. 30). Der aufgeschlossene Teil der

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Herrmann Gustav Brinkmann, Tempelherrenhaus, Stich, o. J., Klassik Stiftung Weimar, Museen

ehemaligen Hochschülerschaft, der sich mit der Bau haus-Idee vor Ittens Eintreffen identifiziert hatte, geriet nun gegenüber der Wiener Avantgarde mehr und mehr ins Abseits und war angesichts der neuen Ansprüche und Erwartungen vielfach überfordert. Offenbar kom pensierten einige Schüler diese Enttäuschung mit anti semitischen Ressentiments. Schon im Oktober 1919 diagnostizierte der Meisterrat am Bauhaus „Strömungen, auch antisemitischer Natur“30. In der neu gewählten Schülervertretung übernahmen der neu eingetretene Konrad Schwormstedt und der Itten-Schüler Franz Singer das Amt des I. und des II. Vorsitzenden. Von den älteren Schülern besetzten Heinrich Basedow (Woh nungsangelegenheiten), Walter Determann (Vertreter aller Obleute und Zentrale für alle Bauhaus-Angelegen heiten) sowie Hans Groß (Obmann der Atelierinhaber) wichtige Positionen. In einer Rede als Reaktion auf eine Resolution, mit der die älteren Studierenden das Landschaftsfach als Lehrgegenstand wieder eingefor dert hatten, ergriff Franz Singer Partei für das BauhausProgramm. Es heißt darin: „Eure Resolution begann mit den Worten ‚Wir stimmen mit der Grundidee des

Bauhauses überein‘. Ich habe mir diesen Satz streng und genau überlegt. Versucht es auch einmal, ihr müsst selbst draufkommen, dass er ganz äusserlich hingesprochen ist […]. Spürt ihr denn nicht[,] dass seine [d. i. Gropius’] Idee das ehrliche vollkommene Einsetzen einer ganzen Persönlichkeit bedeutet? […] Das bedeutet eben viel mehr, als Ihr aus den Worten gleich entnehmen könnt. Es liegt die Forderung drin, weder Innen architekt noch Landschafts- od. Portraitmaler […], son dern harmonisch vollkommene Menschen zu werden, Menschen, Künstler zu sein.“31

Zur Jahreswende 1919/20 nahm der Konflikt deutlich an Schärfe zu. Vor allem die Wiener Schüler wurden nun häufig mit dem Label ‚Ausländer‘, ‚Jude‘, oder/und ‚moralisch fragwürdig‘32 etikettiert und diskre ditiert. Im Umkehrschluss zählte man alle, die angeb lich diesem Bild entsprachen, automatisch zur Wiener Gruppe. Marguerite Friedlaender, die keineswegs aus Wien stammte, aber Jüdin war und durch recht unkonventionelle, freigeistige Äußerungen zum Verhältnis der Geschlechter aufgefallen war, wurde hier wie selbst verständlich zugeordnet.33 Der ehemalige Meisterschüler

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Rudolf Lutz, Plakat für den Itten-Vortrag „Unser Spiel, unser Fest, unsere Arbeit“, Collage, 1919, Klassik Stiftung Weimar, Museen

Hans Groß mutmaßte, dass sich jüdische Mitschüler aus Wien den Zugang zu Posten in der Schülervertretung erschlichen hätten.34 Auch hatten einige der älteren Studierenden versucht, die Aufstellung von jüdischen Kandidaten zu verhindern. Wie verbreitet das Denkbild des tendenziellen Antisemitismus auch am Bauhaus war, illustriert eine Bemerkung von Gerhard Marcks, der schrieb: „Die Wiener Itten-Schüler sind alles Juden, und nun geht der Stunk los.“35 Differenzierter und ohne antisemitische, aber doch mit deutlichen nationalistischen Ressentiments analysierte Margarete von Hanke die im Herbst 1919 mit Eintritt der Itten-Schüler einsetzenden Veränderungen im Verhältnis zwischen Gropius und den Schülern. Sie gab zu Protokoll: „Es hatten sich am Bauhaus unter der Schülerschaft mehr und mehr zwei Strömungen herausgebildet. Eine, die durchaus und rein deutsch empfand und eine andere, die […] mehr inter national oder anational empfand. Mit der Zugehörigkeit

zu irgendeiner Nation hatte dies ebensowenig zu tun, wie mit Religion oder Politik. […] Wir Ausgetretenen und Groß gehören zu ersteren […]. Zu den anderen aber, also zu denen, die nicht rein deutsch empfinden und sich betätigen, gehören z. B. Gilles, Basedow, Winkelmayer, […]. Ob einer Jude ist oder Christ, hat mit diesen Strö mungen gar nichts zu tun. […] wir hatten es bald heraus, daß Herr Gropius sich immer zu der […] internatio nalen Richtung setzte: Wir durften daraus wohl mit Recht schließen, daß er die andere Richtung bevorzugte. Damit aber konnten wir Ausgetretenen uns durchaus nicht einverstanden erklären.“36 Eberhard Schrammen meinte dagegen, dass die Itten-Schüler in Berlin oder München keineswegs auffallen würden, aber in Weimar eben „nicht ganz mit unbefangenem Auge“ betrachtet würden.37

Im Bauhaus-Streit mischten sich Politisches und Innerinstitutionelles mit den Ressentiments der Weima rer Bürgerschaft gegenüber der neuen Einrichtung. Das kleinbürgerliche Klima in der einstigen Residenzstadt und die teils hervorragende Vernetzung der ehemaligen Meisterschüler der Hochschule in bildungsbürgerlichen Kreisen befeuerten nun den einsetzenden BauhausStreit. Den 20 mit Itten nach Weimar gekommenen Schülern standen 1919 am Jahresende 17 ausgetretene ältere Studierende gegenüber, die die programmatische Wendung nicht mitvollziehen wollten und dies mit ihrer deutschnationalen Gesinnung begründeten.

Die Itten-Schüler, so schrieb Georg Muche, „waren der Sauerteig, der den Prozeß der organischen Entwick lung am Bauhaus einleitete“38. Die großstädtisch sozi alisierten Wiener waren kulturell auf der Höhe der Zeit. Allein sechs Bauhaus-Abende des Jahres 1920 wur den von Wiener Avantgardisten bestritten. Aus Anlass einer Lesung von Else Lasker-Schüler im Frühjahr 1920 eskalierte der Konflikt zwischen den Schülergruppen erneut (Abb. S. 31). Der Veranstaltungsraum war von den Wiener Schülern mit Gebetsteppichen und Leuchtern geschmückt worden. Gunta Stölzl beschrieb den Abend als „wundervoll, rein orientalisch jüdisch“ 39. Weiter schrieb sie: „Den Anstoß zu dem großen Kampf gab das herausfordernde Benehmen einzelner Juden am Abend einigen Schülern gegenüber und überhaupt die ganze Aufmachung, die gar nicht dem Bauhausgeist entsprach […]. Ich denke nicht an die Ausschmückung […] sondern nur an die Form, wie die Weimarer Bürger empfangen wurden und daß wir einfach an die Wand gedrückt waren als arme Bauhäusler. Zuerst sah es beinahe so aus, als ob der Kampf in Antisemitismus ausarten würde. Die Gefahr ist überwunden, obwohl natürlich die Rassenfrage im Mittelpunkt ruht, aber die Bauhausidee muß darüber stehen.“40 Ein Brief von Friedl Dicker legt nahe, dass im Frühjahr 1920 durchaus eine jüdische Gruppenidentität

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Margit Téry-Adler, Materiestudie aus dem Vorkurs Itten, Fotografie, 1920, Klassik Stiftung Weimar, Museen
31
Friedl Dicker, Einladung zum 1. Bauhaus-Abend mit Lesung von Else Lasker-Schüler am 14. April 1920, Buchdruck, Klassik Stiftung Weimar, Museen, Schenkung Florian Adler

der Wiener Schüler existierte, zu der sie sich zugehörig fühlte.41 Wie Gropius berichtet, brach „ein neuer Skandal los, Ittenschüler kontra Germanen, der außerordentlich heftig wurde“42. Nach Einschätzung des Bauhaus-Direktors waren Franz Singer und Bruno Adler der Unruheherd, und er befürchtete, dass sie „das ganze Bauhaus in die Hand bekommen“43 wollten. Sein Fazit lautete, dass sie „nicht ans Bauhaus gehören und mit der Zeit fort müssen, wenn Ruhe eintreten soll“44. Adler trennte sich in der Konsequenz gemeinsam mit seiner Frau Margit Téry-Adler vom Bauhaus. Bereits im Frühjahr 1920 hatten sechs Itten-Schüler das Bauhaus wieder verlassen. Weitere sechs traten im Lauf des Jahres 1921 aus. Drei davon, Carl Auböck, Alfred Lipovec und Franz Probst, zogen zusammen mit Werner Gilles und Hans-Joachim Breustedt nach Florenz. Nur Richard Winkelmayer, Friedl Dicker, Franz Singer, Franz Scala, Anny Wottitz und Richard Mark blieben bis 1923 am Bauhaus. Damit hatte die ursprünglich starke Gruppe an Bedeutung und Einfluss verloren. Die Streit- und Experimentierlust der Itten-Schüler hatte in Anny Wottitz eine letzte Vertreterin an der Schule. Sie absolvierte erfolgreich eine Lehre in der Buchbinderei, befand sich jedoch mit dem Handwerks meister Otto Dorfner in ständigem Streit.45 Itten übte nach seiner verstärkten Hinwendung zur MazdaznanLehre und der Einführung des obligatorischen Vorkurses starken Einfluss auf alle neu eintretenden Studierenden aus. Seine Einstellung gegenüber handwerklicher Tätig keit wich vom Bauhaus-Programm deutlich ab. Jeden Pragmatismus ablehnend, betrachtete er das Handwerk ausschließlich als Mittel zur Harmonisierung der Persön lichkeit. 1923 verließ Itten schließlich das Bauhaus. In den stürmischen Anfangszeiten hatten sich die Unterschiede in den Arbeits-, Kunst- und Lebens auffassungen der beiden charismatischen Persönlichkeiten Gropius und Itten im gemeinsamen Tun aufgeho ben. Doch nach den ausgestandenen Kämpfen der ersten Jahre waren sie umso deutlicher zutage getreten.46 Die Wiener Itten-Schüler hatten den engagierten älteren Studierenden die Führung des Reformprozesses abgenommen. Ihre Anwesenheit eskalierte die Gegensätze. Den „eisernen Besen“, den Gropius nicht hatte in die Hand nehmen wollen, schwangen statt seiner nun Itten und dessen Schüler, womit sie auch die Ausgründung einer Hochschule für bildende Kunst aus dem Bauhaus 1921 provozierten.47 Erst danach setzte eine Phase des produktiven Arbeitens ein, die mit der Revision des alten Bauhaus-Mottos von der Rückkehr des Künstlers zum Handwerk einherging. Nun lautete die Devise, dass Kunst und Technik eine neue Einheit bilden müssen. Bis Ende 1923, dem Jahr der großen Leistungsschau, haben alle Itten-Schüler das Bauhaus wieder verlassen. Der Katalog der ersten Ausstellung würdigt ihre Arbeit jedoch in Text und Bild.48

1

Eberhard Schrammen: Der Austausch. Veröffentlichung der Stu dierenden am Staatlichen Bauhaus Weimar, Weimar 1919, S. 1.

2 Resolution der Freien Vereinigung, Januar 1919. Landesarchiv Thüringen – Hauptstaatsarchiv (künftig LATh – HStA) Weimar, Staatliches Bauhaus 131, Bl. 1–2.

3 Paul Dobe: Tagebucheintrag vom 26.1.1919. Klassik Stiftung Weimar, Goethe-Schiller-Archiv.

4 An die Arbeitsausschüsse der Bauhaus-Arbeitsgemeinschaft am 18.5.1919. LATh – HStA Weimar, Staatliches Bauhaus 131, Bl. 9.

5 Ebd. und I. und II. Vorsitzender der Schülervertretung an die Leitung des Staatlichen Bauhauses Weimar am 20.5.1919. Ebd. LATh – HStA Weimar, Staatliches Bauhaus 131, Bl. 11.

6 Freie Vereinigung: Bericht über eine Unterredung mit Gropius am 22.5.1919, LATh – HStA Weimar, Staatliches Bauhaus 131, Bl. 17.

7 Gropius: Manuskript zur Rede anlässlich der ersten Schülerausstellung am 25.6.1919, LATh – HStA Weimar, Staatliches Bauhaus 132, Bl. 5–6.

8 Ebd., Bl. 5.

9 Ebd.

10 Ebd.

11 Adolf Loos: Richtlinien für ein Kunstamt, Wien 1919.

12 „In Itten hatten wir uns nicht getäuscht. Er ist ein fabelhafter Kerl.“ Alma Mahler-Gropius an Erika Tietze-Conrad 1917. Zit. n. Rolf Bothe, Peter Hahn, Christoph von Tavel (Hg.): Das frühe Bauhaus und Johannes Itten (Ausstellungskatalog Bauhaus-Archiv Berlin, Kunstmuseum Bern und Kunstsammlungen zu Weimar), Ostfildern-Ruit 1994, S. 447. Zur Datierung der Begegnung zwischen Gropius und Itten vgl. Wagner 2006 (wie Anm. 14), S. 65–77, hier S. 67.

13 Katharina Hövelmann: Bauhaus in Wien? Möbeldesign, Innen raumgestaltung und Architektur der Wiener Ateliergemeinschaft von Friedl Dicker und Franz Singer, Wien/Köln 2021, S. 45.

14 Christoph Wagner: Zwischen Lebensreform und Esoterik: Johannes Ittens Weg ans Bauhaus in Weimar, in: Ders. (Hg.): Johannes Itten, Wassily Kandinsky, Paul Klee. Das Bauhaus und die Esoterik (Ausstellungskatalog Gustav-Lübcke-Museum Hamm, Museum im Kulturspeicher Würzburg), Bielefeld/Leipzig 2006, S. 65–77, hier S. 67.

15 Willy Rotzler (Hg.): Johannes Itten. Werke und Schriften, Zürich 1978, S. 28.

16 Für den Hinweis auf die Verwandtschaft zwischen Kornfeld und Singer dankt die Autorin Katharina Hövelmann.

17 Hövelmann 2021 (wie Anm. 13), S. 41–42.

18 Vgl. Gropius an Itten, 18.6.1919, in: Josef Helfenstein, Henriette Mentha (Hg.): Johannes Itten: das Frühwerk, 1907–1919, Bern 1992, S. 44.

19 Vgl. Paul Kämmer an Walter Gropius, 22.8.1919. LATh – HStA Weimar, Staatliches Bauhaus 75, Bl. 44. Vor allem die Meisterschüler fürchteten den Entzug ihrer Arbeitsräume.

20 Zunächst hatte der Bauhaus-Direktor versucht, wenigstens der Form halber die Einsendung einiger Arbeiten durchzusetzen, schrieb aber zugleich: „Im Übrigen ist es natürlich für mich aus gemacht, dass die Leute, die Sie vorschlagen, auch genommen werden.“ Gropius an Itten, 13.7.1919. LATh – HStA Weimar, Staatliches Bauhaus 111, Bl. 34.

21 Protokoll der Meisterratssitzung vom 5.10.1919. Zit. n. Volker Wahl (Hg.): Meisterratsprotokolle des Staatlichen Bauhauses Weimar 1919–1925, Weimar 2001, S. 48.

22 Walter Gropius an Lily Hildebrandt, Oktober 1919. Zit. n. Bothe u. a. 1994 (wie Anm. 12), Dokument 11, S. 449.

32

23 Johannes Itten an Anna Höllering, 3.11.1919. Zit. n. Rotzler 1978 (wie Anm. 15), S. 67.

24 Johannes Itten an Matthias Hauer, 5.11.1919. Zit. n. Rotzler 1978 (wie Anm. 15), S. 68.

25 Befragung Thekla Diedrich-Wrede am 9.2.1920. Zit. n. Volker Wahl (Hg.): Das Staatliche Bauhaus in Weimar. Dokumente zur Geschichte des Instituts, Begleitband, Köln/Weimar/Wien 2009, S. 227–230.

26 Siehe Abb. S. 26 und 31. Von den 34 bei Feininger einge schriebenen Schülern gehörte lediglich Julie Moller zur Gruppe der Wiener Itten-Schüler.

27 Walter Gropius an Lily Hildebrandt, Oktober 1919. Zit. n. Bothe u. a. 1994 (wie Anm. 12), Dokument 12, S. 449.

28 Johannes Itten an Matthias Hauer, 5.11.1919. Zit. n. Rotzler 1978 (wie Anm. 15), S. 68.

29 Ebd., S. 68.

30 Wahl 2001 (wie Anm. 21), S. 48–51 und Erläuterung zu 50, 29–30, S. 387–388.

31 Franz Singer, Manuskript einer Rede, undat., wohl Ende 1919. Klassik Stiftung Weimar, Museen, Nachlass Adler.

32 Die angebliche Bevorzugung von Ausländern, gemeint sind die Itten-Schüler, wird vor allem in der lokalen Tagespresse kolportiert. So von Leonhad Schrickel, Was geht vor in Weimar? Weimarische Landeszeitung Deutschland, Nr. 347 vom 19.12.1919. Gerhard Marcks‘ Äußerung zur jüdischen Herkunft der Itten-Schüler zitiert in Anm. 35. Zur freigeistigen Haltung von Marguerite Friedlaender vgl. Anm 33.

33 „Auf Rückfrage mit Frl. v. Minckwitz lautete die Rede zwischen Friedländer, Julie Moller u. einer dritten Ittenschülerin gegen die unduldsamen Weimarer Hauswirtinnen, die gegen Herren besuche Einspruch erheben. Einer war gesagt worden durch ihren Verkehr doch so blamiert zu sein, daß sie den betref fenden heiraten müsse. Darauf die Friedländer: dann könnte ich zweitausend heiraten! Überhaupt die Wirtinnen mit ihrer Moral. Wenn man einen Jüngling liebt und schläft mit ihm, so ist das Natur, wenn man das nicht tut, so ist das Unmoral.“  Aussage von Thekla Diedrich am 9.2.1920. Zit. n. Wahl 2009 (wie Anm. 25), S. 227–231.

34 Aussage von Walter Determann am 27.1.1920. Zit. n. ebd., S. 223.

35 Gerhard Marcks an Richard Fromme, 28.10.1919. Zit. n. Gerhard Bott (Hg.): Gerhard Marcks. Briefe und Werke, München, 1988, S. 34.

36 Befragung Margarete von Hanke am 13.1.1920. Zit. n. Wahl 2009 (wie Anm. 25), S. 219–220.

37 Befragung Eberhard Schrammen, 16.2.1920. Zit. n. Wahl 2009 (wie Anm. 25), S. 237.

38 Georg Muche: Was gab dem Bauhaus seine große Wirkung?, in: Johannes Itten gesehen von Freunden und Schülern, Ravensburg o. J., S. 14.

39 Vgl. Peter Bernhard: „Frau Lasker-Schüler hatte uns mit ihren Staccato-Versen völlig im Bann.“ Erinnerungen von Max Peiffer-Watenphul. In: Ders. (Hg.): bauhaus vorträge, Gast redner am Weimarer Bauhaus 1919–1925. Neue Bauhausbü cher, Bd. 4, Berlin 2017, S. 99–100.

40 Ebd., S. 99.

41 „Es wäre viel drüber zu reden über die jetzige Bauphysiognomie in Bezug auf uns. Wir (Juden) müßten die Stellung, die wir beanspruchten, brauchen und schaffen allein durch oder trotz allem.“ Friedl Dicker an Anny Wottitz um 1920. Zit. n. Hövelmann 2021 (wie Anm. 13), S. 50–51.

42 Reginald Isaacs: Walter Gropius. Der Mensch und sein Werk, Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1985, Bd. 1, S. 251.

43 Ebd., S. 251.

44 Ebd., S. 252.

45 Wahl 2001 (wie Anm. 21), S. 459–461.

46 Karin Wilhelm geht davon aus, dass beide Protagonisten in ruhigeren Zeiten sicher recht schnell bemerkt hätten, dass sie „viel zu unterschiedlich waren, als daß sie ernsthaft eine gemeinsame Bildungsaufgabe hätten angehen können“. Karin Wilhelm: Auf der Suche nach dem neuen Menschen. Zum Verhältnis von Walter Gropius und Johannes Itten, in: Bothe u. a. 1994 (wie Anm. 12), S. 59–70.

47 Vgl. Befragung Werner Gilles am 5.2.1920, in: Wahl 2009 (wie Anm. 25), S. 225.

48 Vgl. Walter Gropius (Hg.): Staatliches Bauhaus 1919–1923 (Ausstellungskatalog Staatliches Bauhaus Weimar), Weimar/München 1923.

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Franz Singer, Männlicher Akt, 1918, Kohle auf Papier, 31,3 × 18,2 cm, BHA, Inv.-Nr. 2016/1341.16

Friedl Dicker, Figurenstudie, um 1916–1919, Kohle auf Karton, 39 × 29 cm, UAK, Inv.-Nr. 12.203

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Friedl Dicker, Blumenvase, um 1919, Kohle und Bleistift auf Papier, 45,3 × 32 cm, AGS

Franz Singer, Komplementärfarben – Vermittlung Gelb zu Violett (aus dem Unterricht bei Paul Klee), 1922/23, Bleistift und Aquarell auf Papier, 23,3 × 10 cm, BHA, Inv.-Nr. 1078

Friedl Dicker, Weiße und schwarze Kreisflächen, Studie zum Hell-Dunkel-Kontrast, um 1919, Collage aus weißem Papier und Pappe, mit Tusche und Kohle überarbeitet, auf Karton, 26,1 × 18,1 cm, BHA, Inv.-Nr. 3091

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Friedl Dicker, Analysen Alter Meister, Korrekturbogen für Blatt 10 von Utopia, 1921, Buchdruck, schwarz und rot, Collage und Anmerkungen in Bleistift, 33 × 24 cm, BHA, Inv.-Nr. 1027/3
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Dolly Schlichter, Friedl Dicker und Stefan Wolpe in Weimar, um 1920, Basel, Paul Sacher Stiftung, Sammlung Stefan Wolpe

hörte so rasend gern was von Deiner Arbeit.“

Als 20-Jährige schrieb sich Friedl Dicker im Oktober 1918 am Seminar für Komposition bei Arnold Schönberg ein. Dies mag erstaunen, war Dicker doch auf visuellem Gebiet vielseitig ausgebildet, dürfte aber auf musikalischem nur spärliche Vorkenntnisse mitgebracht haben; dass sie als Kind oder Jugendliche Musikunterricht genos sen hätte, ist jedenfalls nicht überliefert. Erhärtete Fakten zu ihren Neigungen sind rar, und manches, wie die Feststellung, dass Dicker „ohne Musik nicht leben“ konnte, „ihre Abende in Konzertsälen“ verbracht und ihre Zeich nungen „gesungen“ habe, basiert auf späteren Erinnerungen von Freunden und Schülerinnen.1 Dass die viel seitige Künstlerin eine Leidenschaft für Musik hatte und der Arbeit ihrer komponierenden Freunde echtes Interesse entgegenbrachte, wird manifest an musikalischen Projek ten, an denen sie beteiligt war, wie auch in mehreren Widmungskompositionen. Freilich hatten etliche Protago nisten der Wiener Moderne wie auch die führenden Köpfe des Bauhauses starke interdisziplinäre Interessen und zielten in ihrer Ästhetik immer wieder auf Berührungspunkte zwischen Musik und bildender Kunst. Einige von ihnen –prominent Arnold Schönberg oder Paul Klee – waren selbst auf beiden Gebieten aktiv. Bei Friedl Dicker waren es wohl vor allem persönliche Verbindungen, die sie zur Teilnahme an Schönbergs Seminaren motivierten. Ihre engste Freundin Anny Wottitz war im letzten Jahr des Ersten Weltkriegs mit Viktor Ullmann liiert, während die ser als Freiwilliger an der österreichisch-ungarischen Grenze diente.2 Als angehender Komponist stand Ullmann schon länger dem Wiener Schönberg-Kreis nahe und warb kräftig für dessen Veranstaltungen. Nach seiner Entlassung aus dem Kriegsdienst im April 1918 nahm er an den Wandertagen einer Gruppe von Wiener Jugend lichen teil, in der er nicht nur Annys Schwester Rozsi Wottitz und Friedl Dicker begegnete, sondern auch seine spätere erste Ehefrau Martha Koref kennenlernte.3 So kam es, dass sich im Herbst 1918 am Seminar für

Komposition eine bunt gemischte Gruppe von kunstund musikbegeisterten jungen Leuten einfand, von denen einige – wie Ullmann, Dicker und Wottitz oder der Musiktheoretiker Erwin Ratz – die Kunst zur Profes sion machten, während andere – etwa Dolly und Viktor Schlichter oder Martha Koref – später kaum mehr künst lerisch produktiv waren.

Schönbergs Kurse in Harmonielehre, Kontrapunkt und Analyse, die von 1918 bis 1920 in den Schulen der Reformpädagogin Eugenie Schwarzwald stattfanden, waren weniger als Frontalunterricht denn als offenes Gespräch zwischen Dozent und Lernenden konzipiert. Das Unterrichtsangebot enthielt auch eine soziale Kompo nente, insofern als das Kursgeld auf Selbsteinschätzung der Teilnehmenden basierte und diesen die Wahl ließ, sich als „Schüler“ einzuschreiben und sich am Ende des Jahres einer Prüfung zu unterziehen oder lediglich als „Hörer“ teilzunehmen. Auf „Frieda“ Dickers Anmeldung, mit der sie sich in den Hauptkurs „Harmonielehre I“ und das Nebenfach „Analyse“ (samt Sprechstunde) inskri bierte, ist diese Unterscheidung nicht ausgewiesen.4 Doch scheint sie die Kurse über alle neun Monate des ersten Studienjahres besucht zu haben. In dieser Zeit dürfte sie nicht nur mit Werken des klassischen Repertoires vertraut geworden, sondern auch zeitgenössischen Kompositionen der modernsten Richtungen begegnet sein. Dickers Name erscheint nämlich in der Adressaten liste des Vereins für musikalische Privataufführungen,5 jenes von Schönberg gegründeten Forums, das sich zur Aufgabe gemacht hatte, „Künstlern und Kunstfreunden eine wirkliche und genaue Kenntnis moderner Musik zu verschaffen“6. In den seit November 1918 regelmäßig stattfindenden Konzerten wurden aktuelle Werke von Debussy, Mahler, Strawinsky und Skrjabin, von Berg, Busoni, Bartók und anderen aufgeführt. Als Interpreten traten auch Bekannte von Dicker auf, etwa die Sängerin Emmy Heim und der Pianist Eduard Steuermann.7

39
„Ich
Friedl Dickers Freundschaft mit Stefan Wolpe und Viktor Ullmann

Ob es im Sommer 1918 zwischen Dicker und Ullmann zu einer „Affäre“ kam, wie der Ullmann-Biograf Ingo Schultz vermutet,8 lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Gut vorstellbar, dass sich unter den 20-Jährigen jenes Wiener Kreises in einer Atmosphäre von Jugend bewegung und Kunstbegeisterung verschiedenste Intensitäten freundschaftlicher oder amouröser Annäherung ergaben. Jedenfalls trennten sich die Wege Dickers und Ullmanns auch geografisch, nachdem Ullmann im Mai 1919 seine Kommilitonin Martha Koref geheiratet hatte und mit ihr nach Prag übersiedelt war. Dicker folgte im Oktober desselben Jahres ihrem Lehrer Johannes Itten ans Bauhaus nach Weimar. Als Dokument der Freund schaft ist das Manuskript eines Liedes erhalten, das Ullmann viele Jahre später Dicker gewidmet hat. Davon soll weiter unten die Rede sein.

Am Bauhaus in Weimar gehörte zu den typischen Rahmenbedingungen, dass an manchen Projekten wechsel weise Kunst, Tanz, Musik und andere Disziplinen betei ligt waren. Oft fanden junge Talente erst hier zur

spezifischen Ausrichtung ihres künstlerischen Weges. Stefan Wolpe etwa, der das Gymnasium in Berlin noch vor dem Abitur verlassen hatte, hielt sich in den Som mern 1920 und 1921 in Weimar auf und machte dort prägende Erfahrungen. Wie sein Freund, der Maler Max Bronstein (nach 1933 Mordechai Ardon), war er von Else Schlomann, einer wohlhabenden Anwaltsgattin, die eine Villa in Berlin-Dahlem bewohnte und sich der Förderung junger Künstler verschrieben hatte, ans Bau haus empfohlen worden. Während er sich auch zeich nerisch artikulierte,9 schrieb Wolpe in den Monaten am Bauhaus seine ersten von ihm als gültig erachteten Lieder und Klavierstücke. Darunter finden sich zwei Adagios, die Friedl Dicker gewidmet sind und die von der Verliebt heit des 18-Jährigen gegenüber der vier Jahre älteren temperamentvollen Frau zeugen.

Das erste Adagio mit dem Titel „Gesang, weil ich etwas Teures verlassen muss“ gehört zu einem Kon volut von vier Stücken, die Wolpe seiner Gönnerin Else Schlomann zugeeignet hat. Es ist in zwei Handschrif ten überliefert, einer – nicht betitelten – ersten Nieder schrift sowie einer Reinschrift, die auf den 6. September 1920 datiert ist und die schlichte Widmung „Für Friedl“ trägt. Auf der Rückseite des nur eine Seite umfassen den frei atonalen Stücks findet sich – gleichsam als Indiz für den Anlass – eine viertaktige Skizze mit der Überschrift „Zart“ und der Anweisung „Vielmal wiederholen!! Und immer, immer reiner und schöner!“; dazu die an deutende Notiz „4.IX.1920, wo mir die Friedl musikalisch so [?] geschehen ist.“10 Wenige Wochen später, am 27. September 1920, schrieb Wolpe ein weiteres Adagio, das mitsamt seiner Widmung „Für den verklärtesten aller Menschen, für Friedl“ an recht prominenter Stelle pub liziert worden ist. Der Dirigent Hermann Scherchen, ein Anwalt moderner Musik und Gründer der Zeitschrift Melos, druckte das anspruchsvolle Stück als faksimilierte Notenbeilage im Dezemberheft des ersten Jahrgangs.11 Die Expressivität des dichten chromatischen Satzes wird in diesem Adagio durch Vortragsbezeichnungen begleitet, die in ihrer ungewöhnlichen Fülle einen Eindruck von der Gefühlslage des jungen Komponisten, gelegentlich seines (unerwiderten) Verliebtseins, vermitteln: „zart“, heißt es da mehrfach, auch „Maestoso“, „voller Wehmut“, „innig“, „noch inniger“ und „ganz, ganz innig (fast eine leidenschaftliche Innigkeit!)“.12 Dazu passt die Erinnerung des Musikwissenschaftlers Hans Heinz Stuckenschmidt, der im Sommer 1923 am Bauhaus weilte. Aus der Distanz eines halben Jahrhunderts formuliert, erscheint sie schemenhaft, als Stimmungsbild jedoch sprechend: „Wolpe saß meistens einsam in einer Ecke und schrieb wieder einmal eines seiner ekstatischen Klavierstücke, das er Friedl Dicker widmete […].“13 Immerhin konnte

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Friedl Dicker in Weimar, um 1920 (die Brandspuren in der unteren rechten Ecke rühren von einem Wohnungsbrand her, der 1970 in Wolpes New Yorker Apartment ausbrach), Basel, Paul Sacher Stiftung, Sammlung Stefan Wolpe
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Stefan Wolpe, Fünf Lieder nach Friedrich Hölderlin für Alt und Klavier op. 1, Nr. 1 Hälfte des Lebens, 1924, Partiturreinschrift, S. 1 (Beschnitt am Original), Basel, Paul Sacher Stiftung, Sammlung Stefan Wolpe

Wolpe während seiner Aufenthalte am Bauhaus bei Dicker wohnen, kam gelegentlich auch bei Franz Singer unter und bezeichnete sich fallweise als „glücklich“.14 (Abb. S. 38 und 42)

Dicker, die ihre Beziehung zum Atelierpartner Singer nach seiner Heirat und der Geburt seines Sohnes weiter führte, konnte sich auf Wolpes schwärmerische Werbung nicht einlassen, doch war sie auf Anhieb fasziniert von seinem Wesen und empfand eine besondere menschliche Nähe, die sie ihn auch spüren ließ. Ihrer Freundin Anny vertraute sie an: „[Stefan] ist überhaupt ein Glück. Und neben ihm kann man, will man sich nur öffnen, wohl zum ‚wahren‘ Leben kommen. Viel Äußeres macht einen schon noch nervös; aber so einem strahlenden Herzen halten wohl keinerlei Kleinlichkeiten Stand.“15 Als er im Sommer 1921 kurz vor seinem 19. Geburtstag bei ihr erkrankte, pflegte sie ihn, fütterte ihn auf und resümierte: „Er ist der einzige Mensch, den es giebt. In seiner Güte unfass bar, in seiner Stärke zu bewundern.“16 Während sich der junge Komponist mit seinem ewig suchenden Naturell

vorübergehend Anny Wottitz zuwandte, fuhr Dicker fort, ihrer Freundin sein Ergehen und seine Vorzüge zu schil dern: „Der Stephan ist still und verändert, weiterentwickelt, streng, edel. Man müsste neben ihm leben, um nur zu lernen von ihm, man kann ruhig werden und lernt zu leben.“17 Im Oktober 1922 steckte sie Wolpe einen klä renden Zuspruch zu, den dieser datiert und unter seinen Tagebuchblättern aufgehoben hat: „Stephan, stärks ter wunderfester unter Menschen, ich sage Dir nichts als es wird ein ebenbürtiger Mensch Dir werden, lass von den Qualen, Du wirst alles Vergangene, Häßliche verwin den u. neu aufleuchten. Das Schöne bleibt ewig in Dir.“18 Gegen Mitte der 1920er Jahre bilanzierte Dicker gegen über Wottitz: „Stephan […] gehört zu den wunder vollsten, eigensten, stärksten Menschen. Und wenn ich nachdenke, wer zu meinem Herzenskreis überhaupt neu dazu gekommen ist, so ist nur er es.“19 Wolpe haderte in seinem Tagebuch mit der Aussichtslosigkeit seines Liebeswerbens, bis er sich abfand mit dem „Glücks gefühl, dass Dich [Friedl] die Bekennung einer freund schaftlichen Vision so schön, so homogen, so rein als möglich erreiche“20. Die Beziehung zwischen Dicker und Wolpe scheint sich schließlich in eine von beiden Sei ten getragene Freundschaft gewandelt zu haben, eine Freundschaft, die später auch dem Exil und der Distanz zwischen Prag und Jerusalem standhielt.

Ein weiteres Widmungsstück aus den frühen Jah ren ist die Vertonung des bekannten Hölderlin-Gedichts Hälfte des Lebens (Abb. S. 41). Der Text scheint durch aus programmatisch gewählt und mag auf der Seite Wolpes eine Zäsur markiert haben, die eine dauerhafte Künstlerfreundschaft ermöglichte. Hälfte des Lebens entstand 1924 und wurde zusammen mit vier weiteren Liedern unter dem Titel Fünf Lieder nach Hölderlin zum Opus 1 erklärt. Das letzte Lied dieses Zyklus, Zufrieden heit, ist übrigens Emmy Heim gewidmet, Franz Singers Ehefrau seit 1921. Das zweite Lied wiederum, Diotima, eignete Wolpe 1927 Olga (Ola) Okuniewska zu, der Malerin, die mit Dicker bei Itten studiert hatte und die in diesem Jahr seine erste Ehefrau wurde.21

Dass die hier angesprochenen Musikstücke die Zeitläufte und Wolpes doppelte Emigration überdauerten, ist der Pianistin Irma Schoenberg zu verdanken; sie konnte Ende März 1933 seine Manuskripte aus der ver lassenen Schlomann-Villa retten und dank ihres rumäni schen Passes sicher über die Schweizer Grenze nach Zürich bringen. Auch Wolpe selbst, als Jude, Linker und Modernist dreifach gefährdet, verließ NS-Deutschland mit Schoenbergs Hilfe bereits 1933. Aus einer zionis tischen Familie stammend und mit wachem politischem Bewusstsein ausgestattet, war sie es, die den Weg über Wien und Bukarest nach Palästina bahnte, wo das Paar

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Dolly Schlichter, Friedl Dicker und Stefan Wolpe in Weimar, um 1920, Basel, Paul Sacher Stiftung, Sammlung Stefan Wolpe
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Friedl Dicker, um 1930, Basel, Paul Sacher Stiftung, Sammlung Stefan Wolpe

Friedl Dicker, Porträt von Stefan Wolpe, ohne Datum, Kohlezeichnung auf Velin, 42,4 x 34,3 cm, Basel, Paul Sacher Stiftung, Sammlung Stefan Wolpe

nach der Ankunft 1934 heiratete.22 Angesichts der Tatsa che, dass sich sämtliche hier erwähnten Widmungskom positionen nur im Nachlass ihres jeweiligen Autors erhalten haben, mag man sich fragen, was Dicker überhaupt von diesen Stücken wusste. Zeigte ihr Wolpe die Manu skripte? Spielte er ihr die Stücke vor? Erstellte er gar eine Abschrift für sie, für den Fall, dass das Original verlo ren ginge? Oder blieben ihr die Zueignungen verborgen? All dies lässt sich kaum ergründen. Von realem Austausch zeugen hingegen einige Projekte, bei denen Wolpe und Dicker auf unterschiedliche Weise künstlerisch zusam mengearbeitet haben.

Im Sommer 1923, während beide in Berlin lebten und Dicker dort ihr Atelier mit Singer führte, kooperier ten sie bei einer Inszenierung von Shakespeares Kauf mann von Venedig, die die Theatergesellschaft Die Truppe unter der Regie von Berthold Viertel realisierte. Von Dickers und Singers Gestaltung des Bühnenbilds und der Kostüme sind 18 Entwürfe erhalten.23 Wolpes Bühnenmusik hingegen ist verloren, seine Beteiligung lediglich durch ein Zeitungsinserat belegt.24 Umgekehrt verhält es sich bei einem Puppenspiel, das ebenfalls im

Sommer 1923 in Arbeit war, als in Weimar die BauhausWoche vorbereitet wurde. Von dort schrieb Dicker, die sich bekanntlich schon früh für verschiedene Formen des Puppentheaters interessiert hat, an ihre Freundin Anny: „Das Schattenspiel ist immer noch nicht fertig.“ Und fügte hinzu: „Dem Stefan geht es jetzt gut. Er ar beitet wahnsinnig und ist munter und frisch. Gott sei es 1000mal gedankt.“25 Während Dickers Teil dieser Arbeit verloren ist, hat sich bei Wolpe das Manuskript dieser Schattenspiel-Musik erhalten, das mit „Sommer 1923“ datiert ist. Es handelt sich um eine einsätzige Kompo sition für drei Frauenstimmen auf einen anonymen Text, der eine Art Parodie auf einen mittelalterlichen MarienHymnus darstellt.26 Für Wolpe war dieses Projekt wichtig genug, dass er in einer Mitte der 1960er Jahre im Hin blick auf den Wiedergutmachungsantrag an Deutschland verfassten biografischen Notiz erwähnte, er sei „Kom ponist eines Schatten-Marienspiels von Friedl Dicker“ gewesen.27 Mitte der 1920er Jahre entwarf Dicker auch einen Umschlag für eine Ausgabe von Wolpes Klavier kompositionen, die jedoch nicht zur Veröffentlichung gelangte.28 Eine weitere Zusammenarbeit ist noch Ende der 1920er Jahre dokumentiert, als Dicker bereits wieder in Wien ansässig war. Im Libretto zur Kammer oper Schöne Geschichten (1927–1929) hielt Wolpe fest, „die szenischen Vorschläge sind von Friedl Dicker. Wien“.29 Diese der neuen Sachlichkeit verpflichtete Kurzoper für Andeutungsbühne, Schauspieler, Sänger, Marionetten, Chor und kleines Orchester besteht aus sieben Szenen, in denen bekannte (vor allem jüdische) Witze und Erzählungen pointenreich dargeboten werden. Dass Dicker und Wolpe hier eng zusammengearbeitet haben, ist auch vor dem Hintergrund ihrer jüdischen Herkunft zu sehen – ein Faktor, der seit Mitte der 1920er Jahre an Bedeutung gewann und schließlich als verbinden des Schicksalsmoment beider Leben bestimmen sollte.

In der Literatur über Wolpe und Dicker wird das Verhältnis zwischen den beiden zumeist als temporäre, aussichtslose Schwärmerei eines Teenagers für eine ältere, bereits einem anderen verbundene Frau darge stellt, so wie es sich um 1920/21 zeigt. Berücksichtigt man aber die verschiedenen Zeugnisse auch der spä teren Jahre, ergibt sich das Bild innerster Vertrautheit, eines Zusammengehörigkeitsgefühls, das immer wieder den Zauber der Anziehung erzeugt haben mag.

Den Widmungskompositionen Wolpes stehen auf der Seite Dickers drei Porträts gegenüber, die alle um 1920 oder kurz danach entstanden sind. Neben einem stilisierten kolorierten Profil30 und einem skizzierten Halb profil, das ebenfalls Wolpes Gesichtszüge trägt,31 ist es eine ausgearbeitete Kohlezeichnung, die sich im Nachlass von Anny Wottitz erhalten hat.32 Alle drei Zeichnungen

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Viktor Ullmann, Wendla im Garten, 1944, Partiturreinschrift, S. 1, Basel, Paul Sacher Stiftung, Sammlung Viktor Ullmann

sind auf Velinpapier ausgeführt, doch nur das Kohleporträt trägt eine Signatur und damit den Stempel des Abge schlossenen (Abb. S. 44). Auf dem großzügig bemessenen Format ist der Kopf leicht dezentriert gesetzt, sodass sich der leere Raum dem nach links unten gerichteten Blick öff net. Im Vergleich zu anderen Porträts aus der Zeit formu liert Dicker in diesem Bildnis einen ganz persönlichen Ausdruck, der über eine realistische Darstellung hinaus geht. In der Reduktion auf Gesicht und Halspartie, den hochgezogenen Brauen, den kantigen Konturen und dem gewölbten Kopf scheint eine bekümmerte Stimmung des Künstlers eingefangen, die den 20-Jährigen wesentlich älter wirken lässt, aber durchaus charakteristisch erscheint.

Es ist ungewiss, ob die beiden sich noch sahen, als Wolpe im Herbst 1933 vorübergehend nach Wien kam, denn Dicker war schon seit dem Sommer nicht mehr dort angemeldet.33 Ihre erhaltenen Briefe an den Freund (ca. 1933–1938) dokumentieren aber aufs Eindrück lichste ihr Angewiesensein auf alte Verbindungen, ihre künstlerischen Krisen und ihren Entschluss, sich in der Ehe mit Pavel Brandeis zu stabilisieren. Stets ohne Nen nung von Ort und Datum, schrieb sie an Wolpe: „In diesem faulenden Stück Mitteleuropa zu sitzen macht alles, von der eigenen Verfassung gar nicht zu sprechen, fragwürdig und traurig.“34 Nachdem dieser in Jerusalem angekommen war, träumte sie von einem Wiedersehen: „Ich hoffe immer noch auf das Wunder, das mich zu Euch nach Palästina bringen soll […].“35 Um 1935, von ihrem Cousin Pavel berichtend und Pläne für eine Aus reise nach England reflektierend, drängte sie: „Ich würde leidenschaftlich gern was von Dir hören; von Deinen Arbeiten! Dich selbst sähe ich gern. Drum schreib mir viel und oft.“36 Schließlich als Bilanz: „Stefan, mein Lieber, gut ist doch eine Freundschaft, die unbedenklich [?] ist, […] wenigstens ist es mir unmöglich, Dich anders, als zu meinem Inventar [zu] rechnen [?].“37 Nachdem Wolpe Ende 1938 nach New York emigriert war, scheint der Kontakt abgebrochen zu sein.

Auch ob Dicker und Ullmann sich Mitte der 1930er Jahre in Prag wiederbegegnet sind, kann vorläufig nicht dokumentiert werden. Es ist gut möglich, waren sie doch beide 1933 in die von deutschsprachigen Emigranten überflutete Stadt gezogen, und in Beziehungsnetzen der Emigration pflegte man sich übereinander auf dem Laufenden zu halten. Dicker schlug bekanntlich Möglich keiten zur Emigration nach Palästina und England aus,38 während Ullmann Bekannte in der Schweiz und in Süd afrika vergeblich um Hilfe anging. Im Herbst 1942 wurden beide, im Abstand von wenigen Wochen, mit ihrem Lebenspartner nach Theresienstadt deportiert. Dort arbeitete Dicker künstlerisch mit Kindern, lehrte sie, „mit Farben zu spielen, Bewegungen nach Musik zu

machen oder nach einem bestimmten Takt“.39 Eine Schülerin, die den Holocaust überlebt hat, erinnerte sich: „Sie hat zum Beispiel in einem bestimmten Takt auf den Tisch geklopft und wir sollten diese Bewegungen im entsprechenden Rhythmus zeichnen.“40 In solchen didak tischen Methoden lässt sich ein Interesse und Verständ nis für Musik erkennen. Dass es in Theresienstadt, wo Ullmann die produktivste Periode seines kompositorischen Schaffens erlebte, erneut zu einem Kontakt gekommen ist, bezeugt das Manuskript von Wendla im Garten (Abb. S. 45). Ullmann hatte das Lied schon 1918 für Dicker geschrieben, der Monolog der jugendlichen Wendla aus Frank Wedekinds Frühlings Erwachen (2. Akt, 6. Szene) dürfte dem damaligen Lebensgefühl entsprechen. Aller dings steht nicht fest, wie werkgetreu die Komposition aus dem Gedächtnis niedergeschrieben oder wieweit sie dabei abgeändert wurde. Mit der erneuten Widmung zu Dickers Geburtstag am 30. Juli 1944 brachte Ullmann jedenfalls eine Verbundenheit zum Ausdruck, mit der er die Distanz eines Vierteljahrhunderts überbrückte: „Sind wir anders als vor … Jahren, da ich Dir, liebe Friedl, das nämliche Lied zum Geburtstage widmete? Nein – wir sind zueinander ‚die Alten‘ geblieben und bleiben es!“41 Keine zehn Wochen später wurden Dicker und Ullmann im Abstand von einigen Tagen nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Dass Ullmanns Manuskripte erhalten geblieben sind, verdankt sich seinem Entschluss, sie in Theresienstadt seinem Freund Emil Utitz anzuvertrauen.42 Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs – Wolpe war nun im zweiten Exil in New York – wurde der Tod Dickers für diesen ein schmerzhafter Stachel und die Erinnerung an sie ein fester Orientierungspunkt. „I must avenge Friedl“, äußerte er gegenüber seiner dritten Ehefrau, der Dichterin Hilda Morley (geb. Auerbach).43 Die Idee, Dickers Tod zu „rächen“, scheint Ausdruck des Gedenkens zu sein und seines Bewusstseins für die Notwendigkeit, Zeugnis abzulegen.44 „How much death can anyone of us take“, schrieb er, der Toten gedenkend, „Friedl’s collapse in the gas chamber of Oswiecim, […] Berthold Viertel’s this year and now Dylans [Thomas].“45 In Erinnerung blieben aber auch helle Momente. Das bescheidene Talent eines ehema ligen Kompositionsschülers etwa wurde von Wolpe –mit Bezug auf Dicker – relativiert: „Aber er ist ein lieber Mensch (würde Friedl sagen).“46 Am schönsten mag eine von Wolpe überlieferte Anekdote das unverbrüch liche Vertrauen zwischen ihm und Dicker fassen: Bei einer Verabredung in einem Kaffeehaus habe er, in der festen Zuversicht, Friedl würde bald kommen, über 24 Stunden auf sie gewartet; wonach sie, auf ihn zu tretend, bemerkt habe, sie habe gewusst, dass er auf sie warten würde.47

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1 Elena Makarova: Friedl Dicker-Brandeis. Ein Leben für Kunst und Lehre. Wien – Weimar – Prag – Hronov – Theresienstadt – Auschwitz (Ausstellungskatalog Palais Harrach, Wien 1999), Wien/München 1999, S. 15 (ohne Nachweis).

2 Aus einem Brief von Anny Wottitz an ihre Schwester Rozsi geht hervor, dass sie und Ullmann sich im Frühjahr 1917 – während seines Kriegsdienstes an der österreichisch-ungarischen Grenze – näherkamen. Brief von Anny an Rozsi Wottitz, 21.5.1917, Paul Sacher Stiftung, Basel (künftig PSS), Sammlung Viktor Ullmann. Über Ullmann im Kriegsdienst berichten fünf weitere Briefe von Joška Szirmai an Anny Wottitz, die zwischen Oktober 1917 und Juni 1918 geschrieben wurden (ebd.).

3 Ingo Schultz: Viktor Ullmann. Leben und Werk, Kassel 2008, S. 71.

4 Bildarchiv des Arnold Schönberg Center (http://archive.schoen berg.at), TM 3746.

5 Alban Berg: Briefentwürfe, Aufzeichnungen, Familienbriefe, Das „Bergwerk“. Aus den Beständen der Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek, hg. v. Herwig Knaus, Thomas Leibnitz, Wilhelmshaven 2006, S. 200.

6 Alban Berg: Prospekt des „Vereins für musikalische Privatauffüh rungen“, in: Schönbergs Verein für musikalische Privataufführungen (Musik-Konzepte, Bd. 36), München 1984, S. 2–7, hier S. 2.

7 Walter Szmolyan: Die Konzerte des Wiener Schönberg-Vereins, in: Schönbergs Verein 1984 (wie Anm. 6), S. 101–103.

8 Schultz 2008 (wie Anm. 3), S. 70.

9 Im Bauhaus-Archiv Berlin (Inv.-Nr. 687) hat sich eine Zeichnung aus dem Nachlass von Franz Singer erhalten, die eine Gruppe von Musikern darstellt und auf der Rückseite die Aufschrift „An Friedl“ trägt. Abgebildet bei Brigid Cohen: Stefan Wolpe and the AvantGarde Diaspora, Cambridge 2012, S. 102.

10 Stefan Wolpe: Gesang, weil ich etwas Teures verlassen muss, Reinschrift, PSS, Sammlung Stefan Wolpe, veröffentlicht in: Stefan Wolpe: Klaviermusik 1920–1929, hg. v. Thomas Phleps, Hamburg/New York 1997, S. 8–9.

11 Stefan Wolpe: Adagio, Notenbeilage zu: Melos 1 (Dezember 1920), kritische Edition, in: Stefan Wolpe: Klaviermusik 1920–1929, S. 12–17. Das Originalmanuskript ist verschollen.

12 Ebd.

13 Hans Heinz Stuckenschmidt: Musik am Bauhaus, Berlin 1978, S. 8.

14 Stefan Wolpe an Anny Wottitz, Brief vom August 1921, PSS, Sammlung Stefan Wolpe.

15 Friedl Dicker an Anny Wottitz, Weimar, Sommer 1921, Universität für angewandte Kunst Wien, Kunstsammlung und Archiv (künftig UAK), Inv.-Nr. 12.884/1a.

16 Ebd. Hervorhebung im Original. Das Wort „Mensch“ hat in der aschkenasisch-jüdischen Community und im Licht der jiddischen Sprache eine eigene emphatische Färbung und meint eine integre, großherzige Person.

17 Dicker an Wottitz, Dresden 1922 (?), UAK, Inv.-Nr. 12.883/3.

18 Friedl Dicker, Briefnotiz (1922), in: Stefan Wolpe, Diary 1924–1927, S. 89–90, PSS, Sammlung Stefan Wolpe, Hervorhebung im Original.

19 Dicker an Wottitz, o. O. u. D., UAK, Inv.-Nr. 13.702/4a.

20 Stefan Wolpe, Diary 1928–1930, S. 83, PSS, Sammlung Stefan Wolpe, Hervorhebung im Original.

21 Das Paar ließ sich 1933 wieder scheiden, hatte aber eine gemein same Tochter, die Pianistin Katharina Wolpe (1931–2013).

22 Nora Born (Hg.): Das Gesetz harmonischer oder dis-harmoni scher Entsprechungen. Irma und Stefan Wolpe – Briefwechsel 1933–1972, München 2016.

23 Abgebildet in: Hochschule für angewandte Kunst Wien (Hg.): Franz Singer, Friedl Dicker. 2 x Bauhaus in Wien (Ausstellungs katalog Heiligenkreuzerhof, Hochschule für angewandte Kunst Wien), Wien 1988, S. 24.

24 Berliner Tageblatt, Sonntag, 9.9.1923, Nr. 423 (Morgenausgabe). In einem Brief an Anny Wottitz teilt Dicker mit: „Vor ein paar Tagen war also Premiere. Wir hatten einen großen Publikumserfolg, aber schlechte Presse.“ Dicker an Wottitz, o. O. u. D., UAK, Inv.-Nr. 13.706/3.

25 Dicker an Wottitz, Weimar, Sommer 1923, UAK, Inv.-Nr. 13.701/4.

26 Stefan Wolpe: Schattenspiel-Musik (PSS, Sammlung Stefan Wolpe), Edition von Nora Born und Austin Clarkson, New York/ Hamburg 2019.

27 Wolpes Erinnerung verschiebt zwar den Sachverhalt auf das Jahr 1926 und das Bauhaus Dessau, zeugt aber von einem starken Erlebnis. Stefan Wolpe: Biographische Notiz (1960er Jahre), PSS, Sammlung Stefan Wolpe.

28 Stefan Wolpe: Klaviermusik 1920–1929, S. 47; vgl. Dicker an Wottitz, o. O. u. D.: „[Wolpe] ist begeistert und außer sich über den Einband gewesen“, UAK, Inv.-Nr. 13.702/4a. Der Umschlag entwurf ist verschollen.

29 Stefan Wolpe: Schöne Geschichten (1927–1929), Typoskript des Szenarios mit handschriftlichen Eintragungen, PSS, Sammlung Stefan Wolpe.

30 Klassik Stiftung Weimar, Inv.-Nr. KK 11462.

31 UAK, Inv.-Nr. 12.242.

32 Heidy Zimmermann: Friedl Dicker und Stefan Wolpe. Porträt einer Freundschaft, in: Mitteilungen der Paul Sacher Stiftung 21 (2008), S. 20–24, hier S. 22.

33 Katharina Hövelmann: Bauhaus in Wien? Möbeldesign, Innenraumgestaltung und Architektur der Wiener Ateliergemein schaft von Friedl Dicker und Franz Singer, Wien 2021, S. 429; Wolpes Mitteilung „Friedl Dicker ist in Prag“ an Else Schlomann, 22.9.1933, PSS, Sammlung Stefan Wolpe.

34 Dicker an Wolpe, o. O. u. D. (1934, Brief 5), PSS, Sammlung Stefan Wolpe.

35 Dicker an Wolpe, o. O. u. D. (1934, Brief 1), PSS, Sammlung Stefan Wolpe.

36 Dicker an Wolpe, o. O. u. D. (1935, Brief 4). Ein Jahr später erneut: „Ich hörte so rasend gern was von Deiner Arbeit.“ (1936, Brief 7), PSS, Sammlung Stefan Wolpe.

37 Dicker an Wolpe, o. O. u. D. (1936, Brief 3), PSS, Sammlung Stefan Wolpe; das Geschriebene ist aufgrund eines Wasserscha dens am Dokument schwer entzifferbar.

38 Hövelmann 2021 (wie Anm. 33), S. 168; Makarova 2000 (wie Anm. 1), S. 26.

39 Helga Pollack-Kinsky: Mein Theresienstädter Tagebuch 1943–1944 und die Aufzeichnungen meines Vaters Otto Pollack, hg. v. Hannelore Brenner, Berlin 2014, S. 91.

40 Ebd.

41 Viktor Ullmann: Wendla im Garten (1944), Partiturreinschrift, S. 1, PSS, Sammlung Viktor Ullmann; Edition in Viktor Ullmann: Sämt liche Lieder, hg. v. Axel Bauni und Christian Hoesch, Mainz 2004, S. 2–5.

42 Zur Überlieferung des Nachlasses vgl. Sammlung Viktor Ullmann: Musikmanuskripte, bearb. v. Heidy Zimmermann und Tina Kilvio Tüscher, Mainz 2007, S. 5–6.

43 Zit. n. Zimmermann 2008 (wie Anm. 32), S. 24.

44 Cohen 2012 (wie Anm. 9), S. 271.

45 Wolpe an Hilda Morley, 13.11.1953, PSS, Sammlung Stefan Wolpe.

46 Wolpe an Irma Wolpe, 8.–12.8.1955, in: Briefwechsel 2016 (wie Anm. 22), S. 353.

47 Zimmermann 2008 (wie Anm. 32), S. 22.

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Mitarbeiterinnen im Atelier, um 1930, AGS

Architektur als Bühne. Die Laboratorien von Friedl Dicker und Franz Singer

„Den Schlüsselaufenthalt kennt der Umbehr“1, schreibt Friedl Dicker im Juli 1923 an ihre Jugendfreundin und Studienkollegin am Bauhaus, Anny Wottitz. Gemeint ist der Schlüssel für die im Juni 1923 gegründete Werk stätten bildender Kunst GmbH in der Fehlerstraße 1, Berlin-Friedenau, Geschäftsführung: Franz Singer. Nach dem sie im Konflikt mit Walter Gropius das Bauhaus in Weimar verlassen haben, beabsichtigen Dicker und Singer die Realisierung von Architektur- und Theater projekten sowie den Aufbau einer kunsthandwerklichen Produktion und eines Verlags, wie Franz Singer in einem Brief dem Regisseur Berthold Viertel mitteilt.2 In den einzelnen Laboratorien beginnt ein Team von Freun den und Kollegen vom Bauhaus und aus Wien mit der Produktion von Stoff- und Webarbeiten, Handtaschen, Druckwerken, Schmuck und Kinderspielzeug sowie mit Buchbindearbeit und Fotografie. Gleichzeitig mit den Werkstätten gründet Berthold Viertel mit dem Schauspieler, Regisseur und Drehbuchautor Dr. Reinhard Bruck als Geschäftsführer und den Schauspielern Ernst Josef Aufricht und Fritz Kortner das genossenschaftlich organi sierte avantgardistische Ensembletheater Die Truppe Mitfinanziert wird die Truppe vom Wiener Kunsthistoriker Ludwig Münz, von der Textilfirma S. Katzau aus NáchodBabí, geleitet von Hans und Hugo Moller, dem Geschäfts mann Richard Weininger (dem Bruder Otto Weiningers) und später – erstaunlicherweise – von Karl Kraus. Dem Brief an Anny Wottitz ist weiter zu entnehmen, dass Dicker und Singer zu dieser Zeit in der Berliner Wohnung des Schauspielers Fritz Kortner wohnen.

Bühnenbilder

Viertel hatte Dicker und Singer bereits 1921 mit den Bühnenbild- und Kostümentwürfen für seine Inszenie rung der Stücke Haidebraut und Erwachen von August

Stramm beauftragt (WV 2). Schon in diesen frühen Arbeiten erkennt man den Einfluss des expressio nistischen Theaters, der Bühnenarbeiten von Lothar Schreyer und Oskar Schlemmer am Bauhaus sowie der abstrakten Bühnensynthese Wassily Kandinskys.3 Die spätere Formensprache der Architekturprojekte Dickers und Singers findet hier Ausdruck: Podeste und Treppen, starke Farbigkeit, exakte Lichtregie, auch das Automobil –die Maschine – hält Einzug in das Bühnenwerk. Betrach tet man die Entwürfe und zitiert eine Textpassage aus der Haidebraut, so ist nachvollziehbar, dass die Aufführungen bei Publikum und Kritik geteilte Reaktionen hervorriefen:

Ein Automobil hält keuchend in der Ferne. LASZLO. ... Hörst du ... es rattert ... toll ... rrrrrrrr ... die Menschen dort ... sie haben nicht Morgen und Mittag und Abend nicht ... wenn die Sonne zeigt ... sie kennen einander nicht ... wild ... durcheinander ...4

Für das zweite Stück des Abends, Erwachen, entwerfen Singer und Dicker ein Bühnenbild in zwei Ebenen, die durch eine Treppe verbunden sind – die Treppe wird auch in den späteren Arbeiten ein zentrales Element sein. In der Eröffnungsszene ist nur das obere Geschoß ausgeleuchtet, erst in den nachfolgenden Bildern erkennt das Publikum das gesamte Bühnenbild (Abb. S. 52). Felix Zimmermann beschreibt in der Frühausgabe der Dresdner Nachrichten den Theaterabend: „Aber Viertel hat mit einer Arbeit, die vollste Hoch achtung verdient und seine Eignung für diese Künste unzweifelhaft macht, etwas von Bedeutung geschaffen. Die strahlende Farbenschönheit des ersten Stückes, die hochgebaute Szene des zweiten mit Blick in die Unter bühne, mit technischen Kunststücken und Feuerzauber, mit einem Hexensabbath von Massenregie waren

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Blick in das Atelier, links stehend Leopoldine Schrom, um 1930, AGS

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Bruno Pollak (?) im Atelier, um 1929, AGS Die Atelier-Mitarbeiter*innen Bruno Pollak (?), Anna Szabó und Leopoldine Schrom, um 1929, AGS Leopoldine Schrom und Anna Szabó, um 1935, AGS
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Leopoldine Schrom, um 1930, AGS Franz Singer mit Martha Hauska-Döberl (?), um 1930/31, AGS Hans Biel auf der Terrasse des Gästehauses Auersperg-Hériot, 1933, AGS Anna Szabó auf der Freitreppe des Gästehauses Auersperg-Hériot, 1933, AGS

Erwachen, 1921, Deckfarbe auf Papier, 25,5 × 25,5 / 33 × 28 cm, V&A

durchaus etwas Neues und trotz seiner Wildheit und sei nem Lärm etwas Kunstvolles. Nur ob Zweck und Mittel im angemessenen Verhältnis standen, ist die Frage.“5

Entfesseltes Theater

Bereits im Oktober 1922 schreibt Friedl Dicker an Anny Wottitz: „Ich habe das Moskauer Theater gesehen und viel werd ich Dir erzählen können von allen Herrlichkeiten.“6 Aus den Arbeiten von 1923 lässt sich erken nen, dass neben dem Einfluss der Bauhauslehre das Künstlerduo von den russischen Konstruktivisten inspi riert wird, dass es vertraut ist mit Alexander Tairoffs „entfesseltem Theater“, mit den Arbeiten Wsewolod Meyerholds und dem Moskauer Akademischen Künstler theater MChAT. 7 „Der Klarheit der Konstruktionen und ihren multiplen Funktionen entsprechen ihre grund legenden Charakteristika: Einfachheit, Sparsamkeit, Zweckdienlichkeit. Sie kombinieren die kühnen Formen und Farben des Konstruktivismus mit der emphatischen Bildsprache der Maschinenwelt.“8 Die enge Verknüpfung mit der Truppe erkennt man auch daran, dass Viertels

Geschäftsführer Reinhard Bruck neben den Werkstätten in der Fehlerstraße im Auftrag von Singer ein Objekt in Kalk berge am Stolp östlich von Berlin anmietet. Es ist beab sichtigt, in diesem Objekt Bühnenbauten zu produzieren und einen Malersaal einzurichten. Auch Franz Singer unterstützt das Theaterensemble: So bestätigt Bruck am 8. August 1923, für „Die Truppe – Theater & Film G.m.b.H.“ 90 Millionen Mark von Franz Singer erhalten zu haben –ein in den Jahren der Hyperinflation gewagtes Unternehmen.

Die erste Aufführung der Truppe ist Shakespeares Kaufmann von Venedig am 12. September 1923 im Lust spielhaus Berlin (WV 9). Salka Viertel erinnert sich: „Kortner trat in der ersten Kostümprobe in einer schwarzen Tonne auf, die nur die Unterarme frei ließ. Nach den ersten Sätzen zerfetzte er zu meiner Genugtuung seine Zwangsjacke und zog ein eigenes Kostüm an. Niemand verbot ihm die stilwidrige Eigenmächtigkeit, um die Premiere nicht zu gefährden.“9 In den Zeitungskritiken wird das Bauhaus nicht erwähnt – Dickers und Singers Arbeiten werden in Beziehung zum russischen Theater gesetzt: „Mindestens ebenso sehr Tschelitscheff oder Tairoff; nur weniger artistisch und aus zweiter Hand. Will sagen: eine betonte neurussische Ausstattung,

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Szenenbilder

von den Moskowiter-Zöglingen Franz Singer und Frieda Dicker geliefert, überwucherte mit ihrem Firlefanz die Dichtung.“10 Auch der Kritiker Monty Jacobs bezeichnet sie als Epigonen und zieht Vergleiche mit dem russischen Maler und Bühnenbildner Pavel Tchelitchew und den Kostümen der ukrainischen Malerin Alexandra Exter: „Schwankend fuhr sein Schiff im Schlepptau der jüngs ten Russen [...]. Aber selbst wenn all diese Armwülste und Kopfröhren, diese Zelluloidgürtel und hölzernen Hutfedern in der Sicherheit der Farbe dem russischen Muster glichen – die Truppe wüsste sie nicht zu tragen [...]. Lothar Müthels ritterlicher Bassanio war der einzige, der sich in Ehren mit dem Omelett auf seinem Kopf abzufinden wußte.“11

Obwohl Viertel sich selbst als „utopischen Sozia listen“ sieht, bezeichnet ihn Friedl Dicker als „nicht so revolutionär in seinem Fach, wie man sich wünscht“.12 Jedoch zeigen seine Inszenierungen, dass er nicht vor Provokationen und Skandalen zurückschreckt – nach dem Abgang Dickers und Singers beauftragt er George Grosz und Friedrich Kiesler mit der Gestaltung weiterer Bühnenbilder. Singer ist zu dieser Zeit zwischen Weimar, Wien und Berlin unterwegs und kümmert sich um die geschäftlich-organisatorischen Belange. Er versucht noch 1924, seine Investitionen in Die Truppe zurückzuerhalten, bekommt sie aber vermutlich nie zurück. Viertels Truppe erleidet bereits nach acht Monaten, am 31. März 1924, Schiffbruch. Karl Kraus ist hartnäckiger: Die letzte Rate überweist der Filmregisseur Fred Zinnemann – im Jahr 1930 noch Viertels Sekretär bei den Fox Studios in Hollywood – an Anwalt Dr. Oskar Samek, um Viertels Schulden bei Kraus zu tilgen.13 Dickers und Singers Theaterkarriere endet 1924 – die Figurinen zum Kauf mann von Venedig werden im Herbst desselben Jahres in Friedrich Kieslers Theatertechnik-Ausstellung im Konzerthaus in Wien gezeigt.

Rückkehr nach Wien

Da sich das ursprüngliche Werkstätten-Konzept in Berlin zu einem Unternehmen mit vielen Mitarbeitern entwickelt, werden die Honorare nicht mehr finanzierbar. Friedl Dicker kehrt nach Wien zurück und eröffnet ihr Atelier – mit Martha Hauska als erster Mitarbeiterin – in der Wasserburgergasse 2 im 9. Bezirk. Nach der geschäftlichen Auflösung der Werkstätten in Berlin folgt ihr Franz Singer im selben Jahr in ihr Atelier nach. Er wird wie bereits in Berlin der Kopf und Organisator des Ateliers, wobei der Einfluss Dickers im Entwurfsprozess, auf Materialität und Farbgestaltung entscheidend ist. Ihre langjährige Freundin Anny Wottitz heiratet 1924 den Textilindustriellen

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Friedl Dicker, Margit Téry-Buschmann, Max Bronstein, Das Kapital, 35 mm SW-Positivfilm, 1932/33, AGS

Hans Moller, der Singer-Dicker und Die Truppe bereits früher finanziert hat. Das Ehepaar Moller und Hans Mollers Eltern Hugo und Alice werden die ersten Auftraggeber für architektonische Arbeiten in Wien. Um 1926/27 beginnt Bruno Pollak, Architekturstudent an der Tech nischen Hochschule, seine Tätigkeit im Atelier. Vereinbart ist, dass er für das Atelier die technischen Zeichnungen ausarbeitet, aber nebenbei auch seine eigenen Projekte verfolgen kann. In der Zeit von 1926 bis 1934 erhält das Atelier zahlreiche Aufträge und beschäftigt eine Vielzahl von Personen – die meisten Architekturstudenten von der „Technik“. Jacques Groag arbeitet 1927/28 die Pläne für den Tennisclub von Hans und Grete Heller aus, bevor er zu Adolf Loos überwechselt und die Planung und Bauleitung für das Haus Moller von Anny und Hans Moller in der Starkfriedgasse in Wien übernimmt. Im Jänner 1928 beginnt die ungarische Architekturstudentin Anna Szabó ihre Tätigkeit, im Sommer 1929 empfiehlt sie ihre Studienkollegin Leopoldine „Poldi“ Schrom als

technische Zeichnerin für das Atelier. Diese drückt in einem Brief an ihre Tante, die Schauspielerin Leopoldine Schröder-Schrom, ihre anfängliche Unzufriedenheit aus: Bruno Pollak beschreibt sie als „sehr tüchtig, so [eine] Art Vizechef“, der sich aber mehr um seine eigene Arbeit kümmere. „Das Ganze ist eine mit künstlerischer Ambition hochgehaltene Schlamperei. Der Chef selbst sehr ordnungsliebend, gondelt aber nach dem Tod seines Kindes in der Welt herum + ordnet nur schriftlich an. Eine unmögliche Sache, zumal die Compagnonin von ihm von Technik nichts versteht. Dazu sind alle Mitarbeitenden (Angestellten) Collegen + Colleginnen von der Technik schlampert + ziemlich arbeitsunfroh. Ist die Chefin weg, wird überhaupt nix gearbeitet. Die Chefin verlasst sich nur auf mich – aber ich pfeife darauf.“ Mit der „Compagnonin“, der „Chefin“ ist Friedl Dicker gemeint, woraus sich schließen lässt, dass diese zu der Zeit eine gleich berechtigte, mitentscheidende Rolle im Atelier innehatte. Leopoldine Schrom wurde trotz ihrer anfänglichen

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Hans Biel, Klapptisch, 1935, Holz, 62 × 85 × 60,5 cm, AGS

Unzufriedenheit die am längsten dienende Mitarbeiterin des Ateliers. Über die Tätigkeit von Josef Seibelt (bis 1929) und Willi Winternitz (1929–1931), der später ver mutlich nach Südamerika emigrierte, ist wenig bekannt. Sämtliche Mitarbeiter gingen nebenbei ihren eigenen Auf trägen nach und nutzten die Ressourcen des Ateliers, das für sie zum Sprungbrett in die Selbstständigkeit wurde.

Politische Arbeit

Ab 1930 widmet sich Friedl Dicker neben der Arbeit im Atelier vermehrt neuen Tätigkeiten. Sie beendet ihre Arbeit für die Weberei Pausa in Stuttgart, beginnt kunst pädagogischen Unterricht zu erteilen und ist in Aktivitäten der kommunistischen Partei involviert. In der Gemein schaft mit ihren Studienkollegen Margit Téry-Buschmann und Max Bronstein entsteht ein politischer Filmstrip, der das Kapital von Karl Marx illustriert (Abb. S. 53). Am 23. Jänner sowie am 8. April 1931 hält Dicker auf Einla dung von Architekt Ernst Lichtblau in der Beratungsstelle für Inneneinrichtung und Wohnungshygiene – BEST im Karl-Marx-Hof Vorträge zu den Themen „Die Farbe in der Wohnung“ und „Farbe und Material als Wohnungs schmuck“.14 Im November 1931 wird sie festgenommen und angeklagt, gefälschte Pässe aufbewahrt zu haben.15 In der Gerichtsverhandlung vom 22./23. März 1932 wird Dicker zu drei Monaten Kerker verurteilt.16 Sie tritt die Haft im September desselben Jahres an und wird nach 16 Tagen wieder entlassen. Im Juni 1933 emigriert sie in die Tschechoslowakei und heiratet 1936 ihren Cousin Pavel Brandeis in Prag – der Kontakt zu Franz Singer und den Wiener Kollegen bleibt aber in regem Briefverkehr bestehen.

Das Wiener Atelier

Um 1930 beginnt Hans Biel seine Tätigkeit im Atelier, arbeitet die Baustatik und den Stahlbau für das Gästehaus Hériot aus und übernimmt mit Szabó und Schrom die örtliche Bauleitung. Auch Biel arbeitet nebenbei an seinen eigenen Projekten (Abb. S. 54), bis er 1938 nach London emigriert, wo er seine Zusammenarbeit mit Franz Singer fortsetzt. Die behördlichen Einreichpläne für das Atelier verfasst Ing. Otto Frühwald. Im Gegensatz zu den teils luxuriösen Projekten des Ateliers arbeitet der aus Bratislava stammende Architekt Ladislaus FoltynFussmann in der Zeit von Mai 1933 bis Juni 1934 das Sozialprojekt Möbelhilfe für das Atelier aus.17 Weitere Mitarbeiter sind um 1931 Paul Fuchs, von 1933 bis 1934 Bruno Eliahu Friedjung, der später nach Haifa

emigriert, sowie der 1934 aus Berlin geflüchtete Bühnen bildner Wolfgang Roth, der 1935 über Zürich nach New York emigriert und danach erfolgreich für die Opernhäuser in Dallas und New York tätig ist. In den Jahren 1935–1937 sind außerdem Jenny Pillat, Irma Stadler und Poldi Schroms Cousin Richard Erdoes im Atelier tätig.

Poldi Schrom wird ab 1929 zunehmend zur ‚All rounderin‘ des Ateliers. Sie tüftelt Konstruktionsdetails aus, verfasst Detailpläne, kümmert sich um die Funk tionalität der wandelbaren Möbel und die Ausführung durch Tischler, Schlosser und Tapezierer und hält Kontakt mit den Bauherren. So wie ihre Kollegen startet sie 1935 den Weg in die Selbstständigkeit und übernimmt das Atelier der nach Palästina ausgewanderten Architekten Josef Berger & Martin Ziegler in der Lerchenfelder Straße 54 im 8. Bezirk, bleibt aber weiterhin für Franz Singer tätig. Anna Szabó ist ab 1934 ebenfalls selbst ständig und richtet unter anderem zwei Wohnungen für die Schwestern von Alfred Polgar ein, hilft aber weiter im Atelier mit. Poldi Schrom berichtet Singer, der 1934 seinen Wohnsitz nach London verlegt hat, regelmäßig über die Vorgänge in Wien, über die finanzielle Schief lage des Ateliers und über Vorkommnisse bei den einzel nen Projekten.

Prag

Friedl Dicker trifft sich in Prag mit politischen Emigranten in der Buchhandlung Schwarze Rose von Lizzy Deutsch und lernt Hilde Angelini geb. Kothny kennen, mit der sie bis zu ihrer Deportation in enger Freundschaft verbunden bleibt. In den Briefen an das Atelier, an Hilde Angelini und Anny Moller erwähnt Friedl Dicker zunächst keine archi tektonischen Arbeiten, vielmehr gilt ihr Interesse etwa dem Buch Plastische Arbeiten Blinder ihres Mentors Ludwig Münz und des Psychoanalytikers Viktor Löwenfeld.18 Sie arbeitet mit den Architektinnen Karola Bloch, der Bauhäuslerin und Frau des Philosophen Ernst Bloch, und Margarete Bauer-Fröhlich. Die in der Cooper Hewitt Collection erhaltenen Zeichnungen zeigen, wie stark Bauer-Fröhlich in ihren Entwürfen von Dicker und Singer beeinflusst war. Seit ihrer Jugendzeit waren Singer und Dicker mit den späteren Analytikern Siegfried Bernfeld und Otto Fenichel befreundet, der Analytiker Eduard Kronengold wurde ihr Auftraggeber. Bernfeld schreibt noch 1934 an Singer, er solle ihn im Viertel‘schen Haus am Grundlsee besuchen. In Prag beginnt Dicker mit einer Analyse bei Annie Reich.19 In einem Brief an das Atelier vom 12. Juni 1934 schreibt sie: „Was macht das Atelier (mit Ausnahme von N. [Anna Szabó, G. S.] von ihr möchte ich solange sie nicht analysiert ist nichts hören)“.

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Anna Szabós zeichnerisches Talent war unbestritten –zahlreiche der heute erhaltenen farbigen Perspektiven und Axonometrien wurden von ihr angefertigt. Aufgrund ihres energischen Temperaments vermochte sie sich zum Beispiel auf der Hériot-Baustelle durchzusetzen. So gibt es die Anekdote, dass sie dem Tischlermeister – wie Poldi Schrom an Singer in London berichtet, „sicherlich nicht mit leisem Stimmchen“ – verbot, den Lehrling „abzuwatschen“, da er einen Politurballen auf einer frisch politierten Platte zurückgelassen hatte. Als König Alfons XIII. von Spanien 1934 das Gästehaus besuchte, warnte sie die Handwerker vor und wurde belächelt. Als der König dann auftauchte, „schlotterten ihre Knie“. König Alfons XIII. wurde damals vom Fotografen Robert Haas abgelichtet, der mit dem Atelier befreundet war.20

Radical Chic in Liberec

Die architektonischen Arbeiten für das Ehepaar Dr. Franz und Grete Neumann (WV 58, WV 169) gehören zu den umfangreichsten Projekten des Ateliers in dessen Wirkungszeitraum von 1929 bis 1939. Die Beauftragung

des avantgardistischen, links stehenden Architektenduos durch die ästhetisch radikalen Neumanns kann als exemplarisch für das Werk des Ateliers betrachtet werden.21 Die Neugestaltung der Villa Neumann stellt auch die Wende von den frühen, phantasievollexpressionistischen Einrichtungen hin zu einem stärker sachlich-technischen Stil des Ateliers dar. Bei den Umbauarbeiten in der im Jahr 1905 errichteten Villa in Reichenberg (Liberec) wird durch den Abbruch zahl reicher Zwischenwände der starre Grundriss aufgelöst; der Einbau von Schiebe-, Falt- und Harmonikatüren ermöglicht variable, bühnenbildähnliche Raumverwand lungen. Die Stiegenhaus-Galerie, das Speisezimmer und die Halle sind um eine Stahlsäule – als zentrales stati sches Element – gruppiert. Friedl Dicker fertigt detail lierte Farbabwicklungen für die einzelnen Bereiche der Villa an, wobei auf einer Skizze zur Halle festgehalten ist: „zu entscheiden v. Franz Singer“. Die Kunsthistorikerin und Journalistin Amelia Levetus, die mehrfach zu den Arbeiten Franz Singers publiziert hat, verfasste einen Artikel mit detaillierten Raum- und Farbbeschreibungen, der 1935 in gekürzter Form im Studio veröffentlicht wird: „Nothing has been left out of consideration. These

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Villa Neumann, Farbskizze für das Herrenzimmer, 1930, Bleistift und Deckfarbe auf Transparentpapier, 28,5 × 40 cm, AGS

Villa Neumann, Farbskizze für die Küche, 1930, Bleistift und Deckfarbe auf Transparentpapier, 22,5 × 33 cm, AGS

attributes and a mastery in technicalities accompanied by clear-headed conception, warm temperament and vivid imagination have rendered these homes most dwellable.“22 Das Atelier entwickelt eine eigene Stahlrohrsessel-Type, die aber nicht umgesetzt wird, und entwirft das Beleuchtungskonzept. Die Arbeiten und Ergänzungen werden in den darauf folgenden Jahren fortgesetzt, so entwirft Schrom 1934 einen „Grammophontisch“ für Grete Neumann. 1936 beauftragt das Ehepaar Franz und Grete Neumann Franz Singer, den Transfer des Mobiliars aus der Villa in Reichenberg in ihre neue Wohnung in Prag, Hanspaulce 3, zu planen (WV 169). Friedl Dicker und Grete Bauer-Fröhlich betreuen das Projekt in der Tschechoslowakei, Poldi Schrom arbeitet in Wien die Pläne aus. Aufgrund des Planungsaufwands in Prag und Wien – die Details der Umbauarbeiten werden mit einem ähnlichen Aufwand geplant wie die Reichen berger Villa – und der Kosten für die Reisen Singers und Schroms nach Prag und Reichenberg zu Bespre chungen – wird das Baubudget der Familie Neumann erheblich belastet, was zu Verstimmungen mit Grete Bauer-Fröhlich und Friedl Dicker führt. Dennoch bleibt Franz Neumann in der Korrespondenz stets höflich und

Stahlrohr-Type für die Villa Neumann, 1930, Bleistift auf Transparentpapier, 127 × 92 cm (Detail), AGS

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zuvorkommend. Franz Singer macht seinem Ärger Luft und schreibt an Grete Bauer-Fröhlich: „Sie machen mir nur Unannehmlichkeiten.“ Im September 1937 teilt Neumann Singer mit, dass die Wohnung „für den Laien“ fertig sei. Zur gleichen Zeit berichtet seine Frau nach Wien, dass Friedl in Paris sei, und weiter: „So sehe ich viele kleine Schweinereien, die mich stören.“ Am 24. April 1938 schreibt sie abermals nach Wien: „Wir müssen uns dies alles mit Ihnen allein machen, weil wir mit Fr. Fröhlich gänzlich außer Kontakt sind und Friedl trotz aller Bemühungen nicht einmal zu einer Aussprache bereit ist, die die […] Voreingenommenheiten hätte beseitigen sollen.“ Im Jahr 1939 – die politische Situation hat sich zugespitzt – überlegt das Ehepaar Neumann, die Ein richtung der Wohnung abermals, diesmal nach Pápa, Ungarn, zu übersiedeln. Die Korrespondenz endet mit Briefen von Franz Neumann am 11. Mai 1939 an Poldi Schrom in Wien und am 14. Mai an Anna Szabó in Budapest. In den Schreiben erklärt er, dass er diese Übersiedlung mit den beiden durchführen möchte, deutet aber auch Pläne zur Emigration an, welche Entscheidungen mit der Möblierung getroffen werden sollen und schreibt: „Beinahe muss ich sagen, dass Singermöbel kein Glück bringen!!“ Und: „Es schwebt auch die Idee, dass meine Mutter mit mir geht.“ Olga Neumann (geb. Haurowitz) wird bereits im Oktober 1942 in Treblinka ermordet, Franz und Grete Neumann gelingt die Flucht in die USA. Er verstirbt 1988 in Scarsdale, New York.

Vertreibung und Ermordung

Am 17. Dezember 1942 wird das Ehepaar DickerBrandeis, das sich in die ostböhmische Provinz zurück gezogen hat, nach Theresienstadt deportiert. Die Bekannte Wally Fischer schreibt: „[...] und Friedl Dicker-Brandeis sagte zum Abschied in Prag: ‚Ich kann nicht fort, ich könnte prinzipiell morgen nach Israel auswandern, aber Wally, ich habe eine Mission zu erfüllen, ich muss hier bleiben, was immer auch mir geschieht.‘ Und sie ist mit den Kindern in den Tod gegangen, nachdem sie vielen, vielen Kinder in dieses jämmerliche Leben ein bisschen Sonne und viel Liebe gebracht hat.“23 Dicker setzt in Theresienstadt ihre pädagogischen und künstlerischen Tätigkeiten fort. Sie erlangt posthume Berühmtheit für ihren Kinderzeichenunterricht, es entstehen aber auch Skizzen zur Herstellung einfacher Möbel, die an die Entwürfe des Projekts Jugend in Arbeit von 1933 (WV 117) erinnern, sowie Kostüm- und Bühnenbildentwürfe, zum Beispiel für ein Ballett für der aus Wien gebürtigen Tänzerin und Choreografin Kamila

Rosenbaumová, die sich ebenfalls für die Kinder von Theresienstadt einsetzte. Friedl Dicker-Brandeis wird am 9. Oktober 1944 in den Gaskammern von Auschwitz ermordet.

Ab 1946 nehmen Franz Singer, Poldi Schrom und weitere Kollegen wieder Kontakt miteinander auf, auch wenn die ersten Briefe unmittelbar nach Kriegsende nicht ankommen. Am 12. Dezember 1946 schreibt Poldi Schrom an Singer: „Es verschwinden spurlos Menschen, ganze Waggons etc. – was ist da ein Brief!? Nusi [Anna Szabó, G. S.] lebt auch, das gehört bereits in die Kategorie ‚Wunder‘.“ Szabó konnte 1944 – versteckt auf einem Dachboden – den Judendeportationen nach Auschwitz entgehen und überlebte im Frühjahr 1945 die Häusergefechte zwischen der Sowjetarmee und der SS in Budapest. Weiters berichtet Schrom über die Schick sale von Freunden und Auftraggebern: „Erwin [Ratz, G. S.] ist in der Favoritenstraße 46. Hans Swarowsky24 ist auch dort. Lotte Eisler25 gibt im Jänner ein Konzert. [...] Robert Haas schrieb, es geht ihm sehr gut. Bernard Rudofsky ist Editor von Interiors, Vetter Richard26 hat sich auch gemacht, war jetzt in den kleinen Antillen zeichnen und photographieren. [...] Und Fritz Lederer27 ist tot. Er war für viele ein ruhiger Pol, so lange er da war. Die Tragik war sein Verwurzeltsein hier. Man kriegte ihn nicht raus.“ Schrom ist zu diesem Zeitpunkt bereits über Details der Transporte informiert: „Es waren damals 2 Transporte nach Riga unter Brunner II: Im ersten Mutter Schulhof, Richards Schwiegermutter, im zweiten Fritz.“ Dass das Atelier in gutem Kontakt mit den einzelnen Professionisten war, erkennt man daran, dass Poldi Schrom auch über ihre Schicksale berichtet: „Unsere Handwerker leben, bis auf Sonnenschein. [...] Von Strass hoffe ich, dass er nach England gekommen ist. Dittler ist nach der Befreiung nach einer Operation gestorben. Wejtasa lebt – [...] Julius Donner ist noch in Gefangenschaft – [...] Schlosser Gowal auch zurück, der Alte geblieben, lässt grüßen. [...] Denes lebt, Nusi traf ihn in Pest, aus dem Lager Belsen kommend.“ Über die ehemalige Ateliermitarbeiterin Irma Stadler berichtet Schrom: „Irma ist tot. Selbstmord. 10 Tage nach der Beendigung [des Krieges, G. S.]. Es war draußen in Villengegend sehr arg.“ Schrom erkundigt sich nach den architektonischen Arbeiten Singers in London und teilt ihm mit, dass sich reduziertes Aktenmaterial, alle Patent akten und diverse Möbel in verschiedenen Lagern erhalten haben. Einer ihrer ersten Aufträge nach dem Krieg ist die Einrichtung der Wohnung von Berthold und Elisabeth Neumann-Viertel, die aus Hollywood nach Wien zurückgekehrt sind, da Viertel ans Burgtheater berufen wurde. In der Wohnung in der Riemergasse und im Haus am Grundlsee werden einige der Singer-Möbel,

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die den Krieg in Wien überstanden haben, eingesetzt. Franz Singer kehrt nicht mehr nach Österreich zurück. Die erste umfassende Schau zum Werk von Dicker und Singer fand 1970 in Darmstadt statt,28 gefolgt von der Wiener Ausstellung im „Anschluss“-Gedenkjahr 1988. Im Katalog schreibt Friedrich Achleitner: „So repräsentieren Dicker und Singer in einer von Blut- und Bodensehnsucht sich selbst überwältigenden Wiener Kultur, in einer nach Wende und Werten rufenden vater ländischen Kulturpolitik ein künstlerisches Prinzip der Ungebundenheit, Offenheit und Toleranz und – Symbol des Ganzen – der Mobilität.“29 Daher rührt auch ihre heutige Aktualität.

1 Brief Friedl Dicker an Anny Wottitz, Wien, Juli 1923, UAK, Inv.-Nr. 13.708. Otto Umbehr, genannt Umbo, Fotograf, ebenfalls Student bei Johannes Itten am Bauhaus.

2 Falls nicht anders angegeben, befinden sich die hier zitierten Briefe im Archiv Georg Schrom, Wien.

3 Wassily Kandinsky: Über die abstrakte Bühnensynthese, in: Staatliches Bauhaus in Weimar, Karl Nierendorf in Köln (Hg.): Staatliches Bauhaus Weimar 1919–1923, Weimar/München 1923, S. 142–144.

4 August Stramm: Das Werk. Hg. v. René Radrizzani, Wiesbaden 1963, S. 168.

5 Zit. n. Berthold Viertel: Schriften zum Theater, München 1970, S. 485.

6 Brief Friedl Dicker an Anny Wottitz, Berlin, Oktober 1922, UAK, Inv.-Nr. 13.705. Dicker bezieht sich vermutlich auf die Erste Russi sche Kunstausstellung, die 1922 in der Galerie van Diemen & Co. stattfand und in der auch Theaterprojekte zu sehen waren.

7 Vgl. Michaela Böhmig: Das russische Theater in Berlin 1919–1931, München 1990.

8 Klemens Gruber: Die polyfrontale Avantgarde, Wien 2020, S. 81–82.

9 Ernst Josef Aufricht: Erzähle damit du dein Recht erweist, Berlin 1966, S. 53–54.

10 Berliner Theater, in: Neue Zürcher Zeitung, 19. September 1923, Erstes Morgenblatt, Nr. 1273, http://horst-schroeder.com/krit19-33.htm#j23 (27.9.2022).

11 Vossische Zeitung, 13.9.1923, Abend-Ausgabe.

12 Brief Friedl Dicker an Anny Wottitz, Dresden, April 1921, UAK, Inv.-Nr. 12.883.

13 Brief Fred Zinnemann an Oskar Samek, 15.12.1930, Wienbibliothek im Rathaus, ZPH 1545.

14 Kleine Volks-Zeitung, 24.1.1931, S. 12; Die Österreicherin. Zeitschrift für alle Interessen der Frau 4 (1931) 4, S. 2.

15 Der Abend, 5.11.1931, S. 7.

16 Der Abend, 24.3.1932, S. 11.

17 Fussmann studierte zuvor bei Oskar Strnad an der Kunstgewerbe schule und später am Bauhaus in Dessau. Nach dem Krieg ändert Ladislav Fussmann seinen Namen auf Foltyn und ist als Architekt und Fotograf, sowie als Professor für Architekturgeschichte an der Technischen Hochschule in Bratislava tätig.

18 Ludwig Münz, Viktor Löwenfeld: Plastische Arbeiten Blinder, Brünn 1934.

19 Annie Reich war die erste Frau von Wilhelm Reich. In ihrem Buch Psychoanalytic Contributions, New York 1973, ist Dickers Analyse unter dem Pseudonym „Frances“ publiziert.

20 Wien Museum, Inv.-Nr. 302.179/1 und 2.

21 Der von Tom Wolfe geprägte Ausdruck „radical chic“ verweist hier auf das Auftragsverhältnis zwischen einer meist wohlhabenden, fortschrittlich gesinnten Klientel und den links orientierten Avant gardearchitekten Dicker-Singer.

22 Manuskript, AGS.

23 Brief von Wally Fischer (Valerie Fischerová) an Raja SchwahnReichmann, um 1975.

24 Hans Swarowsky, Dirigent.

25 Charlotte Eisler, Sängerin, Mutter des Malers Georg Eisler, Schüler Friedl Dickers in Prag.

26 Richard Erdoes gelang die Flucht über Paris und London nach New York, wo er als Grafiker, Fotograf und Schriftsteller tätig war.

27 Fritz Lederer, Patentanwalt Singers, wurde am 6. Februar 1942 nach Riga deportiert.

28 Peter Wilberg-Vignau: Friedl Dicker, Franz Singer (Ausstellungskatalog Bauhaus-Archiv Darmstadt), Darmstadt 1970.

29 Friedrich Achleitner: … sondern der Zukunft, in: Hochschule für angewandte Kunst (Hg.): Franz Singer, Friedl Dicker. 2 x Bauhaus in Wien (Ausstellungskatalog Heiligenkreuzerhof, Hochschule für angewandte Kunst Wien), Wien 1988, S. 6.

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Tierfiguren aus dem Prototyp des „Phantasus“-Baukastens, um 1924, AGS

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„Gespieltes Zeug“. Die Baukästen des Ateliers

Der „Phantasus“-Baukasten von 1919–1925 (WV D-3) und der „Baukasten für Kindermöbel und -spiele“ von 1936/37 (WV D-5) sind die einzigen bekannten Spielzeugentwürfe Franz Singers. Auch wenn die beiden Baukästen nur einen kleinen Ausschnitt aus seinem Schaffen darstellen, so vereinen sie doch viele Aspekte des weiten Feldes seiner künstlerischen und vor allem architek tonischen Arbeiten. Sie stehen auch in besonderer Ver bindung zur gemeinsamen Arbeit mit Friedl Dicker, zeigen Anklänge von Dickers Arbeit am Theater, greifen ihr spielerisches, auf Wandelbarkeit ausgelegtes gestalterisches Werk auf und stellen eine materialisierte Form ihrer intensiven Beschäftigung mit den Fragen der Kunstver mittlung dar.

In der Literatur wird das „Möbelspiel“, wie der „Baukasten für Kindermöbel und -spiele“ meist genannt wird, als Weiterentwicklung des „Phantasus“-Baukastens beschrieben.1 Diese Beobachtung stimmt aber nur insoweit, als einige Merkmale und Grundideen des „Phantasus“-Baukastens wieder aufgegriffen wur den. In seiner Ausrichtung verfolgt das zeitlich spätere Baukastensystem Singers gänzlich andere Ziele und zeigt Singers persönliche Entwicklung vom Maler hin zum Architekten. Steht beim „Phantasus“-Baukasten im Vordergrund, die Aufmerksamkeit des Kindes auf das „Wesentliche der Tierform“2 zu lenken, geht es beim „Baukasten für Kindermöbel und -spiele“, wie der Name schon sagt, darum, Kindern die Möglichkeit zu geben, ihre eigenen Möbel und Spielgeräte zu erstellen und nach Belieben umzugestalten.

Zu den Anfängen des „Phantasus“-Tierbaukastens war bisher wenig bekannt. Er dürfte bereits im Winter semester 1919 am Bauhaus entstanden sein und nicht, wie bisher angenommen, erst 1923 in den Werkstät ten bildender Kunst in Berlin, die Singer gemeinsam mit Dicker und anderen ehemaligen Studierenden des Bau hauses nach ihrem dortigen Austritt gegründet hatte.

Darauf deutet ein Dokument zur GebrauchsmusterAnmeldung aus dem Nachlass Franz Scalas im BauhausArchiv Berlin hin. Dieses nennt sowohl Singer als auch Scala – der zur gleichen Zeit am Bauhaus studierte –als Erfinder des „Phantasus“-Baukastens.3 Das besagte Dokument „Holzbaukasten zum Bauen von Tieren Ent wurf und Ausführung Singer-Scala 1919“ rückt den Baukasten noch näher an die programmatischen Anfänge des Bauhauses und die anderen in dessen Umfeld entwickelten Spielzeuge und zeigt ihn damit in einem neuen Licht.

Bauhaus und Spielzeug

Spielzeugentwürfe gehören nicht zu den allerersten Assoziationen, die das Bauhaus hervorruft. Dabei gehörten Spielzeuge zu den ersten Produkten des Bauhauses. Noch im Jahr der Gründung 1919 wurden für den Wei marer Weihnachtsmarkt verschiedene Spielsachen hergestellt und dort verkauft. In einer „Dada Bude“, so berichtet Gunta Stölzl, selbst Bauhaus-Schülerin der ersten Stunde und spätere Leiterin der Weberei am Bauhaus, „verkauften die Bauhäusler Puppen und Pup pengeschirr, Stofftiere, Papier und Holzspielzeug. [...] Besonders attraktiv waren Tiere aus Wurzelholz, ein wenig mit dem Messer bearbeitet und sehr bunt bemalt [...]. So zeigten wir uns der Öffentlichkeit von Weimar zum ersten Mal auf heitere Weise und der Erfolg war groß.“4

Die Idee dazu kam von Johannes Itten, der kurz zuvor von Walter Gropius an das gerade erst gegründete Bauhaus berufen worden war. Die Aufgabe, Spielzeug für den Weihnachtsmarkt herzustellen, dürfte eine der ersten praktischen Aufgabenstellungen Ittens an seine Schülerinnen und Schüler gewesen sein, schrieb er doch bereits Anfang November an seine enge Freundin Anna Höllering:

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„[...] An der Schule machen wir seit acht Tagen nur noch Spielzeug. [...] Ich möchte, dass auch nach Weih nachten noch immer ‚Spielzeug‘, das heißt ‚gespieltes Zeug‘ gemacht würde.“5

Schon bei diesem ersten Projekt zeigten sich Ittens reformistischer Zugang zum Kunstunterricht und seine Haltung zur klassischen Ausbildung an Kunstakademien. Dem programmatischen Anspruch des frühen Bauhauses, Handwerk als Grundlage künstlerischen Schaffens zu sehen, schien diese Aufgabe auf „spielerische“ Weise gerecht werden zu wollen. Itten nutzte die Gelegenheit aber nicht nur, um seine pädagogischen Vorstellungen am Bauhaus umzusetzen, sondern auch um seinen Führungsanspruch gegenüber den anderen Lehrenden geltend zu machen:

„Ich habe ‚reine‘ gemacht. Ich habe das ganze Bauhaus unter mir, weil ich angeregt, dass wir Spielzeug machen [...]. So packte ich mit einem kräftigen Schlage die alte akademische Tradition des Akt- und Naturzeich nens und führe alle schöpferische Tätigkeit zur Wurzel zurück, zum Spiel. Wer hier versagen wird, ist für mich als Künstler, als Schüler abgetan.“6

Itten betonte, welche Bedeutung diese Übung für die Beurteilung seiner Studierenden hatte. Er dürfte

auch selbst Spielzeug gefertigt haben, wie aus einem der Briefe an Anna Höllering hervorgeht: „Einige Schüler fangen überhaupt erst jetzt an ‚richtig‘ zu arbeiten. Ich habe auch einiges gemacht.“7 Allerdings ist keine der von ihm gefertigten Spielzeugarbeiten erhalten geblieben.

Itten war jedoch nicht der einzige Lehrende am Bauhaus, der sich an Spielzeugentwürfen versuchte. So entwarf Paul Klee für seinen Sohn Felix eine Reihe von Handpuppen. Die erste dieser Puppen fertigte Klee bereits 1916 an, also lange vor seiner Berufung als Meister ans Bauhaus. Auch Oskar Schlemmer baute für seine Tochter eine bewegliche Puppe.8

Ittens Wunsch, auch noch nach Weihnachten 1919 mit den Studierenden Spielzeug herzustellen, wurde zumindest indirekt erfüllt. So sieht man an den Arbeiten mehrerer Schülerinnen und Schüler des Bauhauses, wie diese erste Aufgabe über das Jahr 1919 hinauswirkte. Zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang Alma Siedhoff-Buscher, Ludwig Hirschfeld-Mack und Milan Morgenstern.

Siedhoff-Buschers Arbeiten „Bauspiel: ein Schiff“ und ihr Kinderspielschrank zeigen zahlreiche Parallelen zu den beiden Baukästen Singers. Ihr „Bauspiel: ein Schiff“ von 1923 ist neben dem „Phantasus“-Baukasten

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Alma Siedhoff-Buscher, „Bauspiel: ein Schiff“, Holz, lackiert, 1923, BHA

der einzige bekannte Baukasten aus dem Umfeld des Bauhauses. Im Unterschied zu Bauteilen anderer Bau kästen fallen die Bausteine durch ihre teilweise filigrane Form auf. Richtig sortiert, lassen sich die Teile zu einem größeren länglichen Quader zusammenfügen, der die dazugehörige Schachtel vollständig ausfüllt. So werden die Verpackung und der Vorgang des Ein- und Auspa ckens selbst Teil des Spiels. Der zusammengesetzte Block vermittelt auf eindrückliche Weise die Zusammengehörig keit und Verwandtschaft der verwendeten Formen.

Der ebenfalls 1923 entstandene „Kinderspielschrank“ ist, ähnlich den von Singer und Dicker für den Kindergar ten im Goethehof entwickelten Möbeln, auf Wandelbarkeit und Mehrfachnutzung angelegt und zeigt viele der Über legungen, die Singer später im „Möbelspiel“ perfektionie ren sollte.

Mit den beiden Bauhaus-Kollegen Hirschfeld-Mack und Morgenstern verbindet Singer, dass alle drei nach ihrer Emigration und Flucht nach England für die Spiel zeugfirma Abbatt Toys arbeiteten. Hirschfeld-Macks „Farbkreisel“ von 1923 verfolgte wie das „Phantasus“Spiel das Ziel, Kindern durch ein Spielzeug künstlerische Grundlagen zu vermitteln. Durch die Drehung des mit unterschiedlichen Farbkarten belegbaren Kreisels wurden die einzelnen Farbflächen für den Betrachter sozusagen optisch gemischt – eines der wenigen gelungenen Bei spiele, wie Spiel mit Physik und Kunst in einem Objekt in Einklang gebracht werden kann.

Morgenstern, der nach seinem Austritt aus dem Bauhaus vor allem im Bereich der Heilpädagogik tätig war, entwarf für die englische Spielzeugfirma Abbatt Toys in den 1930er Jahren eine Reihe von Spielzeugen, die allerdings erst in den 1960er Jahren unter der Bezeich nung „Abbatt Developmental Toys for Assessment & Trai ning“9 auf den Markt gebracht wurden. Sie gehörten zu den ersten kommerziell produzierten Spielzeugen, die sich an körperlich oder geistig behinderte Kinder und Jugend liche richteten.

Phantasus

Der „Phantasus“-Baukasten dürfte in den stark auf das Spiel und das Spielzeug ausgerichteten ersten Monaten des Bauhauses als ein gemeinschaftlicher Entwurf der beiden Kollegen Franz Singer und Franz Scala entstan den sein. Damit wäre der Baukasten einer der ersten dokumentierten Produktentwürfe des Bauhauses.

Scala war wie Naum Slutzky und Anny Wottitz Teil der Wiener Gruppe, die Itten aus seiner Kunstschule ans Bauhaus folgte. Nach ihrem Ausscheiden aus dem Bauhaus 1923 sollten sie alle in den von Franz Singer und Friedl Dicker gegründeten Werkstätten bildender Kunst in Berlin (WV 10) mitarbeiten.10 Er scheint aber in den gesamten weiteren Quellen zum „Phantasus“Baukasten nicht auf, auch nicht in der GebrauchsmusterAnmeldung, die Singer mit Unterstützung Hans Mollers (Anny Wottitz’ Ehemann) 1924 in Österreich im Namen der Werkstätten einreichte. Aus welchem Grund Scala in die weitere Entwicklung des Baukastens und in die intensiven Bemühungen Singers, diesen zu produzieren, nicht involviert war, bleibt ungewiss. Für eine direkte Beteiligung Friedl Dickers an der Entwicklung des Bau kastens finden sich in den derzeit bekannten Quellen keine Hinweise, allerdings ist aufgrund der sehr engen Zusammenarbeit von Singer und Dicker in dieser Phase ihres Lebens anzunehmen, dass Dicker zumindest um den „Baukasten“ wusste.

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Milan Morgenstern, „Threading Toy“, Schichtholz, lackiert, Metall, um 1960, V&A

„Die Teile des Spiels“, Entwurf für den „Phantasus“-Baukasten, 1919–1925, Aquarell, Tusche auf Papier, 17 × 21,1 cm, AGS

„Phantasus“-Baukasten, Prototyp, 1919–1924, Metall, 16,7 × 27 × 4 cm, AGS

Bauanleitung für den „Phantasus“-Baukasten, um 1924, Aquarell und Tusche auf Papier, 17,3 × 21,3 cm, AGS

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„Phantasus“-Tierbaukasten, wie der Baukasten von Singer während der Produktionsbestrebungen genannt wurde, ist der letzte aus einer Reihe von Namen, die der Baukasten im Lauf seiner Entwicklung von 1919 bis 1925 erhielt. Darunter finden sich die eher trockene Bezeichnung „Bau-Zoo“ und der programmatische Name „Quadreikrei der Tierbaukasten“ – „dieser Name entsteht durch die Zusammenziehung der Wörter: Quadrat, Dreieck, Kreis, aus welchen geometrischen Grundformen die Teile des Spiels sich zusammensetzen“11, wie Singer die Wortschöpfung in einem der Manuskripte zur Gebrauchsmuster-Anmeldung erklärte. Die Bezeichnung „Phantasus“ geht möglicherweise auf den gleichnamigen antiken Traumgott zurück, der sich in alles verwandeln kann, was keine Seele hat (Ovid, Metamorphosen 11, 643), und spielt auf die durch den Baukasten angeregte Fantasie an.

Die auf einem mit „Die Teile des Spiels“12 bezeich neten Blatt dargestellten Bausteine wurden zwar in ihrer Ausführung (Material, Maße, Farbe und Lochung) über die Zeit variiert, aber in ihrer grundsätzlichen Form und Zusammenstellung nicht verändert. So gibt es zumindest zwei gesicherte Größen des Baukastens, die Singer in Auftrag gab.

Grundsätzlich war der Baukasten als Holzbaukasten konzipiert, aber es dürfte auch zu Experimenten mit anderen Materialien gekommen sein. Für die Bau steine war Hartholz, für die Verbindungsstäbe Weichholz vorgesehen. Die Bohrungen in den Bausteinen sollten einen etwas größeren Durchmesser haben als die der Weichholzstäbe und so zusammengesteckt gegenein ander beweglich sein. Zusammengehalten wurden die Konstruktionen von kleinen Hartholzringen, die, mit einer kleineren Bohrung versehen, auf die Verbindungsstangen aufgepresst wurden.

Der „Phantasus“-Baukasten zeigt auf den ersten Blick gewisse Ähnlichkeiten mit dem Holzbaukastensystem „Matador“13, und tatsächlich besteht durch die Größe der Bohrungen und deren Abstand zueinander eine gewisse Kompatibilität der Teile. Ob diese von Sin ger bewusst geplant wurde, lässt sich nicht mehr rekonstruieren, bei aller Ähnlichkeit sind es aber vor allem die Unterschiede, die den „Phantasus“-Baukasten einzigartig machen. So finden sich, anders als bei „Mata dor“, keine Bohrungen an den Stirnseiten der Bausteine, und die Teile lassen sich nur in Schichten zusammen fügen. Es gibt keinen einzigen Baustein, der auf jeder Fläche eine Bohrung besitzt, das Bauen von räumlichen Strukturen ist damit deutlich erschwert. Diese Einschrän kung ist von Singer aber wohl überlegt, denn damit zwingt er den Spielenden ins Zweidimensionale. Die dritte Dimension schleicht sich über die Hintertür

in das System: Durch die Materialstärke der Bausteine und deren Schichtung entsteht Räumlichkeit, und die Figurinen erwachen zum Leben. Die Bausteine werden so zu Farbflächen, die zueinander in Bezug stehen. Beinahe hat es den Anschein, als hätten Scala und Singer den Baukasten als gezeichnete Flächen entworfen, die erst durch ihre materielle Umsetzung Körperlichkeit erlan gen. Das einzige Element, das diese Logik der Fläche bricht, ist die Kiste, die über zwei Bohrungen an der Unterkante sowohl als Baustein als auch als Verpackung der restlichen Teile dient.

Das Prinzip der Schichtung und die Flächigkeit der Bausteine haben aber vor allem den Zweck, die Aufmerk samkeit mehr auf die Form der Bausteine sowie den Bau organischer Formen zu lenken statt auf deren tech nische Funktion. Hier liegt der größte Unterschied zu anderen, meist auf Technologie-Vermittlung ausgelegten Baukästen wie „Matador“, was Singer in einem Manu skript zur Gebrauchsmuster-Anmeldung hervorhebt:

„Im Gegensatz zu anderen Baukästen, die haupt sächlich das Interesse des Kindes für mechanische u. technische Formen u. Gegenstände erregen, und dieses Interesse damit allzu frühzeitig einseitig beeinflussen, wendet sich dieser Baukasten an das natürliche instink tive Gefühl des Zusammenhangs mit der Natur und eines ihrer hauptsächlichsten Gebiete (der Tierwelt), ohne das Interesse des Kindes für die mechanische Welt zu vergessen. Er stärkt dieses Gefühl des Zusammenhangs, lenkt die Aufmerksamkeit des Kindes auf das Wesent liche der Tierform, die es aus einfachen geometrischen Körpern zusammenstellt, entspricht dadurch aber auch den auf das Wesentliche der Ausdrucksformen (als auf die wesentliche Form des Ausdrucks eines Gegen standes) gerichteten Tendenzen moderner Kunstan schauung und bildet dadurch für das heranwachsende Kind die Brücke zum Verständnis dieser modernen Kunst.“14

Anders als zur Formensprache und zu den Steck verbindungen, gibt es zur Farbgestaltung keine Erläuterun gen Singers. Wie aus den Anleitungskarten ersichtlich, wählte Singer starke Kontraste und keine für Tiere natür lichen Farbtöne. Ihm ging es also wohl auch bei der Farb gebung darum, den Blick der Kinder auf die Gestalt von Tieren, auf das Wesentliche der Tierfiguren zu lenken.

Produktionsgeschichte

Im Spätsommer 1924 begann das intensive Ringen Franz Singers um die Produktion des „Phantasus“-Bau kastens, ein Prozess, der mehr als ein Jahr in Anspruch nehmen sollte. In dieser Zeit bemühte sich Singer nicht

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„Baukasten für Kindermöbel und -spiele“, Entwurfszeichnung, 1936/37, Bleistift und Tusche auf Transparentpapier, 49 × 49,4 cm, AGS

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„Baukasten für Kindermöbel und -spiele“, Entwurfszeichnung, 1936/37, Bleistift und Tusche auf Transparentpapier, 49 × 49,4 cm, AGS

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nur um den Schutz der Erfindung durch die Anmeldung zum Patent und Gebrauchsmuster in Deutschland und Österreich, sondern baute zu einer Vielzahl an potenzi ellen Produzenten Kontakte auf, überarbeitete mehrmals die Entwürfe des Baukastens und suchte nach mögli chen Vertriebspartnern, um zumindest eine kleine Serie herstellen lassen zu können. Dabei kam es mit einigen Produzenten zu weitreichenden Vereinbarungen, die aber allesamt an der meist schlechten Qualität der gelie ferten Probeexemplare oder dem Ausbleiben von Liefe rungen scheiterten. Eine der größten Herausforderungen in der Produktion des „Phantasus“-Spiels waren Anzahl und Ausführung der Bohrungen der Bausteine. Sie machten den Baukasten in der Herstellung anspruchs voll, zeitaufwendig und teuer. Im Oktober 1925 verebbte die dazu erhaltene Korrespondenz. Es finden sich keine Hinweise darauf, ob und in welcher Form Singer die Ver wirklichung des Baukastens weiterverfolgte.

Baukasten für Kindermöbel und -spiele

Es sollte mehr als zehn Jahre dauern, bis sich Singer erneut einem Baukasten und dessen Serienfertigung widmete. Der „Baukasten für Kindermöbel und -spiele“ wurde ab 1936 unter der Mitarbeit der Ateliermitarbei terinnen Leopoldine Schrom und Jenny Pillat entwickelt. Das Spiel war für eine Kommission bei der holländischen Firma Metz & Co. vorgesehen, wurde aber vermutlich nicht in das Sortiment aufgenommen.15

Die Pläne (Abb. S. 66, 67, 413) zeigen detailliert ein ausdifferenziertes Baukastensystem und geben tiefen Einblick in die verschiedenen Nutzungs- und Kombinati onsmöglichkeiten. Dabei reicht die Bandbreite von einem voll funktionsfähigen Kran über moderne Gebäude bis hin zu einem Wagen mit Kurbelantrieb und Anhänger. Auf einer Fotostrecke zum Prototypen des Baukastens im Bauhaus-Archiv findet sich ein Großteil der auf den Illus trationen gezeigten Teile wieder, wie sie von einem Mäd chen und einem Buben im Vorschulalter erprobt werden. (Abb. S. 412)

Die Grundbausteine des Systems bestehen aus vier unterschiedlich großen Kisten, die wie MatrjoschkaPuppen ineinanderpassen. So lassen sich alle Bestand teile des Baukastens in der größten Kiste unterbringen. Die Verpackung zugleich als einen Teil des Baukasten systems zu begreifen war eine zentrale Idee des „Phan tasus“-Baukastens gewesen und wurde für das neue System wieder aufgegriffen. Das System der Kisten wurde durch zwei mit Tafelfarbe gestrichene Platten, die gleichzeitig als Abdeckung der Verpackung dienten,

„Phantasus“-Baukasten, Patentschrift, 1924, Österreichisches Patentamt

eine Lade und zwei von Singer als „Griffe“ bezeichnete Bretter ergänzt. Ein System aus Rädern, Achsen, Bolzen und Schnüren diente zur Erweiterung und Verbindung der Elemente. Die Kisten und Platten waren an mehreren Stellen gelocht und wurden je nach Verwendung einfach gestapelt und mit den Zubehörteilen aneinander fixiert.

Das Konzept zeigt mit seiner Modularität und den genormten Schnittstellen zwar die Merkmale eines klassi schen Modellbaukastensystems, allerdings sind die Struk turen, die mit dem System geschaffen werden können, keine Modelle von Architektur oder technischen Artefakten, sondern sind selbst Architektur, Möbel oder Gebrauchs gegenstand für Kinder. So ist der Zug auf den Fotos groß genug, dass in jedem der Abteile tatsächlich ein Kind Platz hat. Ein ganzer Spielplatz plus Kinderzimmer in einer Kiste von ca. 55 × 41 × 36 cm, der mit den Anforderungen des Kindes mitwächst, sich seinen Bedürfnissen anpasst und es in seiner Entwicklung begleitet.

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Damit wird das Kind zum Architekten und Gestalter seiner Umwelt. Der „Baukasten für Kindermöbel und -spiele“ stellt eine klare Verbindung her zwischen der Idee eines Baukastens und der modularen Bauweise moderner Architektur und führt diese zurück ins Kinderzimmer. Er wirkt wie die Komprimierung aller gestalterischen Prinzipien der Ateliergemeinschaft, nämlich der Gestaltung von funktionalen, möglichst flexiblen, vielseitigen Lösungen, die überraschen und es nicht nur zulassen, einen Raum zu dehnen und zu komprimieren, sondern regelrecht dazu auffordern. Das Baukastensystem greift die Idee der Möbelentwürfe des Montessori-Kindergartens im Goethe hof auf. Hier wurden die Möbel von der Ateliergemein schaft so dimensioniert, dass es zumindest zweier Kinder bedurfte, um sie zu bewegen, mit dem Ziel, Zusammenarbeit und Solidarität unter den Kindern zu fördern.

Abbatt Ltd. und „Sunplay-House“

Für die Spielzeugfirma Abbatt Ltd. des Londoner Ehe paars Paul und Marjorie Abbatt, das intensive Forschung im Bereich der Kinderpädagogik betrieb, entwickelte Singer ein Kinderspielhaus. Noch stärker als der „Bau kasten für Kindermöbel und -spiele“ zeigt das „SunplayHouse“ (WV D-4) die Weiterentwicklung Singers als Architekt. Es wirkt wie eine verkleinerte Version des Gartenhauses Moller von 1931 (WV 76) oder des Gästehauses Auersperg-Hériot von 1933 (WV 115), die zum Teil in Zusammenarbeit mit Friedl Dicker gestaltet wurden. Das „Sunplay-House“ wurde von Singer in modularer Bau weise entwickelt und ließ sich nach Bedarf erweitern, in gewisser Weise ist es also Singers dritter Baukasten. Das „Sunplay-House“ wurde am Stand der Firma Abbatt Ltd. auf der Ideal Home Exhibition 1935 in London gezeigt und wurde äußerst positiv aufgenommen. Die australische Tageszeitung The Courier Mail schrieb unter dem Titel „Your Dream House and Garden“ darüber: „A circular window with a toy cupboard underneath it and a wide ledge to play on form together a hinged side of the house, which opens wide, like a flower, to admit sun and air. The curved shape, and the ease with which this side opens completely, unites the house with ‚Rosemary’s Garden‘, and forms the ideal healthy milieu for the grow ing child.“16

Auf das „Sunplay-House“ folgten mehrere Entwürfe für Kindertische und -stühle aus Sperrholz, die in Zusam menarbeit mit Hans Biel entstanden. Auch hier zeigt sich Singers fortwährendes Interesse für die Gestaltung von anspruchsvollen Alltagsgegenständen für Kinder, das ihn von seiner Zeit am Bauhaus ab 1919 bis nach England

begleitete. Dabei steht besonders bei den drei Baukästen Singers ein selbstbestimmtes Erkennen und Gestalten der eigenen Umwelt im Vordergrund, das sich den Bedürfnissen von Kindern und ihrer Entwicklung spielend anpasst. Diese Herangehensweise verbindet Franz Singers und Friedl Dickers kunstpädagogische Arbeit über ihr gemeinsames architektonisches Werk hinaus.

1 Georg Schrom: Friedl Dicker, Franz Singer, in: Hochschule für an gewandte Kunst (Hg.): Franz Singer, Friedl Dicker. 2 x Bauhaus in Wien (Ausstellungskatalog Heiligenkreuzerhof, Wien), Wien 1988, S. 8–14, hier S. 12.

2 Gebrauchsmuster-Anmeldung, AGS.

3 Vgl. Katharina Hövelmann: Bauhaus in Wien? Möbeldesign, Innen raumgestaltung und Architektur der Wiener Ateliergemeinschaft von Friedl Dicker und Franz Singer, Wien/Köln 2021, S. 101.

4 Klaus Weber: Kunstwerk – Geistwerk – Handwerk. Die Werkstät ten in den ersten Jahren des Bauhauses, in: Rolf Bothe (Hg.): Das frühe Bauhaus und Johannes Itten (Ausstellungskatalog BauhausArchiv Berlin u. a.), Ostfildern-Ruit 1994, S. 215–237, hier S. 221.

5 Bothe 1994. Zit. n. Hövelmann (wie Anm. 3), S. 450.

6 Ebd., S. 450.

7 Ebd., S. 450.

8 Christine Mehring: Alma Buscher „Ship“ Building Toy, in: Bauhaus 1919–1933: Workshops for Modernity (Ausstellungskatalog Museum of Modern Art, New York), New York 2009, S. 156–161.

9 Alan Powers: Abbatt Toys. Modern Toys for modern Children, London 2021, S. 136.

10 Siehe Biografie Franz Scalas in diesem Band.

11 Manuskript Bau-Zoo, AGS.

12 Die Teile des Spiels, AGS.

13 Das „Matador“-Baukastensystem von dem Wiener Johann Korbuly wurde 1903 eingeführt und war in der Zwischenkriegszeit sehr erfolgreich. Ab 1923 war „Matador“ als offizielles Lehrmittel zugelassen.

14 Gebrauchsmuster-Anmeldung, AGS.

15 Hövelmann 2021 (wie Anm. 3), S. 284–285.

16 Sally Horner: Your Dream House and Garden, in: The Courier-Mail, Brisbane, 25.4.1935, S. 7.

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Schlafzimmer in der Wohnung Karl Heller, Axonometrie, 1928, Bleistift und Deckfarbe auf Karton, 64 × 63 cm, BHA, Inv.-Nr. 2019/46

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Aufklappen!

Architekturzeichnungen von Friedl Dicker und Franz Singer

Für die Architekturzeichnung der Moderne der Zwischen kriegszeit sind die Zeichnungen aus dem Atelier von Friedl Dicker und Franz Singer von besonderer Bedeutung. Meist Innenräume darstellend, fallen die Zeichnungen in kräftigen Farbtönen vor allem wegen ihrer bemerkens werten Perspektiven und Axonometrien auf. Sie schwe ben kontextlos auf dem Zeichenblatt, die Linien verlaufen in einem Winkel von 30, 45 oder 60 Grad gegenüber den horizontalen Blattkanten, nur in der Vertikalen finden sie Parallelen. Die Zeichnungen tanzen auf ihrer Spitze und rotieren um imaginäre Achsen. Von den Gebäuden haben sie sich emanzipiert und scheinen sich selbst als abstrakte Kunstwerke zu genügen. Jedoch trügt die ser erste irritierende Eindruck. Um die Zeichnungen zu verstehen, sind Mitarbeit und Anstrengung gefordert, es gilt, tief in die Blätter einzutauchen. Das Auge kommt kaum zur Ruhe, es geht auf Entdeckungsreise und wird immer wieder abgelenkt und überrascht. Es identifiziert Gegenstände, Tische, Sessel, Stühle, Truhen, Regale und Schränke. Farbflächen werden zu Wänden, Böden oder Decken, Rechtecke zu Türen oder Fenstern. Linien begrenzen transparente Flächen, die die Farben der durch sie hindurch sichtbaren Oberfläche annehmen, als ob man durch Wände schauen könnte. Nicht wissend, wohin die Türen führen, welche Räume benachbart sind oder wohin die Fenster gehen, konzentriert sich der Blick auf die Farben und Möbel und auf ihre Stimmigkeit wie auf ihre Extravaganz. Es sind moderne Räume für den modernen Menschen, der sich ebenso der Konvention entzieht, wie der für ihn entworfene Raum und die diesen Raum darstellende Zeichnung unkonventionell sind.

Friedl Dicker und Franz Singer haben diese Art der Darstellung von Innenräumen nicht erfunden; die axono metrische Architekturdarstellung wurde 1923 von Walter Gropius als für alle Mitglieder des Bauhauses verbind liche „neue räumliche Darstellung“1 propagiert. Dicker und Singer folgten jedoch nicht nur dieser Vorgabe, die

sie virtuos beherrschten und kenntnisreich modifizierten, sie führten zudem ein neues Element in die axonomet rische Raumdarstellung ein: die „aufgeklappte Decke“2

Die Gründe hierfür dürften vor allem pragmatischer Natur gewesen sein; da es Dicker und Singer sehr um die farbliche Abstimmung ihrer Raumgestaltungen ging, war auch die der Decke von größter Wichtigkeit, also dar stellungswürdig. Auch konnte so gezeigt werden, dass es sich um geschlossene Räume handelte, vergleichbar mit der axonometrischen Darstellung von ganzen Gebäu den, bei denen in der Regel auch die raumabschließenden Teile – Dach, Wände, Bodenplatte – gezeichnet wurden. Das Besondere aber an den Decken von Singer und Dicker ist, dass sie als aufgeklappt dargestellt wer den und durch den Winkel, in dem die Decken in den Zeichnungen angelegt sind, der Akt des Öffnens selbst verbildlicht ist. Beim Betrachten und Zoomen in den Raum öffnet der Blick den Deckel der Raumkiste, neu gierig forschend, was sich da wohl finden lässt.

Aufklappbare Kisten, Möbel, die sich stapeln, auseinanderund zusammenklappen ließen, wurden neben Schiebemechanismen ab den späten 1920er Jahren zu einer Art Markenzeichen des Büros von Dicker und Singer.3 Ob deren funktionale Intention einen symbolischen Charakter besaß und sich dieser auch in den Zeichnungen wider spiegelt, wird im Folgenden untersucht. Vorab aber sollen das Aufkommen der Axonometrie am Bauhaus und ihr dort beginnender Siegeszug als die Darstellungsweise moderner Architektur skizziert werden.

Walter Gropius war gut beraten, als er in seinem zur Bauhausausstellung 1923 erschienenen Buch Idee und

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Wann und wie kam die Axonometrie ans Bauhaus?

Aufbau des Staatlichen Bauhauses Weimar die dort ausgerufene „neue räumliche Darstellung“ nicht als Axo nometrie oder Isometrie etikettierte.4 Das hätte nämlich bedeutet, eine wissenschaftlich begründete Zeichnungs lehre durch eine andere, ebenso akademische Lehre zu ersetzen. Er zielte hingegen darauf ab, „die alte akade mische Bilddarstellung der Fluchtpunkt-Perspektive“5

abzuschaffen. In dieser Forderung spiegelt sich der anti akademische Impetus der Werklehre am Bauhaus: Die „zeichnerische Entwurfsarbeit [verliert] ihren akade mischen Selbstzweck“, sie gewinne zugleich aber neue Bedeutung als „ergänzendes Hilfsmittel“, geeignet, „den eigenen Gedankeneinfall anderen wahrnehmbar [zu] machen“6. Gropius geht davon aus, dass „jede räumliche

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Auguste Choisy, Axonometrie eines Gewölbejochs vom Palatin, Rom, in: Auguste Choisy: L’art de bâtir chez les Romains, Paris 1873, Pl. VIII

Vorstellung [...] mit Hilfe der Zeichnung oder des gebau ten Modells“ darstellbar sei. Die Schüler des Bauhauses müssten genaue Kenntnis von der „Lehre von der Projek tion und der Konstruktionslehre“ erwerben, „um ein räumliches Gebilde seinen Maßen nach in allen seinen Teilen eindeutig in der Zeichnung festzuhalten“7. Nicht jedoch die Fluchtpunkt-Perspektive sei das geeignete Mittel dazu, sondern besagte „neue räumliche Darstellung“. Diese würde „in ein und derselben Zeichnung die Bildwirkung des Raumes mit der maßstäblichen geometrischen Zeichnung verein[en], also deren Nach teile der unsinnlichen Wirkung vermeide[n], ohne den Vorzug der Meßbarkeit der Größen einzubüßen“8

Wenige Jahre zuvor, im Wintersemester 1920/21, als Adolf Meyer den neu eingeführten Unterricht in Werkzeichnen übernommen hatte, der als Ergänzung zum Vorkurs gedacht war und an dem „alle in den Werkstätten Arbeitenden teilzunehmen hätten“9, war Gropius noch anderes vorgeschwebt. Als Inhalt des Unterrichts war „einfache[s] Zeichnen der theoretischen Projektion und der darstellenden Geometrie zum Darstellen von Gegenständen und Architekturteilen im Grundriß, Aufriß und Schnitt“ vorgesehen, und zwar „rein vom zeichne rischen Standpunkt aus, ohne künstlerische Beeinflussung“10. Gropius, der bekanntermaßen nicht zeichnen konnte, zielte also zunächst auf eine sachliche, auf die orthografischen Darstellungsmodi beschränkte Architekturdarstellung.

Mit dieser Maxime reiht sich Gropius in die lange Reihe der Architekten ein, die die Zentralperspektive

als ungeeignet für Architekturzeichnungen ablehnten. Schon von Alberti im 15. Jahrhundert als Darstellungsmittel für Architektur verworfen, weil eher der Malerei zugehörig, wurde die Perspektive immer wieder als für die Darstellung der Raumkunst Architektur untaugliches Mittel dekuvriert.11 Ebenso wirkmächtig wie eindeutig und streng formulierte Jean-Nicolas-Louis Durand zu Beginn des 19. Jahrhunderts, dass für die Herstellung eines vollständigen Begriffs eines Gebäudes drei Zeichnungs modi ausreichend seien, „welche man Grundriß, Durch schnitt und Aufriß nennt“12. Durands Grundsatz blieb die Richtschnur in allen Kämpfen für und wider die perspek tivische Darstellung von Bauprojekten. Um die Jahrhundert wende kulminierte die Diskussion nicht zufällig in Wien. Um den Historismus zu überwinden, polemisierte Otto Wagner gegen die Beaux-Arts-Projektgemälde mit ihrer „Sucht, ein möglichst täuschendes Zukunftsbild zu bieten“, und plädierte dafür, dass der Architekt „seine Gedanken möglichst klar, scharf, rein, zielbewußt und überzeugend zu Papier zu bringen“ habe.13 Im Jahr 1908 meldete sich Marcel Kammerer, Chefzeichner im Büro von Wagner, zu Wort und empfahl einfachste zeichnerische Mittel, mit denen „ein vollkommen klares, präzises Bild des darzu stellenden Entwurfes“ möglich sei, so dass man „über dem Dargestellten die Darstellung“14 vergesse. Wie hoch die Darstellung von Entwürfen gerade für die Architekten der beginnenden Moderne bewertet wurde, erhellt auch die von Adolf Loos 1910 erhobene Klage, dass durch „flotte darsteller“ die Baukunst „zur graphischen kunst“15 herabgesunken sei.

Nach dem Ersten Weltkrieg, als sich neue Schulen wie das Bauhaus bildeten und auch sonst an den Architekturschulen zuweilen radikale, meist antiakademische Reformen angegangen wurden, geriet auch die Lehre von der Fluchtpunktperspektive, der bis dahin ein großer Teil des Curriculums der Architekturausbildung gegolten hatte, in die Kritik. Bruno Taut definierte äußerst provoka tiv Perspektive als den Vorgang, „wenn eine Leiche ein Auge zukneift“, und resümierte: „Kurz und gut: hat neben anderen wissenschaftlichen Kram die Perspektive den mittelalterlichen Architekten zu Grunde gerichtet, so wol len wir als größtes Hemmnis zum Bauen sie zuerst zum alten Plunder werfen.“16 Herman Sörgel beschwichtigte, man dürfe die Perspektive nicht in Bausch und Bogen verdammen, jedoch sei unter allen Umständen „die bloß technische, aus wahrhaft räumlicher Vorstellung konzi pierte Zeichnung einer durch die Schwesterkunst der Malerei verwässerten Perspektive vorzuziehen“17 . Eine Möglichkeit, die zentralperspektivische Dar stellung zu vermeiden und dennoch ein räumliches Konti nuum zweidimensional zeichnerisch zu erzeugen, bestand in der Axonometrie. Sie war im 16. Jahrhundert

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Adolf Loos, Isometrie der Mustersiedlung Heuberg, Wien 1920, in: Heinrich Kulka (Hg.): Adolf Loos. Das Werk des Architekten, Wien 1931, Abb. 110

als leicht erlernbare Militär- oder Kavalierperspektive entwickelt worden und seitdem ein Modus der Architekturdarstellung geblieben.18 Architekten der Moderne wurde sie vor allem durch die Illustrationen in Auguste Choisys Büchern zur antiken Architektur- und Konstruk tionsgeschichte bekannt, die als Lehrbücher weite Verbreitung fanden.19 (Abb. S. 72) Choisy empfahl die Axonometrie insbesondere wegen ihres Vorteils, dass es keine Verkürzungen gab, also alle Größen mess bar waren. Zudem habe der Betrachter auf einen Blick Grundriss, Schnitt, äußere und innere Disposition der Bauten vor Augen. Adolf Loos nutzte deshalb 1921 eine „prozessuale“ Axonometrie für seinen Entwurf der Mustersiedlung Heuberg in Wien. Wegen der dort vor gesehenen rationalisierten Hausproduktion ist es gewiss kein Zufall, dass Loos gerade diese „technische“ Projek tionsweise für den Entwurf einsetzte.20 (Abb. S. 73)

Jedoch führt von Loos kein Weg zu Gropius und zum Bauhaus. Der missing link dürften Theo van

Doesburg, Gründungsmitglied der Gruppe De Stijl, und der Architekt Cornelis van Eesteren gewesen sein, die im Oktober 1923 in Paris gemeinsam ihre Contra-Konstruk tionen und die spektakulären Entwürfe für eine Maison particulière in axonometrischer Darstellung präsentierten. Van Doesburgs Verhältnis zum Bauhaus war ein kurzes, aber sehr wirksames. Mit großen Erwartungen und voller Selbstbewusstsein, den richtigen Weg für eine Erneue rung der Kunst und Architektur zu kennen und vermitteln zu können, wirkte er ab Ende Jänner 1922 in Weimar.21 Er wollte dort alles „radikal auf den Kopf stellen“ und ver breitete in abendlichen Sitzungen „das Gift des neuen Geistes“22 unter den Schülern. Vor März 1922 hatte sich van Doesburg mit Kuben aus verschieden dimen sionierten „Grundelementen der Architektur“ (Grond element van de architecture) beschäftigt und diese Kuben axonometrisch gezeichnet, allerdings noch konventionell mit Schlagschatten.23 Aus dieser Studie entwickelte van Doesburg den Entwurf zu einem Erfrischungsgebäude,

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Theo van Doesburg, Studie op basis van Grondelement van de architectuur, Collection Het Nieuwe Instituut, donation Van Moorsel/ DOESAB5103 Theo van Doesburg, Ontwerp voor een verversingsgebouwtje, Collection Het Nieuwe Instituut, donation Van Moorsel/ DOESAB5104

in dem er die abstrakten Kuben mit konstruktiven Ele menten, Fenstern und überstehenden Flachdächern aus stattete, also ¸richtige‘ Architektur daraus entstehen ließ. Wesentlich professioneller und künstlerisch über zeugender als diese Zeichnung ist das Projekt für ein Gebäude der Kgl. Niederländischen Akademie der Wissenschaften von Cornelis van Eesteren, das er als Abschlussarbeit an der Rotterdamer Kunstakademie bearbeitete und als Vogelschau-Axonometrie anlegte.24 (Abb. S. 76) Van Eesteren war am 4. Mai 1922 nach Weimar gekommen, arbeitete dort an seinem Diplom projekt und blieb bis Ende Mai in Weimar, bevor er seine Tour durch Europa fortsetzte.25

Theo van Doesburgs vergleichsweise simple Art der Axonometrie findet sich im Lauf des Jahres 1922 auch bei Studienarbeiten zu Wohnhäusern von Dicker und Singer wieder. In vier Studien präsentieren sie auf Millimeterpapier gezeichnete orthogonale Grundrisse und Axonometrien. Diese sind (seitenverkehrt) wie die van Doesburgs so auf dem Papier organisiert, dass das ganze Haus von oben, also mit seiner Dachlandschaft, dargestellt ist. Die Grundlinien des Hauses sind parallel zum unteren Blattrand angelegt, es ergibt sich eine orthogonale Ansicht. Zur Versinnlichung und Verkörperlichung der Architektur werden dann alle Kanten des Hauses in einem Winkel von 45 Grad, also ohne perspektivische Verkürzung, nach rechts oben geführt, sodass auch Fenster, Vor- und Rücksprünge dargestellt werden können (Abb. WV 5–8). Es ließe sich mutmaßen, dass eine unmittelbare Beziehung zwischen Dicker und Singer und van Doesburg bestanden hat. Allerdings hatte Franz Singer nur einmal am theoretischen De-Stijl-Kurs teil genommen, Friedl Dicker nicht.26 Da der Architekturkurs am Bauhaus von Adolf Meyer geleitet wurde, ist zu ver muten, dass er die Darstellungsweise von van Doesburg adaptierte und hierin den Weg fand, die von Gropius geforderte „neue räumliche Darstellung“ mit den Schülern umzusetzen.

Sollte dem auch so gewesen sein, so wäre es nur ein Zwischenschritt zur Ausbildung der modernen axono metrischen Darstellung von van Doesburg und van Ees teren sowie der Künstler und Architekten am Bauhaus gewesen. Von Oktober 1922 an arbeitete das ganze Bauhaus an der Vorbereitung der ersten Bauhausausstellung. Bei den Architekturzeichnungen hatte sich die Axonometrie durchgesetzt: Noch 1922 hatte Gropius zusammen mit Fred Forbát das Projekt Bauhaussiedlung Am Horn in Weimar entwickelt, das mit axonometrischen Zeichnungen in der Ausstellung präsentiert wurde;27 Gleiches gilt für Gropius’ Baukasten im Großen. Benita Koch-Otte fertigte eine axonometrisch angelegte Farblithografie des Hauses Am Horn, das Georg Muche zusammen mit

Adolf Meyer und Walter March konzipiert und ausgeführt hatte. Die opake gelb-orange kolorierte Linienzeichnung ist mit der berühmten Zeichnung von Herbert Bayer zum Direktorenzimmer im Bauhaus Weimar vergleichbar. (Abb. S. 77) Beide Zeichnungen, die ihren jeweiligen Gegenstand im 45-Grad-Winkel präsentieren, sind wegen der vielen sich überschneidenden Linien als extreme Positionen zu charakterisieren, um die Axono metrie als einen der Modernität der Entwürfe adäquaten Darstellungsmodus zu etablieren. Leichter lesbar dank des zur Orientierung beitragenden orthografischen Grundrisses ist die Axonometrie Oskar Schlemmers für die Wandgestaltung im Werkstattgebäude (Abb. S. 78).28 Offensichtlich hatte ihn die „einfache“, von van Doesburg entwickelte Axonometrie nicht überzeugt. Stattdessen wurde die relativ komplexe, jedoch auf wesentlich höhe rem künstlerischem Niveau stehende und auf einer langen Tradition beruhende axonometrische Darstellungs weise von van Eesteren verbindlich. Wem hier letztlich das Primat gebührt, muss offenbleiben: Die Axonometrien zur Maison particulière entstanden zwischen Ende Juli und der Ausstellungseröffnung in Paris am 15. Oktober 1923; die Bauhaus-Axonometrien waren ab dem 15. August dem Publikum zugänglich. Festzuhalten ist, dass im Sommer 1923 die Axonometrie als der modernen Architektur adäquate Darstellungsform entwickelt und international bekannt gemacht wurde.

Die Räume von Dicker und Singer

Ohne die kurzzeitige Anwesenheit von Theo van Doesburg und Cornelis van Eesteren in Weimar und deren Verlangen nach einer neuen Verbindung von Archi tektur, Raum und Farbe wäre der Siegeszug der Axono metrie als „symbolische Form“ der Moderne nicht denkbar gewesen.29 Für van Doesburg eröffnete sie die Möglich keit, nicht nur die Oberflächen sichtbar zu machen, sondern auch den „Rauminhalt“ und das Raum-Zeit-Kon tinuum seiner Architektur.30 Für den Architekten Gropius war sie vielleicht nur ein geeignetes Darstellungsmittel, um sich von der akademischen Konvention der Flucht punktperspektive abzusetzen. Für Dicker und Singer sind keine Stellungnahmen zu ihren Zeichnungen bekannt. Sie nutzen jedoch ab 1925, gleich bei ihrem ersten Auf trag zur Wohnung Wottitz-Moller in Wien von 1925/26 (WV 11), die aktuellen, Modernität verbürgenden Darstel lungstechniken. Allerdings folgen sie nicht dogmatisch den Vorbildern, sondern lassen sich alle Freiheiten. Zwar scheinen die drei zum Projekt gehörenden Blätter auf den ersten Blick recht einheitlich, da die Zeichnungen,

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vergleichbar mit jener des Direktorenzimmers von Herbert Bayer, nicht orthogonal zum Blattrand angelegt sind, sondern in einem Winkel von ca. 30 Grad quer zur Sicht achse gleichsam auf der Spitze stehen. Dadurch öffnen sie sich der Betrachter*in, lassen sie sowohl von oben in die Räume hineinblicken als auch durch die vorderen Wände, die nur mit Linien begrenzt sind, hindurchschauen. Ein Blatt (Abb. S. 147) mit Herren- und Damenzimmer ist als Axonometrie angelegt, das Herrenzimmer (Abb. S. 148) als Perspektive mit weit außerhalb des Bildfeldes liegenden Fluchtpunkten und das Damenzimmer (Abb. S. 149) mit ebensolchen Fluchtpunktperspektiven sowie zwei weiteren Fluchtpunkten, in denen die Kanten der aufgeklappten Decke zusammenlaufen. Bei den Perspektiven liegt der Fluchtpunkt weit oben über dem Raum, sodass die Betrachter*in wie „von oben“ in den Raum hineinschaut. Der Fluchtpunkt des Deckels liegt interessanterweise jedoch unten, etwa auf Höhe der Blattmitte, sodass sich der Deckel optisch schließt.31

Friedl Dicker und Franz Singer setzen also gleich in ihrem ersten Projekt differenzierte darstellerische Mittel ein, um Effekte zu erzielen, die mit konventionellen Mitteln nicht erreicht werden können. Dabei handelt es sich nicht um Neuerfindungen; die weit außerhalb des

Bildfelds liegenden Fluchtpunkte kennt die Geschichte der Architekturzeichnung bereits aus dem frühen 16. Jahrhundert und die Verwendung zweier oder mehrerer Fluchtpunkte wurde im frühen 18. Jahrhundert von den Bühnenarchitekten der Familie Galli-Bibiena entwickelt und in Publikationen verbreitet.32 Ein Grundwissen über theoretische Projektion und darstellende Geometrie sollte ja der von Gropius initiierte Grundkurs für alle Bauhaus schüler vermitteln. Entsprechende Zeichnungen von Dicker und Singer sind zwar nicht überliefert, doch dass sie sich mit der axonometrischen Projektion beschäftigten, ist durch ihre frühen Entwürfe gesichert.

Auch andere Darstellungsweisen wie das Abklappen der Wände um den Grundriss herum, die das Atelier erstmals 1927 beim Entwurf für die Einraumwohnung Hans Heller in Wien (Abb. S. 168) anwandte, besaßen eine lange Tradition und wurden in der Moderne weiter genutzt, um den Zusammenhang zwischen Wänden und Fußboden samt Einrichtung zu visualisieren.33 Zuweilen wurden Dar stellungsmodi kombiniert (Abb. S. 285, 334, 335), was zu recht komplexen Zeichnungen führte, die ein aufwendi ges Einsehen erfordern, will man sie vollständig durch dringen (Abb. S. 287, 299, 362, 363). Immer jedoch geht es sowohl um die Form der Räume und deren Farbigkeit

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Cornelis van Eesteren, Entwurf für die Rotterdamer Kunstakademie, um 1922/23, Collection Het Nieuwe Instituut, EEST-III-164
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Walter Gropius und Herbert Bayer, Direktorenzimmer im Bauhaus Weimar, Isometrie 1923, BHA

als auch um die darauf abgestimmte Möblierung. In späten Projekten des Ateliers Franz Singers werden die Zeich nungen vereinfacht, etwa als orthogonal orientierte Axo nometrien (Abb. S. 254, 255) oder es werden zwei Axonometrien aus gegenläufigen Blickrichtungen gezeigt (Abb. S. 242, 243, 308, 309). Auch wird auf die Gitter netzlinien zur Markierung der Raumgrenzen in den Berei chen verzichtet, wo der Betrachter gleichsam durch die Wände schaut. Inwieweit sich hierin selbstständige Ideen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Atelier Franz Singers spiegeln, bliebe zu untersuchen.

Die „aufgeklappte Decke“

Durchgängig vorhanden bei fast allen Projekten und in vielen Zeichnungen ist das Motiv der „aufgeklappten Decke“.34 Zwar gab es im Bauhaus auch Künstler, die Entwürfe mit physisch klappbaren Papierwänden

präsentierten und damit eine alte Tradition fortsetzten,35 doch in der konsequenten Nutzung dieses Motivs zur Aufforderung der Betrachter*in, die Entwürfe als geschlossene Räume zu erleben, gibt es keine Paral lele. Es ließe sich eine Verbindung zu den aufklappbaren Kisten, den stapel- und klappbaren Möbeln und den Schiebemechanismen des Büros von Dicker und Singer herstellen und somit gleichsam eine Entwurfstheorie von Dicker und Singer in Zeichnung und Praxis konstru ieren. Da beide ihre Entwurfshaltung nicht in Textform niedergelegt haben, kann eine solche Theorie nur aus den Projekten und Zeichnungen deduziert werden. Grundsätzlich ist die Axonometrie nicht nur ein Darstel lungsmodus, sondern es verbinden sich mit ihr Ideen zu einer Raum-Zeit-Architektur, wie sie van Doesburg und van Eesteren zusammen mit ihrem Entwurf zur Maison particulière darstellten und theoretisch unter mauerten. Diese raumzeitliche Dimension beschäftigte auch andere Künstler der Jahre um 1923: Die ex-

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Oskar Schlemmer, Gesamtplan der Wandgemälde im Werkstattgebäude des Staatlichen Bauhauses in Weimar, 1923, Grundriss und Axonometrie, in: Hajo Düchting: Farbe am Bauhaus. Synthese und Synästhesie, Berlin 1996, S. 292, Abb. 40

treme Position vertrat El Lissitzky in seinem Manifest K. und Pangeometrie im Europa Almanach von 1925. Er widersprach der bis dahin gültigen Annahme, „daß die perspektivische Darstellung des Raumes die eindeu tige, objektive, selbstverständliche ist“36. Stattdessen habe sie den „Raum begrenzt, endlich gemacht, abge schlossen“, weshalb sich die moderne Kunstentwicklung schrittweise der Perspektive entledigt habe. Die Impres sionisten hätten damit begonnen, den „ererbten“ pers pektivischen Raum zu sprengen, die Kubisten hätten ihn dann dekonstruiert, die Futuristen hätten ihn zersplittert, der Suprematismus habe schließlich die „Spitze der end lichen Sehpyramide der Perspektive in die Unendlich keit“ versetzt.37 El Lissitzky selbst würde nun noch einen Schritt weiter gehen durch die Eroberung eines „imagi nären Raums“ durch maschinell bewegte Körper. Das waren durchaus Ideen, die auch am Bauhaus diskutiert wurden, als Dicker und Singer dort studierten. Auf dem Werbeplakat zur Ausstellung 1923 wird noch der „meta physische Bau […], der über die Schönheit des Zweck vollen hinaus als wahrhaftes Gesamtkunstwerk die Verwirklichung einer abstrakten monumentalen Schönheit [darstellt]“ als das „weitgesteckte Ziel des Bauhauses“38 proklamiert. Hier wirkten Ideen von Johannes Itten nach, mit dem Dicker und Singer 1919 aus Wien ans Bauhaus nach Weimar gekommen waren. Ittens Zuwendung zu allem Lebendigen, das „sich dem Menschen durch das Mittel der Bewegung [offenbart]“39, mag ein Impetus für Dicker und Singer gewesen sein, mit ihren Zeich nungen und Objekten den Betrachter in Bewegung zu setzen. Sie standen wohl eher auf dieser metaphysischen Seite des frühen Bauhauses, das sie auch aufgrund ihrer Priorisierung des künstlerischen, handwerklich gefertigten Einzelstücks sowohl beim Möbelbau als auch beim Entwurf von Räumen weiterhin als ihr Ideal empfanden. Gropius’ Revision des Bauhausprogramms im Jahr 1923 –„Kunst und Technik, eine neue Einheit“ – interessierte sie nur insofern, als sie den dazugehörigen Darstellungs modus der Axonometrie aufnahmen. Jedoch veränderten sie diese in ihrem Sinn. Der der Axonometrie innewoh nende Charakter einer der Maschinenästhetik verpflichteten technischen Zeichnung wird radikal aufgeweicht und ins Gegenteil verkehrt. Feinfühlige Material- und Farb stimmungen und zahlreiche liebevoll ausgeführte Details –zum Beispiel Zimmerpflanzen (Abb. S. 332, 333) – nehmen den Zeichnungen jeden technischen Charakter. Hier scheinen eher Oskar Schlemmer (Abb. S. 78) und seine „malerische“ Auffassung der Axonometrie das Vorbild gewesen zu sein.

Es ließe sich abschließend diskutieren, ob diese Zeichnungen und die Raum- und Architekturentwürfe von Dicker und Singer das Bauhaus nach Wien exportierten.

Dies ist freilich eine akademische Frage, die nur spekulativ beantwortet werden kann. Tatsache ist, dass beide am Bauhaus studiert haben und mit dieser Ausbildung in Wien Raumausstattungen und ein Haus konzipierten und ausführten. Beide hatten sich zunächst mit der Lehre Ittens auseinandergesetzt, beide waren an der von Adolf Meyer geleiteten Architekturklasse, wo sie zum ersten Mal mit der Axonometrie als Darstellungsmodus in Kon takt kamen. Beide entwickelten die Axonometrie in der Folge der Bauhausausstellung 1923 weiter. Dass sie dabei Ideen van Doesburgs zum inneren Zusammenhang von Farbe und Raum und zur raumzeitlichen Architektur konzeption reflektierten, kann wegen fehlender theore tischer Äußerungen nur vermutet, jedoch nicht verifiziert werden. Die durch die „aufgeklappten Decken“ evozierte raumzeitliche Dimension sollte in ihrem theoretischen Gehalt nicht überinterpretiert werden, sie wurde jedoch gleichsam zum Alleinstellungsmerkmal und Markenzeichnen der Ateliergemeinschaft von Friedl Dicker und Franz Sin ger in Wien.

1 Walter Gropius: Idee und Aufbau des Staatlichen Bauhauses Weimar, München 1923, S. 9.

2 Handschriftlich auf einer Zeichnung des Arbeitszimmers im Haus Koritschoner (WV 17), BHA, Inv.-Nr. 2019/18.

3 Katharina Hövelmann: Bauhaus in Wien? Möbeldesign, Innen raumgestaltung und Architektur der Wiener Ateliergemein schaft von Friedl Dicker und Franz Singer, Wien/Köln 2021, S. 412.

4 Vgl. Gropius 1923 (wie Anm. 1), S. 9.

5 Ebd., S. 9.

6 Ebd., S. 7.

7 Ebd., S. 8 (Hervorhebung im Original).

8 Ebd., S. 9.

9 Annemarie Jaeggi: Adolf Meyer: Der zweite Mann. Ein Archi tekt im Schatten von Walter Gropius, Berlin 1994, S. 119.

10 Meisterratsprotokoll des Bauhauses vom 20.9.1920. Zit. n. Jaeggi 1994 (wie Anm. 9), S. 119.

11 Grundlegend zu Folgendem: Klaus Jan Philipp: Architektur gezeichnet. Vom Mittelalter bis heute, Basel 2020, S. 212–217.

12 Jean-Nicolas-Louis Durand: Abriss der Vorlesungen über Baukunst, gehalten an der königlichen polytechnischen Schule zu Paris, 2 Bde., Carlsruhe und Freiburg 1831, S. 20.

13 Otto Wagner: Die Baukunst unserer Zeit: dem Baukunst jünger ein Führer auf diesem Kunstgebiete, Wien 1979 (unveränderter Nachdruck der 4. Aufl., Wien 1914), S. 73–74; vgl. Klaus Jan Philipp: Erzählen in Architekturzeichnungen. Otto Wagners Entwürfe um 1900, in: Sebastian Hacken schmidt, Roland Innerhofer und Detlev Schöttker (Hg.): Planen – Wohnen – Schreiben. Architekturtexte der Wiener Moderne, Wien 2021, S. 50–63.

14 Marcel Kammerer: Über die Art der Darstellung unserer Entwürfe, in: Der Architekt. Monatshefte für Bauwesen und dekorative Kunst 14 (1908), S. 41–42.

15 Adolf Loos: Architektur, in: Franz Glück (Hg.): Adolf Loos. Sämtliche Schriften, Bd. 1, Wien 1962, S. 307.

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16 Anonym (Bruno Taut): Einwurf. Was ist Perspektive? – Wenn eine Leiche ein Auge zukneift, in: Frühlicht. Beilage zur Stadtbaukunst alter und neuer Zeit, 1 (1920) 2, S. 32.

17 Herman Sörgel: Architektur-Ästhetik (Theorie der Baukunst, Bd. 1), München 1921³, S. 329.

18 Vgl. Philipp 2020 (wie Anm. 11), S. 138–159.

19 Vgl. Auguste Choisy: L’art de bâtir chez les Romains, Paris 1873; Auguste Choisy: Histoire de l’architecture, Paris 1899.

20 Vgl. Heinrich Kulka (Hg.): Adolf Loos. Das Werk des Architek ten, Wien 1931, Abb. 110 und 111, Text S. 33–35; Winfried Nerdinger: Der Architekt Walter Gropius. Zeichnungen, Pläne und Fotos aus dem Busch-Reisinger-Museum der Harvard University, Cambridge/Mass., und dem Bauhaus-Archiv, Berlin. Mit einem kritischen Werkverzeichnis, Berlin 1985, S. 19. Walter Gropius übernahm 1926 sowohl das Bausystem als auch die Darstel lungstechnik für die Entwürfe zur Siedlung Törten in Dessau, vgl. Winfried Nerdinger (Hg.): Die Architekturzeichnung. Vom barocken Idealplan zur Axonometrie, München 1985, Abb. 171.

21 Vgl. Kai-Uwe Hemken, Rainer Stommer: Der ‚De Stijl‘-Kurs von Theo van Doesburg in Weimar 1922, in: Konstruktivistische Internationale Schöpferische Arbeitsgemeinschaft 1922–1927. Utopien für eine europäische Kultur (Ausstellungskatalog Düssel dorf und Halle), Ostfildern-Ruit 1992, S. 169–177; Sjarel Ex: Theo van Doesburg und das Bauhaus, in: bauhaus global. Ge sammelte Beiträge der Konferenz bauhaus global vom 21. bis 26. September 2009, Berlin 2010, S. 69–80.

22 Brief an Antony Kok. Zit. n. bauhaus global 2010 (wie Anm. 21), S. 69.

23 Els Hoek (red.), Theo van Doesburg: oeuvre catalogus; [tentoonstelling Theo van Doesburg, schilder, dichter, architect in het Centraal Museum, Utrecht en het Kröller-Müller Museum Otterlo van 12 maart t/m 18 juni 2000], Utrecht 2000, Kat. Nr. 674 III, 674.IIIa; aus diesen Studien entwickelte er dann den Entwurf zu einem Erfrischungshaus (verversingsgebouwtje), ebd., Kat. Nr. 674.IIIb; vgl. Rainer Stommer: Von der neuen Ästhetik zur materiellen Verwirklichung: Konzepte einer RaumZeit-Architektur, in: Konstruktivistische Internationale 1992 (wie Anm. 21), S. 139–146.

24 Vgl. Sandra Guarda, Cornelis van Eesteren: Meeting the avant-garde 1914–1924, Bussum 2013, S. 32–37, 49–53, Abb. S. 50–51.

25 Vgl. Reinder Blijstra: Cornelis van Eesteren, Amsterdam 1971, S. 5–8.

26 Hemken, Stommer 1992 (wie Anm. 21), S. 175.

27 Vgl. Nerdinger (Gropius) 1985 (wie Anm. 20), S. 58–61.

28 Vgl. Wulf Herzogenrath (Hg.): bauhaus utopien. Arbeiten auf Papier, Ostfildern-Ruit 1988, S. 172–174.

29 Vgl. Klaus Jan Philipp: Axonometrie als symbolische Form? Architekturdarstellung als visualisierte Theorie, Hamburg 2011.

30 Vgl. Theo van Doesburg: Über Europäische Architektur. Gesammelte Aufsätze aus Het bouwbedrijf 1924–1931, Basel 1990, S. 241.

31 Es gibt auch klassische Fluchtpunktperspektiven wie etwa beim Entwurf für ein Gartenzimmer (WV 29).

32 Vgl. Claudia Müller, Ferdinando Galli Bibienas: „Scene di nuova invenzione“, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte (1986) 49, S. 356–375.

33 Bsp. aus dem frühen 20. Jahrhundert bei Nerdinger (Architektur zeichnung) 1985 (wie Anm. 21), S. 182–183; siehe auch die ent sprechenden Zeichnungen zur Wohnung Reisner (WV 46) sowie zwei Blätter (BHA 2019/132 und 2019/453.2) zur Wohnung und Ordination Deutsch (WV 110).

34 Vgl. die entsprechenden Zeichnungen zu folgenden Projekten: Haus Koritschoner (WV 14), Wohnung Kössler (WV 36), Wohnung Téry-Buschmann (WV 55), Kindergarten Goethehof (WV 75), Wohnung Lehr (WV 89), Wohnung Reiner-Lingens (WV 92), Wohnung und Ordination Deutsch (WV 110).

35 Vgl. Philipp 2020 (wie Anm. 11), S. 160–165; vgl. den „Entwurf zur Gestaltung einer Wohnung“ von Peter Keler (um 1926–1930), in: Konstruktivistische Internationale 1992 (wie Anm. 21), Kat. Nr. 64; Abb. S. 151.

36 El Lissitzky: K. und Pangeometrie, in: Carl Einstein, Paul West heim (Hg.): Europa Almanach. Malerei, Literatur, Musik, Archi tektur, Plastik, Bühne, Film, Mode, außerdem nicht unwichtige Nebenbemerkungen, Potsdam 1925. Zit. n. El Lissitzky: 1929 Rußland. Architektur für eine Weltrevolution, Braunschweig/Wies baden 1989 (Bauwelt Fundamente 14), S. 122–129.

37 Alle Zitate: El Lissitzky 1989 (wie Anm. 36), S. 123–124.

38 https://de.wikipedia.org/wiki/Bauhausausstellung_von_1923#/ media/Datei:Schlemmer-Bauhaus_Werbeblatt_DSC8965.jpg (22.3.2022).

39 Zit. n. Hövelmann 2021 (wie Anm. 3), S. 60.

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„Das moderne Wohnprinzip“. Möbeldesign von Friedl Dicker und Franz Singer

In Form einer schwebenden Rauminstallation zeigte 1966 die von Hans Hollein gestaltete Ausstellung Selec tion 66 des Möbelherstellers Svoboda im MAK den zur Bauhaus-Ikone gewordenen Stahlclubsessel des Bau haus-Designers Marcel Breuer in Korrespondenz mit zeitgenössischem Möbeldesign und rief den innovati ven Entwurf aus Stahlrohr in Erinnerung, den Hollein als „architektonisches Manifest“1 verstanden wissen wollte. Bis die Möbel der Wiener Bauhaus-Absolventen Friedl Dicker und Franz Singer wiederentdeckt und öffentlich präsentiert wurden, vergingen noch mehr als zwei Jahrzehnte.2 In ihrer Formensprache und Farbigkeit wirken Dickers und Singers Einrichtungen und Möbel im Wien der Zwischenkriegszeit außergewöhnlich, zeigen sie doch einen offensichtlichen Bezug zum Bauhaus, an dem beide von 1919 bis 1923 studierten. Auf den ersten Blick hat es den Anschein, als wären sie in der österreichischen Architektur- und Designszene Einzelgänger gewesen. Dieser Eindruck verstärkt sich etwa durch den Umstand, dass Singer die Einladung zur Einrichtung eines Hauses in der 1932 eröffneten Wiener Werkbund siedlung ablehnte.3 Vermutlich hätte er gerne ein Haus samt Einrichtung für die neue Siedlung entworfen, denn Singer hielt das Zusammenspiel von Außen- und Innen architektur für essenziell.4 Bemerkenswert erscheint in diesem Zusammenhang auch, dass die Ateliergemein schaft trotz entsprechender Einladungen weder an der in verschiedenen deutschen Städten gezeigten Wander ausstellung Der Stuhl 1928/29 noch an der vom Öster reichischen Werkbund organisierten Ausstellung Der gute billige Gegenstand 1931/32 teilnahm.5 Die multi funktionalen Möbel wurden jedoch auf der Kunst schau 1927 und der Ausstellung Wiener Raumkünstler 1929/30 präsentiert, die sich primär an eine wohlha bende, bürgerliche Käuferschicht richteten. Dennoch zeigt die rege Publikationstätigkeit den Wunsch nach inter nationaler Sichtbarkeit. Neue Projekte wurden in der Regel

von professionellen Fotograf*innen dokumentiert, womit umfassendes Bildmaterial für Veröffentlichungen vorhan den war – angesichts des beträchtlichen finanziellen Auf wands war dies für ein relativ kleines Atelier zu dieser Zeit keineswegs selbstverständlich.6

Dass Dicker und Singer durchaus in der Wiener Architekturszene beheimatet und bestens vernetzt waren,

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Hans Hollein, Ausstellung Selection 66, MAK 1966, MAK/Az W

Entwurfszeichnung, Möblierung mit Klappbett, westliches Zimmer, erstes Obergeschoß, Haus Moller, um 1928, Bleistift auf Transparentpapier, 61,1 × 54,2 cm, Albertina, Wien Klappbett, Wohnung Wottitz-Moller, 1925/26, Foto auf Karton, BHA

beweist beispielsweise ihr Engagement bei der Einrich tung des von Adolf Loos entworfenen Hauses Moller (WV 41 und 98).7 Darüber hinaus war Singer Mitglied im 1929 gegründeten Österreichischen Verband für Woh nungsreform, der unter der Leitung von Ernst Lichtblau 1930 die Beratungsstelle für Inneneinrichtung und Woh nungshygiene – BEST im Karl-Marx-Hof einrichtete. Die BEST beriet bei der Anschaffung von Einrichtungen, präsentierte Mustereinrichtungen und organisierte Vor träge. Auch Friedl Dicker hielt dort 1931 einen Vortrag über den Zweck der Farbe, bei dem sie die Farbe als „ein Element des Gesamtaufbaues des Einrichtungs planes“ charakterisierte, das „bisweilen ordnend“ wirke und „als ein Teil der Innenarchitektur“8 gelte. Dem Anspruch einer solchen Einrichtungsberatung folgend, veröffentlichte Franz Singer 1931 im Kölner Tageblatt den programmatischen Text: „Das moderne Wohnprinzip: Ökonomie der Zeit, des Raumes, des Geldes und der Nerven“9. Darin wird gefordert, dem Bewohner eines Hauses „Möbel zur Verfügung zu stellen, die dafür zweck mäßig sind, und ihn anzuweisen, wie er sich damit

einzurichten hat“, da es nicht genüge „ein Haus mit vielen kleinen Zellen wie für Bienen herzustellen und nun den Bewohner seinem Schicksal zu überlassen, ihn mit seinen zu vielen altmodischen, raumfressenden, in jeder Richtung unrationellen Möbeln einziehen zu lassen“10 . Als Lösung werden multifunktionale Möbel präsentiert, die es erlauben sollen, unterschiedliche Wohnfunktionen (Arbeiten, Kochen, Essen, Schlafen) in beschränkten Wohnverhältnissen miteinander zu kombinieren.

Spurensuche Möbel

Heute sind nur wenige Möbel von Dicker und Singer erhalten. Zeichnungen, Fotos, Publikationen und Patente stellen daher eine wichtige Quelle dar und ermöglichen, sich auf Spurensuche ihres Möbeldesigns zu begeben. Das erste Projekt, das Dicker und Singer in ihrer 1925 gegründeten Ateliergemeinschaft aus führten, war die Wohnungseinrichtung für das befreundete Ehepaar Anny Wottitz-Moller und Hans Moller in der

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Wasagasse 36 im 9. Wiener Gemeindebezirk. Für das Damen- und das Herrenzimmer wurden multifunktionale Möbel entworfen. Zur Einrichtung des Damenzimmers gehörten neben einer noch erhaltenen Sitzgarnitur ein Schrank, eine Wäschekommode, ein Wäscheschrank mit integriertem Toilettentisch und ein Klappbett. Auch im Herrenzimmer waren die Möbel auf Multifunktionalität angelegt: Die ausladenden Sessel konnten zu einer Liege aneinandergestellt werden und der Tisch enthielt ein separat aufstellbares Likörschränkchen (WV 11). 1927 wurden einige der Möbel auf der Kunstschau im Österreichischen Museum für Kunst und Industrie prä sentiert (WV 27). Für das Jahr 1928 führt Singer in seiner Werkliste den oben erwähnten „Entwurf für die Einrichtung des Hauses M. von Adolf Loos“ an.11 Erhal tene Möblierungspläne belegen, dass die Möbel aus der Wohnung im 9. Bezirk auch im neuen Wohnhaus ver wendet wurden. Eine Zeichnung des westlichen Zimmers im ersten Obergeschoß zeigt einige der Schrankmöbel aus dem ehemaligen Damenzimmer von Anny WottitzMoller. Die dortige Verwendung des Klappbetts ist durch ein auf 1931 datiertes Foto von Anny Wottitz-Moller mit ihrer Tochter Judith dokumentiert. Die Sitzgarnitur aus der Wasagasse wurde in die Einrichtung von Annys Atelier im zweiten Obergeschoß integriert (WV 41). Die Konstruktion der Damenzimmer-Sessel aus geometrischen Grundformen wie halbkreisförmiger Lehne, runder Sitzfläche und säulenartigen Vorderbeinen wird durch Durchsichten zwischen den einzelnen Elementen hervorgehoben und verweist auf am Bauhaus entstandene Möbelentwürfe (Abb. S. 84). Ab 1922 hatte sich in der dortigen Tischlerei die Betonung der Konstruktion von Möbeln durchgesetzt, die auf den Einfluss Gerrit Rietvelds zurückzuführen war. Seine Möbel wirkten am Bauhaus inspirierend, nachdem Theo van Doesburg –der in den Rietveld-Möbeln die Stijl-Prinzipien vorbildlich umgesetzt sah – sie in seinem Weimarer Stijl-Kurs beworben hatte.12 Bemerkenswert ist in diesem Zusam menhang, dass Franz Singer sogar für van Doesburgs Stijl-Kurs angemeldet war.13 Weitere Gestaltungsmerk male am Bauhaus waren der Kubus als Formgrundlage, umlaufende, rahmende B änder und eine farbliche Dif ferenzierung der einzelnen Formelemente sowohl durch verschiedene Hölzer als auch durch unterschiedliche Lackierungen. Diese Charakteristika finden sich auch bei den Möbeln aus der Frühzeit des Ateliers von Dicker und Singer wieder. Die Multifunktionalität und damit ein hergehende Beweglichkeit der Möbel kann auf den rus sischen Konstruktivismus zurückgeführt werden, hatte doch van Doesburg dem Bauhaus diese Bewegung mit der Organisation eines Konstruktivisten-Kongresses in Weimar 1922 nahegebracht.14

Die ungewöhnliche Polsterung der Sitzgarnitur des Damenzimmers aus aneinandergereihten, konisch zulaufen den Stoffzylindern kann Friedl Dicker zugeschrieben werden. Die dunklen und hellen Streifen des handgeweb ten Leinenstoffs variieren in der Breite so, dass sich beim Sitzpolster eine Abstufung von Dunkel zu Hell ergibt. Diese Effekte bei Streifenstoffen sind charakteristisch für die Arbeiten der Bauhaus-Weberei.15 Die Korres pondenz zwischen Formensprache und Polsterung des Möbels ist ein Indiz dafür, dass die Entwurfsarbeit in enger Abstimmung zwischen Dicker und Singer ablief.

Eine Sitzgarnitur, die zur Einrichtung der Berliner Wohnung von Margit Téry-Buschmann, einer Freundin und Studienkollegin, gehörte, ist heute auf verschiedene Aufbewahrungsorte verteilt (WV 55): Ein Sessel gehört zur Dauerausstellung im Museum für angewandte Kunst in Wien (MAK), zwei weitere befinden sich in Privat besitz, die Sitzbank wurde 2021 von der Löffler Collection angekauft (Abb. S. 85). Eine ähnliche Sitzgarnitur wurde auf der Kunstschau 1927 präsentiert (Abb. S. 86); Skiz zen und ein erhaltenes Schriftstück lassen vermuten,

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Anny Wottitz-Moller und ihre Tochter Judith im Klappbett, um 1930, Privatsammlung

Sitzgarnitur, Wohnung Wottitz-Moller, 1925/26, Rotbuche, Esche, Nadelholz, Kirschholz, Schleiflack, Rosshaarpolster, handgewebter Leinenstoff, Die Neue Sammlung — The Design Museum

dass sich diese Sitzgarnitur im Besitz von Margit TéryBuschmann befand und für ihre neue Berliner Wohnung umgearbeitet wurde (Abb. S. 87). Eine Liste des Möbel herstellers Prof. Hartmann & Co. verzeichnet zur Wohnung Téry-Buschmanns „1 Bank mit Bastsitz und Lehne“ und „3 Armsessel dazu, analog überzogen“ und weist außerdem eine erhellende Bleistiftnotiz mit Skizze auf: „Lehne ändern mit Stahlfedern (Bast) Bespannung“16 .

Die zylinderförmigen Lehnen wurden gegen halbkreisförmige ausgetauscht und die leicht schrägen Hinter beine durch gerade Rundhölzer ersetzt, wodurch ein massiverer Gesamteindruck des Möbels entstand. Die Sitzbank präsentiert sich heute mit einer Polsterung in rosa-gelb kariertem Bezug anstelle der ursprünglichen Gurtbänder. Die neue Bespannung dürfte aus Gründen des Komforts bereits in den 1930er Jahren erfolgt sein. In Abstimmung auf die Farbskala des Bezugsstoffs erhielt der ehemals rot gefasste Rahmen der Sitzfläche zudem eine rosafarbene Lackierung.

Die befreundeten und durch Heirat ihrer Kinder Judith und Florian auch verwandtschaftlich verbundenen Familien Moller und Adler tauschten untereinander Möbel aus dem Atelier von Dicker und Singer.17 So gelangten der Kleiderschrank und die Wäschekommode aus Anny Wottitz-Mollers Damenzimmer ihrer Wohnung im 9. Bezirk nicht in ihr neues Haus von Adolf Loos, sondern in die Berliner Wohnung ihrer Freundin Margit Téry-Buschmann. In der erwähnten Auflistung des Möbelherstellers Prof. Hartman & Co. findet sich ein Änderungsvermerk zu einem „Kleiderkasten Hans Moller“ und „Wäschekasten Hans Moller“ zur Adaptierung für die Wohnung Téry-Buschmann: „Handgriffe wegnehmen nur Einschnitte“18

Die Forderung des Bauhauses nach funktional gestalteten Gebrauchsgegenständen sowie eine formale Reduktion auf geometrische Grundformen wie Kubus, Kugel und Zylinder wurden in Wien bereits mit der 1903 gegründeten Wiener Werkstätte verfolgt.19 Auffällig sind

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die gestalterischen Parallelen zwischen Möbeln, die um 1900 in Wien und am Bauhaus entworfen wurden. Besonders die Reduzierung auf Grundelemente, die Halbkreisform der Lehnen sowie die gitterartig gereihten Holzstäbe und Holzlatten fallen beim Vergleich zwischen der 1925 entworfenen Sitzgarnitur für Anny WottitzMoller und Josef Hoffmanns für J. & J. Kohn entworfenen Sitzgarnituren No. 723 und No. 729 aus den Jahren 1906 und 1907 auf (Abb. S. 88).20 Wie zuvor Josef Hoffmann ließen sich auch Entwerfer*innen der nachfol genden Generation wie Josef Frank oder Oskar Strnad und eben Dicker und Singer vor allem durch die klaren, einfachen, materialbewussten und funktionellen Möbelformen des Empire und Biedermeier inspirieren. Beachtenswert erscheint in diesem Zusammenhang, dass Dicker und Singer nicht selten die in den Wohnun gen ihrer Auftraggeber*innen vorhandenen Biedermeiermöbel umarbeiten ließen und in ihre Neugestaltungen integrierten.21 So wurde etwa die Patientenliege des Psychoanalytikers Eduard Kronengold aus einem Bieder meiersofa gefertigt (WV 102).

Sitzbank, Wohnung Téry-Buschmann, um 1930, Ahorn- und Buchenholz, gebeizt und lackiert, Textilbezug, 74 × 176 × 67 cm, Löffler Collection

Fauteuil, Wohnung Téry-Buschmann, um 1930, Ahorn- und Buchenholz, gebeizt und lackiert, Gurtbespannung, 73 × 70 × 55 cm, Österreichisches Museum für angewandte Kunst, Wien

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Damenzimmer, Kunstschau 1927, BHA

Ausstellung Wiener

Raumkünstler – Vom Einzelstück

zur Typisierung

Wie die 1931 im Kölner Tageblatt publizierten Möbel zeigen und aus dem begleitenden Text „Das moderne Wohnprinzip“ hervorgeht, strebte das Atelier die Ent wicklung von Möbeltypen an. Diese seien „nicht nur für den Mittelstand, sondern auch für die Arbeiterschaft“ vorgesehen, womit eine soziale Perspektive angedeutet ist.22 Einige der später im Kölner Tageblatt abgedruckten Möbel waren bereits in der Ausstellung Wiener Raum künstler 1929/30 gezeigt worden, die sich allerdings an ein wohlhabendes Publikum richtete. Josef Frank, Oswald Haerdtl, Josef Hoffmann, Ernst Lichtblau, Alfred Soulek, Eduard Wimmer-Wisgrill und Oskar Wlach präsentier ten gediegene Einrichtungen für Speise-, Wohn-, Schlafund Musikzimmer. Einzig Ernst Lichtblau zeigte ein Beispiel für die Einrichtung der zu dieser Zeit neu auf kommenden „Einraumwohnung“. Unter Franz Singers Namen präsentierte das Atelier „Typen neuer Möbel und Beleuchtungskörper“, darunter den Schreibtisch Ti28, den „Kistenkasten“ Sch11 mit einklappbaren Fauteuils und Klapptischen, den „Schrankraum“ Li/Sch10, das

„Diwanbett“ Li11, das Klappbett Li8, den Klapptisch Ti7, den Stuhl S10, „wachsende Stühle“ (Abb. S. 89), den Schrank Sch1 sowie verschiedene Leuchten (WV 71).23 Charakteristische Merkmale der Möbel waren Klapp funktion und Stapelbarkeit, gemäß der Forderung: „Alle Räume müssen für den Tagesaufenthalt zu verwenden, müssen verwandelbar sein.“24 Parallelen bestehen vor allem zu zeitgenössischen, beim Frankfurter Stadtbauamt tätigen Entwerfer*innen wie Margarete Schütte-Lihotzky oder Anton Brenner. Ein im Ateliernachlass erhaltenes Heft der Monatsschrift Das neue Frankfurt aus dem Jahr 1927 weist auf die Auseinandersetzung mit diesen Ent würfen hin. Der Schrank Sch1 zeigt beispielsweise auf fällige Parallelen zum Kombinationsschrank von Ferdinand Kramer, der für das Frankfurter Stadtbauamt arbeitete. Die auf der Ausstellung Wiener Raumkünstler (WV D-6) präsentierten Möbel des Ateliers blieben fester Bestand teil des Möbelprogramms und wurden im Lauf der Zeit variiert und weiterentwickelt. Ähnlich wie am Bauhaus stand anfangs die Schaffung von Gebrauchsgegenständen für die Allgemeinheit im Vordergrund, allerdings wurde mit einigen wenigen Ausnahmen (Montessori-Kindergarten Goethehof, Möbelhilfe25) nur das wohlhabende Bürgertum erreicht.

Entwurfszeichnung, Änderungen am Fauteuil für Téry-Buschmann, 1929, Bleistift auf Transparentpapier, 15 × 25, AGS

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Stahlrohr- und Sperrholzmöbel –Wege zur Serienfabrikation

1926 hatte Marcel Breuer seinen Stahlclubsessel prä sentiert, der am Bauhaus die Weichen für das Aufgeben der traditionellen Tischlerei lieferte (vgl. Abb. S. 81). Das leichte und federnde Stahlrohr galt als funktional, preisgünstig und hygienisch. Bereits im Jahr darauf entwarf der Ateliermitarbeiter Bruno Pollak einen Stahl rohrsessel, der allerdings nicht bei Einrichtungen von Dicker und Singer verwendet wurde. Die Verbindung zum Atelier wird durch einen im Nachlass erhaltenen Prototyp mit einer Bespannung aus Rohrgeflecht bestätigt (Abb. S. 88). Der von Pollak patentierte Stuhl wurde zu nächst von dem Wiener Stahlmöbelhersteller Josef &  Leopold Quittner in verchromtem oder lackiertem Stahl rohr und mit einer Sitzfläche in Rohrgeflecht, Stoff bespannung oder Lattenhölzern ausgeführt und weist in seiner quadratischen Rahmenform, der auskragenden Rückenlehne, der Konstruktion aus zwei Stahlrohr elementen und dem Aufeinandertreffen der Stahlrohr enden im Fußbereich Parallelen zum B5 von Marcel Breuer aus dem Jahr 1926/27 auf. Ein entscheidender

Unterschied ist allerdings, dass Pollaks Stuhl im Gegen satz zu dem von Breuer stapelbar war. 1931 wurde eine der Ergonomie angepasste Variante des Stuhls herge stellt, die in der Mustereinrichtung im Haus von Anton Brenner in der Wiener Werkbundsiedlung gezeigt wurde, bevor sie ihren Siegeszug in Großbritannien antrat.26 Von Dicker und Singer wurden Stahlrohrmöbel dagegen erst ab 1931/32 in Wohnungseinrichtungen verwendet. Es gab zwar bereits früher Entwürfe, etwa den auf der Ausstellung Wiener Raumkünstler präsentierten „wach senden Stuhl“, der die aktuelle Entwicklung des hinter beinlosen Freischwingers aufgriff (Mart Stam hatte den ersten Stuhl dieser Art auf der Stuttgarter Werkbund ausstellung 1927 gezeigt), allerdings ist er lediglich für die Einrichtung des Kinderzimmers von Florian Adler nach weisbar (WV 71, 55). Für viele Einrichtungen wurden zunächst Stühle von Marcel Breuer und Mies van der Rohe verwendet, so im Modesalon Kriser (WV 45).

Um 1930/31 wurde der freischwingende Armlehn stuhl S1 entwickelt, der in verschiedenen Ausführungen mit einer Sitzfläche aus Drahtnetz, eingehängten dünnen Polstern oder einer Stoffbespannung ausgeführt wurde (Abb. S. 89). Etwa zur gleichen Zeit wurde der

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Josef Hoffmann, Armlehnstuhl Nr. 729/F, J & J Kohn, 1907, MAK Bruno Pollak, Stahlrohrstuhl, 1927, Stahlrohr, Rohrgeflecht, 88,4 × 51,6 × 45,5 cm, AGS

stapelbare Freischwinger S9 entwickelt, der im Fuß bereich eine charakteristische, an Bugholzmöbel erin nernde schlaufenförmige Überkreuzung aufwies, die zu einer Art Markenzeichen für Singers Entwürfe avancierte (Abb. S. 89, WV D-6). Dieses Modell, das 1935 zum Patent angemeldet wurde, gab es mit einer Bespannung aus Stoff oder Rohrgeflecht. Es folgten weitere Entwürfe, wie der 1933 entwickelte V-Stuhl, dessen Form 1936 patentiert wurde (Abb. S. 95). Für diesen Stuhl wurde zudem eine Technik entwickelt und patentiert, bei der die Einflechtung des Rohrgeflechts direkt in ein mit weicherem Material, wie Holz oder Kork, ausgefülltes Stahlrohr erfolgte. Diese Technik entsprach zwar hohen ästhetischen Maßstäben, war für eine massenweise Herstellung allerdings kompliziert und teuer. Obwohl sich bei den Stahlrohrmöbeln Typen herausbildeten, blieben sie Einzelanfertigungen, die in den Details wie Höhe und Neigung der Lehne voneinander abwichen.

Die Überkreuzung im Fußbereich wurde auch für den X-Stuhl aus Sperrholz aufgegriffen, der ab 1935/36 entwickelt wurde (WV D-8, Abb. S. 95). Breuer, der wie Singer nach London emigriert war, entwarf zu dieser Zeit Möbel aus dem gleichen Material für die Firma Isokon

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Stuhl S1, um 1930/31, BHA Armlehnstuhl S9 (Type Hériot), Prototyp, um 1932/33, Stahlrohr, Rohrgeflecht, Holz, 75 × 56 × 54 cm, AGS Stapelstühle S10, um 1930, Buche, Gurtbespannung, 72 × 48 × 38 cm, Privatbesitz

Neben gebogenem Sperrholz arbeitete er mit ausge schnittenen Sperrholzelementen, die einen kosten günstigen Produktionsprozess ermöglichen sollten. Auch Singer wandte diese Technik bei seinem X-Stuhl an, der in der Entwicklungsphase aus nur vier Teilen bestand –zwei mit einer Kreuzüberblattung verbundenen u-förmigen Rahmen, die gleichzeitig Fuß und Lehne bildeten, einem Sitz sowie einer Lehne. Die Konstruktion wurde allerdings später durch zusätzliche Elemente stabilisiert (WV D-8). Innovativ ist der Entwurf deshalb, weil alle Teile des Stuhls aus Sperrholzplatten ausgeschnitten wurden und somit eine kostengünstige Produktion gewährleistet war. Da sich Franz Singer davor scheute, Lizenzen an größere Hersteller wie die britische Grovewood Company auszugeben, wurde der Stuhl vermutlich nie in größerer Stückzahl hergestellt und es blieb bei einer kleinen Probeproduktion durch einen Wiener Tischler, der ebenfalls nach London emigriert war.

Hersteller

Für Möbel der 1920er Jahre ist die Zusammenarbeit mit der Möbelfabrik Prof. Hartman & Co. belegt. Betrei ber dieser 1922 gegründeten Firma waren Alexander Hartmann, Walter Fröhlich und Alois Koller. Hartmann war Maler, Lehrer und Redakteur der von Franz Čižek gegründeten Zeitschrift Kunst und Schule 27 Dies lässt darauf schließen, dass sich Hartmann wie Dicker und Singer im Kreis der Wiener Reformpädagogen bewegte. Die direkte Zusammenarbeit dürfte aber bereits um 1930 wieder geendet haben, da die Firma ab dem Jahr in Zeitschriftenpublikationen nicht mehr angegeben ist. Fortan wurde mit verschiedenen kleineren Wiener Tisch lereien zusammengearbeitet. Die Stahlrohrmöbel der Ausstellung Wiener Raumkünstler führte die Firma Josef & Leopold Quittner A.G. aus, die auch den Stuhl von Pollak herstellte. Da diese allerdings wenig später, nach der Fusion mit August Kitschelt A.G., ihren Betrieb einstellte, wurden kleinere Schlossereibetriebe heran gezogen, wie der Metallwarenfabrikant Josef Anton Talos der wiederum 1935 Konkurs anmeldete. Anschließend bestand eine Zusammenarbeit mit dem Schlossermeister Walter Gowal, der neue Prototypen gemeinsam mit der Mitarbeiterin Leopoldine Schrom entwickelte. Als größerer Hersteller bekundeten die Mücke-Melder-Werke in der Tschechoslowakei 1937 Interesse an der Lizenz für das Verfahren zur Einflechtung bei Stahlrohrstühlen, doch entwickelte sich aus dieser vielversprechenden Firmen verhandlung letztendlich keine Zusammenarbeit.28 Die in Amsterdam ansässige Firma Metz & Co. nahm aus zahl reichen vom Atelier vorgeschlagenen Entwürfen lediglich

zwei Tische in ihr Sortiment auf (WV D-6). Folgerichtig stellte Leopoldine Schrom rückblickend fest, dass in Bezug auf die serielle Produktion von Möbeln „der Durch bruch […] eindeutig Bruno Pollak gelungen“ sei, und nicht Franz Singer.29

Zuschreibungsfragen

Federführend beim Möbelentwurf war Franz Singer, der in technischer Hinsicht durch die Mitarbeiter*innen Hans Biel, Leopoldine Schrom, Anna Szabó und Bruno Pollak unterstützt wurde, wobei Schrom es nicht unterließ, berechtigte Kritik an Entwürfen ihres Chefs zu äußern: „[…] die Verwendung von Dreh- und Schiebebetten für die Pal[ästina]-Siedlungen […] und die ganz großen Kosten für [die] eigens dazu angefertigten Möbeln (Ein bausachen bekanntlich immer teurer als freistehende) ist für diesen Fall meiner Meinung nach unangebracht. […] Warum denn auf der ganzen Linie die Betten gscha mig verstecken?“30 (WV 157). Für Dicker lassen sich die Stoffentwürfe der frühen Möbel und die Gurtbespan nungen nachweisen. Dass sie auch am Möbelentwurf beteiligt war, ist naheliegend, sind doch die Konstruktion und der Bezug der Möbel eng aufeinander abgestimmt. Dicker richtete bereits 1925 mit ihrer Freundin Martha Hauska-Döberl ein Atelier in der Wasserburgergasse 2 ein, in dem sie zwei Webstühle aufstellte und zunächst Handtaschen im Auftrag von Singers Schwester Frieda Stoerk anfertigte. Dickers Mitarbeiterin erinnert sich in Vorbereitung der 1970 gezeigten Ausstellung Friedl Dicker, Franz Singer im Bauhaus-Archiv Darmstadt: „Er [Singer] […] kam aber fast t äglich mit meist nachts ausgedachten Plänen und Neuigkeiten, die er sowohl, d. h. zuerst mit Friedl und dann mit den anderen Mitarbeitern durchsprach; dann arbeitete jeder an seiner Wohnung. […] Die Zusammenarbeit der beiden war sehr eng, jede neue Idee des einen fand beim andern seine Fortsetzung und es ist schwer zu sagen, wie die Arbeit zwischen ihnen aufgeteilt war. Grob gesagt, hat Franz S. vielleicht das Grundkonzept gegeben und technische Lösungen gefunden und Friedl hat für die Schönheit gesorgt. Sie hat Stoffe besorgt, ausgesucht, gewebt, sie hat die Farbgebung entscheidend beeinflußt, aber auch das ging eben Hand in Hand und entwickelte sich manchmal auch in schöpferischem Streit.“31 Die durch zahlreiche Mitarbeiter*innen unterstützte Arbeit im Atelier ist demzufolge im projektbezogenen Arbeitsverbund geschehen. Die Entwürfe können als Werk eines kreativen, innovativen Teams verstanden werden. Gleichwohl ist festzuhalten, dass Franz Singer die Entwürfe stets unter seinem Namen veröffentlichte.

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Die zeichnerische Darstellung der Raum gestaltungen mithilfe isometrischer Axonometrien, die Multifunktionalit ät und die Tendenz zur Typisie rung der Möbel, die Verwendung von geometri schen Formen und Materialien wie Stahlrohr und Sperrholz sowie die Farbgestaltung weisen Dickers und Singers explizite Bezüge zum Bauhaus nach. Gleichzeitig sind dies Themen einer breiten Architekturavantgarde, mit denen sich auch das Wiener Umfeld beschäftigte. Während Josef Frank Stahlrohr als kaltes Material des Maschinenzeitalters vehement ablehnte und sich über die Platzverschwendung der Stahlrohrmöbel beschwerte, verfolgten Dicker und Singer auch für Stahlrohrmöbel die Prinzipien platzsparender und modularer Funktionen.32 Im Wien der 1920/1930er Jahre stellen ihre Entwürfe ein einzigartiges Moment dar – ihr spezifisches „Wohn prinzip“.

1 Hans Hollein: Mobili nel Museo. Exhibition in Vienna, in: Domus (1967) 448, S. 24–28.

2 Vgl. Hochschule für angewandte Kunst (Hg.): Franz Singer, Friedl Dicker. 2 x Bauhaus in Wien (Ausstellungskatalog Heiligenkreuzer hof, Hochschule für angewandte Kunst in Wien), Wien 1988.

3 Singer sollte eines der Häuser von André Lurçat einrichten. Vgl. Brief Franz Singer an den Österreichischen Werkbund, 17.12.1931, Archiv Georg Schrom (künftig AGS); Briefkorrespon denz zwischen Singer und Österreichischem Werkbund im Zeit raum 13.12.1929 bis 17.12.1931, AGS. Der stapelbare Stuhl von Dickers und Singers Mitarbeiter Bruno Pollak gehörte hingegen zur Einrichtung von Ilse Bernheimer in Haus 15 und der von Ernst Lichtblau in Haus 22 der Wiener Werkbundsiedlung. Vgl. Andreas Nierhaus, Eva-Maria Orosz (Hg.): Werkbundsiedlung Wien 1932. Ein Manifest des neuen Wohnens (Ausstellungskatalog Wien Museum), Wien 2012, S. 137, 149.

4 Vgl. Brief Franz Singer an Paul Singer, 25.4.1934, AGS.

5 Vgl. Brief Österreichischer Werkbund an Franz Singer, 9.1931, AGS.

6 Der Fotobestand zu Franz Singer im Bauhaus-Archiv Berlin umfasst nahezu 4.000 Abzüge.

7 Vgl. WV 41 in diesem Band; Katharina Hövelmann: Bauhaus in Wien? Möbeldesign, Innenraumgestaltung und Architektur der Wiener Ateliergemeinschaft von Friedl Dicker und Franz Singer, Wien 2021, S. 319–334.

8 o. A.: Frauenwelt. Die Frau und die neue Wohnung. Der Zweck der Farbe, in: Kleine Volks-Zeitung, 24.1.1931, S. 12.

9 o. A.: Das moderne Wohnprinzip: Ökonomie der Zeit, des Raumes, des Geldes und der Nerven, in: Kölner Tageblatt, 29./30.8.1931, o. S.

10 Ebd.

11 Franz Singer: Verzeichnis der von mir geleisteten Arbeiten, in: An suchen um Verleihung der Befugnis eines Architekten, 31.7.1937, OeStA/AdR HBbBuT BMfHuV Allg Reihe PTech Singer Franz Karl 8.2.1896 GZl. 71537/1937 Singer, Franz Karl, 8.2.1896, 1919–1938 (Akt (Sammelakt, Grundzl., Konvolut, Dossier, File)).

12 Im Vortrag „Der Wille zum Stil“, den van Doesburg am 3.4.1922 in Weimar hielt, zeigte er in Lichtbildern Arbeiten seiner nieder ländischen Kollegen, darunter auch den Lehnstuhl von Rietveld. Vgl. RKD Nederlands Instituut voor Kunstgeschiedenis, Den Haag, Archiv von Theo und Nelly van Doesburg, Manuskript des 1922 in Weimar gehaltenen Vortrags „Der Wille zum Stil“, Inv.-Nr. 0408-340; van Doesburg veröffentlichte diesen Vortrag. Vgl. Theo van Doesburg: Der Wille zum Stil. Neugestaltung von Leben, Kunst und Technik (Schluß), in: De Stijl (1922) 3, S. 33–41.

13 RKD Nederlands Instituut voor Kunstgeschiedenis, Den Haag, Archiv von Theo und Nelly van Doesburg, Teilnehmerlisten des „Stijl-Kursus“ März–Juli 1922, Inv.-Nr. 0408–1217.

14 Wulf Herzogenrath: Theo van Doesburg und das Bauhaus, in: Rolf Bothe u. a. (Hg.): Das frühe Bauhaus und Johannes Itten, Katalogbuch anlässlich des 75. Gründungsjubiläums des Staatli chen Bauhauses in Weimar (Ausstellungskatalog Kunstsammlun gen zu Weimar, Bauhaus-Archiv/Museum für Gestaltung Berlin, Kunstmuseum Bern), Ostfildern-Ruit 1994, S. 114.

15 Vgl. Magdalena Droste: Anpassung und Eigensinn. Die Weberei werkstatt des Bauhauses, in: Das Bauhaus webt (Ausstellungs katalog Bauhaus-Archiv Berlin u. a.), Berlin 1998, S. 11–20, hier S. 12.

16 Liste Prof. Hartmann & Co., um 1929, AGS.

17 Die Adaptierung von Möbeln ist auch für andere Projekte belegt, siehe WV 17 und WV 68 in diesem Band.

18 Liste Prof. Hartmann & Co., um 1929, AGS.

19 Vgl. Rainer K. Wick: Die Wiener Kunstgewerbeschule und die Wiener Werkstätte – Ein Bauhaus vor dem Bauhaus?, in: Josef Linschinger (Hg.): Perspektiven neuer Kunst, Gmunden 1994, S. 7–27, hier S. 22.

20 Weitere Beispiele siehe: Hövelmann 2021 (wie Anm. 7), S. 210–216.

21 Siehe dazu: o. A.: New furniture for old, in: The Evening Standard, 1.3.1934, S. 24.

22 o. A.: Das moderne Wohnprinzip 1931 (wie Anm. 9).

23 Genauere Beschreibungen der Möbel siehe: Hövelmann 2021 (wie Anm. 7), S. 221–227.

24 o. A.: Das moderne Wohnprinzip 1931 (wie Anm. 9).

25 Siehe dazu den Beitrag von Eva-Maria Orosz in diesem Band.

26 1934 erwarb die britische Firma Practical Equipment Ltd. (PEL) das Patent, um den Stuhl zu produzieren. Siehe: Dennis Sharp u. a.: Pel and Tubular Steel Furniture of the Thirties, London 1977, S. 24–25.

27 Ernst Bruckmüller (Hg.): Österreich-Lexikon, Bd.1, Wien 2004, S. 225, Stichwort: Čižek, Franz.

28 Vgl. Hövelmann 2021 (wie Anm. 7), S. 252–253.

29 Brief Leopoldine Schrom an Anna Szabó, 2.3.1972, AGS. Seit 2020 ist Pollaks Stuhl in einer Re-Edition von Jasper Morrison beim Möbel-Label TYP wieder erhältlich.

30 Brief Leopoldine Schrom an Friedl Dicker, 4.3.1935, AGS.

31 Brief Martha Hauska-Döberl an Margit Téry-Buschmann, 14.9.1969, in: Bauhaus-Archiv Berlin, Ordner Dicker/Singer Ausstellung 1970.

32 Vgl. Josef Frank: Rum och inredning, Form (1934) 10, S. 217–225. Übersetzung ins Deutsche: Tano Bojankin; Christopher Long, Iris Meder (Hg.): Josef Frank. Schriften, Bd. 2, Veröffentlichte Schriften von 1931 bis 1965, Wien 2012, S. 388–305, hier: S. 302.

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