Im Schatten Im Schatten von Bambi von Bambi Felix Salten entdeckt Felix Salten die Wiener entdeckt Moderne die Wiener Moderne Leben und Werk
Leben und Werk
Herausgegeben von Marcel Herausgegeben Atze von Marcel Atze unter Mitarbeit von Tanja unter Gausterer Mitarbeit von Tanja Gausterer Residenz Verlag
Residenz Verlag
Im Schatten von Bambi
Im Schatten von Bambi Felix Salten entdeckt die Wiener Moderne Leben und Werk Herausgegeben von Marcel Atze unter Mitarbeit von Tanja Gausterer Residenz Verlag
Eine Veröffentlichung der Wienbibliothek im Rathaus Mit 333 Abbildungen
Covermotiv von Olaf Osten unter Verwendung eines Fotoporträts von Felix Salten (Pötzleinsdorf 1904). Gestaltung Vorsatz/Nachsatz unter Verwendung der Bambi-Ausgaben aus der Bibliothek Felix Salten. Wienbibliothek im Rathaus, Druckschriftensammlung.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. www.residenzverlag.com
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© 2020 Wienbibliothek im Rathaus / bei den Autorinnen und Autoren / Residenz Verlag Salzburg – Wien Alle Rechte, insbesondere das des auszugsweisen Abdrucks und das der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten.
Gestaltung, Satz und Cover: Perndl+Co / Gerhard Bauer, Barbara Jaumann Fotoarbeiten: Gerhard Bauer Gesamtherstellung: Graspo
ISBN 978-3-7017-3520-4
Inhalt
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2. NETZWERKE
Vorwort Anita Eichinger, Sylvia Mattl-Wurm
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Vorwort Matti Bunzl
130
Die gestohlene Wiener Moderne Felix Salten und Hermann Bahr Kurt Ifkovits
1. BIOGRAPHIE 12
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»Erwarte das Schlimmste für mich«
144
Felix Salten und Hugo von Hofmannsthal Katja Kaluga
Felix Saltens Jahr
»Und waschen Sie mir den Kopf ordentlich!«
im nationalsozialistischen Wien. Ein Prolog
Felix Salten und Karl Kraus
Marcel Atze
Katharina Prager
»Das Liebhaben ist doch das Schwerste und Schönste im Leben«
162
184
Kyra Waldner
76
Gerhard Hubmann
Ein alter Mensch auf neuer Erde?
»… und nochmals schönen Dank für alles Liebe in diesem Sommer«
Felix Salten in Palästina
Felix Salten und das Verlegerehepaar
Dieter Hecht
Hedwig und Samuel Fischer
206
Marcel Atze
»Blutgeschehnisse« Felix Salten und der Erste Weltkrieg
226
Marcel Atze 102
»Menschen, die einmal beinahe Freunde waren« Felix Salten und Arthur Schnitzler
Felix Salten privat
62
»Schreiben Sie, Augenscharf!«
Felix Salten und sein Verleger Paul Zsolnay
»Toleranzsache« Felix Salten im Züricher Exil Marcel Atze
»Ich stelle Deine Interessen immer über Alles« Murray G. Hall
242
Gang nach Ragusa Felix Saltens PEN Club-Präsidentschaft Heinz Lunzer, Victoria Lunzer-Talos
3. BERUF / WERK 260
4. FELIX SALTEN UND DIE KÜNSTE
»Unser aller Feldmarschall mit der Feder« Felix Saltens halbes Jahrhundert als Journalist
376
Marcel Atze 290
Dichter Raum
Felix Salten und das Theater
Zu Felix Saltens früher Novellistik
Marcel Atze, Gerhard Hubmann
Konstanze Fliedl 300
Der größte Durchfall seines Lebens Felix Salten und das »Jung-Wiener Theater
Felix Saltens literarische Beiträge zu den
Zum lieben Augustin«
Moderne-Diskursen der 1920er-Jahre
Iris Fink 410
Dreierlei Musikalisches
Bambi & Co.
Adele Strauss, Franz Lehár, Wladimir Metzl
Saltens Tierbücher als Dokumente
Thomas Aigner
der Zeitgenossenschaft Daniela Strigl 346
398
»Kodak-Augen«
Evelyne Polt-Heinzl 318
»Der schwärmerischste, zärtlichste, unermüdlichste Liebhaber, den ich kenne«
434
»Superbe Dinge, köstliche Raffinements, hochstehende Experimente«
Ein recht negatives Ergebnis
Felix Salten und die bildende Kunst seiner Zeit
Die Erben Felix Saltens und der Rechtsstreit
Ursula Storch
um »Josefine Mutzenbacher« Murray G. Hall
454
»Beglücktheit des Auges« Felix Salten und das Kino
360
Albertine
Werner Michael Schwarz
Eine pornographische Novelle von Felix Salten Gerhard Hubmann
466
Impressum zur Ausstellung
467
Verzeichnis der ausgestellten Objekte
485
Abbildungsnachweis
486
Verzeichnis der Beiträgerinnen und Beiträger
487
Danksagung
488
Personenregister
Vorwort Anita Eichinger, Sylvia Mattl-Wurm, Wienbibliothek im Rathaus
»Felix Salten, der gerade damals mit seiner ungestümen Energie in diese Welt einbrach und alles an sich riß, Arbeit, Menschen, Bücher, um es nicht wieder loszulassen, lernend und ergiebig zugleich, immer wie zum Boxkampf mit dem Leben bereit und immer stark genug, es in die Knie zu brechen«. Was der zeitgenössische Autor Richard Specht im Jahr 1922 über Salten als Teil Jung-Wiens rund um Hermann Bahr, Richard Beer-Hofmann, Hugo von Hofmannsthal und Arthur Schnitzler behauptete, darf wohl für das ganze Leben Felix Saltens gelten. Er war ein umtriebiger und vielseitiger Mensch, der mit viel Energie und Verve in verschiedensten Wirkungsbereichen aktiv war – als Buch- und Theaterautor, Journalist, Literatur- und Theaterkritiker, (rasch gescheiterter) Theatergründer, aber auch als Funktionär und Netzwerker, Tierschützer und passionierter Jäger oder als ›Frauenheld‹ und Familienmensch. Nach dem Festauftakt 2019 an der Wienbibliothek im Rathaus mit dem Symposion anlässlich seines 150. Geburtstages soll Salten nun im Jahr seines 75. Todestages mit der Ausstellung »Im Schatten von Bambi« in Kooperation mit dem Wien Museum und dem vorliegenden Begleitband gewürdigt und in möglichst vielen Facetten gezeigt werden. Anlass und Grundlage für diese intensive Beschäftigung war der Ankauf des Nachlasses in den Jahren 2015 und 2018 durch die Wienbibliothek. Dieser letzte nicht in öffentlicher Hand stehende Bestand eines ›JungWieners‹ hatte über Jahrzehnte national wie international das Interesse von nachlasswahrenden Institutionen geweckt. Nach den verdienstvollen Vorarbeiten von Siegfried Mattl und Werner Michael Schwarz, die den Bestand bei den Erben in Zürich in Vorbereitung ihrer Ausstellung »Felix Salten. Schriftsteller – Journalist – Exilant« im Jüdischen Museum (Wien, 2007) und der gleichnamigen Publikation eingehend studierten, konnte die Wienbibliothek – über die Vermittlung von Eva Koralnik, wofür ihr explizit gedankt sei – den Kontakt zur Familie herstellen. Für das Gelingen der Erwerbung dürfen wir den Erben aufs Herzlichste danken – stellvertretend sei hier besonders Lea Wyler genannt, die den Nachlass in Zürich bis dahin verwahrt und betreut hat und dem Team der Wienbibliothek von der Übernahme bis hin zum vorliegenden Ergebnis hilfreich zur Seite stand. Von größter Bedeutung ist die beeindruckende Briefsammlung, in der neben den ›Jung-Wiener‹-Autoren viele namhafte Zeitgenossinnen und Zeitgenossen Saltens wie Peter Altenberg, Max Brod, Karl Kraus, Heinrich und Thomas Mann, Berta Zuckerkandl oder Stefan Zweig vertreten sind. Hervorzuheben ist zudem die ebenfalls erworbene Bibliothek aus Saltens Besitz mit über 2.300 Büchern, die
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zahlreiche unikale Arbeits- und Handexemplare wie auch eine Vielzahl von Widmungsexemplaren enthält. Trotz seines Umfangs hat man es bei dem erhaltenen Bestand aber mit einer Schwundstufe zu tun. Salten musste in den Wochen vor seiner Flucht nach Zürich, die im März 1939 gelang, wertvolle Gegenstände, darunter viele Bücher, verkaufen und verbrannte unzählige Briefe und Manuskripte. In dem einleitenden Beitrag des Herausgebers Marcel Atze ist dieses traurige Vernichtungswerk eindrücklich nachgezeichnet. An dieser Stelle sei betont, dass sich im ganzen Nachlass keine einzige beweisführende Spur zur vermeintlichen Autorschaft der »Josefine Mutzenbacher« (1906), der »Geschichte einer Wienerischen Dirne«, finden ließ. Trotzdem wartet der Band auf einschlägigem Gebiet mit einer Überraschung auf: Unter den zahlreichen losen Papieren und Manuskriptfragmenten konnten acht Blatt zu einer kompletten pornographischen Novelle zusammengefügt werden, die bisher unbekannt war. Sie wird unter dem Titel »Albertine« hier erstmals präsentiert. Unser Dank gilt Gerhard Hubmann, nicht nur für seine Findigkeit, sondern auch dafür, dass er das stellenweise überaus schwierig zu entziffernde Manuskript als bewährter Editor in eine kontextualisierte Lesefassung gebracht hat. Das gesamte Projekt hätte freilich nicht gelingen können ohne die großartige Zusammenarbeit mit dem Wien Museum: Die letzten Monate seit Beginn der Corona-Krise waren für die Wienbibliothek genauso wie für unseren Kooperationspartner eine Herausforderung im Hinblick auf die Koordinierung von Terminen, Zeit- und Personalressourcen etc. Wir möchten allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Wien Museums, allen voran Direktor Matti Bunzl, unseren herzlichsten Dank dafür aussprechen, dass allen Widrigkeiten zum Trotz dieses beeindruckende Ergebnis zustande kommen konnte. Hervorgehoben seien die Verdienste von Isabelle Exinger-Lang (Produktion) und Laura Tomicek (Registrar) sowie jene von Christian Sturminger (Architektur) und Olaf Osten (Grafik) für die einfühlsame Gestaltung der Ausstellung. Unser besonderer Dank gilt der Kuratorin Ursula Storch, deren unermüdlichem Engagement diese Ausstellung zu verdanken ist. Für die Entstehung des vorliegenden ungemein materialbasierten und inhaltsreichen Bandes sei Marcel Atze, dem Leiter unserer Handschriftensammlung, gedankt, der den ›Akt Felix Salten‹ für die Wienbibliothek mit großer Begeisterung gefüllt und begleitet hat. Tribut gezollt werden muss Tanja Gausterer, die sowohl bei der Herausgeberschaft als auch bei der Ausstellung eine tragende Rolle spielte. Ein so umfassendes Projekt ist nicht realisierbar ohne die kompetente Unterstützung vieler weiterer Personen: Gedankt sei Reinhard Buchberger, Franz J. Gangelmayer und Kyra Waldner, Alexandra Egger, Nicole Hebenstreit und Liv Wanek sowie allen anderen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Wienbibliothek, die das Gelingen des Projektes tatkräftig unterstützt haben. Hervorzuheben ist auch der »Verein der Freunde der Wienbibliothek«, der den Ankauf weiterer Widmungsexemplare aus Saltens Besitz ermöglicht hat. Unser Dank gilt darüber hinaus allen Beiträgerinnen und Beiträgern, die für die vorliegende Publikation so profunde und spannende Aufsätze verfassten. Und abschließend sei die bewährt professionelle grafische Buchgestaltung durch Barbara Jaumann und Gerhard Bauer (Perndl+Co) gewürdigt.
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Vorwort Matti Bunzl, Wien Museum
»If a tree falls in a forest and no one is around to hear it, does it make a sound?« Das im anglo-amerikanischen Raum so beliebte philosophische Denkexperiment, zumeist auf George Berkeley zurückgeführt, bringt die vorliegende Ausstellung zu Felix Salten auf den Punkt. Die Wiener Moderne existierte in der Form loser, überlappender Netzwerke, deren Protagonisten und Protagonistinnen sich in vielerlei kulturellen Tätigkeiten versuchten. Im Nachhinein wirken sie wie eine geballte Macht, die sich in paradigmen-brechender Weise vom Historismus löste, um eine psychologische Kultur des absolut Heutigen zu schaffen. So jedenfalls lautet die gleichermaßen imposante wie überzeugende These Carl Schorskes, dessen monumentales Buch »Wien: Geist und Gesellschaft im Fin de Siècle« auch vierzig Jahre nach seiner Publikation nichts von seiner Relevanz eingebüßt hat. Und doch fehlt eine ganz zentrale Dimension in Schorskes Darstellung. Zwar verortet er bedeutende Figuren wie Hofmannsthal, Klimt oder Schnitzler an ihrer kulturhistorischen Schnittstelle. Wie ihre Arbeiten zu Schlüsselwerken wurden, ist in seiner Analyse jedoch vollkommen ausgespart. Selbstverständlich sind solche Prozesse nämlich in keiner Weise. Warum sollten aus der unendlich breiten künstlerischen und literarischen Produktion in einer bestimmten Stadt, zu einer bestimmten Zeit gerade diese und nicht jene Positionen kanonisch werden? Welche Attribute wurden den jeweiligen ›Siegern‹ des kulturellen Felds zugeschrieben? Welche Innovationen waren demnach wichtiger als andere? Und wem fiel es zu, diese Urteile zu sprechen? Felix Salten war eine wichtige, ja vielleicht sogar die wichtigste Person in der Erfindung der Wiener Moderne. Er selbst war natürlich Mitglied der Jung-Wien Gruppe und Autor einer Reihe von Texten, die für das literarische Schaffen der Jahrhundertwende durchaus repräsentativ sind. Und wie all seine Kollegen pflegte auch er enge Kontakte zu Künstlern und Künstlerinnen jenseits der Literatur. Was ihn jedoch unterschied, war seine rege, rührige, ja unermüdliche Tätigkeit als Kritiker. Zu einem Gutteil waren diese Aktivitäten dem Umstand geschuldet, dass Salten von seinem Schreiben leben musste. Eine massenhafte Produktion – das genaue Gegenteil seines Freundes Richard Beer-Hofmann zum Beispiel – war die Folge. Der Verkauf literarischer Werke an Zeitungen, Zeitschriften und Verlage war dabei jedoch nur sehr bedingt lebenserhaltend. Als Kritiker war ein Auskommen in dieser Blütezeit des Feuilletons aber möglich. Und Salten war ein absoluter Meister –
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nicht nur der präzisen Phrasen, sondern auch der Fähigkeit, druckreife Texte in erstaunlicher Quantität in Höchstgeschwindigkeit abzuliefern. Das daraus resultierende Corpus ist enorm. Das gilt auch für seinen Einfluss. Als Kritiker sah sich Salten eindeutig im Dienst der neuen Kunst. Von den Werken seiner Jung-Wiener Kollegen bis zur Malerei im Umfeld der Secession – Salten war ihr Verfechter: Beschreibung wurde Wahrnehmung, Würdigung und die Basis historischer Relevanz. In diesem Sinn war Salten um nichts weniger wichtig als die Heroen selber. Erst im Spiegelbild des Kritikers wurde aus ihren Texten moderne Literatur, aus ihren Gemälden moderne Kunst. Natürlich verdanken Hofmannsthal, Klimt oder Schnitzler ihren Weltruhm nicht Felix Salten. Aber, um auf George Berkeley zurückzukommen: Das Neue in ihren Werken zu lesen und zu sehen, war keine Selbstverständlichkeit. Ganz im Gegenteil. Es bedurfte kultureller Neugier und historischen Bewusstseins – und einer schier nie endenden Energie, die Begeisterung für die kulturelle Produktion der Zeit in immer neuen Beiträgen zu reflektieren. Der ständige Verweis auf »Bambi« – wie auch die mittlerweile müßige Diskussion zur Autorschaft der »Mutzenbacher« – greifen daher zu kurz. Felix Salten war wesentlich mehr: ein, vielleicht der Entdecker der Wiener Moderne. Die vorliegende Ausstellung ist in wunderbarer Gemeinschaftsarbeit des Wien Museums mit der Wienbibliothek im Rathaus entstanden. Auf Basis des Nachlasses von Felix Salten und auf der Pionierarbeit von Siegfried Mattl, Sylvia Mattl-Wurm und Werner Michael Schwarz aufbauend, bieten Marcel Atze, Leiter der Handschriftensammlung der Wienbibliothek, und Ursula Storch, Kuratorin und Vizedirektorin des Wien Museums, einen ganz neuen Salten, vollkommen jenseits der gängigen Klischees rehäugiger Prostitution. Sie zeigen uns einen Kritiker und Kulturmacher ersten Ranges, dessen wahre Bedeutung sich erst in unserem Jahrhundert wirklich zu erschließen beginnt. Neben den oben genannten gilt mein großer Dank der Direktorin der Wienbibliothek, Anita Eichinger, die das mit ihrer Vorgängerin Sylvia Mattl-Wurm vereinbarte Projekt mit großer Begeisterung und enormer Kollegialität vorantrug. Eine weitere wichtige Partnerin war Lea Wyler, Enkelin von Felix Salten, die es uns ermöglichte, faszinierende Objekte zu ihrem Großvater zu zeigen. Großer Dank auch an das weitere Team der Ausstellung: Christian Sturminger für die elegante Ausstellungsgestaltung, Olaf Osten für die kongeniale grafische Gestaltung, Vincent Elias Weisl und Tanja Gausterer für wissenschaftliche Mitarbeit, Isabelle Exinger-Lang für die Ausstellungsproduktion, Laura Tomicek für die Abwicklung des Leihverkehrs, unseren Restaurierungswerkstätten sowie der Abteilung Interne Services für den Aufbau und der Abteilung Marketing und Presse für die kontinuierliche Begleitung des Projekts.
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1. BIOGRAPHIE
»Erwarte das Schlimmste für mich« Felix Saltens Jahr im nationalsozialistischen Wien. Ein Prolog
Marcel Atze
»Wie schön, diesen Tag bei Toni voll Ruhe zu verbringen. Wir können das nicht dankbar genug empfinden! Bleib gesund, mein Haserl.«1 Diese Worte, die Felix Salten seiner Tochter Anna Katharina in die Schweiz schickte, finden sich auf einer Ansichtskarte vom 13. März 1938. Der Ausflug, der das Ehepaar Salten zu Freunden aufs Land geführt hat, war wohl mehr als nur sonntägliche Zerstreuung. Im Kalender hält Salten für denselben Tag fest: »Fahrt nach Bisamberg / Radio: Hitler in Linz! / Ratlosigkeit komplett«.2 So ruhig wird es also auch bei seinem Gastgeber nicht zugegangen sein, schließlich lässt die Notiz vermuten, dass das Rundfunkgerät auf Empfang gestellt war, um auf dem Laufenden zu bleiben. Sich vor den Zeitläuften ins Grüne zu flüchten, war erfolglos, da das Eindringen Hitlers in Österreich und sein Durchmarsch nach Wien zur Nonstop-Reportage enthusiasmierter Radiosprecher wurde, schließlich sollten alle Hörer stets im Bilde sein. Die Endlosbeschallung mit den Ereignissen, die der »Anschluss« mit sich brachte, wird Saltens Begeisterung für das noch junge Medium gedämpft haben, auch wenn sich seine 1925 in dem Feuilleton »Moderne Wunder« geäußerte Prognose an diesem Sonntag bewahrheiten sollte: »Das Radio wird niemals dagewesene Umwälzungen bewirken und im Tempo der Menschheit eine Beschleunigung herbeiführen, die wir heute nur ahnen können, die auszudenken jedoch uns den Kopf wirbeln macht.«3 Vor dem Hintergrund des Schlagabtauschs, den sich Kurt Schuschnigg und Adolf Hitler seit Beginn des Jahres 1938 im Äther lieferten, lohnt es, länger bei Saltens optimistischer Vision vom Radio als einem demokratischen Medium zu verbleiben. »Man wird einander nahe sein, ganz nahe«, schreibt er im Zeitungsessay. »Man wird einander hören, wird einander durch Radio sogar sehen, und es wird nicht Tage, nicht Wochen mehr brauchen, sondern Minuten, um Mißverständnisse zu beseitigen, Spannungen zu entfiebern.« Er versteigt sich gar zu der Behauptung, dass der Menschheit »der grauenhafte Weltkrieg mit allen seinen Folgen erspart geblieben wäre, wenn es damals schon das Radio gegeben hätte«.4 Die beiden Protagonisten, die den Rundfunk nun aber für die Expansionspläne bzw. für die Verteidigung der staatlichen Souveränität instrumentalisierten, konterkarierten Saltens einstige Hoffnungen. Dabei war er selbst Ohrenzeuge, wie am 20. Februar 1938, für den er im Taschenkalender festhält: »Hitler-Rede von ½ 2
1 Hitlers Autokorso durch Linz, 13. März 1938. Foto: Weltbild, Wien. WBR, Dokumentation, TF-999137. 2, 3 Beide Kontrahenten warben mit ihrem Angesicht: Hitler (WBR, PS, P-149) und Schuschnigg (WBR, PS, P-100).
bis 4 / Sorge arg gesteigert«. In dieser erstmals komplett vom österreichischen Rundfunk übertragenen Reichstagsrede sprach Hitler von jenen Deutschen, die außerhalb der deutschen Grenzen leben, womit die Österreicher und die Sudetendeutschen gemeint waren. Der Gegenspieler reagierte vier Tage später mit einem eigenen vom Rundfunk übertragenen dramatischen Auftritt, der mit der Parole »Bis in den Tod: Rot-Weiß-Rot!« endete. Wieder saß Salten vor dem Apparat: »SchuschniggRede!« Ob das von Salten gesetzte Rufzeichen die Hoffnung widerspiegelt, alles werde sich zum Guten wenden? Womöglich keimte diese auch beim nächsten Radioerlebnis nochmals auf, denn am 9. März 1938 notiert er: »Innsbrucker Rede Schuschniggs, dafür / Sonntag Volksabstimmung anberaumt«. Doch der weitere Verlauf der Ereignisse ist bekannt. Im Taschenkalender heißt es am 11. März 1938:
1 Felix Salten [u.a.] an Anna Katharina Salten, Postkarte vom 13.03.1938. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 11, 2.3.3.5.10. 2 Felix Salten: Taschenkalender 1938. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 16, 3.10.7. Wird in der Folge nur mehr unter dem Datum im Text nachgewiesen.
blieb aussichtslos – und Saltens abschließende Bemerkung seines Feuilletons
3 Felix Salten: Moderne Wunder. In: Neue Freie Presse, Nr. 21660 vom 01.01.1925, S. 1–3, hier S. 2.
wurde von Hitler gründlich zerstört: »So dürfen wir im Radio ein neues, gewaltiges
4 Ebd., S. 3.
»Hitler Herr in Österreich«. Die Strategie der Landesverteidigung per Radiowellen
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Mittel erblicken, die Annäherung der Völker zu fördern und den Ausbruch blutiger
5 Ebd.
Kriege hindern zu helfen.«5 Im Übrigen gab es schon zeitgenössische Leser, die
6 Adolf Dubsky an Felix Salten, Brief vom 03.01.19[25]. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 6, 2.1.120. Hervorhebung im Original.
kurz nach Erscheinen des Beitrags in der »Neuen Freien Presse« nicht gezögert hatten, Saltens These vehementer Kritik zu unterziehen. Zu ihnen gehörte mit Adolf Dubsky (1874–1937) auch der Halbbruder Marie von Ebner-Eschenbachs: »Würden wir soweit kommen – warum nicht – dass der verantwortliche Leiter des einen Staates mit dem des anderen auf radio-photographischem Wege unabhängig von der tatsächlichen Entfernung verkehren und sprechen könnte, dann stünden wir eben vor lauter Fortschritten wieder am Ende des Kreislaufs: die respectiven Herren wären in der angenehmen Lage sich die Kriegserklärungen gegenseitig ohne Vermittlung eines Dritten bekanntzugeben – wenn das ihre Absicht oder jene des Staates ist, den sie vertreten. Das Märchen, irgend eine Technik könne einen Krieg verhindern, kann doch von Niemandem ernstlich geglaubt werden.«6
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4 Doppelseite aus Saltens Taschenkalender: »Hitler in Wien« [15. März 1938]. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 16, 3.10.7.
Bis zum Kriegsausbruch sollte es zwar noch dauern, aber Felix Salten mutierte von nun an sehr rasch vom Ohren- zum Augenzeugen, vom Beobachter zum Beobachteten, schlicht zum unmittelbar Betroffenen. Aus seinen Notizen erfährt man, wie schnell die Einschläge näher kamen. Am 14. März 1938 heißt es: »Anschluß vollzogen! Miklas zurückgetreten / Schmitz verhaftet u. Zernatto u. Stockinger i. d. / Czechoslowakei«. Darunter: »38,0° Fieber«. Tags darauf liest man: »Hitler in Wien / Autos u. Geld von Juden requiriert«. Sein Fieber war auf 39° gestiegen. Am 16. März hält er fest: »Die internationale Unwichtigkeit Wiens / Grosse Parade / Man holt jüd. Frauen ohne Unterschied des Alters zum / Strassenwaschen. Von 11–2 h nachts.« Am 17. März listet er bereits einige der geflohenen Bekannten namentlich auf und vermerkt noch voller Schrecken: »Korngolds Haus beschlagnahmt« – dieses befand sich in der Sternwartestraße 35 und damit nur wenige Gehminuten entfernt von Saltens Refugium in der Cottagegasse 37. Am 19. März heißt es: »wieder hohe Temperatur«. Aber inzwischen ist nicht nur Saltens Gesundheit angeschlagen. »Otti collabiert. Coffein-Injection«, kommentiert er am 21. März das Befinden seiner Frau. Viel Schlimmeres aber lässt Saltens Zusatz in der nächsten
5 Taschenkalender, Eintrag vom 21. März 1938.
Zeile befürchten: »Gestapo erkundigt sich nach Penclub-Präsidenten«. Wer Salten diesen Tipp gegeben hat, ist nicht bekannt. Fest steht, dass der österreichische PEN von den Nationalsozialisten aufgelöst sowie Vermögen und Archiv beschlagnahmt wurden. Obwohl man aus diesem Material durchaus hätte herauslesen können, dass Salten in seiner Zeit als Präsident des PEN-Clubs (1927– 1933) keine Berührungsängste weltanschaulicher Art gehabt und sogar Wladimir Majakowski nach Wien eingeladen hatte,7 scheint es doch wenig wahrscheinlich, dass sich die Besatzer für seine Zeit als PEN-Vorsitzender interessiert haben. Schließlich lag Saltens wenig ruhmreicher Auftritt beim XI. Internationalen PENKongress in Ragusa einige Jahre zurück, zudem hatte er sich der sogenannten antideutschen Resolution vom 28. Juni 1933 nicht angeschlossen, deren Unterzeichner in der Tat bedroht waren.8 Die große Furcht Saltens, für seine frühere Tätigkeit beim PEN belangt zu werden, lässt sich auch an einem Fragebogen der »Staatlich genehmigten Gesellschaft der Autoren, Komponisten und Musikverleger« (AKM) erkennen, der ihm am 11. April 1938 zugegangen war. Dort lautete seine Antwort auf die Frage, ob er sich »während der Systemzeit aktiv gegen die nationale Idee« gewandt habe, wie folgt: »niemals! Habe im Juni 33, als der Penclub die Resolution gegen Deutschland beschloss, meine Ehrenpräsidentschaft niedergelegt und den Penclub verlassen«.9 Salten scheint dabei vergessen zu haben, dass nicht nur sein Engagement beim PEN einiges Problempotential besaß. Denn er gehörte auch dem Schutzverband Deutscher Schriftsteller in Österreich (SDSOe) an, dessen Gründungspräsident 1923 Hugo von Hofmannsthal gewesen war. Und tatsächlich geriet Salten in seiner Eigenschaft als Mitglied des SDSOe in den Fokus des Sicherheitsdienstes. Sofort nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Österreich wurde deutlich, dass die Besatzer schon seit Jahren Informationen über potentielle Widersacher gesammelt hatten.10 Zur nunmehr unter Hochdruck beginnenden nachrichtendienstlichen Tätigkeit der Nationalsozialisten zählte die Gründung diverser Sonderkommandos unter dem Dach des SD-Hauptamts, die unter der Bezeichnung »Österreich-
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7 Vgl. den Beitrag von Heinz Lunzer und Victoria Lunzer-Talos in diesem Band. 8 Vgl. Klaus Amann: Der österreichische PEN-Club in den Jahren 1923–1955. In: Handbuch PEN. Geschichte und Gegenwart der deutschsprachigen Zentren. Hg. von Dorothée Bores und Sven Hanuschek. Berlin, Boston: De Gruyter 2014, S. 481–532, hier S. 492. 9 Zit. nach Gabriele Maria Reinharter: Felix Salten. Schriftsteller. Der österreichische Schriftsteller Felix Salten im Schweizer Exil. Materialien zu seiner Biographie von 1939–1945. Dipl.-Arb. Universität Graz 1992, S. 37f. Hervorhebungen im Original. 10 Vgl. Gabriele Anderl: Flucht und Vertreibung 1938–1945. In: Auswanderungen aus Österreich. Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. Hg. von Traude Horvath, Gerda Neyer. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 1996, S. 235–275, hier S. 235.
Auswertungskommando« sogenannte Gegnerforschung betrieben. Man verhaftete gezielt Funktionäre und Angehörige jüdischer Organisationen oder von Freimaurerlogen, aber auch von kirchlichen Einrichtungen sowie von pazifistischen Gruppen bis hin zu Verbänden, die angeblich mit Emigranten in Verbindung standen. Zudem plünderte man deren Archive, Registraturen und Bibliotheken. Die oftmals reiche Beute wurde nach Berlin zur schnellen Auswertung verbracht. Das Sonderkommando II 122 etwa war für die Auflösung der Österreichischen Völkerbundliga verantwortlich, es forschte aber auch den Schutzverband Deutscher Schriftsteller in Österreich aus. In einem Bericht vom 5. April 1938, nach der »Sichtung des beschlagnahmten Materials« verfasst, wird auch »Felix Salten« gelistet, als eines der Mitglieder nämlich, die »politisch als keineswegs einwandfrei zu bezeichnen sind (die meisten sind Juden)«. Zudem, so heißt es in dem Papier, erscheinen die »meisten der oben aufgeführten Namen […] mehr oder weniger regelmässig in den Emigrantenzeitungen«. Das Gros des belastenden Materials stammte aus der Wohnung des Ersten Vorsitzenden des SDSOe, den man darüber hinaus auch einer »Vernehmung« unterzog: Oskar Maurus Fontana (1889–1969). Er bestritt die Vorwürfe, mit »reinen Emigrantenorganisationen« zusammengearbeitet zu haben, und wurde nicht inhaftiert, sondern nach seiner Einvernahme auf freien Fuß gesetzt.11 Fontana hat Salten womöglich den Wink gegeben, für die »Gestapo« interessant zu sein. Daher könnte auch die titelgebende Notiz Saltens vom 26. März 1938 rühren: »Erwarte das Schlimmste für mich!!« Fünf Tage später setzte er sich an sein Testament. Mit Emigranten in Verbindung zu stehen oder für deren Verlage und publizistische Organe tätig gewesen zu sein, konnte dem Einzelnen unter den neuen Herrschern Österreichs teuer zu stehen kommen. Nachdem Salten sich beim erwähnten PEN-Kongress in Ragusa noch nicht gegen die Bücherverbrennung im Deutschen Reich vom 10. Mai 1933 hatte äußern wollen, tat er dies knapp vier Wochen später indirekt doch, indem er die Einladung zur Mitarbeit an einer Anthologie jüdischer Autoren deutscher Sprache annahm. Der nach Paris geflohene Hermann Kesten (1900–1996) nämlich baute gemeinsam mit Walter Landauer eine deutsche Abteilung beim niederländischen Verlag Allert de Lange auf. »Ich bitte Sie«, schrieb Kesten am 14. Juni 1933, »mir mitteilen zu wollen, ob Ihnen der Plan sympathisch ist und wir auf Sie rechnen dürfen. Ich hoffe keine Fehlbitte zu tun. Ich darf Sie versichern, wie ausserordentlich viel dem Verlage und mir daran liegt, gerade von Ihnen eine Arbeit zu erhalten. Dieses Buch soll durch nichts anderes wirken als durch die dichterische Qualität seiner Beiträge.«12 Vor allem aber war der Band des berühmten Emigrantenverlags ein Statement gegen die NS-Literaturpolitik, denn die Werke der vertretenen Dichter waren am 10. Mai 1933 auf den Scheiterhaufen der Nazis gelandet. Allerdings mit Ausnahme jener von Felix Salten, die sich ab Herbst 1935 auf der ersten offiziellen Verbotsliste finden sollten.13 Trotzdem zeigte er sich durch sein Mittun solidarisch. Die Erzählung »Mako, der junge Bär« steht im Alphabet der Beiträger zwischen dem »Stationschef Fallmerayer« von Joseph Roth und Ernst Tollers »Freunde«.14 Dieses Engagement Saltens dürfte den einschlägigen NS-Behörden genausowenig entgangen sein wie seine sporadische Mitarbeit für die »Pariser Tageszeitung« unter Chefredakteur Georg Bernhard (1875–1944), den er noch aus alten Tagen bei Ullstein in Berlin gekannt haben dürfte.
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11 Vgl. BArch R 58/9836, ÖsterreichAuswertungskommando, Bl. 85–89. Für die Recherche danke ich Michael Schelter vom Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde. 12 Hermann Kesten an Felix Salten, Brief vom 14.06.1933. Literaturarchiv Monacensia HK B 2243. Für die Recherche danke ich Frank Schmitter. 13 Vgl. Liste 1 des schädlichen und unerwünschten Schrifttums. Stand vom Oktober 1935. Berlin: Reichsdruckerei 1935, S. 104. 14 Felix Salten: Mako, der junge Bär. In: Novellen Deutscher Dichter der Gegenwart. Hg. von Hermann Kesten. Amsterdam: Allert de Lange 1933, S. 311–326.
6 Taschenkalender, Eintrag vom 26. März 1938.
Mit dem »Anschluss« gewannen diese Dinge gleichsam über Nacht ungeahnte Aktualität, zumal nun auch Saltens literarisches Werk in Österreich verboten war, denn laut Vermerk in der Herstellerkartei des Zsolnay-Verlags waren die meisten seiner Bücher in Deutschland mit Datum vom 24. März 1936 beschlagnahmt und eingezogen worden. Das hatte unmittelbare Auswirkungen auf sein aktuelles Schaffen, wie Salten am 20. April 1938 dem Zsolnay-Verlag mitteilte: »Die Verhältnisse haben sich gründlich geändert. Mein Buch ›Perri‹ darf nicht bei Ihnen erscheinen. Nach manchen, mit Ihnen gemeinsam errungenen Erfolgen sehe ich mich nicht bloss von der mir teueren deutschen Muttersprache ausgeschlossen, sondern auch von jeglichem Erwerb überhaupt abgeschnitten. Nun muss ich aber versuchen, mindestens meine und meiner Angehörigen Existenz zu fristen.« Dafür war es wichtig, sein jüngstes Tierbuch über das Eichhörnchen Perri wenigstens für den außerdeutschen Markt zu retten, zumal eine Auflage von 5.500 Exemplaren bereits gedruckt, aber noch nicht gebunden war (Abb. 7). In dieser Notlage traf er den Entschluss, sich von seinen Leidensgenossen im Exil zu distanzieren: »Ferner ersuche ich Sie, die Bestände des Buches ›Perri‹ sowie die anderen Bestände meiner Werke für irgend einen auslandsdeutschen Verlag freizugeben, was ja auch Ihr Vorteil ist. Keineswegs meine ich damit einen der Emigranten-Verlage, denn ich bin kein Emigrant.«15 Es wäre beckmesserisch, Salten diese Zeilen vorzuwerfen, denn binnen kürzester Zeit spitzte sich seine Lage dramatisch zu. Am 26. April 1938 heißt es im Kalender »Fristlos entlassen!«. Nur drei Tage später notiert er: »Steuerpfändung«. Dazwischen musste er verdauen, dass sein »arischer« Vermieter ihm das Haus gekündigt hatte. Zudem schossen um seine Person allerlei Gerüchte ins Kraut. So meldete die »Pariser Tageszeitung« am 20. April 1938 »Felix Salten in der Haft erkrankt«.16 Und am 10. Mai informierte der Verleger Hermann Ullstein (1875–1943)
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15 Felix Salten an den Zsolnay-Verlag, Brief vom 20.04.1938. Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek (im Folgenden LIT/ÖNB), Zsolnay-Archiv. 16 Felix Salten in der Haft erkrankt. In: Pariser Tageszeitung, Nr. 665 vom 20.04.1938, S. 2.
seine Frau Edit gar brieflich über den angeblichen Selbstmord: »In Wien erschoss sich Felix Salten, der mal früher bei uns Chefredaktör war, einer der feinsten
7 Hersteller-Kartei Zsolnay, Karte »Perri«. LIT/ÖNB ÖLA 286/L9.
Feuilletonisten und Kritiker.«17 Da tat es gut, Freunde wie Stefan Zweig auf seiner Seite zu wissen. »Lieber Herr Salten«, meldete sich dieser am 21. März 1938 aus London, »ich muss nicht sagen, dass ich an Sie auf das herzlichste denke und wenn Sie irgend ein neues Buch fertig haben, so wird es mir eine Freude sein, für Sie hier tätig sein zu können. Ich denke sehr an meine 84jährige Mutter in Wien und an viele Freunde, man ist ja, wenn auch seit Jahren eben ferne, doch mit dort, innig verbunden.«18 Am 4. April warf er Salten einen vermeintlichen Rettungsanker zu: »Wir verhandeln hier mit dem englischen P[en]club, dass er womöglich einige Schriftsteller für je zwei Monate zu privaten Freunden einlädt, wahrscheinlich auf Landsitze, wo sie Ruhe zur Arbeit hätten – wären Sie persönlich interessiert? Ich kann mir ja denken, aus eigener Erfahrung, wie schwer man jetzt zu einer wirklichen Concentration gelangt und wollte Sie jedenfalls auf die allfällige Möglichkeit hinweisen, falls der Vorschlag sich realisiert.«19 Aber selbst der bestens vernetzte Erfolgsschriftsteller und literarische Weltstar Zweig konnte für Salten vorläufig nichts unternehmen, wie er am 28. Mai 1938 einräumen musste: »Lieber Herr
18
17 Hermann Ullstein an Edit Ullstein, Brief vom 10.05.1938. In: »Der ganze Verlag ist einfach eine Bonbonniere«. Ullstein in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Hg. von David Oels und Ute Schneider. Berlin, München, Boston: De Gruyter 2015 (= Archiv für Geschichte des Buchwesens – Studien 10), S. 414f. 18 Stefan Zweig an Felix Salten, Postkarte vom 21.03.1938. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 9, 2.1.670.28. 19 Stefan Zweig an Felix Salten, Postkarte vom 04.04.1938. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 9, 2.1.670.29.
Salten, bitte glauben Sie mir, dass es mir schrecklich peinlich ist, Ihnen noch nichts Positives berichten zu können, aber infolge der Weltkrise und unübersehbaren Situation steht hier alles im Verlegerischen. Der Buchhandel geht miserabel und das wirkt in dem Sinne auf die Verleger zurück, dass sie noch länger und noch mehr zögern, als es sonst hier ihre Art ist. Aber ich lasse nicht nach, weil ich ja weiß, wie wichtig es für Sie wäre. Ich selbst bin arg müde, gerade jetzt in einer Zeit
20 Stefan Zweig an Felix Salten, Postkarte vom 28.05.1938. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 9, 2.1.670.30. 21 Doron Rabinovici: Instanzen der Ohnmacht. Wien 1938–1945. Der Weg zum Judenrat. Frankfurt/M.: Jüdischer Verlag 2000, S. 61.
wo man überharte Kräfte benötigte, um durchzukommen. Gestern sah ich Werfel, sonst höre ich wenig, bin aber mit allen Gedanken täglich, stündlich mit den alten Gefährten.«20 Die Gefährdung der in Wien verbliebenen Gefährten wuchs indessen, der Verfolgungsdruck stieg in rasantem Tempo, um so mehr, als seit dem 20. Mai 1938 die »Nürnberger Gesetze« vollumfänglich für die »Ostmark« in Kraft getreten waren. »Die Juden Wiens«, bemerkt Doron Rabinovici in seiner Studie »Instanzen der Ohnmacht«, »konnten die verschiedenen Gesetze, Kundmachungen, Verordnungen, Erlasse oder Anordnungen, die täglich über sie hereinbrachen, kaum überblicken. In den Aufstellungen der Kultusgemeinde wurden allein im Jahre 1938 an die hundert neue Bestimmungen angeführt und deren Auswirkungen diskutiert.«21 Bei Salten kam hinzu, dass sich in dem zum 15. August 1938 gekündigten Haus Papiere befanden, die ihn – wohl nicht nur seiner Meinung nach – belastet haben dürften. So geht die eigentlich positive Meldung vom 22. Mai 1938, er habe in der Cottagegasse 26 eine neue Wohnung aufgetan, mit einer drei Tage später festgehaltenen Notiz einher: »Briefe wegwerfen – angefangen«. Es folgt ein rund vierwöchiges Autodafé, dem wohl viele tausend Blatt Korrespondenzen und ein großer Teil seines Manuskriptarchivs zum Opfer fallen. Im Kalender steht am 27. Mai 1938 das Kompositum »Brief-Säuberung«, vom 28. bis 31. Mai heißt es dreimal hintereinander:
8 Taschenkalender, Eintrag vom 25. Mai 1938.
»Archiv-Säuberung«. In der Panik, die ihn ergriffen hat, wird Salten vom sorgsamen Archivar seiner selbst zum entschlossenen Manuskriptvertilger. Am 2. Juni schließt der Eintrag zum Tag mit »Archivschrank B[rie]fe fertig«. Dann beginnt er seine umfängliche Bibliothek auf problematische Bestände hin zu sichten. »Bücher ausgesondert«, schreibt er am 11. Juni; »Bücher ausscheiden«, heißt es am 17. Juni. Danach kehrt Salten zur krudesten Form der Selbstzensur zurück, nämlich der Vernichtung seiner Papiere. In rascher Folge geht es weiter: »Zweiter Archivschrank angefangen« (18. Juni), »Archiv fortgesetzt« (20. Juni), »Etwas Archiv« (21. Juni). Wie sehr ihn die Existenz vermeintlich missliebiger Dokumente, deren Besitz Leib und Leben kosten könnten, gequält haben muss, zeigt der Eintrag vom 25. Juni 1938: »Rasend nervös! / Archiv fertig«. Der Kamin in Saltens Haus dürfte während dieses Monats wohl fast im Dauerbetrieb gewesen sein. In den Zeiten politischen Terrors ist ein gut ziehender Ofen genauso selbstverständlich Teil des schriftstellerischen Handwerkszeugs wie ein Füller oder die Schreibmaschine. So hatte etwa Alexander Solschenizyn (1918– 2008) während der Arbeit am »Archipel Gulag« neben sich immer ein Feuer am Leben erhalten, dem er Entwürfe oder überarbeitete Seiten sogleich überantwortete.22 Was die Säuberung des Bestands durch den Bestandsbildner selbst für den
9 Taschenkalender, Eintrag vom 25. Juni 1938.
an der Wienbibliothek im Rathaus liegenden Nachlass Saltens bedeutet, lässt sich
10/11 Eigenhändig beschrifteter Umschlag von Josef Kainz: »Dieses Couvert ist mit dem neuen Briefmarkenbefeuchter verschlußfähig gemacht worden, indem es nicht geleckt, sondern mit reinem Hochquellwasser Gummiseits bestr[e]ichenden neuentdeckten Apparat behandelt wurde. Wolverstanden!« WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 7, 2.1.260.7.
für die Korrespondenzen nur schwerlich beurteilen. Immerhin konnte er mehrere tausend Briefe von rund 700 Schreiberinnen und Schreibern mit ins Züricher Exil nehmen. Die Kuverts aber hat Salten aus Gewichts- und Platzgründen verfeuert, mit einer bemerkenswerten Ausnahme, die von Josef Kainz stammt. Noch drastischer dürfte der Aderlass bezüglich der eigenen Texte ausgefallen sein. Vom journalistischen Werk haben nur die Scrapbooks überdauert, in denen Salten Ausschnitte mit rund 3.000 Artikeln aus der Zeit von 1902 bis 1938 montiert hat. Auch von den großen Prosaarbeiten, seien es Novellen, seien es Romane, sind nur ganz wenige in Form eigenhändiger Manuskripte auf uns gekommen. Hier war aber nicht nur Salten der Exekutor am eigenen Werk, sondern es gab zudem ganz empfindliche Verluste durch die nationalsozialistische Zerstörungswut. So erschienen zwischen 1913 und 1923 sechs Bücher aus Saltens Feder bei Ullstein in Berlin, als letztes das berühmte »Bambi«. Bis vor kurzem waren alle Manuskripte zu diesen Bänden verschollen, was sich darauf zurückführen ließ, dass das Verlagsarchiv auf Anweisung von Joseph Goebbels im Jahr 1934 »gereinigt« worden sei, wie Hermann Ullstein in seiner Autobiographie berichtet: »Alles, was in Ihrem Archiv jüdischen Ursprungs oder in irgendeiner Weise mit dem Judentum verknüpft ist, muss verbrannt werden.«23 Obwohl sich nicht nachprüfen ließ, ob und wie nachhaltig die Weisung ausgeführt wurde, war die Überraschung groß, als eines der verloren geglaubten Manuskripte in den Beständen des Bundesarchivs BerlinLichterfelde aufgefunden wurde – und zwar in einer nicht personenbezogenen Ablage der Reichskulturkammer. Es handelt sich um das 77 Blatt umfassende Manuskript des Romans »Die klingende Schelle«, der 1915 bei Ullstein erschienen ist.24 Ob das Konvolut aber wirklich aus dem geplünderten Verlagsarchiv stammt, bleibt offen. Genauso wie die Frage, ob die anderen fünf Handschriften nicht doch überlebt haben könnten, wo und wie auch immer.
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22 Vgl. Marcel Atze: »… und kaum blieb etwas verschont«. Reale und fiktive Autoren als Zerstörer eigener Texte. In: Verbergen, Überschreiben, Zerreißen. Formen der Bücherzerstörung in Literatur, Kunst und Religion. Hg. von Mona Körte u. Cornelia Ortlieb. Berlin: Schmidt 2007 (= Allgemeine Literaturwissenschaft / Wuppertaler Schriften 9), S. 91–105, hier S. 100. 23 Hermann Ullstein: Das Haus Ullstein. Mit einem Nachwort von Martin Münzel. Berlin: Ullstein 2013, S. 258. 24 BArch R 56-I/230. Dem auffindenden Archivar Michael Schelter sei an dieser Stelle gedankt.
Liquidation Im Zuge der kurzfristig bevorstehenden Übersiedlung und der längerfristig umzusetzenden Ausreisepläne blieb Felix Salten im Liquidationsmodus. Dies betraf sowohl seine sorgsam aufgebaute Sammlung alter Drucke wie auch seine Kollektion von Kunstwerken aller Art. Auch hier stellt sein Taschenkalender aus dem Jahr 1938 eine herausragende Quelle dar. Es macht den Anschein, als habe Salten gezielt potentielle Abnehmer angesprochen oder als seien ihm diese vermittelt worden. Was gemeint ist, lässt sich an dem prima vista rätselhaft scheinenden Eintrag vom 5. Juli 1938 erläutern. Dort heißt es: »General Löhr mit Frau u. Tochter / kauft Henrietta v. Frankreich«. Bei dem an diesem Tag mit seiner ganzen Familie vorstellig werdenden Herrn handelte es sich um keinen anderen als Alexander Löhr (1885–1947), der am 6. April 1941 als Oberkommandierender der Luftflotte 4 den Angriff auf Belgrad befehlen sollte, obwohl es zur offenen Stadt erklärt worden war. Für diesen Air-Raid wurde Löhr nach seiner Auslieferung an Jugoslawien zum Tode verurteilt und am 26. Februar 1947 hingerichtet. Im Ersten Weltkrieg war
12 Alexander Löhr als Generaloberst der Luftwaffe, Mai 1941. Foto: Sport- und Pressefoto, Wien. WBR, Dokumentation, TF-006207.
der damalige k. u. k. Offizier mit dem Aufbau der kaiserlichen Luftwaffe beschäftigt, eine Aufgabe, die er im Verborgenen auch wieder Ende der 1920er-Jahre übernahm, allerdings dieses Mal im Auftrag der Ersten Republik. Wie den Deutschen war den Österreichern nämlich das Halten einer Luftstreitmacht verboten. Und wie die Deutschen tarnten auch die Österreicher ihre Anstrengungen im Bereich der militärischen Aufrüstung als Teil der zivilen Luftfahrt. Zentral war hierfür die Österreichische Luftverkehrs AG (ÖLAG), der Löhr als Organisator der Pilotenausbildung angehörte. Geschäftsführer der ÖLAG war zu diesem Zeitpunkt Ferdinand Deutelmoser (1875–1941), seines Zeichens einer der erfolgreichsten österreichischen Flugzeugführer im Ersten Weltkrieg – und darüber hinaus Briefpartner von Felix Salten. Beider Beziehung scheint immerhin so gut gewesen zu sein, dass sich Salten an der Festschrift anlässlich des zehnjährigen Bestehens der ÖLAG beteiligte. In seinem Beitrag äußert er zwischen den Zeilen gar Sympathien für den Aufrüstungskurs: »Jetzt aber seltsamer Wandel: Das kleine mißhandelte wehrlose Österreich schafft trotz aller Not seit zehn Jahren mit dem Luftverkehr ein Werk, das ans Wunderbare streift. Diese Leistung, obgleich in der Luft vollbracht, zeichnet bleibende Spur im Gedächtnis der Welt. Als sei das Wirken des österreichischen Luftverkehrs an den Sternenhimmel geschrieben, um von dorther zu leuchten.«25 Es dürfte mithin kein Zufall sein, dass sich Alexander Löhr in Saltens Haus einfand, um einen Großeinkauf zu tätigen. Bei der erwähnten »Henrietta von Frankreich« handelte es sich um eine frühe Kopie nach dem berühmten Gemälde von Anthonis van Dyck (1599–1641), dessen Original sich in der Gemäldegalerie zu Dresden befindet. Die Erwerbung dieses Bildes fand sogar im Tagebuch von Arthur Schnitzler Erwähnung. Über Salten heißt es da am 1. Juli 1913: »Kommt aus Berlin, Dresden. Hat eine Van Dyck Copie um 350 M. gekauft«.26 Doch eigentlich scheint Löhr wegen Saltens Sammlung alter Drucke gekommen zu sein. Und hier geriet er offensichtlich in eine Art Kaufrausch: »General will 400 Bände!« Was es mit dem Rufzeichen, das Salten an den Schluss seines Eintrags vom 6. Juli 1938 setzt, auf sich hat, ist Interpretationssache – entweder war er ob der schieren Zahl überrascht oder sogar beglückt, wer weiß? Jedenfalls heißt es zwei Tage später: »Ver-
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13 Saltens Kopie ging an Alexander Löhr, hier das Original von Anthonis van Dycks Gemälde »Henrietta Maria von Frankreich«. Staatliche Kunstsammlungen Dresden.
zeichnis der Bücher f. d. General«. Leider ist dieses Dokument, das die gedruckten Schätze verzeichnet hat, die Salten verfolgungsbedingt an Alexander Löhr abgab, nicht erhalten. Und auch die Summe, für die die Folianten den Besitzer wechselten, ist nicht bekannt. Aber womöglich befinden sich die Bände, die auf dem Vorsatz einen von Salten stammenden Besitzstempel tragen, noch im Besitz der Nachfahren Löhrs. Denn bei der Tochter, die mit in Saltens Villa zu Besuch war, handelt es sich um Gertrud Löhr (1916–2007), die mit Manfred Egger-Lienz (1903–1974) einen Sohn des Malers Albin Egger-Lienz (1868–1926) geehelicht hat. Es gab noch weitere prominente Profiteure von Saltens existentieller Notlage, die sich in der Cottagegasse 37 gewissermaßen die Klinke in die Hand gaben. Am 9. Juli 1938 liest man im Kalender: »Abholung der Biedermeier-Möbel / durch Baronin Wächter«. Die noch heute sehr beliebten Einrichtungsklassiker wechselten also in den Salon des Generals Josef von Wächter (1866–1949), der im Ersten Weltkrieg hochdekoriert wurde sowie in beiden Kabinetten von Bundeskanzler Johann Schober (1874–1932) das Amt des Heeresministers bekleidete. Zudem war der neue Besitzer von Saltens Meublage der Vater des SS-Offiziers Otto Wächter (1901–1949), der seit dem 24. Mai 1938 Staatskommissar war im Ressort von Arthur Seyß-Inquart (1892–1946), Hitlers Reichsstatthalter in Österreich und als solcher auch mit der Requirierung von jüdischem Besitz beschäftigt. In den Tagen und Wochen bis Mitte August 1938 stehen Saltens Einträge in seinem Diarium ganz im Zeichen der Übersiedlung von Haus zu Haus. Vor allem die Buchverkäufe rücken in den Mittelpunkt. Am 22. und 23. Juli 1938 scheint er
14 Seine Bibliothek war Saltens ganzer Stolz, um 1930. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 16, 3.11.1.12.
eine Art Open House für Buchhändler gemacht zu haben, die sich frei in den Regalen bedienen konnten. Es finden sich jetzt auch Notizen über eingenommene Summen – offenbar konnte er an diesen Tagen rund 885 Reichsmark lukrieren. Der Verlust der Bücher machte Salten besonders zu schaffen. »Bibliothek ganz ausgeräumt«, notiert er am 7. August 1938. Zwei Tage später schreibt er: »Bibliothek wird abmontiert«. Am 17. August hält er fest, von der »Übersiedlung / ganz wirr« zu sein. Tags darauf heißt es: »Zum ersten Mal übernachtet«. Aber ankommen wird er in den neuen vier Wänden erst, wenn er sich um die verbliebenen Bücher kümmern kann. Am 1. September hat Salten für sie Zeit: »Bibliothek ordnen«. Danach ist er völlig enttäuscht: »Bibliothek geordnet, viele / Bücher gestohlen, verloren. Im Ganzen / ist weniger als die Hälfte da«. Eine Woche später zog er gegenüber Hedwig Fischer (1871–1952) Bilanz: »Nun, unsere Übersiedlung war ärger als wir dachten. Wir mussten zwei Drittel unserer hübschen Möbel, Lüster, Statuen u.s.w. verkaufen, richtiger verschleudern. Den Bechsteinflügel auch. Mehr als die Hälfte meiner Bibliothek ist weg, viele kostbare, viele seltene Bücher. Die schöne grosse Copie Schönbrunn von Canaletto, die in meinem gewesenen Arbeitszimmer an der Schreibtischwand hing, habe ich Frau v. Strakosch geschenkt. Sie hatte eine wirkliche Freude. Bis jetzt bedaure ich es nicht, mich von all den Dingen, die mir einst sehr lieb waren, getrennt zu haben. Ist das Alters-Stumpfheit oder sich Bescheiden, ich weiss es nicht und da ich an so viele andere Dinge zu denken habe, denke ich gar nicht drüber nach.«27
25 Beim titellosen Beitrag handelt es sich um einen Brief aus der Feder Saltens, der als Faksimile gezeigt wird. Vgl. 10 Jahre Österreichische Luftverkehrs A. G. [1923–1933]. Wien: Pago 1933, S. 8. 26 Arthur Schnitzler: Tagebuch 1913–1916. Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1983, S. 48 (Eintrag vom 01.07.1913). 27 Felix Salten an Hedwig Fischer, Brief vom 08.09.1938. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 9, 2.2.22.73.
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Ausbeutung und Entrechtung Seit 14. Juli 1938 war Felix Salten endgültig in der NS-Maschinerie von Ausbeutung und Entrechtung angekommen. An diesem Tag hatte er das »Verzeichnis
15–16 Felix und Ottilie Salten in der Cottagegasse 37, um 1935. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 16, 3.11.3.7.
über das Vermögen von Juden nach dem Stand vom 27. April 1938« ausgefüllt. In diesen Formularen mussten die Unterzeichneten ihre finanziellen Verhältnisse offenlegen. »So wurde festgestellt«, erläutert Doron Rabinovici, »wieviel sie abzugeben hatten. Wer über 5000 Reichsmark an Vermögen besaß, mußte davon 20 Prozent an Abgaben entrichten.«28 Die Einführung der Vordrucke und die im Mai 1938 erfolgte Installierung der »Vermögensverkehrsstelle« sollten die wilden Arisierungen und privaten Bereicherungen beenden und die »endgültige Verstaatlichung der Raubzüge«29 einläuten – was, wie auch im Falle Saltens gesehen, keineswegs gelang; die individuelle Gier brach sich weiter Bahn. Soweit sich das aus heutiger Sicht beurteilen lässt, hat Salten sein »gesamtes inländisches und ausländisches Vermögen« – wie in dem Papier gefordert – recht genau angegeben, womöglich könnte man gar das Wort penibel verwenden. Sein »Reinvermögen« beziffert er auf 1.000 und seinen Kunstbesitz auf 2.950 Reichsmark, wovon 1.000 auf die Bibliothek entfallen. Salten führt die Abfertigung, die ihm die »Österreichische Journal Aktien-Gesellschaft« nach seiner Entlassung bei der »Neuen Freien Presse« schuldet (»bestritten!«), genauso an wie die 1931 abgeschlossene Pensionsversicherung, in die seinerseits 5.600 Reichsmark eingeflossen sind (»weder beziffert noch bezahlt!«). Zudem teilt er Schulden mit, Summen, über die er jedoch durchaus verfügte. So etwa Verlags-Vorschüsse von Zsolnay (über 40.000 Reichsmark) und von Felix Bloch Erben (über 6.500 Reichsmark) sowie ein Darlehen in Höhe von 10.000 Reichsmark, das er von seiner Tochter Anna Katharina erhalten habe. Bei der Frage nach »sonstigem Vermögen«, bei der im Kleingedruckten das Stichwort »Urheberrechte« steht, gibt er zunächst die Antwort »derzeit unbestimmbar!«. In dem später folgenden Feld mit der Überschrift
28 Doron Rabinovici, Instanzen der Ohnmacht (Anm. 21), S. 67.
»Bemerkungen« kommt er auf diesen Punkt nochmals erläuternd zurück: »Jetzt
29 Ebd., S. 66.
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sind die Auslandsverträge abzuwarten, die wohl tausende Dollar bringen, die man jedoch nicht vorher beziffern kann.«30 Salten spielt hier auf den Verkauf der Filmrechte seines Romans »Bambi« an, die 1937 an Walt Disney gegangen waren. Diese Ehrlichkeit mutet weltfremd an, weil sie den Schergen den Mund wässrig machen muss. Freilich wusste Salten, dass auch die Registratur des Zsolnay-Verlags den
30 Die Zitate stammen sämtlich aus dem Akt AAT-OeStA / AdR E-uReang VVSt VA Buchstabe S 3830, der im Österreichischen Staatsarchiv verwahrt wird. 31 Doron Rabinovici, Instanzen der Ohnmacht (Anm. 21), S. 110.
nationalsozialistischen Eindringlingen offen stand – spätestens nach Auswertung der dortigen Papiere hätten die Plünderer ohnehin Bescheid gewusst. Seitens der NS-Behörden ging man jedoch auf Nummer sicher und lud den Delinquenten kurzerhand vor. Alarmiert heißt es in Saltens Taschenkalender für den 22. August 1938 (nicht ganz korrekt, aber inhaltlich zutreffend) »Vermögenverwertungsstelle«. Diese befand sich in der Strauchgasse 1. Sein Gesprächspartner war ein »Referent Brunner«, der keine Zweifel daran gelassen haben dürfte, dass Salten der »VVSt« auch weiter alle vermögensrelevanten Informationen unmittelbar zukommen lassen müsse. Offensichtlich enorm eingeschüchtert, verfasste Salten mit Datum vom 9. September 1938 folgendes Schreiben: »Hiedurch teile ich mit, dass ich heute von der Oesterr. Journal-Aktien-Gesellschaft (Neue Freie Presse) zum gänzlichen Ausgleich meines Anspruchs den Betrag von Rmk. 1380.- empfing. / Ferner: mein amerikanischer Verleger hat den für mich entfallenden Anteil der Halbjahr-Abrechnung im Betrag von Dollar 300.- irrtümlich in die Schweiz gesendet. Ich erstattete der Reichsbank Hauptstelle davon Meldung und erbat deren Weisung.« Das Ganze ging per Einschreiben an die Vermögensverkehrsstelle und illustriert den »Spießrutenlauf der Erniedrigungen«,31 dem die jüdische Bevölkerung im angeschlossenen Österreich schutzlos ausgeliefert war. Ein erster Hinweis auf ein besonders widerliches Kapitel, das die Vogelfreiheit der Wiener Juden dokumentiert, findet sich ebenfalls in Saltens Akt im Österreichischen Staatsarchiv. Auf einem verbrämend mit »Vermögensbekenntnis« über-
17 Verzeichnis über das Vermögen von Juden nach dem Stand vom 27. April 1938, Saltens eigenhändig ausgefüllte Auskunft über seine Vermögensverhältnisse (Ausschnitt, Bl. 1).
schriebenen Blatt, das Salten am 13. Dezember 1938 ausgefüllt hat, wird noch einmal auf die einbezahlte Pensionsversicherung verwiesen. Wichtig ist auf diesem Dokument ein Detail, das sich freilich kaum erkennen lässt. In der linken oberen Ecke findet sich ein nicht sehr kräftiger Stempel: »Gildemeester / AuswanderungsHilfsaktion«. Dahinter verbirgt sich ein Holländer namens Francis van Gheel Gildemeester, der sich, kaum war Österreich angeschlossen, schon in scheinbar menschenfreundlicher Gesinnung um die Ausreise verfolgter Juden kümmerte. Es ist hier nicht der Ort, die Aktivitäten der »Aktion Gildemeester« nachzuzeichnen.32 Die nach außen kommunizierte Idee der Aktion war eine Art Mischkalkulation. Vermögende Juden sollten ihren gesamten Besitz einer vom Regime beauftragten Bank überschreiben. Ein Zehntel dieses Vermögens ging dann an den »GildemeesterFonds«, der diese Gelder dafür einzusetzen versprach, armen Juden zur Flucht zu
18 Saltens Vermögensbekenntnis für die »Gildemeester / Auswanderungs-Hilfsaktion«.
verhelfen – denn Visa und Reisetickets verschlangen hohe Summen. In Wahrheit diente auch dieses angebliche Hilfswerk lediglich der organisierten Vertreibung in Tateinheit mit forcierter Enteignung jüdischen Vermögens. Das schloss allerdings nicht aus, dass manchem, der der »Aktion Gildemeester« vertraute, auch tatsächlich geholfen wurde.33 Die Diskussion, ob es sich bei Gildemeester um einen Samariter oder einen Schleuser übelster Sorte handelte, entbrannte etwa im New Yorker »Aufbau«. Ausgangspunkt war ein anonymer Artikel, in dem die Frage gestellt wurde: »Wer ist Gildemeester?«34 Daraufhin gingen etliche Zuschriften von Lesern ein, von denen mancher die guten Absichten des Niederländers betonte: »In Wien wusste man, dass Gildemeester sich zur Aufgabe gesetzt hat, sich der politisch Verfolgten anzunehmen, während des Dollfuss- und Schuschnigg-Regimes waren die politisch Verfolgten die ›Nazis‹. Damals hat er sich dieser angenommen. Als dann die Nazis ans Ruder kamen, nahm er sich der Juden, der von den Nazis politisch Verfolgten an. Durch seine frühere Hilfe für die Nazis bekannt, hatte er bei der Gestapo nicht nur Beziehungen, sondern auch einen ›Stein im Brett‹. Er war der einzige, der sich offiziell für die Juden einsetzen durfte und hatte in Wien eine grosse Organisation, die sich dieser Aufgabe widmete.«35 Freilich konnten sich nur wenige dieser lobenden Sichtweise anschließen. Ein anderer Leser hatte persönliche Erfahrungen mit Gildemeester gesammelt. Dieser habe sich in den Jahren 1920 und 1921 für die Freilassung deutscher Kriegsgefangener in Frankreich eingesetzt, 1933 dann für einen in Prag inhaftierten NS-Anwalt, den er aus dem Gefängnis zu holen gedachte: »Als im Jahre 1938 in Wien die Flüchtlingsfrage akut wurde, entstand eines Tages ein Gildemeester-Hilfswerk. Welchen Zwecken diente es? Was tat er mit den Fragebogen der Auswanderungswilligen? Hat das Werk praktisch geholfen? Die Auskünfte waren widersprechend, Gildemeesters Besuch in Prag aber lässt keinen Zweifel daran, dass es sich um einen alten Agenten der deutschen Regierung handelt.«36 Wie zweifelhaft die Rolle Gildemeesters nach dem »Anschluss« tatsächlich war, fördert ein Brief an den Zsolnay-Verlag vom 8. Juli 1939 zutage: »Mein Bruder war mit Ihrem gesch. Verlag bezüglich des Uebersetzungsrechtes der zwei Bücher ›Bambi‹ und ›Perry‹ in Verbindung. Nachdem nun der Autor Felix Salten im Konzentrationslager ist, steht der Zsolnay-Verlag unter kommissarischer Verwaltung und wäre es mir darum zu tun zu wissen ob es möglich ist, dass der kommissari-
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32 Vgl. hierzu Theodor Venus, Alexandra-Eileen Wenck: Die Entziehung jüdischen Vermögens im Rahmen der Aktion Gildemeester. Eine empirische Studie über Organisation, Form und Wandel von »Arisierung« und jüdischer Auswanderung in Österreich 1938–1941. Wien, München: Oldenbourg 2004 (= Veröffentlichungen der Österreichischen Historikerkommission. Vermögensentzug während der NS-Zeit sowie Rückstellungen und Entschädigungen seit 1945 in Österreich 20/2). 33 Fest steht, dass Salten – folgt man seinem Taschenkalender – am 30. Januar 1939 persönlich bei Gildemeester vorstellig wurde. Es ging wohl darum, verlorene Ausreisedokumente zu ersetzen. Näheres ist aber unbekannt. Im Archiv der Israelitischen Kultusgemeinde Wien ließ sich bei den erhaltenen Papieren zur »Aktion Gildemeester« nichts zu Salten finden. 34 Anonym: Wer ist Gildemeester? In: Aufbau (New York) 5 (1939), Nr. 1 vom 15.11.1939, S. 2. 35 E.S.: Fall Gildemeester. In: Aufbau (New York) 6 (1940), Nr. 1 vom 05.01.1940, S. 10. 36 K.P.G.: Das ist Gildemeester. In: Aufbau (New York) 5 (1939), Nr. 26 vom 29.12.1939, S. 13.
sche Verwalter das Autorrecht nach Holland verkaufen kann, so dass das Deutsche Reich dafür Devisen erhält. Mein Bruder hatte von Ihnen ein Schreiben vom 17. Mai, des Inhaltes dass Sie noch bei einigen Behörden anfragen müssen, hat aber dann von Ihnen nichts mehr gehört. Nachdem die Bücher noch vor Weihnachten übersetzt und gedruckt sein müssen, eilt die Angelegenheit sehr, da sie sonst für Holland für dieses Jahr keinen Zweck mehr hätte. / Ihren Nachrichten gerne entgegensehend, verbleibe ich mit Deutschem Gruss«.37 Obwohl dieser Deal sich nicht realisieren ließ und Gildemeester ganz offensichtlich den vielen Falschmeldungen zu Saltens Schicksal aufgesessen war, nimmt einem die Niederträchtigkeit des kaltblütigen Plans – die vermeintliche KZ-Haft des Autors, mit dessen Texten viel Geld verdient werden sollte, und dessen Tod in Kauf nehmend – den Atem.
Flucht Erste Notizen zu Ausreiseplänen finden sich in Saltens Taschenkalender am 22. Juni 1938, als er Bekannte die Möglichkeit prüfen ließ, Affidavits für England oder die USA zu erhalten. Die Konferenz von Evian, die vom 6. bis 15. Juli 1938 stattfand, erstickte derlei Ideen aber im Keim – die Zusammenkunft, die über die Flüchtlingssituation, die sich nach dem »Anschluss« Österreichs weiter verschärft hatte, beraten sollte, bezeichnet Doron Rabinovici schlicht als »Bankrotterklärung der westlichen Welt«.38 Danach fokussiert sich Salten auf die Ausreise in die Schweiz, zu seiner Tochter Anna Katharina, die durch ihre Heirat mit dem Schauspieler Hans Rehmann 1929 das Schweizer Bürgerrecht erworben hatte. Das Ehepaar lebte in Langenthal (Kanton Bern), woher Rehmann stammte. Von dort aus reiste das »Annerle«, wie Salten sie nennt, in schöner Regelmäßigkeit via Feldkirch nach Wien (Abb. 19). Ohne Risiko waren diese Fahrten nicht, doch wollte sie möglichst oft beim Vater sein und ihm zur Seite stehen. Der Startschuss für die eidgenössischen Pläne liest sich am 31. August 1938 so: »Pass-Photo für Bern«. Am 16. September waren die Papiere fertig: »Schweizer (Zürcher) Formulare / Formulare abgeschickt«. Und das Warten zermürbte: »Keine Nachricht aus Bern!!!«, heißt es am 26. Oktober; »Schweiz / nichts!«, am 5. November 1938. Wenige Tage später eskalierte die Situation in Deutschland – und somit auch in Wien. Nach dem tödlich verlaufenen Attentat auf den deutschen Diplomaten Ernst Eduard vom Rath (1909–1938) durch Herschel Grynszpan brannten landesweit die Synagogen und die Nationalsozialisten erhöhten den Verfolgungsdruck. Die Geschehnisse der Pogromnacht fanden am 10. November 1938 auch Eingang in Saltens Notizbuch: »8h früh ein ›Mann‹ in mein Schlafzimmer, / dessen Rüdheit ich ruhig entgegne. Er und seine draußen wartenden Gesellen erschrecken mich. Ich stelle mich unter den Schutz des amerik. General-Konsulats. / Unser Hausherr, dann Pepi u. Robert verhaftet. / Sind Abends wieder frei. / Synagogen angezündet, Geschäfte ausgeräumt. / Vergeltung für die unselige Tat eines einzelnen Ruchlosen in Paris«. Tatsächlich muss es Salten in jener Nacht gelungen sein, einen Helfer aus der US-Botschaft ans Telefon zu bekommen – doch dazu später mehr. In Saltens Fluchtbemühungen kommt nun neue Dynamik. Am Tag nach der Schreckensnacht hält er fest: »Taxifahrt mit Pepi in das Schweizer Generalkonsulat. Gesuchsformular und
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37 F. Gildemeester an den ZsolnayVerlag, Brief vom 08.07.1939. LIT/ÖNB, Zsolnay-Archiv. 38 Doron Rabinovici, Instanzen der Ohnmacht (Anm. 21), S. 114.
Fragebogen, Pepi nach Hause, alles mit Otti ausgefüllt, Pepi zurück ins Konsulat.«39 Auch suchte Salten nun den intensiven Kontakt zu Josef Löwenherz (1884–1960), Amtsdirektor der Jüdischen Gemeinde Wien. Er wird von Salten in der zweiten Novemberhälfte 1938 häufig erwähnt. In welcher Angelegenheit er persönlich,
19 Anna Katharina Saltens Schweizer Pass vom 10. Februar 1936 gibt Auskunft über ihre zehn Reisen ins nationalsozialistische Wien, zuletzt am 4. Februar 1939. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 18, 3.17.2.3.
brieflich und telefonisch mit Löwenherz in Verbindung tritt, darüber schweigt sich Salten leider aus. Zuletzt heißt es am 30. November: »Um 4 h zu Dr. Löwenherz. Sache erledigt!« Derweil hat das Warten wieder begonnen: »Kein Bescheid, auch deshalb wenig Hoffnung v. Bern«, bemerkt Salten am 27. November; »Nichts aus Bern! / Unsicherheit, ob man seine Möbel, seine Kleider überhaupt mitnehmen kann!!«, schreibt er am 26. Dezember 1938. Obwohl Felix Salten das Jahr 1939 beginnen musste, ohne Ausreisepapiere in der Tasche, ja sogar ohne die Gewissheit zu haben, überhaupt je zu solchen Papieren zu gelangen, hatte er doch ein Inventar jener Möbel sowie von Kunstund Wertgegenständen anlegen lassen, die er noch besaß und die er mit in die Schweiz nehmen wollte. Das erscheint insofern verwegen, als derlei Ausfuhren, wie Doron Rabinovici betont, für Österreich »undenkbar«40 gewesen seien. Das trifft
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39 Gemeint ist der Jurist Josef Hupka (1875–1944), der mit seiner Frau Hermine (1888–1944), einer Tochter des Komponisten Ignaz Brüll, im Mai 1939 in die Schweiz ausreiste. Der erwähnte Robert ist deren Sohn. Zum Schicksal der Genannten vgl. den Beitrag »Toleranzsache« von Marcel Atze in diesem Band. 40 Doron Rabinovici, Instanzen der Ohnmacht (Anm. 21), S. 78.
wohl nicht zu. Bezeichnenderweise lässt Tim Bonyhady seine Familiengeschichte »Wohllebengasse« mit diesem Satz beginnen: »1938 war ein gutes Jahr für die Wiener Möbelpacker.«41 Auch Salten wurde Kunde der boomenden Branche. An Neujahr vermerkt er, eine Postkarte an die Wiener Spedition Neusser geschickt zu haben: »Ergänzung des Inventars«.42 Geholfen hat ihm bei der Umsetzung seiner Mitnahmepläne zwar auch der Spediteur, der am 3. Januar 1939 eine Anzahlung in Höhe von 500 Reichsmark erhielt – aber die Firma Neusser dürfte eher in die Rolle eines Doppelagenten geschlüpft sein, denn natürlich stand der Betrieb auch mit der Gestapo in ständigem Austausch über das Gut der Ausreisenden. Doch eine weitere Person war für Salten sehr viel wichtiger, ohne sie hätte er sehr wahrscheinlich auf die Mitnahme vieler geliebter Dinge ganz verzichten müssen: Otto Demus (1902–1990). Der junge Kunsthistoriker nahm damals als erster Staatskonservator eine Schlüsselposition beim Bundesdenkmalamt ein. In dieser Funktion hatte er Gelegenheit, den Nationalsozialisten zu schaden, indem er der Ausfuhr wertvoller Artefakte, die er niemals hätte erlauben dürfen, meist zustimmte und mithin zugunsten der Antragsteller entschied. Bisweilen scheint er hochkarätige Kunst als religiösen Ramsch ausgegeben zu haben, um Gemälde aus dem Machtbereich der Nationalsozialisten hinaus zu schleusen.43 Mit Blick auf Saltens »Ansuchen um Ausfuhrbewilligung«44 fällt nicht nur auf, dass die Beschreibung des Materials derart allgemein gehalten war, dass sich kein Mensch darunter etwas vorstellen konnte, selbst wenn es zu berücksichtigen gilt, dass das Papier vom Spediteur ausgefüllt wurde. Aber noch mehr sticht das Antragsdatum ins Auge: der 13. Januar 1939 (Abb. 20). Tags darauf wurde der Antrag von Otto Demus genehmigt. Die Angelegenheit wird auch von Salten erwähnt. Seine Notiz »8 Uhr auf! / Denkmalamt! Alles durchgelassen!« stammt allerdings – man lese und staune – vom 12. Januar. Es spricht also vieles dafür, dass es zwischen dem Antragsteller und Demus zu einer Absprache gekommen ist. Dass bei Salten trotzdem Schätzmeister für Kunstwerke, Silber und Teppiche zu Gast gewesen sind, muss dieser These nicht widersprechen. Lange gut ging die widerständige Haltung von Otto Demus allerdings nicht – er ergriff noch im selben Jahr die Flucht, um in England für berühmte Institutionen tätig zu werden: das Warburg Institute und das Courtauld Institute of Art. Während diese Schlacht erfolgreich geschlagen war, kam es aufgrund einer Zeitungsmeldung neuerlich zu einem wilden Gerücht um das Schicksal Saltens. Kurios mutet die Geschichte vor allem deshalb an, weil sie in einer Rezension der US-Ausgabe des Romans »Perri« zu lesen war, der den deutschsprachigen Lesern bekanntlich vorenthalten blieb. So notiert Salten am 20. Dezember 1938 recht konsterniert: »Amerik. Kritik über Perri, ich als / 70er sei im Konzentrationslager!« Doch diese Art ›Fake News‹ hatte auch ihr Gutes, denn sie machte die Welt darauf aufmerksam, dass Salten sich noch immer im NS-Machtbereich aufhielt. Obwohl sie wusste, dass Salten keineswegs zu den vielen prominenten Österreichern zählte, die von den nationalsozialistischen Herrschern in ein KZ deportiert worden waren, machte sich keine andere als Erika Mann (1905–1969) die Falschmeldung zunutze. Sie engagierte sich stark in der Flüchtlingshilfe und hatte beste Kontakte zur »American Guild of Cultural Freedom«, einer Hilfsorganisation, die zahlreichen
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41 Tim Bonyhady: Wohllebengasse. Die Geschichte meiner Wiener Familie. Wien: Zsolnay 2013, S. 9. 42 Felix Salten: Taschenkalender 1939. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 16, 3.10.8. In der Folge nur mehr unter dem Datum im Text nachgewiesen. 43 So hat er offenbar in einem Fall ein Gemälde von El Greco als »Holzbild Kreuzigung« ausgegeben. 44 BDA-Archiv, Ausfuhrmaterialien, K 49, Zl. 501/1939, Felix Salten. Für die Übermittlung des Antrags sowie den in Anmerkung 43 zu findenden Hinweis bin ich Anneliese Schallmeiner von der Kommission für Provenienzforschung beim BKA besonders dankbar.
Juden und Oppositionellen, deren Freiheit und Leben vom Regime bedroht waren, finanzielle Unterstützung zukommen ließ oder zur Flucht verhalf. Sie informierte
20 Saltens »Ansuchen um Ausfuhrbewilligung«, eh. unterzeichnet von Otto Demus.
mit Oswald Garrison Villard (1872–1949) einen berühmten US-Journalisten, der zugleich Mitglied des »Boards of Directors« der »AmGuild« war. »I was eager to discuss the case of FELIX SALTEN«, teilt sie am 21. Januar 1939 mit, »who is one of the outstanding literary figures in Vienna. Mr. Salten staid [!] in Vienna until now, his money has naturally been taken away from him, and it was not possible for him to enter Switzerland or any other country. Yesterday I received a letter from Felix Salten’s daughter Anne Katherine Rehmann-Salten, who is living in Switzerland. She is telling me that by now there is a chance for her to get her father there, and he, of course, is more than eager to finally leave the Viennese hell. But the Swiss authorities ask for some kind of financial security.« Um ihrem Anliegen Nachdruck zu verleihen, brachte sie jemanden ins Spiel, der Mr. Villard sicher bekannt war, ihren Vater: »I do want to emphasize once more that Mr. Salten, who was an intimate friend of Hoffmannsthal [!], Schnitzler and so on, and who is a very good friend of my father’s besides is certainly a most worthy person to be helped.« In der Folge schlug Erika Mann eine Unterstützung in Höhe von 30 Dollar pro Monat vor, auszahlbar, sobald Salten in der Schweiz angekommen sei. Um die Forderung noch etwas nachdrücklicher zu gestalten, gab sie den Brief an Thomas Mann weiter, der ein eigenhändiges Postskriptum beisteuerte: »My dear Mr. Villard, this is just to tell you, that I consider my friend and colleague Felix Salten to be one of the worthiest candidates for the Guild’s scholarship. I do hope, that 30 Dollars will be granted to him for half a year.«45 Der Wunsch des Zauberers wurde naturgemäß erfüllt. Auch in Wien ging es von nun an Schlag auf Schlag. Saltens Eintrag vom 22. Januar 1939 jedenfalls lässt erkennen, wie wichtig vor allem Anna Katharina Rehmann für die Flucht ihrer Eltern war: »Brief von Annerle: Bern zustimmend entschieden. Generalkonsulat verständigt!! / Noch immer nichts vom Pass-Amt!!« Fünf Tage später konkretisieren sich die erfolgreichen Bemühungen: »Aus Bern Einreise durch das General-Konsulat angekündigt!!« Und am 15. Februar traf erlösende Post ein: »Verständigung von der Prinz Eugenstrasse: für morgen Reisedokumente holen! Endlich!!« Doch der tags darauf fällige Weg in den vierten Wiener Gemeindebezirk führte Salten nicht in die Schweizer Botschaft, damals wie heute in der Prinz-Eugen-Straße 9a gelegen, sondern vielmehr ins nur wenige Meter entfernte Palais Rothschild – in den Hausnummern 20–22 befand sich die von Adolf Eichmann begründete »Zentralstelle für jüdische Auswanderung«. Die Nacht vor diesem Besuch war schlaflos und Saltens Eintrag vom 16. Februar lässt erahnen, warum: »Die Hölle in der Prinz Eugenstrasse, Abbild des Jammers. / Nach einstündiger Qual die Dokumente.« Felix Saltens letzte Wiener Tage waren angebrochen. Der Spediteur, zu dem er offenkundig Vertrauen gefasst hatte, regelte die letzten Formalitäten für Saltens Ausfuhrgut, wie dessen Kalendereintrag vom 17. Februar 1939 zu entnehmen ist: »Herr Neusser nimmt meinen Pass u. die Unbedenklichkeitserklärung bis morgen mit.« Dann trennt sich Salten von Dingen, die er anscheinend nicht mitnehmen will oder kann. Dazu zählt überraschend schriftstellerisches Equipment, wie am
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45 Erika Mann an Oswald Garrison Villard, Brief vom 21.01.1939. Deutsches Exilarchiv, EB 70/ 117-D.06.61.0024. Hervorhebung im Original.
20. Februar vermerkt: »Schreibmaschine verkauft (40 Mk.)« Und er macht eine Art Farewell Tour durch Wien. Ganz wichtig war ihm, noch einmal Leland B. Morris (1886–1950) zu sprechen, der Salten während der Reichspogromnacht unter seinen Schutz gestellt hatte. Den US-Diplomaten sieht er am 21. Februar: »Abschieds-
21 Dieses Porträt von Hilde Wagener-Tressler begleitete Salten bei seiner Ausreise nach Zürich. Foto: Atelier Pietzner Fayer, Wien. 22 Bahnhof Feldkirch, März 1938. Stadtarchiv Feldkirch.
besuch bei Generalkonsul Morris, der mir die Reisekosten Cherbourg–Hollywood berechnet: etwa 250 Dollar.« Dieses Treffen knüpfte wohl an ein Gespräch an, das beide im Spätsommer 1938 geführt haben dürften, als Morris – der ein Bewunderer von Saltens literarischem Werk war, besonders von »Bambi« – seine Hilfe bei der Ausreise angeboten hatte: »Sollten Sie ueber eine eventuelle Reise nach Amerika Einzelheiten erfahren wollen, so seien Sie versichert, dass es mir stets ein Vergnuegen bereiten wird, die Angelegenheit persoenlich mit Ihnen zu besprechen.«46 Inzwischen war Saltens Tochter am Züricher Immobilienmarkt tätig geworden, wie der Vater am 1. März notiert: »Sie hat zwei Zimmer gemietet 65 Frs per Monat ohne Heizung.« Zwei Tage später machten sich Felix und Ottilie Salten zum Westbahnhof auf, um den Zug in die Freiheit zu besteigen. Der 3. März war der »Tag der Abreise«. »Alle kommen an die Bahn«, heißt es, es wird ein »Tränenreicher Abschied«. Vielleicht hatten sich auch Hilde Wagener (1904–1992) und Otto Tressler (1871–1965) eingefunden, die zu den treuen Freunden Saltens zählten. Im Gepäck hatte er eine Autogrammkarte mit ihrem Porträt und der eigenhändigen Widmung »Gute Fahrt!«47 In Feldkirch schließlich werden die letzten Momente potentieller Willkür beim Grenzübertritt gemeistert: »Zolldurchsuchung gründlich, aber sehr höflich (Leibesvisitation auch an Otti)«. In Zürich angekommen verschickt Salten Dutzende von Postkarten, um die auf der ganzen Welt verstreuten Freunde vom glücklichen Entkommen zu unterrichten. Am 6. März erhält er aus Privatbesitz
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46 Leland B. Morris an Felix Salten, Brief vom 19.09.1938. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox7, 2.1.385.1. 47 WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 17, 3.11.11.52.
eine gebrauchte Schreibmaschine, ein britisches Fabrikat; am 7. März erfolgt die »Meldung am Polizeiamt«. Am Tag darauf trägt Salten das neue Gerät gutgelaunt zum Service: »Mit der Underwood zu Underwood«. Aber er legt nicht gleich los mit
48 Felix Salten an Ernst Lothar, Brief vom 04.11.1939. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 10, 2.2.39.1.
dem Tippen, vielmehr fällt alle Spannung von ihm ab. Am 10. März 1939 schafft er nur mehr die Notiz: »Den ganzen Tag zu Bett«. Seit Hitlers Auftritt am Heldenplatz am 15. März 1938 hatte Felix Salten exakt 353 Tage im nationalsozialistischen Wien verbracht. Was er in dieser Zeit gesehen und durchgemacht hatte, ließ ihn die Stadt, deren Ehrenbürger er seit 14. März 1930 war, und deren Bewohner verteufeln. »Ich habe die Wiener mein Leben lang weit überschätzt«, schreibt er dem in die USA geflohenen Dichterkollegen Ernst Lothar (1890–1974) am 4. November 1939, »und es gibt jetzt überhaupt keine Menschensorte, die ich so verachte, die ich so verdamme, wie die Wiener und die Oesterreicher überhaupt. Auch hier folge ich meinem Wesen. Ich habe mich niemals mit irgend einem Menschen verfeindet, aber ich habe mich auch niemals mit einem Menschen, der mir diese Verfeindung aufzwang, ausgesöhnt. So halte ich es mit der Stadt, die mir einst teuer gewesen, mit dem Volk, das ich einst geliebt habe.« Für die Zukunft legt Salten eine Art Schwur ab: »Eines Tages wird diese Welt von der Verbrecherbande erlöst sein, eines Tages wird man wieder als ein freier Mensch in einer befreiten Welt atmen können. Wenn ich diesen Tag erlebe, will ich überall hin reisen nur nicht nach Oesterreich.«48
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23 Nach Wien wollte er nie mehr zurückkehren, die Ehrung zum »Bürger« dieser Stadt vom 14. März 1930 nahm er jedoch mit ins Exil. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Großformate, 4.6.3.
»Das Liebhaben ist doch das Schwerste und Schönste im Leben« Felix Salten privat
Kyra Waldner
Eltern und Geschwister – eine Spurensuche Die Tage rund um seinen 22. Geburtstag verbrachte Felix Salten in Miskolcz im ungarischen Komitat Borsod, der Geburtsstadt seines Vaters. Philipp Salzmann
1 Felix und Ottilie Salten am Tisch im Garten, um 1910. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 16, 3.11.3.5.
(1831–1905), von Beruf »Montanunternehmer«,1 war besessen vom Traum eines eigenen Kohlebergwerks und hoffte, ein Vorkommen zu finden, das sich ausbeuten ließ, wohingegen für den jungen Salten die Musterung der eigentliche Anlass für den Aufenthalt in Miskolcz war. Er ließ sich überreden, die vom Vater in die Wege geleitete Inspektionstour zu begleiten und lenkte schließlich die Kutsche, flankiert von »unserem Bergdirektor« sowie von einem jungen Ingenieur, wie er am 12. September 1891 Arthur Schnitzler berichtete. Von dem Umfeld, aus dem der Vater stammte, war Salten als Spross einer assimilierten, an liberalen Werten orientierten Familie keineswegs begeistert, vielmehr rechnete er noch im selben Brief mit seinem Beifahrer (»typisch ungarischer Jude«) sowie überhaupt mit dessen Landsleuten ab: »Ich glaubte, ich müsse vom Wagen springen, um laut schreiend ins Café Kremser zu laufen, um mit Ihnen über die lächerliche Begeisterung des Widerlichen 1. Grades zu schimpfen. Das wird jedoch bald geschehen, und dann werde ich Ihnen das Milieu schildern, in das ich hier geraten bin. Schrecklich ist mir hier das Umworbenwerden, das Herandrängen der Familien, und das plumpe Angeln der Mütter und Töchter.«2 Philipp Salzmann, dessen Biografie weitestgehend im Dunkeln liegt, war in der Tat der erste männliche Nachkomme, der mit der Tradition seiner Familie gebrochen hatte, indem er, anstatt Rabbiner zu werden, eine Ausbildung zum Ingenieur absolvierte. Mit seiner Frau Marie (1833–1909), die er 1850 geheiratet hatte, ließ sich Saltens Vater in Budapest nieder, woher letztere auch stammte. Im Herbst 1869, kurz nach der Geburt des Sohnes Siegmund (»Sziga«), übersiedelte die Familie weiter nach Wien, denn Salzmann hatte sich beim Kauf einer Kohlegrube verspekuliert,
1 So die Berufsbezeichnung im Adressbuch Lehmann aus dem Jahr 1900. 2 Felix Salten an Arthur Schnitzler, Brief vom 12.09.1891. Als Textgrundlage für die in diesem Beitrag zitierten Briefe Saltens an Schnitzler wurde die vom Empfänger beauftragte Abschrift verwendet, von der sich eine Kopie im Nachlass Saltens befindet. Vgl. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 10, 2.2.61. Hervorhebung im Original.
2 Szemere-utcza Miskolcz, Ansichtskarte 1903. Foto: Lövy, Miskolcz. Privatbesitz.
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und der Umzug in die k. k. Reichshauptstadt war, wie für viele Zeitgenossen, mit der Hoffnung auf neue Geschäftsverbindungen und damit auf das Ende der finanziellen Misere verbunden. Unter der Unbeirrbarkeit, mit der Salzmann eine fragwürdige Unternehmung nach der anderen ansteuerte, litt offenbar die gesamte Familie – und insbesondere Salten, der in späten Jahren nicht nur in unveröffentlichten Erinnerungen auf entbehrungsreiche Kindheitstage zurückblicken sollte,3 sondern den Eltern, seiner Kindheit und Jugend auch in der »Neuen Freien Presse« zwischen 1928 und 1931 einige Arbeiten widmete. Aus den Feuilletons geht hervor, dass die Beziehung zum Vater wohl von Zuneigung und Bewunderung geprägt war, jedoch die Enttäuschung auf Seiten des Sohnes letzten Endes weit überwog. So habe Salten gegen die »ungeheure Wirkung« der Persönlichkeit des Vaters »schon als Zwölfjähriger angekämpft« und »später, als Sechzehn- und Siebzehnjähriger, offen dagegen zu rebellieren begonnen«.4 Diese Ablehnung habe sich gesteigert bis hin »zu einem Haß, wie ihn nur ein Kind gegen seinen Vater empfinden kann«.5 Erst nach der Beerdigung Philipp Salzmanns, zu dessen Tod im April 19056 auch Marie von Ebner-Eschenbach kondolierte,7 konnte er sich endgültig zum Vater bekennen: »Niemals zuvor habe ich ihn so geliebt, habe ich ihn mit tiefster Erschütterung so heiß bewundert, als an jenem sommerhellen Morgen, an dem wir ihn zu Grabe betteten. Nach jüdischem Brauch trugen wir Söhne seine Bahre. Fünf Söhne trugen da ihren Vater, der das Vertrauen, der die Zuversicht, der den Mut gehabt hatte, sieben Kinder ins Leben zu schicken. Welch ein wunderbares Vertrauen, welch eine leichte Zuversicht und was für ein guter Mut.«8 Den Trauerzug begleitete nicht nur Hugo von Hofmannsthal, sondern auch Arthur Schnitzler, wie ein Eintrag in dessen Tagebuch dokumentiert: »4/4 Vm. Centralfriedhof; Begräbnis von Salten’s Vater.«9 Die Kindheit in Wien, am ausführlichsten beschrieben in seinen Fragment gebliebenen Memoiren, verbrachte Salten zunächst im bürgerlichen Bezirk Alsergrund, wo die Familie den Alltag mit knappen Mitteln zu bestreiten hatte: »Unsere Armut war so fühlbar, dass wir tagelang hungern mussten.«10 Der Vater, ein Repräsentant des aufgeklärten Judentums, der »religiös indifferent blieb«11 und sich erst im Alter dem Glauben zuwandte, erlaubte den Besuch einer katholischen Volksschule. Hier verbrachte Salten, der »als einziges Judenkind meiner Klasse einfach sitzen [blieb], wenn der katholische Religionsunterricht begann«,12 unbeschwerte Jahre und wurde, unter dem Einfluss eines zuvorkommenden Religionslehrers, »ein eifriger, frommer Katholik«.13 Noch weiter in die Ferne rückte der ersehnte soziale Aufstieg der Familie mit dem Umzug in den weniger prestigeträchtigen Vorort Währing, in dem großbürgerliche Wohngegenden wie das Cottageviertel noch nicht entstanden waren. Diese Übersiedlung war für Salten mit einem Wechsel in das Gymnasium in Hernals verbunden, wo er, im Gegensatz zu seinen Schuljahren im Alsergrund, antisemi-
3 Vgl. Felix Salten: [Erinnerungen], Typoskript, 64 Bl., hier Bl. 1. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 1, 1.1.1.9.1. 4 Felix Salten: Mein Vater. Aus dem Manuskript: »Die Währinger Erinnerungen«. In: Neue Freie Presse, Nr. 23814 vom 01.01.1931, S. [1]–4, hier S. [1]. 5 Ebd., S. 3. 6 Vgl. die Todesmeldung im Neuen Wiener Tagblatt, Nr. 93 vom 03.04.1905, S. 7 sowie die Todfallsaufnahme vom 19.04.1905 im Verlassenschaftsakt. WStLA, BG Hietzing, A4/2: Philipp Salzmann, 2.4.1905, 13 (14?) Bez., G306-4/30: A4/2/11. 7 Marie von Ebner-Eschenbach an Felix Salten, Brief vom 14.04.1905. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 6, 2.1.125.7. 8 Felix Salten, Mein Vater (Anm. 4), S. 4. 9 Arthur Schnitzler: Tagebuch 1903–1908. Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1991, S. 129 (Eintrag vom 04.04.1905).
tischen Übergriffen ausgesetzt war und auf »bösartige, aufsässige Priester« traf,
10 Felix Salten, [Erinnerungen] (Anm. 3), Bl. 1.
»die schmachvolles Unrecht an mir verübten«.14 Schon bald schickte ihn der Vater
11 Ebd.
in das hochangesehene Gymnasium Wasagasse, »wo es unter hundert Schülern
12 Ebd.
etwa vierzig bis sechzig Juden gab«15 – und wo Salten nach einer Auseinanderset-
13 Ebd.
zung mit einem Lehrer in der dritten Klasse seine Schulkarriere vorzeitig beendete.
14 Ebd.
Zur selben Zeit verlor die Familie Salzmann ihre Wohnung: »Mein Vater ging ganz
15 Ebd., Bl. 2.
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zugrund, so dass wir delogiert wurden und ins Hotel ziehen mussten«,16 rekapitulierte Salten in den Erinnerungen. Der Mutter gegenüber, die den Vater um vier Jahre überlebte, hegte Salten augenscheinlich keinerlei Groll, dafür aber quälte ihn mehr als zwanzig Jahre nach ihrem Tod »leidenschaftliche Reue«.17 In dem ihr gewidmeten literarischen Porträt bekennt er sich dazu, die Mutter als Erwachsener vernachlässigt zu haben, er sei ihr »ausgewichen« und »mutlos, wehleidig entflohen, in Arbeit, in Sport, in Lektüre, in alles mögliche und unmögliche«18 – eine Tatsache, die das Betrachten einer Fotografie nunmehr zu einer schmerzlichen Erfahrung mache. Der Darstellung ihres Sohnes zufolge erfüllte Marie Salzmann (geb. Singer), gleichsam als Gegenentwurf zu ihrem Mann, ihre Rolle als Ehefrau und Mutter ohne jegliche eigene Ansprüche: »Sie war nach der alten Weise eine magdliche Frau, sie dachte nicht daran, sich ernsthaft gegen den starken Herrenwillen, den sie verehrte, aufzulehnen. Sie war selbst nur stark in der Erfüllung ihrer Pflichten.«19 Dabei war diese Frau, die mit Mann und Kindern zuzeiten ein prekäres Leben führte, durchaus in den Genuss bildungsbürgerlicher Privilegien gekommen: Marie Salzmann habe, so Salten, in ihrer Kindheit und Jugend die Oper besucht und später, als jungverheiratete Frau, während der Hausarbeit Arien gesungen oder Verse von Schiller oder Grillparzer deklamiert, wenn sie die Kinder schlafenlegte. Sogar aus verschollenen Theaterstücken habe sie zu zitieren gewusst. Es war die Mutter, die das Studium der Söhne
16 Ebd.
an der Universität befürwortete, im Gegensatz zum Vater,20 der weder Widerspruch
17 Felix Salten: Meine Mutter. Aus dem Manuskript »Die Währinger Erinnerungen«. In: Neue Freie Presse, Nr. 23956 vom 24.05.1931, S. 1.
noch Ratschläge geduldet, seine Frau aber »zweifellos aufrichtig geliebt« habe, »immer geliebt wie ein Bräutigam und ein wenig nach der Art eines Troubadours«.21 Aus der Ehe gingen insgesamt acht Kinder hervor, über die nur wenig zu erfahren ist. Sicher ist, dass zumindest drei Brüder und eine Schwester Saltens noch in Budapest geboren wurden, während der Geburtsort einer Schwester nicht
18 Ebd. 19 Ebd., S. 3.
eruiert werden konnte. Ein Bruder, Jahrgang 1868, verstarb wohl noch als Säug-
20 Vgl. Felix Salten, Mein Vater (Anm. 4), S. 3.
ling.22 Freilich machte Salten nicht nur die Eltern, sondern auch die Geschwister
21 Ebd., S. 2.
zu Protagonisten seiner Erinnerungen; einem Bruder hat er darüber hinaus ein
22 Felix Salten, Meine Mutter (Anm. 17), S. 2.
literarisches Porträt gewidmet.23 Schließlich dürfte er auch in der Erzählung »Der Erstgeborene« Bezug auf den ältesten Bruder nehmen.24 Dieser Erstgeborene mit Namen Emil, Jahrgang 1858, war der Schilderung seines Bruders zufolge »ein wertvoller, bescheidener und für Musik ungeheuerlich empfänglicher Mensch, mit dem ich mich sehr gut verstand, obwohl er um 12 Jahre älter war als ich«.25 Er dürfte die Verantwortung für die Familie in Zeiten väterlicher Abwesenheit übernommen haben; auch habe er den Seinen, gemeinsam mit dem gerade 18-jährigen Felix, »ein sehr bescheidenes und winziges Heim in einem neuen Hause an der Brigittabrücke«26 verschafft und eingerichtet, nachdem die Familie sich aus der Not heraus in einem Vorstadthotel einquartiert hatte. Sein Brot verdiente Emil Salzmann als Angestellter des Versicherungsbüros »Phönix« in der Wiener Innenstadt, wo auch Salten 1893 als Polizzenschreiber tätig wurde.27 Viel später, nach Saltens Rückkehr aus Berlin, soll Emil noch einmal bei einer Wohnungsfindung geholfen haben: »Meine Freunde Hermann Baar [!], Arthur Schnitzler[,] Hugo von Hofmann[s]thal nahmen mich sehr herzlich auf, und mein damals noch lebender Bruder Emil fand für uns, für meine Frau, die Kinder und
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23 Vgl. Felix Salten: Theodor. In: Neue Freie Presse, Nr. 22381 vom 06.01.1927, S. 13. 24 Vgl. Felix Salten: Der Erstgeborene. In: Neue Freie Presse, Nr. 23456 vom 01.01.1930, S. 1–3. 25 Felix Salten, [Erinnerungen] (Anm. 3), Bl. 40. 26 Ebd. An deren Stelle findet sich heute die Friedensbrücke. 27 Und nicht schon im Alter von 16 Jahren, wie Salten in den Erinnerungen darlegt. Vgl. Siegfried Mattl, Werner Michael Schwarz: Felix Salten. Annäherung an eine Biografie. In: Felix Salten. Schriftsteller, Journalist, Exilant. Hg. von S. M. u. W. M. S. Wien: Holzhausen 2006 (= Wiener Persönlichkeiten V), S. 17–71, hier S. 23.
mich eine prächtige Wohnung in Heiligenstadt.«28 Emil Salzmann, der unverheiratet blieb und im Erwachsenenalter noch im Haushalt der Mutter lebte, verstarb Ende Juni 1908 infolge einer schweren Neurasthenie, wie aus amtlichen Dokumenten29 und aus Briefen Saltens an die Verlegergattin Hedwig Fischer hervorgeht.30 Am ersten Weihnachtsabend im Kreis der Familie ohne Beisein des Bruders war der Schmerz über den Verlust besonders groß: »Dann fehlte mir den ganzen Abend das heiter leuchtende schöne Bruder-Antlitz, das sonst an diesem Tag wie ein Gestirn der Liebe durch meine Zimmer wanderte. Er war immer derjenige, der sich am meisten und am kindlichsten freute. Ich konnte in meinem Herzen nicht von ihm los, und die Folge war, dass ich gestern, nach wochenlanger Pause, wieder einen regelrechten Zustand hatte, der mich gänzlich hernahm.«31 Unmittelbar nach Emils Tod schrieb Salten an Arthur Schnitzler: »Ich bin jetzt an den Nerven wieder total herunter und von meinen Darmzuständen in peinigender Weise, mehr als je, heimgesucht. Trotz alledem muss ich sehr viel arbeiten.«32 Ebenfalls im Jahr 1858, am 30. Dezember nämlich, kam Saltens zweitältester Bruder Ignaz zur Welt. Er schlug eine Karriere als Kaufmann ein und brachte es, wie Salten im Juli 1906 Schnitzler berichtet, zu einigem Wohlstand, wenn auch die Geschäfte nicht immer von Erfolg gekrönt waren. »Wie viel er besitzt, weiss ich nicht, weiss nur, dass er mit seiner Frau sechs Wochen in England war, ihr um 20.000 Kronen Schmuck gekauft hat, für meine Mama alles Erdenkliche tut, und meiner sel. Schwester wie meinem Papa ein kostbares Grabmonument hat errichten lassen, dass er bei alledem doch weit von einer Million entfernt, und bei alledem von seinem Glück geradezu melancholisch geworden ist, weil der Papa jahrelang darauf gewartet hat – und genau zwei Wochen zu früh starb.«33 Tatsächlich meldete Ignaz Salzmann, der eine kinderlose Ehe mit einer Frau namens Agathe Reinhard (1857–1938) führte,34 just im selben Jahr 1906 beim kaiserlichen Patentamt ein »Verfahren zur scheinbaren Vermehrung der Leuchtwirkung elektrischer Glühlampen« an – zehn Jahre nach der Gründung einer eigenen Firma zum Vertrieb von Leuchtmitteln mit Sitz in Wien-Alsergrund, die nur kurz Bestand hatte.35 Die »Hausherren-Zeitung« hatte bereits im November 1896 über einen Betrugsfall in diesem Zusammenhang berichtet, der Salzmann angelastet wurde.36 Felix Salten selbst machte den Bruder in seinen Erinnerungen verantwortlich dafür, dass er den ursprünglichen Familiennamen abgelegt hatte: Auch Ignaz habe literarische Ambitionen gehabt und dahingehend heftigen Zuspruch seitens der Familie erfahren, konnte allerdings als Dichter nicht reüssieren. Dieses Schicksal, im Kreis der Familie anerkannt zu werden für etwas, das außerhalb keinen Bestand hatte, sollte sich, so das Argument, nicht wiederholen: »Sonst hätte ich meines Vaters Namen Salzmann keineswegs verschmäht, doch ich wollte[,] wie gesagt[,] allen familiären Bewunderungen ausweichen«.37 Theodor, dem drittgeborenen Sohn von Marie und Philipp Salzmann, setzte Salten ein literarisches Denkmal. Als der Bruder, der von Geburt an geistig beeinträchtigt war, im Alter von 59 Jahren verstarb, erschien in der »Neuen Freien Presse« der Nachruf »Theodor«: »Mir fehlt er schrecklich, der gute, kleine, zierliche Theodor mit den kindlich naiven Augen, mit dem großen, weißen Schnurrbart und mit dem unschuldig hellen, aufjauchzenden Lachen. Mir fehlt er, nicht bloß, weil
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28 Felix Salten, [Erinnerungen] (Anm. 3), Bl. 24. 29 Vgl. die Todfallsaufnahme im Verlassenschaftsakt 5A/640/32 des BG Hietzing vom 07.10.1908: WStLA, BG Hietzing, A4/2 – 2A: Salzmann, Emil, verst. 26.06.1908. 30 Vgl. Felix Salten an Hedwig Fischer, Brief vom 04.07.1907 sowie Brief vom 21.06.1908. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 9, 2.2.22.5 sowie 2.2.22.19. 31 Felix Salten an Hedwig Fischer, Brief vom 25.12.1908. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 9, 2.2.22.29. 32 Felix Salten an Arthur Schnitzler, Brief vom 05.07.1908 (Abschrift). WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 10, 2.2.61.255. 33 Felix Salten an Arthur Schnitzler, Brief vom 17.07.1906 (Abschrift). WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 10, 2.2.61.230. 34 Vgl. die Todfallsaufnahme im Verlassenschaftsakt 7A/A/1576/38 des BG Hietzing vom 25.10.1938. WStLA, BG Hietzing, A 4/7 – 7A: Salzmann Agathe, verst. 8.10.1938. 35 Vgl. Die Presse, Nr. 73 vom 14.03.1896, S. 8; Amtsblatt der Wiener Zeitung, Nr. 62 vom 14.03.1896, S. 387; Neue Freie Presse, Nr. 11353 vom 01.04.1896, S. 10. 36 Hausherren-Zeitung, Nr. 218 vom 01.11.1896, S. 4. 37 Felix Salten, [Erinnerungen] (Anm. 3), Bl. 2.
er mein Bruder war, sondern weil er unter den zahllosen, schwachsinnigen Menschen, die ich kenne, einer der gescheitesten war und einer der ehrlichsten; weil er unter den Unglücklichen, die ich gesehen habe, einer der glücklichsten gewesen ist. Dann auch, weil er neben mir gelebt hat wie ein stehengebliebenes Stück meiner eigenen Kindheit.«38 Ein Nahverhältnis dürfte auch zwischen Salten und seinem jüngsten Bruder bestanden haben: Geza Salzmann, geboren am 31. Dezember 1870 in Wien, war bildender Künstler und hatte sich auf Kleintierplastik spezialisiert. Seine Ausbildung absolvierte er an der Staatsgewerbeschule in Wien unter der Direktion von Camillo Sitte (1843–1903), ab 1890/91 ist ein Studium an der Akademie der bildenden Künste nachweisbar. Hier besuchte er, jeweils für die Dauer von sechs Semestern, die Bildhauerklassen von Edmund Hellmer (1850–1935) und Carl Kundmann (1838–1919); die weiterführende Ausbildung in der »Specialschule für höhere Bildhauerei« unter der Leitung von Caspar von Zumbusch (1830–1915) wurde aus
38 Felix Salten, Theodor (Anm. 23).
unbekannten Gründen im Februar 1897 abgebrochen.39 In jedem Fall empfahlen
39 Vgl. das Datenblatt zu Geza Salzmann aus dem Archiv der Akademie der bildenden Künste Wien, freundlicherweise zur Verfügung gestellt von Eva Schober im September 2017.
die drei Bildhauerkoryphäen, bei denen Salzmann gelernt hatte, diesen auch drei Jahre später noch dem »Curatorium der Rothschild’schen Künstlerstiftung« als Kandidaten für das »Ignaz Blumenfeld’sche Bildhauerstipendium«, das letztlich anderweitig vergeben wurde.40 Das Werk des Künstlers selbst ist spärlich dokumentiert: Nachweisbar ist zunächst die Teilnahme an der XII. Jahresausstellung im Künstlerhaus im Jahr 1893, zu der Salzmann, der bereits unter dem Nachnamen Sós zeichnete, eine »Hundestudie« beisteuerte.41 Die Gipsstatuette befand sich im Besitz von Franz Netuschil, der zwischen 1920 bis 1949 an der Akademie der bildenden Künste tätig war und möglicherweise zu jenen gehörte, die Salzmann förderten.42 Im Katalog der Großen Berliner Kunstaustellung von 1894 ist Sós mit einer Gipsarbeit unter dem Titel »junger Chimpanse« vertreten.43 Felix Salten selbst berichtete am 21. Juli 1896 in der »Wiener Allgemeinen Zeitung« über die damals aktuelle Schülerausstellung der Akademie und erwähnt darin eine Arbeit des Bruders mit dem Titel »Spielende Löwen«.44 Weiter wirkte Sós 1903 bei einer Gemeinschaftsausstellung des Jüdischen Museums in Wien mit,45 1906 bei einer Ausstellung im Budapester Künstlerhaus, über die der »Pester Lloyd« berichtete: »Geza Sós, der bekannte Thierplastiker[,] bringt diesmal Hunde- und Stierstudien von unverfälschter Lebenstreue.«46 Aus der Zeit der Vorbereitung auf diese Ausstellung ist ein Brief an den Bruder Felix erhalten, in dem es heißt: »Ich bin ziemlich fleißig, werde nächster Tage im Tiergarten eine Löwengruppe anfangen, von der ich mir auch viel verspreche. Vom Stier hab ich eine neue Skizze gemacht, nachdem ich bei den Stierkämpfen war.«
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Der eigentliche Anlass für das Schreiben war
jedoch eine wenig erfreuliche Nachricht: Jene Namenskorrektur von »Salzmann« auf »Salten«, die Sós offenbar im Auftrag des Bruders bei der Matrikelstelle der Budapester Cultus-Gemeinde in die Wege leiten sollte, sei nicht möglich und käme einer »Matrikelfälschung« gleich. Der Plan könne somit »nur auf ungesetzlichem Wege« umgesetzt werden – »und wenn es aufkommt[,] könntest Du noch in eine Falschungs [!] Affaire verwickelt werden«. Ab 1912 verlieren sich die Spuren des Künstlers: Er verließ im Herbst jenes Jahres Wien mit Ziel »Süd-Amerika«,48 wobei nicht bekannt ist, ob seine Frau Hermine Gisella (Giza), mit der er einen Sohn hatte,
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40 Vgl. den Bericht über die Plenarsitzung des Vorstandes der israelitischen Cultusgemeinde Wien vom 19.06.1900. In: Die Neuzeit, Nr. 25 vom 22.06.1900, S. 260. 41 Katalog der XXII. Jahres-Ausstellung in Wien. Wien: Verlag der Genossenschaft der bildenden Künstler Wiens, 1893, S. 40. 42 Ich danke Paul Rachler aus dem Archiv des Künstlerhauses im WStLA für die Information. 43 Grosse Berliner Kunst-Ausstellung 1894. Berlin: Rudolf Schuster 1894, S. 115. 44 Felix Salten: Die Schülerausstellung der Akademie. In: Wiener Allgemeine Zeitung, Nr. 5517 vom 21.07.1896, S. 4. 45 Vgl. die Meldung unter der Rubrik »Vereinsnachrichten« in: Die Neuzeit, Nr. 5 vom 30.01.1903, S. 58. 46 Max Ruthkai-Rothauser: FrühjahrsAusstellung im Künstlerhause. In: Pester Lloyd, Nr. 106 vom 28.04.1906, S. 2. 47 Hier und im Folgenden: Geza Sós an Felix Salten, Brief vom 05.07.1904[?]. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 11, 2.3.2.16.2. Hervorhebung im Original. 48 Auskunft MA8-B-MEA-662851-2017 des WStLA vom 09.08.2017 auf Grundlage der historischen Meldeunterlagen.
mit auswanderte. In Buenos Aires soll er Arbeiten für den Banco Nacional ausgeführt haben,49 bevor es wieder zurück nach Budapest ging. In Budapest, wo auch seine Heimatzuständigkeit lag, starb Geza Sós am 30. Januar 1918.50 Bleiben noch Saltens Schwestern: Katharina Salzmann, deren Geburtsdatum nicht vorliegt, befand sich in Ausbildung zur Lehrerin, als sie 1883 im Alter von achtzehn Jahren an der Schwindsucht starb.51 Rosalia (»Rosa«) Salzmann, geboren im April 1868, ist im Wiener Adressbuch als »Privatpflegerin« verzeichnet, ab 1925 unter der Adresse Feldmühlgasse N° 9 in Wien XIII. Hier, in unmittelbarer Nachbarschaft zur »Villa« von Gustav Klimt (1862–1918), stand ein Biedermeierhaus, das bis zum Abriss 2002 als Gegenstück zum Atelierhaus galt, in welchem der Künstler ursprünglich gearbeitet hatte, bevor 1923 der Umbau zur »Klimt-Villa« erfolgte. Bis 1940 scheint Rosalia Salzmann, »eine ganz unpolitische, teilweise auch altersschwachsinnige Frau«,52 unter dieser Adresse auf. Der Bruder machte sich seit seiner Ausreise große Sorgen um die Schwester. Am 17. Dezember 1939 heißt es in seinem Taschenkalender: »Nachmittg. aufgewacht, weil eine Stimme laut ›Wien‹ gerufen! Fürchte um Rosalie«. Dieses Traumgesicht hatte einen realen Hintergrund, denn ihr war inzwischen »im Auftrag der Partei« die Wohnung gekündigt worden, wie es in einem Bittbrief Saltens an den Rechtsanwalt Erich Führer (1900–1987) heißt. Führer, der im selben Jahr im Zuge der Liquidation der Kunstsammlung Bloch-Bauer zwischen der Eigentümerfamilie und den NS-Behörden vermittelte, war bereits seit 1932 NSDAP-Mitglied und hatte zwischen 1938 und 1943 die Funktion des Vizepräsidenten der Wiener Rechtsanwaltskammer inne. An den SS-Hauptsturmführer, dem nach Kriegsende der Tatbestand der Bereicherung an jüdischem Vermögen nachgewiesen werden konnte und der 1947 zu drei Jahren Haft verurteilt wurde, wandte sich Salten am 8. Januar 1940: »Wenn es gelingt[,] diese Kündigung rückgängig zu machen und der armen alten Frau, die ja auch noch krank ist[,] ihre Heimstätte zu retten, wäre ein wahrhaft gutes Werk geschehen«.53 Weiter dokumentiert ein Briefkonvolut aus dem Nachlass Saltens die Unterstützung Rosalia Salzmanns durch die »Schwedische Mission«. Johannes Ivarsson, der 1940 die Leitung der Einrichtung von Göte Hedenquist (1907–1996) übernommen hatte, kontaktierte Salten im September des Jahres mit der Bitte um eine regel-
49 Enciclopedia universal ilustrada europeo-americana. Bd. 53: Sainte-Sta. Cruz. Madrid: EspasaCalpe 1927, S. 597. 50 L. K.: »Sós, Géza«, in: Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler von der Antike bis zur Gegenwart. Begründet von Ulrich Thieme und Felix Becker. Bearbeitet und redigiert von H. Vollmer, B. C. Kreplin, L. Scheewe, H. Wolff, O. Kellner. Hg. von Hans Vollmer. 31. Bd.: Siemering–Stephens. Leipzig: Seemann 1937, S. 300. 51 Vgl. Felix Salten, Meine Mutter (Anm. 17), S. 2. Zu Katharina Salzmann findet sich kein Eintrag im Totenschauprotokoll des WStLA, Totenbeschreibamt, B1: 1883/S.
kurz vor der behördlich angeordneten Schließung der »Schwedischen Mission«,
52 Felix Salten an Erich Führer, Brief vom 08.01.1940. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 18, 3.17.4.1.
wurde er angewiesen, künftige Zahlungen »nicht mehr an uns, sondern an die
53 Ebd.
Gesellschaft der Freunde (Quäker) Wien I., Singerstrasse 16, gehen zu lassen«.55
54 Johannes Ivarsson (Schwedische Mission Stockholm) an Felix Salten, Brief vom 10.09.1940. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 18, 3.17.4.4.
mäßige finanzielle Zuwendung für die Schwester, »damit sie ihr Leben fristen« und in einem Heim oder einer Pension untergebracht werden könne. Ende Mai 1941, 54
Tatsächlich war es nun diese Auswanderungs-Hilfsorganisation, die die Unterstützungsfälle in Wien übernahm und dabei also auch den Kontakt zu Verwandten im Exil suchte.56 Rosalia selbst lebte zu dem Zeitpunkt in Untermiete bei einer Frau mit Namen Sara Scheer, Jahrgang 1888, die im Wiener Adressbuch bis 1940 unter der Anschrift Rueppgasse 37 in der Leopoldstadt verzeichnet ist. Auch sie erstattete mehrfach Bericht an Salten und hatte bereits im April des Jahres alarmiert nach Zürich geschrieben: »Verehrter Meister! Der beifolgende Brief liegt schon wochenlang bei Ihrer Schwester ohne daß sie ihn mangels einer Kennkarte aufgeben konnte. Ich wollte ihn ohne Kenntnis des Inhalts – für den ich mit meinem Namen
40
55 Johannes Ivarsson (Schwedische Mission Stockholm) an Felix Salten, Brief vom 27.05.1941. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 18, 3.17.4.8. 56 Käthe Neumayer an Felix Salten, Brief vom 19.06.1941. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 18, 3.17.4.9.
3 Rosalia Salzmann an Felix Salten, Postkarte vom 8. Dezember 1941. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 11, 2.3.2.15.3.
einstehe – nicht aufgeben.«57 Ein paar Zeilen weiter heißt es: »Sie müssen wissen, dass die liebe Rosalia ein bisserl – unberechenbar ist; sie redet oft Sachen daher u. politisiert, daß ich nur mit größter Mühe etwaige Folgen abwehren kann. Meistens verzeiht man es ihrem fortgeschrittenen Alter (wehe, wenn sie das hörte!)[,] aber im Briefe könnte es für mich peinlich sein, wenn ich ihn aufgebe. Sie hat oft schon Sachen geschrieben, welche Sie, verehrter Meister, nicht erreichten u. uns beiden aber, mich u. Rosalia ins Gefängnis gebracht hätten, wenn der Zensor sie gelesen hätte.« Im September 1941 wurde Salten dann von Felix Friedlaender, dem Rechtsberater der nunmehr unter dem Namen »Fürsorgeaktion für christliche und konfessionslose Nichtarier der Ostmark« firmierenden Institution kontaktiert.
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Dessen Brief stellte einen Platz in einem Altersheim in Aussicht, der jedoch anderweitig vergeben wurde.59 Im Januar 1942 legte Friedlaender Salten dann nahe, die Schwester zu entmündigen60 – ein Ratschlag, den dieser entschieden ablehnte.61 Schließlich, im Mai 1942, erhielt Rosalia Salzmann, die kein Mitglied der Kultusgemeinde war, inzwischen jedoch für einen Platz in einem Altersheim der »Aktion Gildemeester« vorgemerkt war, Unterkunft in einer von der »Fürsorgeaktion« betreuten Wohnung. Noch im Juni des Jahres wurde sie aus der Großen Stadtgutgasse N° 7 in der Leopoldstadt ins Ghetto Theresienstadt deportiert. Sie starb dort am 30. August 1942.62 Ihre ehemalige Vermieterin Sara Scheer war bereits Ende Oktober 1941 ins Ghetto Litzmannstadt deportiert worden, nur wenige Tage, bevor Salten von deren Bruder angeschrieben wurde. Heinrich Stein, der im Lager St. Cyprien interniert gewesen war, bat von der okzitanischen Gemeinde Labastide-Clermont aus, einen Teil des Kostgeldes, das Salten regelmäßig über die Fürsorgeaktion zu Scheer nach Wien schickte, künftig direkt an ihn zu senden: »Unser Leben hier
41
57 Hier und im Folgenden: Sara Scheer an Felix Salten, Brief vom 25.04.1941. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 18, 3.17.4.7. 58 Felix Friedlaender an Felix Salten, Brief vom 05.09.1941. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 18, 3.17.4.10. 59 Felix Friedlaender an Felix Salten, Brief vom 11.12.1941. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 18, 3.17.4.12. 60 Felix Friedlaender an Felix Salten, Brief vom 05.01.1942. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 18, 3.17.4.12. 61 Felix Friedlaender an Felix Salten, Brief vom 13.02.1942. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 18, 3.17.4.15. 62 Sterbematrik für Rosalia Salzmann aus dem Ghetto Theresienstadt, online unter https://www.holocaust. cz/databaze-obeti/obet/57377rosalie-salzmann/ [Abfrage vom 25.07.2018].
ist das denkbar primitivste, dennoch muss man das Stückchen Brot kaufen und bezahlen.«63 Vermutlich handelt es sich bei dem Schreiber um jenen Heinrich Stein, der Ende Mai 1944 aus dem Gefangengenlager Drancy nach Auschwitz deportiert wurde, wo er zu Tode kam.64
Felix Salten – Geliebter, Ehemann und Vater Felix Salten jagte in jungen Jahren amourösen Abenteuern regelrecht nach und befand sich diesbezüglich in einer Art Wettbewerb mit Arthur Schnitzler. Wie andere Bürgersöhne machte er erste sexuelle Erfahrungen mit Dienstbotinnen und Prostituierten, woran er sich noch als alter Mann erinnerte: Um 1895 habe er noch bei den Eltern gewohnt, »erhielt so ziemlich das ganze Haus, gestattete mir infolgedessen alle nur erdenklichen Freiheiten. Hatten meine Eltern ein hübsches Dienstmädchen, konnte es nicht fehlen, dass ich mit diesem schlief, und so wurde eines dieser Mädchen schwanger und gebar ohne mir viel Kosten zu verursachen eine Tochter, die mit der Zeit heranwuchs und zahllose Erpressungen an mir verübt hat.«65 Bei der Hausangestellten handelte es sich um die 1873 in Groß-Enzersdorf geborene Elisabeth Kotter, die 1896 ein Mädchen namens Caroline, 1898 einen Jungen namens Ottmar Peter zur Welt brachte. In beiden Fällen war wohl Salten der leibliche Vater.66 Vielfach äußerte sich Salten zu seiner Vorliebe für Frauen, die gleichsam den Gegenentwurf zum Ideal der biedermeierlichen Ehefrau darstellten. Im Mai 1891 schrieb er etwa nach der Lektüre des Einakters »Denksteine« an Arthur Schnitzler: »Ich muss es Ihnen sagen, wie entzückt und begeistert ich davon bin. Viele zwar werden Sie nicht verstehen, und das sind die Männer, welche die Frauen, die wir lieben, zu Fall gebracht und gedankenlos besessen, – und was noch schmerzlicher
4 Ottilie Salten, um 1885. Foto: Nicolaus Stockmann, Wien. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 16, 3.11.9.1.
ist – die Weiber selbst. Wer doch auch so ruhig ›Dirne‹ sagen könnte, und sich wegwenden. Ich habe bisher gefunden, dass das erste leichter war, als das zweite.«67 Auch in seinen Memoiren inszeniert sich Salten als begehrender wie als vielbegehrter Mann, unter anderem in der Schilderung seiner Bekanntschaft mit Bertha Karlsburg, einer Schauspielerin, die 1885 ein Engagement am Ischler Theater hatte. Diese Frau, die den Worten des Autors zufolge »schon durch viele Hände gegangen« war, wurde, »obgleich fast doppelt so alt als ich, wenn auch nicht meine Erste, sodoch schicksalsmässig meine grosse Geliebte. Alles hatte ich junger Bursch durch sie zu erleben. Sinneslust, Eifersucht, Wonne und Qual, furchtbar gemischt.«70 Eine besondere Rolle spielte, nahezu zeitgleich zu Elisabeth Kotter, Lotte Glas (1873–1944), die Salten über die Vermittlung von Paul Wertheimer (1874–1937) kennengelernt hatte. Sie war die Tochter eines Schneiders und im Brotberuf selbst Näherin, Mitglied des Frauenzentralkomitees der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei und wurde schließlich Korrespondentin der »Arbeiterzeitung« in Brüssel. Die Beziehung währte vom Sommer 1894 bis Ende 1895 und war durchaus ambivalent: Die Frauenrechtsaktivistin Glas und Salten, der sich modernen Frauen gegenüber nach außen hin aufgeschlossen zeigte, blieben als Paar in althergebrachten Strukturen verhaftet. Salten vertrat im Grunde die tradierte Geschlechterordnung und profitierte darüber hinaus davon, dass seine Freundin ein emanzipiertes Leben
42
63 Heinrich Stein an Felix Salten, Brief vom 15.09.1941. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 8, 2.1.559. 64 Vgl. den Eintrag zu Heinrich Stein, Jg. 1895, in der Opferdatenbank der Gedenkstätte Yad Vashem, unter https://yvng.yadvashem. org/index.html?language=en&s_ lastName=stein&s_firstName= heinrich&s_place=&s_dateOfBirth =&s_inTransport= [Abfrage vom 17.08.2018]. 65 Felix Salten, [Erinnerungen] (Anm. 3), Bl. 48. 66 Vgl. Sabine Fellner, Katrin Unterreiner: »Falls es am Leben bleibt…« Ungewollte Kinder. Arthur Schnitzler, Felix Salten, Gustav Klimt. In: Dies.: Frühere Verhältnisse. Geheime Liebschaften in der k. u. k. Monarchie. Wien: Amalthea 2010, S. 25–40.
führte. Durch Glas, die etwa 1893 eine glühende Rede für das Frauenwahlrecht gehalten hatte und dafür zu vier Monaten Haft verurteilt wurde, hatte nun auch Salten Zugang zu Größen der SDAPÖ: »Durch sie lernte ich den Dr. Viktor Adler kennen und durch sie erwarb ich mir die Feindschaft von Austerlitz, auch die von Stephan Grossmann«,71 heißt es in den Memoiren. In jedem Fall erfuhr Salten nach einem Aufenthalt in Bad Ischl »als Logiergast bei Karl Kraus«, dass Glas »erstens wegen Beleidigung von Mitgliedern des Kaiserhauses zu 3 Monaten Arrest72 verurteilt worden [war], zweitens dass sie schwanger sei«.73 Während er im September 1894 noch scherzhaft an Schnitzler geschrieben hatte (»Dear Sir, today I cannot glide with you because I must visit the poor little girl in the prison«74), wandte er sich nun, im Januar 1895, in ernsthafter Bedrängnis an den Freund: »Lotte geht morgen in Haft und ich habe heute einiges für Sie zu kaufen. Sie schreibt mir eben um Geld, und bittet mich, da ihre Leute nichts für sie tun wollen. Nun ist erst morgen der 15., und ich bitte Sie deswegen recht sehr, mir bis morgen mit 10 fl. zu helfen.« Rund zwei Wochen später war die Verzweiflung groß: »Weinkrämpfe, 75
67 Felix Salten an Arthur Schnitzler, Brief vom 18.05.1891 (Abschrift). WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 10, 2.2.61.2. Hervorhebung im Original. 68 Wiener Theaterzeitung, Nr. 8 vom 01.08.1885, S. 3.
Zerknirschung, kurz alles. Die Sache lief darauf hinaus, dass mir erklärt wurde,
69 Felix Salten, [Erinnerungen] (Anm. 3), Bl. 42.
wenn nicht morgen um 12, so eine Leiche etc. etc. Sehr viele Details von mensch-
70 Ebd., Bl. 42f.
licher Wichtigkeit: Bruder, Mutter etc. Der Schluss war, dass sie sagte, bitte geh’
71 Ebd., Bl. 46.
nach Hause.« Als Nachsatz fügte Salten hinzu: »Jetzt gehe ich zur Humanitas
72 Andere Quellen sprechen von einer Verurteilung zu vier Monaten Haft; letztlich verbrachte Lotte Glas zwei Monate im Gefängnis. Vgl. Lotte Glas. WBR, Dokumentation, Tagblatt-Archiv, TP-039261.
aus dringendem Bedürfnis nach einer Stunde unter Leuten, die keine tragischen Gebärden haben.«76 Nach der Haftentlassung brachte Salten die schwangere Frau nach München, damit diese »dort ihre Zeit abwarten« konnte.77 Dies entsprach durchaus dem Usus der Zeit. Er schrieb an die Adresse Schnitzlers: »Ich könnte jetzt sehr glücklich sein, wenn ich durch diese freundlichen Strassen mit einem Mädel ginge, das ich wirklich liebe. So aber ärgere ich mich ausschliesslich, wenn ich mich nicht langweile.«78 Die gemeinsame Tochter mit Namen Maria Charlotte Lamberg wurde schließlich am 24. März 1895 in einem Wiener Findelhaus geboren, »wo man gegen Erlag von 500 Kronen, ohne seinen Namen zu nennen, niederkommen und Wochenbett halten konnte und wo das Kind gegen einen weiteren Erlag von, ich weiß nicht, wieviel, versorgt wurde«.79 Der Säugling kam zu einer »Kostfrau« nach Niederösterreich, und Salten konnte aufatmen: »Endlich, endlich war alles erledigt.« Als das Kind noch im Sommer verstarb, zerbrach das »starke Band zwischen Lotte und mir« endgültig.80 Während Lotte Glas im Jahr 1900 den Journalisten Otto Pohl (1872–1940), der zu jener Zeit Redakteur der »Arbeiterzeitung« war, heiraten und mit diesem eine weitere Tochter haben sollte, schloss Salten den Bund der Ehe mit einer dem Wiener Theaterpublikum durchaus bekannten Schauspielerin. Den Erinnerungen zufolge fanden damit die Ausschweifungen ein Ende, »[d]iese wüsten Dinge, Absteigquartier, Hotel, das Schlafen mit verschiedenen Frau[e]n, darunter mit der jungfräulichen Tochter eines journalistischen Kollegen«.81 Ottilie Metzl hatte ihre Ausbildung an der Schauspielschule des Wiener Konservatoriums bei Fritz Krastel (1839–1908) absolviert und war die Tochter des Prager Kaufmanns Moriz Metzl (1814–1896) und seiner zweiten Frau Louise Wiener (1832–1909), die in den frühen 1880er Jahren nach Wien übersiedelt waren. Aus
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73 Felix Salten, [Erinnerungen] (Anm. 3), Bl. 47. 74 Felix Salten an Arthur Schnitzler, Brief vom 11.09.1894 (Abschrift). WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 10, 2.2.61.49. 75 Felix Salten an Arthur Schnitzler, Brief vom 13.01.1895 (Abschrift). WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 10, 2.2.61.52. 76 Felix Salten an Arthur Schnitzler, Brief vom 26.01.1895 (Abschrift). WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 10, 2.2.61.53. 77 Felix Salten, [Erinnerungen] (Anm. 3), Bl. 47. 78 Felix Salten an Arthur Schnitzler, Brief vom 18.02.1895 (Abschrift). WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 10, 2.2.61.56. 79 Hier und im Folgenden: Felix Salten: [Erinnerungen] (Anm. 3), Bl. 48. Vgl. den Beitrag von Katharina Prager in diesem Band. 80 Felix Salten an Arthur Schnitzler, Brief vom 01.08.1895 (Abschrift). WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 10, 2.2.61.66. 81 Felix Salten, [Erinnerungen] (Anm. 3), Bl. 49.
der Familie gingen einige Künstler hervor: Ottilies Bruder Richard Metzl (1870– 1941), Schauspieler und Regisseur, wirkte zunächst an Berliner Bühnen, ab 1920 an der Seite von Max Reinhardt als dessen Sekretär und Regieassistent sowie fallweise als Schauspieler in Produktionen der Salzburger Festspiele. Ihr Halbbruder Ludwig, geboren 1854, war der Vater des Komponisten Wladimir Metzl (1882– 1950)82 sowie der Theaterkritikerin und Verlegerin Olga Goldschmidt (1880–1969).83 Erstmals begegnete Salten seiner künftigen Frau, »deren Stimme mich immer schon bezaubert hatte«,84 auf der Logentreppe des Hofburgtheaters. Ottilie Metzl war ab 1891 für die Dauer von acht Jahren am Burgtheater engagiert, nach einem ersten Engagement in Marienbad und Gastspielen in Linz. Ihr Debüt hatte sie am Städtischen Theater in Olmütz in Grillparzers »Ahnfrau« gefeiert, worüber auch das »Mährische Tagblatt« am 28. November 1888 lobend berichtete.85 Im Hofburgtheater, wo Metzl bei Paul Schlenther (1854–1916) zunächst einen Einjahresvertrag unterzeichnete, trat sie erstmals in dem Stück »Die kleine Mama« von Henri Meilhac und Ludovic Halévy auf – ein Lustspiel, in dem sie bis 1897 immer wieder zu sehen war.86 Insgesamt wirkte sie in der Saison 1891/1892 in 26 Aufführungen mit und war damit zahlenmäßig auf Augenhöhe mit der Hofschauspielerin Stella Hohenfels (1857–1920), die allerdings in weit prestigeträchtigeren Rollen das Pub-
5 Ottilie Metzl in »König Ottokars Glück und Ende«, 1895. Foto: Nicolaus Stockmann, Wien. Theatermuseum, FS_PK233197
likum begeisterte.87 1892/1893 spielte Metzl kleinere Rollen in insgesamt zehn Produktionen, unter anderem in Gustav von Mosers »Der Bibliothekar«, in Grillparzers »König Ottokars Glück und Ende«, in Goethes »Faust« und »Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand«, in Gutzkows »Uriel Acosta«, in Blumenthals »Der Probepfeil«, in Bauernfelds »Aus der Gesellschaft« und in Gustav Freytags »Die Journalisten«. Sämtliche Produktionen gelangten bis zu Metzls Austritt aus dem Hofburgtheater im Jahr 1899 immer wieder zur Aufführung. Ähnlich verhielt es sich mit Inszenierungen der folgenden Jahre, etwa Shakespeares »Hamlet« und »Viel Lärm um Nichts«, Oldens »Die kluge Käthe«, Anzengrubers »Der Meineidbauer« oder Hauptmanns »Hannele«, einem Stück, in dem Metzl ihre Rolle abwechselnd mit Hedwig Bleibtreu verkörperte. Ab 1894 spielte sie unter anderem in Wittmanns und Herzls »Wilddiebe« mit, in Wilbrandts »Die Tochter des Herrn Fabricius« sowie in Ibsens »Stützen der Gesellschaft«, ab 1895 etwa in Shakespeares »Ein Sommernachtstraum« und in Herzls »Tabarin«, ab 1897 wiederum in Hauptmanns »Die versunkene Glocke«. In ihrer letzten Burgtheatersaison 1898/1899 stand die inzwischen längst mit Salten liierte Schauspielerin insgesamt 95 Mal auf der Bühne,88 etwa in Schnitzlers »Das Vermächtnis«.89 Im Zuge der Vorbereitungen zu diesem Stück, in dem Metzl die Rolle der Lulu verkörperte, kam es zum Bruch mit der Direktion des Hauses, über die Salten in der »Wiener Allgemeinen Zeitung« mehrfach kritisch berichtet hatte.90 Dazu kam, dass Schlenther keinerlei Kenntnis vom Liebesverhältnis zwischen Salten und Metzl hatte, wozu sich im Tagebuch Schnitzlers unter dem Datum 22. Juni 1898 ein Eintrag findet: »Bei Schlenther. Über die Besetzung des Vermächtnis. Theilte ihm auch über Wunsch Salten’s mit, dass nicht der Erzherzog Frl. M.’s Geliebter sei«.91 Nach ihrer Kündigung am Hofburgtheater stieß Ottilie Metzl zum Ensemble des Raimundtheaters. Sie war dort erstmals am 2. September 1900 am Premierenabend von Edgard Høyers »Die Kinder der Bühne« zu sehen,92 im Publikum saßen
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82 Vgl. den Beitrag von Thomas Aigner in diesem Band. 83 Vgl. den Beitrag »Blutgeschehnisse« von Marcel Atze in diesem Band. 84 Hier und im Folgenden: Felix Salten, [Erinnerungen] (Anm. 3), Bl. 49. 85 Vgl. Mährisches Tagblatt, Nr. 274 vom 28.11.1888, S. 5. 86 Vgl. hier und für die folgenden Ausführungen das Konvolut »Besetzungszettel Burgtheater«. WBR, DS, C-71228/9 (1891–1895), C-71228/10 (1896–1899). 87 Vgl. Albert Joseph Weltner: Bericht über die Saison 1891/92. In: Wiener Abendpost, Beilage zur Wiener Zeitung, Nr. 181 vom 09.08.1892, S. 2. 88 Anonym: Hofburgtheater 1898–1899. In: Wiener Abendpost, Beilage zur Wiener Zeitung, Nr. 148 vom 01.07.1899, S. 3. 89 Vgl. den Beitrag »Menschen, die einmal beinahe Freunde waren« von Gerhard Hubmann in diesem Band. 90 Vgl. Moriz Schlesinger: Das verlorene Paradies. Ein improvisiertes Leben in Wien um 1900. Mit einem Nachwort von Helene Otley. Wien: Picus 1993, S. 186.
sowohl Salten als auch Schnitzler: »Mit Salten ›Kinder der Bühne‹ Rmdth. Otti M. in einer kleinen Antrittsrolle.«93 Einen Monat später hatte der Schwank »Platz den Frauen!« Premiere, eine Satire auf die Frauenemanzipation von Albin Valabrègue und Maurice Hennequin. Zwischen 1900 und 1904 wirkte Metzl im Raimundtheater in siebzehn Produktionen mit. Zu diesem Zeitpunkt war sie bereits die Ehefrau von Felix Salten sowie Mutter des gemeinsamen Sohnes Paul (1903–1937). Kurz nach der Hochzeit, im Mai 1902, übernahm Metzl eine Rolle bei der deutschsprachigen Erstaufführung von Ibsens »Peer Gynt« am Deutschen Volkstheater, initiiert vom »Akademischen Verein für Kunst und Literatur«; die Regie zu dieser Inszenierung, bei der auch Grete Wiesenthal als junge Tänzerin mitwirkte,94 führte Albert Heine (1867–1949), während Emil Orlik das Plakat gestaltete. Hermann Bahr rezensierte ausführlich im »Neuen Wiener Tagblatt«.95 Auch das Stück, in dem Ottilie Metzl zum letzten Mal überhaupt auf der Bühne stand, stammt aus der Feder Ibsens: Anfang Mai 1907 wurde an der Freien Volksbühne Wien (später: Arbeitertheater) »Baumeister Solneß« aufgeführt, nur wenige Tage später kam es zur Erstaufführung am Theater in der Josefstadt. »Frau Ottilie Metzl als erbetener Gast für die Ibsen Vorstellung war als Aline Solneß eine wahrhaft rührende Gestalt, ganz besonders ergreifend im Schlußakt«, berichtete das »Illustrierte Österreichische Journal« vom Premierenabend.96 Geheiratet haben Felix Salten und Ottilie Metzl am 13. April 1902 in der Synagoge am Alsergrund, mit Arthur Schnitzler und Siegfried Trebitsch als Trauzeugen. Die Ehe währte 40 Jahre bis zum Tod Ottilies am 22. Juni 1942 in Zürich und ist bis Ende der 1920er Jahre in rund 150 Briefen von Ottilie an Salten eindrücklich dokumentiert. Bedauerlicherweise liegen Saltens Gegenbriefe nur vereinzelt vor. Das Verhältnis beider wurde zu Beginn streng geheim gehalten, etwa vor Wilhelmine Mitterwurzer (1848–1909), die seit 1871 bis zu ihrem Tod Mitglied des
91 Arthur Schnitzler: Tagebuch 1893–1902. Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1989, S. 287f. (Eintrag vom 22.06.1898). Womit Leopold Ferdinand von Österreich-Toskana, der spätere Leopold Wölfling, gemeint ist. 92 Vgl. die Ankündigung in Das Vaterland, Nr. 238, vom 30.08.1900, S. 6. 93 Arthur Schnitzler, Tagebuch 1893–1902 (Anm. 91), S. 335 (Eintrag vom 04.09.1900). 94 Vgl. Grete Wiesenthal: Die ersten Schritte. Wien: Agathon [1947], S. 146. 95 Hermann Bahr: Peer Gynt. Ein dramatisches Gedicht von Henrik Ibsen, deutsch von Christian Morgenstern. Musik von Eduard Grieg. Zum ersten Mal aufgeführt vom Akademischen Verein für Kunst und Literatur im Deutschen Volkstheater am 9. Mai 1902. In: Neues Wiener Tagblatt, Nr. 128 vom 10.05.1902, S. 1f. 96 Vgl. die Notiz in der Rubrik »Vom Theater« in: Illustriertes Österreichisches Journal, Nr. 1094 vom 10.05.1907, S. 6. 97 Felix Salten an Arthur Schnitzler, Brief vom 08.02.1896 (Abschrift). WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 10, 2.2.61.73. 98 Arthur Schnitzler, Tagebuch 1893–1902 (Anm. 91), S. 197 (Eintrag vom 23.06.1896).
Burgtheaterensembles war und Metzl unter ihre Fittiche genommen hatte. Salten schrieb im Februar 1896 an Arthur Schnitzler: »Hier ist ein wunderschönes Frühlingswetter, das alle guten Vorsätze hervortreibt und gute Laune schafft, zudem habe ich noch Frl. M. – Neulich, es war Dienstag, erzählte sie mir, sie habe alles der Frau Mitterwurzer gesagt. Diese sei sehr erschrocken und habe ihr dringend geraten, den Verkehr mit mir aufzugeben. Darauf entgegnete Frl. M., sie könne das nicht, und Frau Mitterw. wünschte dann mich wenigstens kennen zu lernen. ›Sie wird mich gleich durch und durch schauen?‹ Natürlich.«97 Hinlänglich bekannt ist die »Griensteidl-Affaire«, die sich Mitte Dezember 1896 ereignete, nachdem Karl Kraus in der »Wiener Rundschau« auf die noch inoffizielle Liaison zwischen Metzl und Salten angespielt hatte, was letzterer mit zwei Ohrfeigen vor Publikum quittierte. Einen Mitwisser freilich aber hatte Salten von Anfang an in Arthur Schnitzler, der die Affaire im Tagebucheintrag vom 23. Juni jenes Jahres lapidar kommentierte: »Bei Dommayer soupirt mit Salten und Frl. M. vom Burgtheater. Ich hab die Empfindung, er hat nur umzublättern brauchen, sozusagen, um von Lotte auf Frl. M. zu kommen«.98 Die Korrespondenzstücke vermitteln eindrücklich Ereignisse und Stimmungen aus der Zeit der ersten Rendezvous, der leidenschaftlichen Jahre der »wilden Ehe«, der gemeinsamen Elternschaft bis hin zu den letzten Jahren in Wien vor
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6 Plakat zur ersten deutschen Aufführung des »Peer Gynt« von Henrik Ibsen. Holzschnitt von Emil Orlik, 1902. WBR, HS, Nachlass Adolf Seitz, ZPH 1780.
dem Exil. In den frühen Briefen machte die junge Schauspielerin Salten durchaus Avancen, etwa in jenem Schreiben vom 2. Juli 1896, das sie aus der Sommerfrische nach Wien adressierte: »Mein kleines Zimmer, in welchem ich jetzt beim Schreiben
7 Ludwig Metzl, Felix Salten, Frieda Metzl und die schwangere Ottilie Salten mit ihrem Sohn Paul, Pötzleinsdorf 1904. WBR, HS, NL Salten, ZPH 1681, Archivbox 16, 3.11.6.1.
sitze[,] ist sehr lieb – es ist sehr einfach – aber mir gefällt es sehr. Es hat einen Fehler, daß man bei mir zu Richard gehen muß, dessen Zimmerchen ohne Thüre nur durch Portieren mit dem meinigen verbunden ist. Da bin ich recht allein mit mir – mit Ihnen (ich schreib’s). Wenn ich nicht so feig wäre. Ich kanns nicht sagen. Aber Sie wissen ja.«99 Salten verstand offenbar die Einladung, in jedem Fall konnte er Schnitzler bereits im August – mit gemischten Gefühlen – von einem Besuch in Ischl berichten: »Lieber Arthur, die Tischkarte, welche Ihnen von Schlesingers aus zukam, kann auch als Dokument für die Langeweile gelten, mit der man hier seine Zeit hinbringt. Ich wohne mit den Mädeln auf einem Gang, was einige Annäherung unvermeidlich mit sich gebracht hat. Frl. M. und ich stehen geradeso zu einander wie in Wien. Die Radtour konnte nicht unternommen werden, weil ihr 83jähriger Vater krank ist, und ausserdem noch, weil es beständig schüttet.«100
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99 Ottilie Metzl an Felix Salten, Brief vom 02.07.1896. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 10, 2.3.2.9.2. 100 Felix Salten an Arthur Schnitzler, Brief vom 08.08.1896 (Abschrift). WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 10, 2.2.61.82.
Weit enthusiastischer äußerte er sich Anfang Mai 1897, nach der Rückkehr von einem Aufenthalt mit Metzl in Riva. Er lebe nun »in einer merkwürdigen Sorglosigkeit«, könne sich »so völlig unbekümmert hintreiben lasse[n]«, fühle sich »deshalb so frei«, erlebe keinen Tag, »an dem mir nicht etwas Erfreuliches einfiele« und sei »auf einem ziemlich direkten Weg zu mir selbst«.101 Außerdem heißt es: »Es ist eine eigentümlich aufregende Zeit. Frühling kann man nicht sagen, – denn es ist etwas Zweites, alles ist dezidierter, kühler und alle Formen sind ohne den ahnungsvollen Nebel und klarer. Es gibt keinen Menschen, kein Buch, nichts in meinem Leben, zu dem ich nicht eine total veränderte Beziehung hätte, als vorher. Das ist natürlich nicht erst in acht Tagen geworden, aber erst auf meiner Reise.« Jetzt – und endlich – konnte er Schnitzler mitteilen, sei auch im Hinblick auf die Beziehung zu Metzl »eine entscheidende Wirkung eingetreten«: »Das macht mich auch besser und ruhiger und gibt meinem Leben wieder einen vollen Duft, denn ich habe lange Niemanden lieb gehabt. Sonst leb ich mit keinem Menschen und habe keinen, mit dem ich sprechen möchte.« Die Briefe der folgenden Jahre handeln vom Alltag einer Familie, die trotz wiederkehrender finanzieller Engpässe großbürgerlich lebte. Die Erziehung der Kinder oblag standesgemäß nicht nur Ottilie Metzl, sondern auch diversen Kindermädchen, etwa einer jungen Frau namens Käthe Weber aus Leipzig, der Salten im Juli 1914 ein Arbeitszeugnis ausstellte.102 Auch beanspruchte man je nach Saison verschiedene Wohnsitze, so stammen zahlreiche Korrespondenzstücke aus Unterach am Attersee oder aus der niederösterreichischen Gemeinde Zögersdorf, wo Salten seinen Jagdsitz hatte. 1906, Salten versuchte sich als Chefredakteur der »B. Z. am Mittag« sowie der »Berliner Morgenpost«, waren in Berlin auch Frau und Kinder anwesend. »Eines ist mir sehr erfreulich hier, wenns nur so bleibt«, berichtete er an Schnitzler, »dass die Kinder sich so wohl fühlen, und so brav essen.
101 Hier und im Folgenden: Felix Salten an Arthur Schnitzler, Brief vom 05.05.1897 (Abschrift). WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 10, 2.2.61.93. 102 Felix Salten: Eh. Zeugnis für Käthe Weber, 08.07.1914. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 10, 2.2.71.
8 Paul und Anna Katharina Salten auf einem Esel am Strand von Swinemünde. Eh. Fotopostkarte von Ottilie Salten an Felix Salten, 2. Juli 1906. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 16, 3.11.9.8.
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Annerl spricht jetzt schon so viel wie der Paul, und ist so lieb, dass sich’s kaum sagen lässt. Neulich waren wir zum ersten Mal im Zool[ogischen Garten] und im Nilpferdhaus waren beide Kinder sprachlos vor Staunen.«103 Wenig überraschend stehen im Mittelpunkt der Paarkorrespondenz die gemeinsamen Kinder, denn jetzt nahm Salten seine Vaterrolle ernst (Abb. 7). »Aengstlich bin ich ja, das gebe ich zu«, gestand er sich 1908 vor Schnitzler ein, »Sie wissen doch, dass ich wegen meiner Kinder beständig in einer halbtollen Furcht lebe.«104 Und Salten legte Wert darauf, dass die Familie möglichst viel Zeit gemeinsam verbrachte, etwa plante er, im Sommer 1906 eine Wohnung im Heilbad Bansin an der Ostsee anzumieten: »Möglichst nahe, damit ich über Sonntag einmal hin, Otti manchmal zu mir in die Stadt kommen kann«.105 (Abb. 8) Schnitzler hatte zu jener Zeit einen sechswöchigen Aufenthalt im Badeort Skodsborg mit Frau und Kind im Sinn, im Zuge dessen es ein Wiedersehen hätte geben können. Salten jedoch sagte ab: »Es ist einfach eine Sache des Geldes. Und bin ich selbst frei, möchte ich doch bei den Kindern sein.« Wie Salten als Vater und Ehemann ging auch Ottilie Metzl in den Rollen als Mutter und Ehefrau ihres vielbeschäftigten, in der Öffentlichkeit stehenden Gatten auf; zugleich lassen ihre Briefe erkennen, dass sie ihre Karriere nur ungern
9 Ottilie Salten mit Paul und Anna Katharina, um 1910. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 16, 3.11.9.5.
aufgegeben und gegen die Routine des Familienalltags eingetauscht hatte. »Hier geht alles gut die Kinder sind brav, essen schön und sind im Ganzen artig. Neues gibt es sonst nichts«, schrieb sie Mitte Dezember 1908: »Ich lebe furchtbar still u. spreche fast nichts, deshalb ging ich gestern und heute gern zum Mittagessen in die Stadt.«106 Der Brief schließt dennoch mit den Worten: »Ich bin glücklich[,] daß Du unser so liebevoll denkst. Das Liebhaben ist doch das Schwerste und Schönste im Leben. Wie Du mir fehlst – soll ich es sagen?« Auch Salten selbst ertrug eheliche Differenzen nur schwer und trachtete nach einem Streit stets nach Aussöhnung, etwa im Januar 1907, als er zu Gast im Bayerischen Hof in München war und nach Wien schrieb: »Wenn ich Dich und die Kinder küsse und grüße, küsse und grüße ich so gänzlich alles, was ich im Leben, vom Leben habe«.107 Den Tod seiner sterbenskranken Frau am 22. Juni 1942 konnte der von Altersschwäche und Krankheit gezeichnete Salten nicht verwinden. Zeugnis über die Verzweiflung legen ab Mai 1942 mehrere Einträge im Taschenkalender ab. Am Tag der Beerdigung hielt Salten fest: »24.06.42 Bestattung von Otti / Würdig. Viele Menschen. Jensen spricht sehr ergriffen u. ergreifend / Nachher auf Annerles Anregung Mittagessen im Hott[inger] H[of]. Elf Gedecke.« Nur wenig Trost fand er in den zahlreichen Kondolenzen, etwa aus der Feder von Ernst Benedikt, Ernst Lothar, Otto Tressler oder Hedwig Fischer. Letztere erinnerte sich am 3. August 1942 in New York an die Freundin: »ich sehe immer noch die liebevolle junge Otti vor mir, im Dirndlkleid am Berghof mit ihrem Arbeitskörbchen oder beim Schwimmen, oder beim abendlichen Kartenspiel, oder wenn wir zusammen nach Ischl fuhren zu Zauner zum Einkaufen und diese liebe, prächtige Frau, die einen so guten Risotto kochte und den Faust dabei auswendig wußte, werde ich nie vergessen!«108 Und der Schauspieler Eugen Jensen (1871–1957), der zeitgleich mit Salten das Wasa-Gymnasium besucht und die Begräbnisansprache gehalten hatte, mahnte eindrücklich: »Mein lieber Felix, Du hast einen tiefen Schmerz erfahren, ein grosses Leid, aber dennoch musst Du wieder in den Alltag zurückfinden.«109
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103 Felix Salten an Arthur Schnitzler, Brief vom 09.03.1906 (Abschrift). WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 10, 2.2.61.213. 104 Felix Salten an Arthur Schnitzler, Brief vom 26.01.1908 (Abschrift). WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 10, 2.2.61.251. 105 Hier und im Folgenden: Felix Salten an Arthur Schnitzler, Brief vom 01.05.1906 (Abschrift). WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 10, 2.2.61.220. 106 Hier und im Folgenden: Ottilie Salten an Felix Salten, Brief vom 14.12.1908. WBR, HS, Nachlass Salten, Archivbox 10, ZPH 1681, 2.3.2.9.20. 107 Felix Salten an Ottilie Salten, Brief vom 21.01.1907. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 10, 2.3.1.3.2. 108 Hedwig Fischer an Felix Salten, Brief vom 03.08.1942. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 6, 2.1.155.15. 109 Eugen Jensen an Felix Salten, Brief vom 17.07.1942. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 7, 2.1.256.4. Hervorhebung im Original.
Zu den bittersten Erfahrungen, die Salten machen musste, gehört neben dem Tod seiner Frau auch der Verlust des am 11. August 1903 in der elterlichen Wohnung geborenen Sohnes Paul im Jahr 1937. Im Nachlass ist ein an die Adresse von Dale Armstrong gerichteter Brief vom Dezember 1939 erhalten, in dem sich die Trauer und Verbitterung ungehemmt Bahn bricht: »To leave my fatherland was not easy. Now I’m finished with them for ever. I have lost two years ago [m]y single son. He was full of fairness, of the finest tact, a veritable gentlemen and when he died he was thirtythree years old. Since then nothing can happen to make me anxious.«110 Wie nahe sich Vater und Sohn standen, offenbaren rund 70 Korrespondenzstücke von Paul, darunter rund 40 höchst originelle Kinderbriefe. Man ging gemeinsam Fischen und Jagen (Abb. 13), als Paul noch im Vorschulalter war – eine Leidenschaft, der in Abwesenheit des anderen auch jeder für sich nachging: »Afterwuz ei geh tu breckferst. Paul fisching«111, heißt es an einer Stelle, und an anderer: »Weidmanns Heil zu Deiner Sau! Hast Du sie am Hochstand oder auf der Pirsch oder auf der Pirschfahrt geschossen. War sie ein Keiler oder eine Bache?«112 In späteren Jahren bemühte sich Salten um eine für den Sohn geeignete Schule und setzte schließlich alle Hebel in Bewegung, den Weg zu beruflichen Kontakten zu legen. Paul Salten war vermutlich ab 1922 in der im Jahr zuvor in Wien
10 Ottilie Salten, liegend im Bett. Foto: vermutlich Felix Salten. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 16, 3.11.9.4.
11 Das Eichhörnchen Perri lässt grüßen. Paul Salten an Felix Salten, Brief vom 19. Juni 1912. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 11, 2.3.2.10.2.
110 Felix Salten an Dale Armstrong, Brief vom Dezember 1939. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 9, 2.2.1.1. Salten hatte den Schriftsteller und Kritiker Armstrong während seiner US-Reise 1930 kennengelernt. Vgl. Felix Salten: Fünf Minuten Amerika. Berlin, Wien, Leipzig: Zsolnay 1931, S. 127f. 111 Paul Salten an Felix Salten, undatierter Kinderbrief. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 11, 2.3.2.10.58. 112 Paul Salten an Felix Salten, undatierter Kinderbrief. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 11, 2.3.2.10.60.
12 Das ÂťVergiss mein nichtÂŤ-Lesezeichen war laut eh. Vermerk von Felix Salten das erste Weihnachtsgeschenk des Sohns an den Vater. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 11, 2.3.2.10.46.
installierten Privatbank »Johann Liebig & Co.« als Buchhalter tätig – wie lange das Arbeitsverhältnis dauerte, ist nicht bekannt. Der berühmte Neurologe und Psychiater Martin Pappenheim (1881–1943) soll ein Gutachten für eine Freistellung im
13 Felix und Paul Salten beim Fischen, um 1910. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 16, 3.11.4.1.
Büro verfasst haben, was für eine eher kurze Tätigkeit spricht.113 Seit 1930 ging Saltens Sohn seinem Wunschberuf nach: Er schrieb jetzt regelmäßig aus Rom, wo ab Mai 1931 die Studioaufnahmen zu dem Kriminalfilm »Die Pranke« nach dem Drehbuch von Rudolf Katscher und Otto Eis stattfanden (Abb. 14). Die Regie führte der unter Schauspielern und Kollegen nicht unumstrittene Hans Steinhoff (1882–1945), der im Dritten Reich Karriere machen sollte und für heute als sogenannte Vorbehaltsfilme geltende Streifen wie »Hitlerjunge Quex« (1933) oder »Ohm Krüger« (1941) als Regisseur verantwortlich zeichnete. Steinhoff hatte Paul Salten als Assistenten aufgenommen, während Hans Rehmann, seit 1929 der Schwiegersohn Saltens, die Hauptrolle verkörperte, den Automobilrennfahrer Peter Krüger. Am 18. Juni berichtete Paul von strapaziösen Drehtagen samt Nachtschichten im Studio – und schrieb zugleich mit Begeisterung: »Das macht mir aber alles nichts. Ich kann Euch nicht beschreiben[,] wie gerne ich im Atelier arbeite. Dieser Beruf liegt mir besser als jeder andere und auch Steinhoff scheint recht zufrieden mit mir zu sein.«114 Noch im selben Brief ist zu lesen: »Ich danke Dir Papa 1000mal, daß Du mir diesen Weg zu dem neuen Beruf so geebnet hast.«
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113 Paul Salten an Felix Salten, Kartenbrief vom 18.08.1923. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 11, 2.3.2.10.17. 114 Hier und im Folgenden: Paul Salten an Felix und Ottilie Salten, Brief vom 18.06.1931. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 11, 2.3.2.10.22.
Als Schauplatz für die Außenaufnahmen zu »Die Pranke« diente die 1931 bis 1934 genutzte Rennstrecke »Autodromo del Littorio« nördlich der Stadt Rom. »Stellt Euch vor[,] von 8h Früh bis 7h Abend auf der Rennbahn in der prallen Sonne zu arbeiten nur mit einer kurzen Mittagspause. Sehr anstrengend[,] aber sehr interessant«, heißt es im Brief an die Eltern, wohingegen die Zeitschrift »Mein Film« werbewirksam ein weit dramatischeres Bild zeichnete. Paul Salten selbst verfasste den Artikel »Deutsche Filmarbeit in Rom« und führte der Leserschaft Atemberaubendes vor Augen: »Diese fabelhafte Rennbahn geht, 4 Kilometer lang, rund um den Flughafen von Rom und sie hat Kurvenerhöhungen von einer Steilheit, wie keine andere am Kontinent. […] Natürlich konnten wir der Versuchung nicht widerstehen und sausten alle während des Trainings in den Riesenmaschinen mit einer Stundengeschwindigkeit von 200 Kilometern einige Male um die Bahn. Das Gefühl dabei ist einzigartig, besonders in der großen Kurve, wo der Wagen an der fast senkrecht steilen Wand zu fliegen scheint.«115 Die risikoreichen Extrarunden am Drehort zum Film »Die Pranke« überstand der junge Salten ohne Schaden, rund ein Jahr später allerdings wurde er dann tatsächlich in einen Autounfall verwickelt. Dies geschah unmittelbar vor den Dreharbeiten zum Tonfilm »Scampolo, ein Kind der Straße«, der nach einem Manuskript von Billy Wilder und Felix Salten in den Sascha-Ateliers in Wien-Sievering entstand. Paul befand sich an Bord eines amerikanischen Straßenkreuzers, den Steinhoff auf dem Weg von Prag nach Berlin lenkte, und kam auf den ersten Blick mit einem blauen Auge davon (im »Neuen Wiener Journal« war von einer »Stirnwunde« und einem »Nervenschock« die Rede), während sich Steinhoff »Rippen-
14 Paul Salten: Deutsche Filmarbeit in Rom. 15 Um einen Groschen Liebe »Scampolo«. Filmplakat. WBR, PS, P-42657. 16 König Pausole. Filmplakat. Wien: Münster 1933. WBR, PS, P-13070. 17 Liebelei. Filmplakat. Wien: Münster 1933. WBR, PS, P-13054.
brüche« zuzog und zwei Wochen lang ausfiel.116 Erleichtert über den scheinbar glimpflichen Ausgang des Unfalls zeigte sich nicht zuletzt Stefan Zweig: »Lieber verehrter Herr Salten, ich las in der Zeitung von einem Autounglück Ihres Sohnes und höre heute zu meiner aufrichtigen Freude, dass er glücklich jeder Gefahr entkommen ist. Nun weiß ich wie ganz besonders Sie an Ihren Kindern hängen und ich kann das Gefühl der Erleichterung verstehen; es wäre furchtbar zu den Sorgen der Zeit[,] noch diese um nahe und nächste Menschen zu haben.«117 Die Dreharbeiten mit Dolly Haas (1910–1994) nahm an Stelle Steinhoffs Paul Salten auf, was seinen Anteil an der Produktion steigerte. Der Film kam nach der Premiere am 22. Oktober 1932 im Lustspieltheater im Prater zwar gut an, fand in Berlin allerdings nur mäßigen Zuspruch. Ebenfalls in Sievering (und in Nizza sowie Paris) wurde der im Herbst 1933 dem Wiener Publikum präsentierte Film »Die Abenteuer des Königs Pausole« gedreht, der in Frankreich unter dem Titel »Les aventures du roi Pausole» ab Dezember in den Kinos lief. Die Regie führte diesmal Alexis Granowsky (1890–1937), die Hauptrolle verkörperte Oscarpreisträger Emil Jannings (1884–1950), der sich, in Kontakt mit dem Vater stehend, um die noch in den Anfängen steckende Karriere Paul Saltens bemühte,118 den man als Cutter engagierte. Trotz dieser Anerkennung befand er sich in einer misslichen Lage, da er »schon seit Wochen keine Gage erhalten« habe.119 Außerdem machte er sich Sorgen über den geplanten Verkauf der Rechte an »Bambi«, von dem die Familie sich eine größere Summe erhoffte: »Übrigens Kennst Du, Papa, überhaupt deinen Vertrag mit der Filmgesellschaft? Wie groß ist die
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115 Paul Salten: Deutsche Filmarbeit in Rom. In: Mein Film (1931), Nr. 309, S. 9. 116 Anonym: Autounfall des Filmregisseurs Steinhoff. In: Neues Wiener Journal, Nr. 13892 vom 24.07.1932, S. 6f. 117 Stefan Zweig an Felix Salten, undatierter Brief. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 9, 2.1.670.41. 118 Vgl. Emil Jannings an Felix Salten, Brief vom 08.09.1933. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 7, 2.1.251.6. 119 Hier und im Folgenden: Paul Salten an Ottilie und Felix Salten, Brief vom 31.07.1933. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 11, 2.3.2.10.27.
Perzentuelle Beteiligung? Am Reingewinn oder an den Eingängen. Wieviel soll der Film kosten, wann wird er gedreht, wann soll Premiere sein? etc.?« Schon wenig später gab er in eigener Sache Entwarnung, äußerte sich aber nochmals beunruhigt im Hinblick auf den Verkauf von Saltens berühmtester Tiergeschichte: »Wieso Ihr keine ›näheren‹ Bedingungen über den Bambi-Vertrag wißt, ist mir unverständlich. Man kann doch keinen Vertrag abschließen, über dessen Bedingungen man nicht informiert ist. Warum läßt Papa sich immer vom Verleger vertreten und nimmt sich zu so einem Vertragsabschluß nicht einen Anwalt (siehe Schnitzler). Bisher wurde Papa immer nur bestohlen.«120 Seinen größten filmischen Beitrag leistete Paul Salten anschließend bei der Herstellung der französischen Fassung der Verfilmung von Schnitzlers »Liebelei« unter der Regie von Max Ophüls (1902–1957). Sein Vater spielte bereits in der Phase der Entstehung des Drehbuchs als »Schnitzlers nächster Freund« eine Rolle,121 verfasste nach der Premiere der deutschen Fassung am 24. Februar 1933 in Wien vermutlich auch eine überschwängliche Kritik in der »Neuen Freien Presse«.
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Paul
wurde für die Ende Februar 1934 in Paris unter dem Titel »Une Histoire d’amour«
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120 Paul Salten an Ottilie und Felix Salten, Karte vom [06.08.1933]. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 11, 2.3.2.10.29. Hervorhebung im Original. 121 Vgl. Max Ophüls: Spiel im Dasein. Eine Rückblende. Mit einem Nachwort von Hilde Ophüls und einer Einführung von Friedrich Luft. Stuttgart: Goverts 1959, S. 168f. 122 Vgl. Anonym [vermutlich Felix Salten]: »Liebelei« verfilmt. In: Neue Freie Presse, Nr. 24596 vom 04.03.1933, S. 8f.
uraufgeführte französische Fassung, die »ja nur zu 45% neu hergestellt wurde[,] also eine Kombination zwischen Französischer und Originalversion darstellt«,123 als Regieassistent und Cutter engagiert. Noch während der Dreharbeiten bekam
18 Ledermäppchen mit drei Fotos von Paul Salten, das der Vater (Mitte) immer bei sich trug. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 18, 3.17.3.7.
er einen weiteren Film mit Ophüls in Aussicht gestellt, verfolgte selbst aber längst ein anderes Ziel, nämlich den »Lebenswunsch: unter Pommer zu arbeiten«.124 Er überredete seinen Vater zu einem Bittschreiben an den Filmgiganten, dem mit »Metropolis« (1927) und »Der blaue Engel« (1930) bereits zwei Meisterstücke der Filmgeschichte gelungen waren. Saltens Brief, für den Paul selbst die Vorgaben lieferte, erreichte Erich Pommer (1889–1966) im Pariser Exil, wo er für die Produktionsfirma »Fox Film« arbeitete. Die Instruktion für das Schreiben lautete: »Nichts davon, daß ich jetzt die franz. Fassung von Liebelei ›ganz allein geschnitten habe‹. Das muß ja selbstverständlich sein. Nichts von den besten französischen Kreisen[,] in die ich eingeführt bin und nichts von meiner Arbeit, die erprobter ist als die irgend eines anderen in diesem Fach. Ganz einfach bitte: 2½ Jahre Filmtätigkeit als Cutter, künstlerischer Beirat und Regieassistent. Französische Arbeitsbewilligung und Mitglied des Syndikates französischer Filmcutter. Mein letzter Film: Liebelei mit Ophüls. Demnächst beendet.«
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123 Paul Salten an Ottilie und Felix Salten, Brief vom 10.09.1933. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 11, 2.3.2.10.32. 124 Hier und im Folgenden: Paul Salten an Ottilie und Felix Salten, Brief vom 25.09.1933. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 11, 2.3.2.10.34.
Der frühe Tod ereilte Paul Salten schließlich im Alter von 33 Jahren am 8. Mai 1937. Er verstarb in der Wiener Poliklinik, wohin er sich für eine Spezialbehandlung begeben hatte, von der er sich eine Besserung der Leiden erhoffte, die ihn seit dem Autounfall mit Steinhoff plagten. Er befand sich bereits jahrelang in neurologischer Behandlung, unter anderem bei Otto Pötzl (1877–1962), dem Nachfolger von Julius Wagner-Jauregg an der Wiener Psychiatrisch-Neurologischen Universitätsklinik und Sohn des berühmten Journalisten Eduard Pötzl (1851–1914).125 Ottilie Salten stand Wochen nach der Tragödie noch immer unter Schock, wie ein Brief an Olga Goldschmidt dokumentiert: »Ich kann es noch immer nicht glauben[,] so jäh ist es auf uns herabgestürzt – eine Injection zur Heilung und sie war tötlich[.] Ich stand 12 Stunden an seinem Bette und habe den (G[ott] s[ei] D[ank]) Bewusstlosen hinüberschlafen sehen. Hier hat ein Herz zu schlagen aufgehört, das nur für andere schlug – das weiß Niemand als wir und seine vielen Freunde[,] für die er stets alles tat, was möglich war u. noch mehr.«126 Felix Salten, der am Abend des Unglücks noch im Theater gewesen sein soll,127 kam über den Verlust niemals hinweg: »Damit war mir die Fähigkeit[,] mich jemals wieder herzhaft zu freuen[,] entschwunden«.128 Nach dem Tod von Sohn und Frau blieb dem vereinsamten und von Krankheit gezeichneten Salten nur noch eine Freude: »meine einzige Tochter Anna Katharina, verwitwete Rehmann, künstlerisch hochbegabt, anfallsweise sehr tätig, die auch viele Freunde sich erworben hat und immer noch erwirbt«.129 Die innige Beziehung bezeugen nicht zuletzt die Taschenkalender im Nachlass, die Besuche der Tochter
125 Vgl. Felix Salten, [Erinnerungen] (Anm. 3), Bl. 46. 126 Ottilie Salten an Olga Goldschmidt, Brief vom 21.06.1937. Privatbesitz Michel Grave. Hervorhebungen im Original. 127 Vgl. Gusti Adler an Max Reinhardt, Brief vom 11.05.1937. WBR, HS, Teilnachlass Max Reinhardt, ZPH 1565, Archivbox 8, 2.2.803.
und Gespräche dokumentieren. »Annerle«, wie der Vater sie nannte, wurde ziemlich
128 Felix Salten, [Erinnerungen] (Anm. 3), Bl. 1.
genau ein Jahr nach ihrem Bruder, nämlich am 18. August 1904, geboren. Noch am
129 Ebd.
selben Tag verschickte Salten eine einzeilige Nachricht an Schnitzler: »Heute Früh
130 Felix Salten an Arthur Schnitzler, Brief vom 18.08.1904 (Abschrift). WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 10, 2.2.61.196.
12h ein Mäderl. Herzlichst F. S.«130 Auch zum ersten Ausflug der nunmehr vierköpfigen Familie nach Schönbrunn wurden Schnitzlers eingeladen: »Wir nehmen
19 Anna Katharina Salten an Felix Salten, Brief vom 6. September 1912. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 10, 2.3.2.8.1.
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20 Hochzeit von Anna Katharina Salten und Hans Rehmann, 1929. Foto: Trude Fleischmann, Wien. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, 4.4.2.3. 21 Weihnachts- und Neujahrsgrüße der Familie Rehmann an Else Wohlgemuth, 24. Dezember 1930. Die eh. signierte und datierte Druckgrafik stammt von Anna Katharina Rehmann-Salten. WBR, HS, H.I.N. 246632. 22 Eh. Exlibris von Anna-Katharina Salten für Hans Rehmann. In: Romain Rolland: Das Leben Michelangelos. Hg. von Wilhelm Herzog. Frankfurt/M.: Rütten & Loening 1920. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 24, 4.4.2.3.
auch den Paul mit und hätten mit Heinrich eine Freude. Wagen? Die Omnibus Gs. stellt vis-a-vis Wagen, Gummi, sehr billig!«, schrieb Salten zwei Monate später.131 Zur Geburt der Tochter gratulierte auch Richard Beer-Hofmann (1866–1945), selbst Vater dreier Kinder: »Meine Frau wünscht zu wissen ob die Kleine ›Petra‹ heissen wird, da ein Bub – behauptet sie zu wissen – ›Peter‹ genannt worden wäre. Bitte, schreiben Sie uns – nur zwei Zeilen – wie es weiterhin Ihrer Frau und der jungen Dame geht.«132 Anna Katharina Salten, die 1929 in der Zeitschrift »Der Querschnitt« das Bild einer wohlbehüteten, unbeschwerten und im Kreis prominenter Künstler verbrachten Kindheit zeichnete,133 studierte von 1921 bis 1924 an der Wiener Kunstgewerbeschule, wo sie die Fachklassen für Malerei unter der Leitung von Bertold Löffler (1874–1960) besuchte und darüber hinaus das Hilfsfach Allgemeines Akt-
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131 Felix Salten an Arthur Schnitzler, Brief vom 14.10.1903 (Abschrift). WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 10, 2.2.61.178. 132 Richard Beer-Hofmann an Felix Salten, Brief vom 21.08.1904. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 5, 2.1.31.8. 133 Hier und im Folgenden: Anna Katharina Salten: Wohlbehütet. In: Der Querschnitt 9 (1929), 3, S. 160–162, hier S. 162.
zeichnen bei Erich Mallina (1873–1954) belegte. Zu ihren Studienkollegen zählte unter anderem der später international erfolgreiche Werbe- und Gebrauchsgraphiker Joseph Binder (1898–1972), der 1924 das Marken-Sujet für die Julius Meinl AG ausführte. Anna Katharina hat im selben Jahr die 37 farbigen Illustrationen für Felix Saltens Erzählung »Bob und Baby« gestaltet. »Einzug in das Kinderzimmer hat er ja schon mit Bambi sieghaft gehalten«, frohlockte nach Erscheinen des Buches Alice Schmutzer (1884–1949), »aber da war er bei den größeren be- und versonnenen Kindern zu Gast, jetzt kommt er zu den Ganzkleinen, kommt in einem lustigen Gewand, das ihm seine Tochter entworfen hat, und das er sich von ihr mit Vaterstolz anlegen läßt. Und wirklich, es paßt ausgezeichnet.«134 Ihrem Herzenswunsch folgend hätte Anna Katharina Salten allerdings gleich nach dem Besuch des Gymnasiums eine Ausbildung zur Schauspielerin absolviert; sie wäre somit in die Fußstapfen der Mutter getreten, die die Leidenschaft für das Theater stets gefördert habe. »Papa war entschieden dagegen, und so lernte ich zeichnen«, heißt es in ihrem Beitrag für den »Querschnitt« im Rahmen der Serie »Dichterkinder«, zu der etwa auch Klaus Mann (1906–1949) oder Rainer Schickele (1905–1989), der Sohn von René Schickele (1883–1940), Texte beisteuerten.
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134 Alice Schmutzer: »Bob und Baby«. Ein Kinderbuch von Felix und Anna Katharina Salten. In: Neue Freie Presse, Nr. 22007 vom 19.12.1925, S. 10f.
Nach Abbruch des Studiums an der Kunstgewerbeschule wurde aus dem vielversprechenden Talent letztlich doch eine Schauspielerin, zumindest lassen sich einige Rollen in Inszenierungen an Wiener und Berliner Theatern nachweisen. 1928, ein Jahr vor der Hochzeit mit dem Schweizer Schauspieler Hans Rehmann (1900–1939), war Anna Katharina Salten Mitglied des Ensembles des Städtischen Theaters Chemnitz unter der Generalintendanz von Richard Tauber (1891–1948),
23 Hans Rehmann mit Elisabeth Bergner in »Liebe«, 1926. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Großformate, 4.6.1.3.2.2. 24 Hans Rehmann übernahm die Stuntaufnahmen selbst. Filmstill aus »Flötenkonzert von Sanssouci«, 1930. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 17, 3.11.13.8.
zugleich aber auch an der Berliner Volksbühne in Tolstois »Der lebende Leichnam« zu sehen. Darüber hinaus spielte sie in Wien am Theater in der Josefstadt unter der Direktion Max Reinhardt in Stephan Kamares (d. i. Stephan Cokoracs) »Leinen aus Irland« mit. Gusti Adler (1890–1985), Reinhardts langjährige Sekretärin, konnte Mitte Januar 1929 den Erfolg des im November uraufgeführten Stückes vermelden: »›Leinen aus Irland‹ ist unentwegt ausverkauft.«135 Und Hugo Thimig (1854–1944) widmete Saltens Tochter anlässlich ihres letzten Auftritts in dem Vierakter gar ein Gedicht.136 Noch im Jahr 1929 wurde Anna Katharina Mitglied des Damenensembles der Berliner Volksbühne und wirkte in Curt Corrinths (1894–1960) aufsehenerregendem Schülerdrama »Trojaner« mit, was auch in einem Porträt der Künstlerin im »Neuen Wiener Journal« Erwähnung fand. »Sie ist sehr glücklich dabei«, heißt es, »– und das war nicht immer so.«137 1930 schließlich scheint Saltens Tochter noch einmal im »Deutschen Bühnenjahrbuch« als Mitglied des Deutschen Theaters mit einer Berliner Privatadresse auf.138 Auch Hans Rehmann, den Anna Katharina am 30. November 1929 heiratete, hatte zwischen 1921 und 1935 seinen Lebensmittelpunkt in Berlin, stand in jenen Jahren jedoch auch in Wien auf der Bühne, etwa 1928 in der deutschen Uraufführung des Lustspiels »Öl in Amerika« von Jack Larrie. Im Theater in der Josefstadt gab er an der Seite von Egon Friedell (1878–1938) und Hermann Thimig (1890–1982) »einen entzückend ungeschlachten Cowboy«,139 was ihm positive Kritiken einbrachte. Es überrascht, dass Felix Salten seinen Schwiegersohn erst im Herbst 1929 persönlich kennengelernt haben soll, was er Schnitzler mitteilte: »Lieber[,] Berlin, war diesmal sehr angenehm, denn Hans Rehmann gefiel mir ungemein und wir verstanden einander bald. Ich glaube, er ist ein wirklicher Mensch und ich bin natürlich froh!«140 Rehmanns Beitrag beim Film beschränkte sich im Übrigen keineswegs auf die Rolle des Rennfahrers im Kriminalfilm »Die Pranke«. Vielmehr war er bereits 1927 mit Elisabeth Bergner im Stummfilm »Liebe« zu sehen, und verkörperte, ebenfalls unter der Regie von Paul Czinner (1890–1972), eine Rolle im 1929 fertiggestellten britischen Filmdrama »The Woman he scorned« (Dt.: »Die Straße der verlorenen Seelen«). Ein Jahr später kam der Streifen »Das Flötenkonzert von Sanssouci« heraus, in dem Regisseur Gustav Ucicky (1899– 1961) Rehmann die Rolle des Majors von Lindeneck gab, der es schafft, ein Komplott gegen Friedrich den Großen zu vereiteln. Die im Nachlass Salten überlieferten Filmstills zeigen einen überaus wandlungsfähigen Künstler, der sich nicht scheute, gefährliche Szenen selbst zu drehen. Rehmann verstarb nicht einmal vierzigjährig am 10. August 1939 in seiner Heimatgemeinde im Kanton Bern, nachdem er Jahre zuvor an Tuberkulose erkrankt war, wodurch Anna Katharina bereits in jungen Jahren verwitwete. Glaubt man Zeitungsberichten, hatte Rehmann bereits 1932 in Berlin aus Verzweiflung über
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135 Gusti Adler an Max Reinhardt, Brief vom 16.01.1929. WBR, HS, Nachlass Max Reinhardt, ZPH 1565, Archivbox 6, 2.2.315. 136 Hugo Thimig: Eh. Widmungsgedicht an Anna Katharina Salten, 12.02.1929. Theatermuseum, HS_AM42509Th. 137 R.K.: Bei Anna Katharina Salten. In: Neues Wiener Journal, Nr. 12.773 vom 15.06.1929, S. 7. 138 Vgl. Deutsches Bühnen-Jahrbuch 41 (1930), S. 868. 139 Alfred Polgar: Oel in Amerika. In: Wiener Montagblatt (Morgenblatt), Nr. 22 vom 28.05.1928, S. 6. 140 Felix Salten an Arthur Schnitzler, Brief vom 06.11.1929 (Abschrift). WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 10, 2.2.61.318.
seine Erkrankung einen Selbstmordversuch verübt.141 In Langenthal, wo das Ehepaar seit 1935 wieder lebte, hatte Saltens Tochter ihren Mann offenbar aufopfernd gepflegt, so dass etwa Josef Hupka (1875–1944) an den Vater schreiben konnte: »Dass Annerl wieder bei Hans ist, muss man trotz allem als ein Glück für sie betrachten; sie wäre verzweifelt gewesen, wenn dieser Ueberchrist in seiner völligen Unchristlichkeit verharrt und dieses engelsgute Geschöpf nach all den traurigen Jahren davon abgehalten hätte, in der schwersten Zeit an seiner Seite zu sein. Im Uebrigen kann man aber nur innig wünschen, dass sie Euch bald und ganz wiedergegeben werden möge. Das ist zwar eine Rohheit, aber ich schäme mich ihrer nicht.«142 Erst einige Monate nach dem Tod Rehmanns, nämlich im April 1940, meldete sich Anna Katharina aus der Gemeinde Langenthal ab und verzog nach Zürich ins Quartier Hottingen in die Wilfriedstraße Nr. 4, wo Felix und Ottilie Salten lebten.143 Der Einzug der Tochter in das Elternhaus wurde sehnlichst erwar-
141 Anonym: Selbstmordversuch des Schauspielers Rehmann. In: Der Abend, Nr. 170 vom 25.07.1932, S. 3. 142 Josef Hupka an Felix Salten, Brief vom 20.04.1939. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 7, 2.1.241.2. 143 Ich danke Simon Kuert aus dem Archiv der Einwohnergemeinde Langenthal sowie Brigitte Hänzi vom Zivilstands- und Bürgerrechtsdienst des Kantons Bern für die Information. 144 Felix Salten an Otto Tressler, Brief vom 09.10.1939. WBR, HS, H.I.N. 225490.
tet. »Uebrigens«, schrieb Salten am 9. Oktober 1939 an Otto Tressler, »bleibt Annerle einstweilen, und wohl noch für längere Zeit, in Langenthal bei ihrer Schwägerin, bei deren Kindern, die sie brauchen. Freilich nicht so notwendig brauchen wie wir, aber wir können da nichts dreinreden, müssen uns in alles still und geduldig fügen, wie wir uns ja immer ohne Dreinreden in Alles gefügt haben. Hier stehe ihr Zimmer bereit, sie kann jeden Tag zu uns kommen und wir werden jeden Tag zufrieden sein, wenn sie es tut.«144 Anna Katharina Salten selbst hatte ihre größten beruflichen Erfolge schließlich just in den 1940er Jahren mit Übersetzungen aus dem Englischen ins Deutsche. Ihre eigene literarische Produktion hatte sich mit einer einzigen Gedichtveröffent-
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25 Veit Wyler in Palästina, um 1934. ETH Zürich, Archiv für Zeitgeschichte: NL Veit Wyler/1. 26 Veit Wyler als Verteidiger von David Frankfurter während der Verhandlung, 09.–12. Dezember 1936. Fotos: Prisma Pressservice, Heinz Guggenbühl. ETH Zürich, Archiv für Zeitgeschichte: NL Veit Wyler/1.
lichung im »Querschnitt«,145 einigen Erzählungen aus den 1930er-Jahren146 sowie einem 1955 in Zürich uraufgeführten, jedoch unveröffentlicht gebliebenen Schauspiel in Grenzen gehalten – nun legte sie binnen neun Jahren zwölf Übersetzungen beachtlichen Umfangs vor, darunter die deutsche Version dreier Romane von Agatha Christie. Einen Coup landete sie mit ihrer Übertragung von John Steinbecks »The Moon is down« (Viking Press, 1942), ein Roman, der 1943 unter dem Titel »Der Mond ging unter« im Züricher Verlag Humanitas erschien und schnell acht Auflagen erreichte. Der stolze Vater notierte am 14. September 1942 in seinen Kalender: »Abds: Annerle liest ihre (glänzende) Übersetzung des Steinbeck-Romans vor. […] Starker Eindruck!!« Zur Zuhörerschaft an jenem Abend gehörten unter anderem der Schauspieler Heinrich Gretler (1897–1977) sowie Kurt Hirschfeld (1902–1964), nach Zürich emigrierter Regisseur am dortigen Schauspielhaus. Die deutsche Bühnenfassung des Romans, die am 27. August im Stadttheater Basel uraufgeführt, in Folge 46 Mal gespielt wurde und auch in Wien nach der Premiere in den Kammerspielen im September 1945 über 50 Mal zu sehen war, stammt ebenfalls von Saltens Tochter. Auffallend ist, dass Anna Katharina auf dem Plakat zur Wiener Inszenierung wie in den Kritiken147 nach wie vor unter dem Namen »Rehmann« geführt wird, obwohl sie im Jahr zuvor eine zweite Ehe eingegangen war. Saltens neuer Schwiegersohn war der namhafte Anwalt und Zionist Veit Wyler (1908–2002), zu dessen Mandanten unter anderem der Student David Frankfurter (1909–1982) gehörte, der im Februar 1936 in Davos den für die Schweiz zuständigen Landesgruppenleiter der NSDAP-Auslandsorganisation Wilhelm Gustloff erschossen hatte. Anna Katharina Salten scheint vor der Eheschließung mit Wyler in dessen seit 1935 bestehender Kanzlei gearbeitet zu haben oder hatte dies zumindest vor. Immerhin notierte Salten am 31. März 1942 in seinen Taschenkalender: »Sie will Sekretärin in der Rechtsanwaltskanzlei des Dr. Wyler werden. Ich bin heftig dagegen, aber das wirkt nicht!« Nicht einmal drei Monate später legte der von monetären Sorgen geplagte Salten das Schicksal seiner Finanzen in die Hände des Anwalts. Unter dem Datum 19. Juni 1942 findet sich die Notiz: »Dr. Wyler über145 Anna Katharina Salten: Bänkellied. In: Der Querschnitt 12 (1932), 4, S. 252.
nimmt Ordnung der Sache«.
146 Anna Katharina Rehmann: Mädchen am Luganer See. In: Neue Freie Presse, Nr. 25984 vom 12.01.1937, S. 1f.; dies.: Besuch. In: Die Bühne, 1. Septemberheft 1936, Nr. 431, S. 15f sowie S. 47; dies.: Das Interview. In: Neue Freie Presse, Nr. 23894 vom 22.03.1931, S. 36f.; dies.: Überraschung und Reifröcke im Tanzfilmatelier. In: Illustrierte Wochenpost, 20.03.1931, S. 4. 147 Oskar Maurus Fontana: »Der Mond ging unter«. Steinbeck-Premiere in den Kammerspielen. In: Wiener Kurier, Nr. 18 vom 15.09.1945, S. 6; Richard Hoffmann: »Der Mond ging unter«. Premiere in den Kammerspielen. In: Neues Österreich, Nr. 125 vom 16.09.1945, S. 2.
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Ein alter Mensch auf neuer Erde? Felix Salten in Palästina
Dieter Hecht
»Keiner der Leser dieses Buches wird sich so leicht in die Gefühlslage des Autors versetzen können, der die heilige Sprache nicht versteht, der väterlichen Religion – wie jeder anderen – völlig entfremdet ist, an nationalistischen Idealen nicht teilnehmen kann und doch die Zugehörigkeit zu seinem Volk nie verleugnet hat, seine Eigenart als jüdisch empfindet und sie nicht anders wünscht. Fragte man ihn: Was ist an dir noch jüdisch, wenn du alle diese Gemeinsamkeiten mit deinen Volksgenossen aufgegeben hast?, so würde er antworten: Noch sehr viel, wahrscheinlich die Hauptsache. Aber dieses Wesentliche könnte er gegenwärtig nicht in klare Worte fassen. Es wird sicherlich später einmal wissenschaftlicher Einsicht zugänglich sein.«1 Mit dieser Vorrede zur hebräischen Ausgabe von »Totem und Tabu« machte Sigmund Freud (1856–1939) im Jahr 1930 deutlich, dass für ihn die wesentlichste Komponente seiner Identität das Judesein war, unabhängig von Religion oder ethnischer Zugehörigkeit. Die Lektüre von Felix Saltens zionistischen Schriften, deren Fokus sein 1925 erschienenes Palästinareisebuch »Neue Menschen auf alter Erde« darstellt, vermittelt über weite Strecken ein ähnliches Bewusstsein. Freuds Ver-
links:
such, seine jüdische Identität zu essentialisieren, erinnert an eine Rede Saltens,
1 Saltens Schreibtisch mit seinen Initialen »FS« im Judenstern aus intarsiertem Messing. Privatbesitz Zürich.
die er am 22. Juni 1929 anlässlich der 25jährigen Wiederkehr von Theodor Herzls (1860–1904) Tod vortrug: »Wir haben durch ihn [Herzl; Anm. d. Verf.] gelernt, daß es nichts anderes gibt, als sich einfach zu sich selbst zu bekennen. Aufrecht, ohne
oben:
Herausforderung, ohne Stolz, aber auch ohne Untertänigkeit. […] Ich bin nicht
2 Gegen die Phrase vom jüdischen Schädling. Prag: Amboss-Verlag 1933. WBR, DS, A-350486.
[i]hr Parteigenosse, so wenig wie ich irgendeiner andern Partei als Genosse angehöre. Nichts anderes bin ich als ein einfacher Mensch, der vom Ethos der Bibel durchdrungen ist, der fest daran glaubt, daß die Bibel das Antlitz der Menschheit verändert, daß sie es verschönt hat«.2 Salten konstruierte Herzl als Vaterfigur des Zionismus, der über den einzelnen Fraktionen steht, und ordnete auch sich selbst keiner Gruppierung zu, weder im politischen noch im religiösen Sinne des Zionismus, vielmehr begriff er sich als bewussten Juden, geprägt durch das Ethos der Bibel. Als solcher trat er stets gegen Antisemitismus auf und beharrte auf eigenen Positionen in Bezug auf Kultur und Zugehörigkeit, aber auch hinsichtlich seines Verständnisses von Zionismus. Für Salten standen Moses und in seiner Nachfolge Herzl im Mittelpunkt; sie waren die Leitfiguren, die den Zionistinnen und Zionisten aus West und Ost ihren Weg wiesen, um eine neue Identität aufzubauen.3 Salten personifizierte beide Prinzipien, nämlich das »mosaische Prinzip«, d. h. die Ablehnung alles Alten bzw. Rebellion und Freiheitssehnsucht, und das »davidische Prinzip«, d. h. die konservative Sehnsucht nach Erhaltung des Bestehenden: »Es sind im jüdischen Volk zwei Elemente von großer Kraft bis auf den heutigen Tag lebendig. Das eine Element – ich nenne es das Mosaische – richtet sich immer und immer wieder gegen Pharao und begehrt immer und immer wieder auf das leidenschaftlichste: Heraus aus der Knechtschaft! Das andere Element, das seinen Höhepunkt mit König David und mit dessen Sohn erreicht hat, ist der den Juden gleichfalls innewohnende leidenschaftliche Trieb zum Konservatismus. Psalmensänger, Erbauer von Palästen und Tempeln, Stütze des Bestehenden, Bewahrer der Tradition. Je nach der Umgebung, in der die Juden leben, tritt das Mosaische hervor oder der königlich Davidische Zug.«4
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1 Sigmund Freud: Vorrede zur hebräischen Ausgabe von »Totem und Tabu«. In: Ders.: Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet. Hg. von Anna Freud unter Mitwirkung von Marie Bonaparte. Bd. 14: Werke aus den Jahren 1925–1931. Frankfurt/M.: S. Fischer 1999, S. 569. 2 Felix Salten: Gedenkrede für Theodor Herzl. Zum fünfundzwanzigsten Jahrestag seines Todes. In: Neue Freie Presse, Nr. 23266 vom 23.06.1929, S. 3f., hier S. 4. 3 Vgl. Siegfried Mattl, Werner Michael Schwarz: »Neue Menschen auf alter Erde«. Gedächtnislandschaft Palästina. In: Felix Salten. Schriftsteller – Journalist – Exilant. Hg. von S. M., W. M. S. Wien: Holzhausen 2006 (= Wiener Persönlichkeiten V), S. 139–149, hier S. 146. 4 Felix Salten: Moses und David. In: Gegen die Phrase vom jüdischen Schädling. Prag: Amboss-Verlag 1933, S. 399–401, hier S. 401.
Der Auszug aus der Knechtschaft und die Rückkehr in das von Gott an Abraham versprochene Land, aber auch das Königtum unter David und Salomon gehörten zum zionistischen Narrativ, sowohl zu jenem von Theodor Herzl als auch zu jenem seiner zionistischen Vordenker wie Leon Pinsker (1821–1891) und Moses Hess (1812–1875). Salten nahm diese Fäden auf und suchte seinen eigenen Platz im zionistischen Weltbild. Anhand seines Nachlasses im Bestand der Wienbibliothek, der in paradigmatischer Weise einen Querschnitt durch Saltens Schaffen von den späten 1890er-Jahren und seiner Arbeit für Herzl bis zu den 1940er-Jahren gibt, soll in diesem Beitrag auf sein zionistisches Engagement eingegangen und nach sich verändernden Positionen gefragt werden.
Zionistische Spuren und Manifestationen In den Notizen, die Salten für seine Memoiren in den 1940er-Jahren verfasste, nannte er Herzl den Gründer des politischen Zionismus und konstatierte dessen geringe Anerkennung unter Wiener Intellektuellen: »Ich darf sagen: innerhalb der gesammten Wiener Presse [bin] ich fast, wenn nicht überhaupt der Einzige gewesen, der offen zum verhöhnten Autor des Judenstaates trat.«5 Salten gehörte tatsächlich zu den wenigen prominenten Journalisten, die Herzls politischen Zionismus von Beginn an unterstützten. In seiner bereits zitierten Herzl-Gedenkrede schilderte er, wie sich die beiden in der Redaktion der »Wiener Allgemeinen Zeitung« (»Sechs-Uhr-Blatt«) kennenlernten: »Eines Tages öffnete sich die Tür, vielmehr sie tat sich feierlich auf, beinahe wie im Theater. Ein hochgewachsener Mann stand da und rief heiter ins Zimmer: ›Ich grüße das Handwerk!‹ Dieser Augenblick voll dramatischer Wirkung, dieses Erscheinen eines Mannes, der von Noblesse umschimmert wurde, den alle Zeichen als bedeutenden Menschen ankündigten, hatte etwas Unvergeßbares. Der kümmerliche, blutjunge Anfänger, als der ich damals am Schreibtisch saß, empfand im Augenblick, daß er nun etwas Unvergeßliches, etwas Entscheidendes erlebte.«6 Herzl suchte für seine 1897 gegründete Zeitschrift »Die Welt« Journalisten. Viele seiner engen Mitarbeiter wie Leon Kellner (1859–1928) oder Siegmund Werner (1867–1928) verließen die Redaktion nach kurzer Zeit aufgrund beruflicher Veränderungen oder wegen geringer Bezahlung.7 Salten schrieb ab Herbst 1897 regelmäßig für das Blatt, vor allem die Kolumne die »Woche«. Er setzte sich dort umfassend mit Lueger auseinander, schrieb über Dreyfus, den Kampf gegen Antisemitismus und für bewusst jüdisches Auftreten. Wie nahe sich beide standen, zeigt Herzls Reaktion auf Saltens ersten »Welt«-Beitrag: »Hochverehrter Freund, wieder ganz vortrefflich. Der erste Aufsatz ist in No 7 erschienen, die Ihnen nachzuliefern ich Auftrag gab. Die Welt ist nicht weggegeben, so oft du kommst, du sollst willkommen sein. Herzlich grüssend Ihr ganz ergebener Th Herzl«8 Mit der Anspielung auf die letzte Strophe von Schillers »Theilung der Erde« (1795)9 weist Herzl darauf hin, dass er Salten im Rahmen der zionistischen Bewegung keine materiellen Reichtümer versprechen, ihm aber Möglichkeiten eröffnen könne, sich schreibend dafür zu engagieren. Herzls Brief bezog sich wohl auf Saltens bekanntestes Feuilleton in der »Welt« mit dem Titel »Das Theater und die Juden« aus dem Jahr 1899.10 Salten nahm den antisemitischen Beschluss des Grazer Gemeinderats, dass der neue Direktor des Stadttheaters
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5 Felix Salten: Notizen für Memoiren, Bl. XI. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 1, 1.1.1.1. 6 Felix Salten, Gedenkrede für Theodor Herzl (Anm. 2), S. 3. 7 Vgl. Angelika Montel: Herzls Maitresse. Die Gründung der »Welt«. In: Wandlungen und Brüche. Von Herzls »Welt« zur »Illustrierten Neuen Welt« 1897–1997. Hg. von Joanna Nittenberg. Wien: Edition INW 1997, S. 19–66, hier S. 22. 8 Theodor Herzl an Felix Salten, Brief vom 21.02.1899. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 6, 2.1.219.2. 9 Die letzte Strophe lautet: »Was kann ich thun, spricht Zevs. Die Welt ist weggegeben, / Der Herbst, die Jagd, der Markt ist nicht mehr mein. / Willst du in meinem Himmel mit mir leben? / So oft du kommst, er soll dir offen seyn.« Vgl. Friedrich Schiller: Werke. Nationalausgabe. 1. Bd.: Gedichte in der Reihenfolge ihres Erscheinens 1776–1799. Hg. von Julius Petersen † und Friedrich Beißner. Weimar: Böhlau 1943, S. 267f., hier S. 268. 10 F[elix] S[alten]: Das Theater und die Juden. In: Die Welt, Nr. 7 vom 17.02.1899, S. 14f.; Nr. 9 vom 03.03.1899, S. 14f.; Nr. 15 vom 14.04.1899, S. 14f.; Nr. 23 vom 09.06.1899; S. 14f.; Nr. 29 vom 21.07.1899, S. 15f.
3 Theodor Herzl an Felix Salten, Brief vom 2. Februar 1899. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 6, 2.1.219. 4 Theodor Herzl, um 1900. ETH Zürich, Archiv für Zeitgeschichte, NL Veit Wyler.
seine »arische« Herkunft nachweisen müsse, um das Amt antreten zu können, als Ausgangspunkt, um anhand von gesellschaftlich besonders exponierten jüdischen Künstlerinnen und Künstlern die allgemein gescheiterte Emanzipation und den Antisemitismus zu thematisieren. Salten skizzierte eine Art »Schicksalsgemeinschaft« aller Jüdinnen und Juden, der aufgrund der jahrtausendelangen Verfolgungsgeschichte niemand entrinnen könne. Erst die zukünftige jüdische Selbstfindung des Individuums, egal an welchem Ort, d. h. sowohl in der Diaspora als auch in Palästina, bringe jenes Volksverständnis hervor, das Jüdinnen und Juden allen anderen gleichstellen werde.11
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11 Vgl. Angelika Montel, Herzls Maitresse (Anm. 7), S. 24f. und Siegfried Mattl: Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt. In: Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938. Akkulturation – Antisemitismus – Zionismus. Hg. von Frank Stern, Barbara Eichinger. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 2009, S. 419–426.
»Wenn aber nun in unserer Zeit des Ueberganges, in der Epoche, von welcher man erhoffen kann, dass an ihrem Ausgange auch der Schluss jener Debatte über die Würdigkeit der Juden erfolgt, im einzelnen Individuum das Bewusstsein des Jüdischen sehr lebendig wird, dann muss es sich zunächst polemisch äussern. Das ist nach allem nicht anders zu erwarten. Diese Kunst wird streitbar werden, sie wird eine Sache haben, der sie ihre Begeisterung weiht, für die sie kämpfen wird. [...] Jenseits dieser Phasen liegt dann die Zeit, in welcher die Unbefangenheit langsam sich festigt. Für den jüdischen Künstler ist dann das jüdische Wesen eine Art unter den anderen Arten; nur ihm persönlich näher, weil es zufällig die seine ist. Das jüdische Volk ist für ihn ein Object, das er unter anderen Objecten findet. Er entdeckt es auf seinem Wege durch die Vielfältigkeit der Welt neben anderen.«12 Um 1900 gehörte Salten bereits zu den arrivierten Journalisten Wiens. Artikel über Zionismus stellten nur einen kleinen Teil seiner Arbeit dar, obwohl er mit Herzl und anderen zionistischen Mitstreitern befreundet war. Der Tod Herzls am 3. Juli 1904 bedeutete indessen nicht nur für Salten einen großen Verlust, sondern auch für andere Jung-Wiener, wie Richard Beer-Hofmann: »Ich habe erst vor zwei Stunden den Tod Herzls erfahren. […] Es gab mir einen argen Ruck – ich weiß – gewiß auch weil wir alle nicht gar so weit von diesen 44 stehen u. s. w. aber auch sonst – weil ich auch das Gefühl hatte als hätte er uns Allen näher im Leben stehen können und sollen als es der Fall war. Dann aber kam Wuth und Ärger und Ekel über das flaue, lahme, widerwärtige Gewäsch der Zeitungen und – en, haben mich ein wenig beruhigt. erst Ihre Worte die mir jetzt hier zu Gesicht kom Kein Anerkennungsschreiben! Kein höfliches Bonbon! Aber es tat mir gut endlich – e eines Menschen zu hören aus diesem Chor von Tieren. Wiederum auch die Stim vielleicht, weil wir uns wünschen daß nach unserem Tod ein anständiger Mensch zu der Menge sprechen soll.«13 Herzl blieb für Salten der zionistische Übervater und sein Vorbild, wie der Artikel zu Herzls Tod,14 auf den sich Beer-Hofmann in seinem Brief bezieht, sein Palästinabuch und seine Gedenkrede zu Herzls 25. Todestag zeigen. Der Entwicklung des politischen Zionismus mit verschiedenen Parteien stand Salten zwar ambivalent bis ablehnend gegenüber; dennoch blieb er Herzl verbunden. Zeitweise trug er sich sogar mit dem Gedanken, dessen Biograph zu werden, wie er Arthur Schnitzler mitteilte: »Ich bin im Begriff, die Herzl-Biographie zu übernehmen, was ich mir als eine Art von Denkmal-Porträt sehr schön denke.«15 Vielleicht blieb er aus diesem Grunde auch Herzls Mitstreitern der frühen Jahre lebenslang verbunden. Einer von ihnen war der bereits erwähnte Anglist Leon Kellner, der seit den 1890er-Jahren für »Die Welt« schrieb und Herzls literarischer Nachlassverwalter wurde. Salten und Kellner trafen sich immer wieder mit ihren Familien und korrespondierten über Jahrzehnte. Im Jahr 1919 schrieb Salten anlässlich von Kellners 60. Geburtstag eine rührende Würdigung in der »Neuen Freien Presse«.16 Für Salten bedeutete Zionismus vor allem die Schaffung einer »Heimstätte« in Palästina für die verfolgten Juden aus Osteuropa, die er immer wieder als die »Wurzellosen« beschrieb. Zwei jüdische Strömungen kamen Saltens Ansichten sehr entgegen. Einerseits wurde der politische Zionismus am 5. Weltkongress in Basel (1901) um ein kulturelles Bildungsprogramm, den Kulturzionismus, ergänzt.
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12 Felix Salten: Das Theater und die Juden, 5. Teil. In: Die Welt, Nr. 29 vom 21.07.1899, S. 16. 13 Richard Beer-Hofmann an Felix Salten, Brief vom [04.07.1904]. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 5, 2.1.31.7. Hervorhebung im Original. 14 Vgl. Felix Salten: Theodor Herzl – gestorben. In: Die Zeit, Nr. 635 vom 04.07.1904, S. 2f. 15 Felix Salten an Arthur Schnitzler, Brief vom 01.05.1906 (Abschrift). WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 10, 2.2.61.220. 16 Vgl. Felix Salten: Leon Kellner. Zum sechzigsten Geburtstag. In: Neue Freie Presse, Nr. 19629 vom 17.04.1919, S. 8. Zur Korrespondenz zwischen Salten und Kellner vgl. Theodor-Kramer-Gesellschaft, Nachlass Paula Arnold, Kiste 1, Mappe 7. Paula Arnold (1885–1968) war die Tochter von Leon Kellner.
Für den Kulturzionismus galt Jerusalem als geistiges Zentrum, das die Juden in der Diaspora beeinflussen sollte, und war weniger territoriale Realität. Diese Bewegung stand vor allem unter der Führung des Schriftstellers Achad Ha’am (1856–1927, eigentlich Ascher Hirsch Ginsberg). Ungefähr gleichzeitig entwickelte sich die »Jüdische Renaissance«. Diese Bewegung sollte in ihrer Ablehnung der bürgerlichen Wertvorstellungen und der Assimilation als kultureller Orientierung eine jüdisch-nationale Wiedergeburt einleiten – eine neue jüdische Nationalität erschaffen, die sich über Kultur definierte, und so den der jüdischen Religion entfremdeten bürgerlichen Schichten wieder zum jüdisch-kulturellen bzw. jüdischnationalen Bewusstsein finden helfen.17 Einer jener Zionisten, welche die »Jüdische Renaissance« maßgeblich prägten, war Martin Buber (1878–1965). Salten und Buber hatten einige gemeinsame Anknüpfungspunkte in der zionistischen Bewegung, z. B. über die Zeitung »Die Welt«, wo beide regelmäßig publizierten, aber auch über gemeinsame Vortragsreisen. Zudem hatte Salten »Die Geschichten des Rabbi Nachman« rezensiert,18 was Buber zum Anlass nahm, Salten um Unterstützung zu bitten, »ein paar zusammenhängende Aufsätze«19 seines Italienaufenthaltes in der »Zeit« unterzubringen. Eine prägende Veranstaltung wurde der Vortragsabend der jüdischen Studentenverbindung Bar Kochba am 20. Januar 1909 in Prag.20 Leo Herrmann (1888–1951) hatte Salten bereits als Sprecher engagiert, als er sich im November 1908 an Martin Buber wandte. Salten wollte über »Wert- und Wurzellosigkeit der jüdischen Gesellschaft in Großstädten« sprechen. Herrmann war dieses Thema zu negativ, weshalb er Buber bat, im Anschluss an Salten über die positiven Entwicklungen einer jüdischen Renaissance bei den Westjuden zu referieren. Danach trug die junge Schauspielerin Lia Rosen (1893–1972) Gedichte vor.21 Für Buber sollte dies die erste seiner später bekanntgewordenen »Drei Reden über das Judentum« (Frankfurt/M. 1911) vor der Studentenverbindung Bar Kochba in Prag werden. Im Dezember 1908 informierte Salten Buber über Thema und Aufbau seines Beitrags »Abfall vom Judentum«,22 den er als Folge der jüdischen Emanzipation und der entstandenen »Wurzellosigkeit der jüdischen Obersicht in den Großstädten« darstellte.23 Der gemeinsame Vortragsabend sei »schön« und etwas »sehr Wertvolles« gewesen, ließ er Buber nach der Veranstaltung wissen.24 Salten hielt weiter Vorträge zu zionistischen Themen. So berichtet Marek Scherlag (1878–1962) von einem »imposanten Herzlabend der Poale Zion« und zeigt sich tief beeindruckt: »Worte des Mutes, Worte des Stolzes, wie sie uns Herzl gelehrt, vernahm ich von Salten. So erkannte ich in ihm den aufrechten Juden.«25 Auch andernorts war man von diesem Auftritt Saltens berührt: »Vorgestern bekam ich einen Brief von der Vertretung der jüdischen Arbeiterschaft in Österreich«, schrieb er der Verlegergattin Hedwig Fischer am 25. Dezember 1908. »Dank für die Herzl-Gedenkrede, für manches andere noch, u.s.w. Zuletzt: um mir auch ein sichtbares Zeichen ihrer ec. ec. zu geben, haben sie veranlaßt, dass im Theodor HerzlPark zu Jaffa ein Oelbaum gepflanzt und mit meinem Namen versehen werde. Ich finde diese Aufmerksamkeit ebenso zart als schön, und bin gerührt darüber. Der Gedanke, dass im heiligen Land so ein biblischer Baum heranwächst und meinen Namen trägt, ist mir etwas sehr liebes! Vielleicht komme ich in ein paar Jahren
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17 Vgl. Andreas B. Kilcher: Jüdische Renaissance und Kulturzionismus. In: Handbuch der deutschjüdischen Literatur. Hg. von Hans Otto Horch. Berlin, Boston: De Gruyter 2016, S. 99–121. 18 Vgl. Felix Salten: Die Geschichten des Rabbi Nachman. In: Die Zeit, Nr. 1622 vom 31.03.1907, S. 40. 19 Martin Buber an Felix Salten, Brief vom 15.08.1907. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 5, 2.1.75. 20 Vgl. Anonym: Festabend des Vereines »Bar Kochba«. In: Prager Tagblatt, Nr. 21 vom 21.01.1909, S. 7. 21 Leo Herrmann an Martin Buber, Brief vom 14.11.1908. Zit. nach Martin Buber: Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten. Bd. 1: 1897–1918. Heidelberg: Lambert Schneider 1972, S. 268f. 22 Vgl. den Erstdruck in: Jüdische Volksstimme (Brünn), Nr. 7 vom 01.03.1909, S. 1f. und Nr. 8 vom 10.03.1909, S. 1f. 23 Felix Salten an Martin Buber, Brief vom 28.12.1908 (Kopie aus dem Nachlass Martin Buber in der Jewish National and University Library, Jerusalem). WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 9, 2.2.13. 24 Felix Salten an Martin Buber, Karte vom 28.01.1909 (Kopie aus dem Nachlass Martin Buber in der Jewish National and University Library, Jerusalem). WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 9, 2.2.13. 25 M[arek] Scherlag: Die Geliebte Friedrichs des Schönen und andere Novellen. In: Jüdische Volksstimme (Brünn), Nr. 1 vom 01.01.1909, S. 10.
doch nach Jerusalem, was ja von jeher zu meinen innigsten Wünschen gehört. Dann besuche ich auch in Jaffa den jungen Oelbaum, der so heißt wie ich.«26 Im Januar 1914 sprach er in Prag abermals vor der Studentenverbindung Bar Kochba: »Salten, der seit Jahren in Wien den Ruf eines geschickten Feuilletonisten genießt, bewies sich als solcher auch in seinem Vortrage. Er plauderte klug über die jüdische Moderne und erzählte einem über diesen Gegenstand gut unterrichteten Publikum eine Reihe ebenso interessanter wie bekannter Tatsachen. Da er aber bei Allem die Meinung des Publikums aussprach, das sich seine Meinung immer gern wiederholen läßt, so wurde das Pathos seiner Rede als das Pathos einer Ueberzeugung mit Beifall anerkannt und seine ironischen Anspielungen, die das Talent eines guten Witzeerzählers, nicht das eines Satirikers verrieten, wurden nach dem lauten Lachen zu schließen, sehr amüsant gefunden.«27 Im Anschluss daran trug Joseph Schildkraut (1862–1930) Texte von Richard Beer-Hofmann, Max Brod und Theodor Herzl vor. Die Veranstaltungen der Bar Kochba zogen viele junge Gäste an, darunter auch Franz Kafka (1883–1924), der diesen Vortragsabend in seinem Tagebuch festhielt und so den »Genuß der Mädchen bei dem Vortrag Salten«28 bezeugte – er scheint seine Schwestern Elli, Ottla und Valli dorthin begleitet zu haben. Ein weiterer junger Autor, der mit Salten in Verbindung stand, war Kafkas Freund Max Brod (1884–1968), der ein ambivalentes Verhältnis zu Salten pflegte. Im Jahr 1917 kritisierte er gegenüber Martin Buber die unverbindlichen Aussagen jüdischer Schriftsteller zum Zionismus: »Dem Judentum kann durch ›Bekenntnisse‹ nicht genützt werden, nur durch Taten. Wie oft hat sich Wassermann, Salten, Schnitzler, die ganze ältere Wiener Generation (die mir unsympathisch ist – auch Zweig gehört zu ihr!) zum Zionismus bekannt – und welche Konsequenzen haben sie gezogen? Gar keine.«29 In den 1920er Jahren entspannte sich das Verhältnis und Brod korrespondierte mit Salten über seine Stellung als Schriftsteller. Im Januar 1924 berichtete Brod, dass ihm in Prag »Deutschfeindlichkeit« unterstellt werde: »Die Sache liegt so, daß ich stets mich offen als Jude bekannt, daß ich aber die kulturellen Bestrebungen der Deutschen stets (wie alle Kultur) nach meinen Kräften unterstützt habe. Und die deutsche Kultur als die mir nächste ganz besonders!«30 Brod beklagte zudem, dass er in Wien kaum rezensiert werde, und ersuchte Salten um Unterstützung. Dieser besprach in der »Neuen Freien Presse« mindestens drei Bücher Brods prominent – auf »Rëubeni. Fürst der Juden« (1925) folgten »Die Frau, nach der man sich sehnt« (1927) und »Stefan Rott oder Das Jahr der Entscheidung« (1931).31 Brod bedankte sich auch für die Zusendung von Saltens Palästinabuch, das er im »Berliner Tagblatt« würdigen wollte. Die Rezension wurde jedoch abgelehnt, was Brod Anlass zu bitteren Worten gab: »Die Front der Assimilation gegen die Wahrheit! – In diesem Fall umso erstaunlicher, als meine Kritik […] gerade das nationale Moment vom ästhetischen überdecken ließ – und als doch im B. T. die sehr palästinaphilen Aufsätze von [Erna] Pinner zu lesen waren.«32 Brod verfasste einen zweiten Text, nun weitgehend ohne Zionismusbezug: »Ich habe allerdings gemeint, daß schon meine erste Kritik genügend weit weg zum Zionismus war; habe ja ausdrücklich hervorgehoben, daß Ihr Buch ohne Tendenz ist.«33
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26 Felix Salten an Hedwig Fischer, Brief vom 25.12.1908. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 9, 2.2.22.29. 27 Prager Tagblatt, Nr. 22 vom 23.01.1914, S. 3. 28 Franz Kafka: Tagebücher. Hg. von Hans-Gerd Koch, Michael Müller und Malcolm Pasley. Frankfurt/M.: S. Fischer 1990 (= Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe), S. 626. 29 Max Brod an Martin Buber, Brief vom 12.02.1917. Zit. nach Martin Buber, Briefwechsel (Anm. 23), S. 471. 30 Max Brod an Felix Salten, Brief vom 06.01.1924. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 5, 2.1.69.2. 31 Vgl. Felix Salten: Der Fürst vom Stamme Ruben. In: Neue Freie Presse, Nr. 21962 vom 04.11.1925, S. 1–3; ders.: Eine Liebestragödie. In: Neue Freie Presse, Nr. 22695 vom 22.11.1927, S. 1–3 und ders.: »Das Jahr der Entscheidung«. In: Neue Freie Presse, Nr. 24163 vom 20.12.1931, S. 36. 32 Max Brod an Felix Salten, Brief vom 28.10.[1925]. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 5, 2.1.69.3. 33 Max Brod an Felix Salten, Brief vom 25.11.[1925]. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 5, 2.1.69.4. Hervorhebung im Original.
Saltens Einstellung zum Zionismus änderte sich über die Jahrzehnte. Wie viele andere Zionisten sah er seine eigene Lebensperspektive nicht in Palästina. Er blieb Kulturzionist, der das Projekt unterstützte, um einer jüngeren Generation den Weg zu ebnen. Für ihn selbst war Österreich-Ungarn als »Kultur- und Sprachgemeinschaft« und später – während der Republik – die deutschsprachige Kulturgemeinschaft ein tragfähiges Gerüst für jüdisches Leben.34 Trotz dieser Einstellung plante er nach dem Ersten Weltkrieg eine Palästinareise, die schließlich im Frühjahr 1924 realisiert wurde. Zu diesem Zeitpunkt war Palästina ein so begehrtes wie exotisches Reiseziel. Nach dessen Eroberung durch britische Truppen im Ersten Weltkrieg und im Zuge der Errichtung des britischen Mandats im Auftrag des Völkerbunds kam es nicht nur zu einer verstärkten jüdischen Einwanderung; zahlreiche jüdische – aber auch nichtjüdische – Autoren bereisten in Folge der politischen Veränderungen den Nahen Osten und schrieben darüber Reisebücher, wie etwa Arthur Holitscher, Leopold Weiss und Wolfgang Weisl. Salten musste seinen Reiseentschluss schon im Frühjahr 1923 gefasst haben, denn am 9. Juli 1923 erhielt er eine Einladung zu dem im August stattfindenden 13. Zionistischen Weltkongress in Karlsbad, die sich auf seine bevorstehende Reise bezog. Eingeladen wurde er von Berthold Feiwel (1875–1937), einem Zionisten aus Mähren, der 1900/01 Chefredakteur der »Welt« gewesen war und Salten wahrscheinlich in diesem Kontext kennengelernt hatte. Von 1920 bis 1926 war Feiwel Direktor des Keren Hayesod (Gründungsfonds), der Fundraising-Organisation für Palästina, in London. 1923 schrieb er an Salten: »Seit ich das grosse Vergnuegen hatte, mit Ihnen ueber juedische Dinge reden zu duerfen und jene tiefe Genugtuung zu empfinden, die sich immer dann ergibt, wenn Gemeinsames in einer selbstverstaendlichen Einfachheit und Klarheit sich manifestiert, hat mich der Gedanke nicht verlassen, dass die juedische Bewegung ein Anrecht auf Sie hat. Ich meine ein Anrecht auf mehr als die gefuehls- und gedankenmaessige Anteilnahme, so reich und fruchtbar sie auch sein moegen, kurz gesagt, ein Anrecht nicht nur auf den Dichter, sondern auch auf den Mann. Und ich betrachte es geradezu als meine Pflicht, der Sache des neuen Palaestina, fuer die die besten Energien gerade gut genug sind, Ihre Kraft zuzufuehren.«
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Mit der Einladung zum Zionistischen Weltkongress wollte er Salten
zeigen, wie die Zionistische Bewegung in der Diaspora arbeitet, und ihm Gelegenheit bieten, die führenden Zionisten kennenzulernen. Im August 1923 war Salten dann Berichterstatter des Kongresses für die »Neue Freie Presse«.36 In seinem Artikel bewunderte er Chaim Weizmann (1874–1952) und dessen Kongressstrategie, ja er zeigte sich besonders begeistert von der Wiederbelebung des Hebräischen. Salten betonte auch, dass nur jene emigrieren sollten, die sich dort, wo sie lebten, nicht heimisch fühlten, was seine Person ausschloss. Vor seiner Palästinareise, im Januar 1924, wurde Salten zum Präsidenten des Vereins »Haruach« (Hebräisch: der Geist; Vereinigung jüdischer Forscher, Schriftsteller und Künstler) gewählt. Der Verein – 1918 von den Zionisten Harry Torczyner (1886–1979, später Tur-Sinai), Eugen Höflich (1891–1965, später Mosche Ya’akov Ben-Gavriel) und Ludwig Yomtov Bató (1886–1974) gegründet – sollte vor allem notleidende jüdische Künstler unterstützen und jüdischen Kulturinitiativen eine Plattform bieten. Über die erste Vorstandssitzung am 16. Januar 1924 in Saltens Haus schrieb Höflich, eine Generation
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34 Vgl. Werner M. Schwarz: Die Faszination für Teppiche. Zu Felix Saltens literarischen und politischen Perspektiven nach 1918. In: Design Dialogue: Jews, Culture and Viennese Modernism / Design Dialog: Juden, Kultur und Wiener Moderne. Hg. von Elana Shapira. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 2018, S. 359–374, hier S. 367f. und Manfred Dickel: »Ein Dilettant des Lebens will ich nicht sein«. Felix Salten zwischen Zionismus und Jungwiener Moderne. Heidelberg: Winter 2007 (= Jenaer germanistische Forschungen N.F. 23), S. 416. 35 Berthold Feiwel an Felix Salten, Brief vom 09.07.1923. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 6, 2.1.150. 36 Vgl. Felix Salten: Bilder vom Zionistenkongress. In: Neue Freie Presse, Nr. 21181 vom 28.08.1923, S. 1f.
5–9 Luxor. Serie von 5 s/w-Aufnahmen von der Ägyptenreise 1924. Mit eh. Beschriftung von Felix Salten. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 17, 3.11.12.1.
jünger, in seinem Tagebuch wenig Schmeichelhaftes über den neuen Präsidenten: »Feuilletonschmock der Neuen Freien Presse […]. Herr Salten sieht so aus wie er schreibt. Jeder Zoll Neue Freie Presse«.37 Als Salten zu seiner Palästinareise aufbrach, war er 55 Jahre alt. Er fuhr nicht direkt nach Palästina, sondern wählte den Weg über Ägypten. Ab März/April 1924 publizierte er in der »Wiener Allgemeinen Zeitung« und im Feuilleton der »Neuen Freien Presse« seine Reiseeindrücke.38 Sein Buch »Neue Menschen auf alter Erde« erschien rund ein Jahr nach seiner Rückkehr. Es ist Herzls Utopie von »Altneuland« verpflichtet, auch wenn dieses Werk nicht explizit erwähnt wird. Salten besuchte Palästina 20 Jahre nach Herzls Tod, d. h. in Herzls Utopie. Von dessen Themen finden sich viele in Saltens Buch wieder. Er schrieb über Infrastruktur, Städtebau, Handel, Bildung und Gesellschaftsorganisation, politische Willensbildung, den Umgang mit der nichtjüdischen Bevölkerung und die Menschen vor Ort. »Neue Menschen auf alter Erde« folgt Herzls Strategie, »das rational als richtig und bewunderungswürdig Befundene über emotionale Reaktionen an den Leser zu übermitteln«. Saltens Rhetorik durchzieht etwas Religiöses, allerdings einer zutiefst säkularisierten, diesseitigen Art mit fast expressionistischen Bildern.
10 Felix Salten: Neue Menschen auf alter Erde. Eine Palästinafahrt. 10.-15. Tausend. Berlin, Wien, Leipzig: Zsolnay 1925. WBR, DS, A-223044.
Seine Aufzeichnungen sind weniger technokratisch, dafür menschlicher, passionierter und emotionaler.39 Der Reisebericht setzt von Beginn an auf Opposition zwischen dem Ancien Régime in Ägypten, aber auch in Europa, und der Schaffung neuen Lebens in Palästina. Salten kam zunächst nach Jerusalem, fuhr aber gleich weiter nach Tel Aviv, weil ihm Jerusalem für den Anfang zu »schwer« war. Tel Aviv hatte als neugegründete Stadt keine Vergangenheit, nur Zukunft; er besuchte auch Siedlergruppen [hebr. Kwuza sing. / Kwuzot pl.] in Ein Harod, Tel Josef und Beth Alpha. Salten begrüßte in seinem Buch alles Neue und lehnte alles Alte ab; zugleich kritisierte er das Neue, weil es zu fanatisch, zu einseitig sei. Der Reisebericht ist eben auch Streitschrift, ist auch Simulation einer kontroversen Debatte um Zionismus als zeitgenössisches, sozialphilosophisches Diskursmodell. Das Buch wurde ein 40
großer Erfolg und erhielt viele positive Kritiken von jüdischen Schriftstellern wie Max Brod und Stefan Zweig, aber auch von Nichtjuden wie Richard CoudenhoveKalergi. Sogar der Wiener Polizeipräsident Johann Schober (1874–1932) bedankte sich (Abb. 11).41 Ein besonders herzliches Schreiben erhielt Salten vom Maler Hermann Struck (1866–1944), der seit 1923 in Haifa lebte und den die Darstellung der religiös-zionistischen Misrachi-Bewegung besonders freute: »Dabei ist es keine Phrase, wenn ich die Einschätzung meiner bescheidenen Persönlichkeit zu freundlich finde. Aber wenn man so vielen Missverständnissen, so heftiger Gegnerschaft, ja – leider muss es gesagt werden – oft solchem Hasse begegnet, wie wir, die wir im Judentum eine untrennbar nationalreligiöse Harmonie sehen, so erfreut diese Zustimmung von Ihrer Seite zehnfach unser Herz.«42 Er schickte auch gleich eine Liste mit Korrekturen für die nächste Auflage und bot Salten eine seiner Radierungen als Dank an, die er ihm während des Zionistischen Weltkongresses im August 1925 in Wien überreichen wollte.
37 Eugen Hoeflich (Moshe Ya'akov Ben-Gavriel): Tagebücher 1915 bis 1927. Hg. und kommentiert von Armin A. Wallas. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 1999, S. 201. Zu Haruach vgl. S. 270f. Hervorhebungen im Original in Kapitälchen. 38 Vgl. Felix Salten: Fahrt nach Ägypten. In: Wiener Allgemeine Zeitung, Nr. 13738 vom 06.03.1924, S. 2 und ders.: Neue Menschen auf alter Erde. In: Neue Freie Presse, Nr. 21418 vom 27.04.1924, S. 1–4. 39 Vgl. Florian Krobb: Streiflichter zur deutsch-jüdischen Literaturgeschichte. Selbstbild – Fremdbild – Dialog. Hildesheim, Zürich, New York: Olms 2018 (= Haskala 52), S. 241–243. Vgl. auch Manfred Dickel, »Ein Dilettant des Lebens will ich nicht sein« (Anm. 34), S. 47. 40 Vgl. Manfred Dickel, »Ein Dilettant des Lebens will ich nicht sein« (Anm. 34), S. 374–386. 41 Vgl. Johann Schober an Felix Salten, Billett vom 07.06.1925. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 8, 2.1.518. 42 Hermann Struck an Felix Salten, Brief vom 22.06.1925. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 9, 2.1.577.
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11 Johann Schober an Felix Salten, Billett vom 7. Juni 1925. WBR, HS, Nachlass Salten, Archivbox 8, 2.1.518.
Saltens Freund Arthur Schnitzler war ebenfalls unter den Gratulanten: »lieber, ich danke Ihnen von Herzen für Ihr wunderbares Palästina-Buch; es ergreift mich sehr – nicht nur durch die Eindringlichkeit der mitgetheilten Thatsachen, und die meisterhafte Vorstellung; – sondern auch, und ganz besonders als menschliches Bekenntnis eines klaren Verstandes und einer leidenschaftlichen Seele«.43 In einem Tagebucheintrag vom 25. Juli 1925 bewertete Schnitzler das Buch allerdings viel differenzierter: »Las Saltens Buch Neue Menschen auf alter Erde;– bei allem Elan, bei aller Gewandtheit, trotz gelegentlicher dichterischer Momente, trotz (gelegentlicher) menschlicher Wärme – spürt man immer wieder: Irgendwo stimmt es nicht – Woher das kommt? Keineswegs weil was er schreibt ›unwahr‹ wäre – sondern daher, weil man spürt – daß er gerade diese ›Wahrheit‹ schreibt, kommt nicht aus der Tiefe seines Wesens,– sondern aus den zufälligen Umständen,– aus allerlei persönlichen Erlebnissen,– und aus verschiedenen subjectiven, z[um] Th[eil] auch geradezu materiellen Rücksichten.«44 Anschaulich fasst Schnitzler damit einen häufig gegen Saltens Zionismus vorgebrachten Einwand zusammen, nämlich, dass er sich nicht als Mitglied der zionistischen Bewegung deklarieren wolle. Schnitzler stellte gar die lapidare Frage: »[A]hnt er, wie wurst sie ihm ist?«45 Die zionistische Schauspielerin Lia Rosen, die 1928 selbst in Palästina einwanderte, kritisierte Salten im Sinne Schnitzlers: »Ich habe irgendwie das Gefühl Sie glauben nicht an Palästina. Vielleicht – weil Sie Aristokratie u Schönes so lieben u die Hässlichkeit des Salluch Ihnen wehe tut u stört.«46
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43 Arthur Schnitzler an Felix Salten, Brief vom 06.05.1925. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 8, 2.1.516.71. 44 Arthur Schnitzler: Tagebuch 1923–1926. Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1995, S. 260 (Eintrag vom 25.07.1925). Hervorhebung im Original. 45 Ebd., S. 109 (Eintrag vom 31.12.1923). 46 Lia Rosen an Felix Salten, Brief vom Oktober 1927. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 8, 2.1.486.6.
Für Salten sollte Zionismus vielmehr allen Juden die Option bieten, sich auch durch Spenden am Aufbau Palästinas zu beteiligen. Damit wäre ein neues System für alle sozialen Schichten geschaffen, das sich an die traditionelle Challuka (wohltätige Spende) anlehnte, die für den Lebensunterhalt von in Palästina lebenden Juden sammelte, welche sich dem Studium der Schriften widmeten. Salten versuchte, biblische Traditionen und moderne Entwicklungen harmonisch zusammenzufügen. Er schilderte anschaulich konkrete Erlebnisse an verschiedenen Orten, verwickelte sich aber gleichzeitig immer wieder in Widersprüche. Beispielsweise forderte er einerseits die Oberhoheit über die Heiligtümer für das jüdische Gemeinwesen und verwies andererseits auf das friedliche Zusammenleben mit der arabischen Bevölkerung; als ob die muslimische Religionsbehörde selbstverständlich auf ihre Rechte verzichten würde.47 Saltens Ziel wurde bereits in einer zeitgenössischen Rezension in der »Leipziger Jüdischen Zeitung« vom November 1925 festgehalten: »Palästinaliebe und -sehnsucht weckend zeigt Salten den Weg, den der in europäischer Kultur differenzierte Galuthjude, um in Kontakt mit Palästina zu bleiben, gehen muß: zur Konzentration in ein Geschichtserlebnis, das jüdische Gegenwart und Vergangenheit verknüpft und seelisch erfaßt.«
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Die harmonisierende, literarische Beschreibung des Lebens in Palästina war
12 Felix Salten: Simson. Das Schicksal eines Erwählten. Roman. Berlin, Wien, Leipzig: Zsolnay 1928. WBR, DS, Bibliothek Castle.
der Schlüssel zum Erfolg des Buches. Salten vermittelte mit der Schilderung seiner Gespräche der Leserschaft eine positive Verbindung mit Land und Leuten. Die meisten anderen der durchaus beliebten Reisebeschreibungen aus Palästina aus den 1920er- und 1930er-Jahren vermittelten hingegen mit Landkarten, Fotos und Bevölkerungsstatistiken einen zu technokratischen Eindruck vom dortigen Leben.49 Öffentliche Kritik an Saltens Buch war selten, sieht man von der Rezension von Heinrich Mann in der Zeitschrift »Der Jude« ab.50 Das verwundert umso mehr, als Mann selbst zunächst keinen Abnehmer für seinen Text gefunden hatte: »Ich hielt Palästina nicht für den gefährlichen Gegenstand, der er für die Zeitungen wohl doch ist. Hier sehen Sie die Entschuldigungen oder Ausreden mehrerer Redaktionen. Der Brief von Korrodi, der mehr privater Natur ist, sagt gleichfalls, dass die Auslands-Redaktion ihm die Aufnahme des Artikels verbietet.«51 Schließlich bat er Salten um Vermittlung: »Lesen Sie, bitte, den Artikel, und wenn Sie ein geeignetes Blatt, wo er einigermassen zur Geltung käme, geben Sie ihn, bitte, dorthin. Ich lasse mir gern auch einige, nicht zu wesentliche Streichungen gefallen.« In der Zeitschrift von Martin Buber kritisierte Mann die offen zur Schau getragene jüdisch-nationale Ideologie des Autors und dessen Definition der Judenfrage als persönliches Problem. Salten »erblickt Palästina und nennt das andere ›Verbannung‹. Verbannung ist in seinem Falle Wien, Burgtheater, Neue Freie Presse, alles Verbannung«. Neben Reisen nach Palästina waren biblische Themen zu Beginn des 20. Jahrhunderts sehr populär. Eines davon war die Geschichte über Samson aus dem Buch Richter bzw. Samson und Daliah in Bearbeitungen. Im Mittelpunkt standen meistens Loyalitäts- und Identitätskonflikte, Grenzen zwischen Nation und Individuum sowie das Anderssein. Darüber hinaus war die Geschichte topographisch in Palästina beheimatet, die Salten 1928 unter dem Titel »Simson. Das Schicksal eines Erwählten« adaptierte. Er hob darin das romantische Konzept der Liebe
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47 Vgl. Wolf Kaiser: Palästina – Erez Israel. Deutschsprachige Reisebeschreibungen jüdischer Autoren von der Jahrhundertwende bis zum Zweiten Weltkrieg. Hildesheim, Zürich, New York: Olms 1992 (= Wissenschaftliche Abhandlungen des Salomon Ludwig SteinheimInstituts für Deutsch-Jüdische Geschichte 2), S. 166–175. Vgl. auch Felix Salten: Neue Menschen auf alter Erde. Eine Palästinafahrt. Königstein i. T.: Jüdischer Verlag bei Athenäum 1986, S. 30 und 173f. 48 Anonym: Felix Salten. Neue Menschen auf alter Erde. In: Leipziger Jüdische Zeitung vom 13.11.1925, S. 3. 49 Vgl. Alfred Wiener: Kritische Reise durch Palästina. Berlin: PhiloVerlag 1927 (= Jüdische Siedlung und Wirtschaft 1) und Hugo Herrmann: Palästina Heute. Licht und Schatten. Tel Aviv: Hamatarah 1935. 50 Vgl. Heinrich Mann: Das aufstehende Land. In: Der Jude 9 (1925/26), H. 1, S. 98–102. 51 Heinrich Mann an Felix Salten, Brief vom 05.11.1925. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 7, 2.1.346.18. Bei Eduard Korrodi (1885–1955) handelt es sich um den Feuilletonchef der »Neuen Zürcher Zeitung«.
zwischen Daliah und Samson hervor. Den Verrat ließ er durch Daliahs Schwester Kaditah begehen. Daliah folgte Samson bis in den Tod. Salten ließ Samson ähnlich wie Moses werden, der Israel mit Hilfe Gottes befreien will.52 Das Manuskript dieses Buches sandte Salten dem langjährigen Gemeinderabbiner seines Wohnbezirks, David Feuchtwang (1864–1936), zur Begutachtung. Feuchtwang war seit 1903 Rabbiner in Währing und bekennender Zionist. Er war nicht nur mit Theodor Herzl, sondern auch mit Arthur Schnitzler bekannt. Im Jahr des Erscheinens von Saltens Roman war er zum Nachfolger des verstorbenen Oberrabbiners von Wien, Zwi Perez Chajes (1876–1927), ernannt worden.53 Feuchtwang antwortete Salten: »Sie haben alles so dargestellt, wie es hätte sein können. […] Über Einzelnes wäre noch zu sprechen, besonders über manche Namen. Die positiven Aenderungen gegenüber dem bibl. Texte sind glücklich.«54 Lob erhielt Salten auch von christlicher Seite, z. B. von Wolfgang Pauker (1867– 1950), Priester und Schriftsteller in Klosterneuburg.55 Kritik findet sich hingegen in einer Rezension der Berliner jüdischen Zeitschrift »Jeschurun«. Dort wurden vor allem das Frauenbild als zu modern und die Darstellung des Bibelinhalts als »Banalität und Verflachung« angesehen.56 Gelegenheit zu einer präziseren Standortbestimmung seines Zionismus bot sich Salten nur wenige Monate später mit seiner Herzl-Gedenkrede, in der er seine Verbindung zum Zionismus vor allem über seine Beziehung zum früh Verstorbenen definierte und ausführlich seine Sicht der Dinge in Palästina beschrieb: »Jetzt hat man es längst verstanden, daß niemand, der irgendwo in Europa wurzelt, sich von seinem Mutterboden losreißen soll, um nach Palästina auszuwandern. Jetzt weiß man, daß dieser Weg den Wurzellosen geöffnet ist, den Entrechteten, den Erniedrigten, der Weg in die Freiheit, in das Land der Väter. Jetzt weiß man, daß sie sich dort zu neuen Menschen auf alter Erde wandeln.«57 Salten hob bei dieser Rede seine langjährigen Ansichten hervor, dass Palästina vor allem für die osteuropäischen Juden, den so genannten »Wurzellosen geöffnet ist«. Als zionistischer Parteigänger wollte er selbst, wie eingangs zitiert, nicht gesehen werden. Als zwei Monate danach in Palästina Unruhen infolge des Streits um die Nutzung der »Klagemauer« ausbrachen, änderte Salten seine Position angesichts der Gewaltwelle. Die Unruhen begannen am 23. August 1929, vor allem in den Städten Hebron, Jerusalem und Safed, wo innerhalb einer Woche 133 Jüdinnen und Juden getötet wurden.58 In den Wiener Zeitungen gab es eine umfangreiche Berichterstattung über diese Vorfälle. Salten reagierte zwar erst am 15. September 1929 mit einem ungewohnt heftigen Artikel, jedoch war es der Aufmacher. Er betonte darin, dass Juden ein Recht auf den Boden Palästinas besäßen, während die Araber das Land ruiniert und abgewirtschaftet hätten; jüdische Pioniere bauten es hingegen wieder auf. Die Erklärung, es handle sich beim Konflikt um die Klagemauer um religiös begründete Unruhen, wies Salten zurück. Für ihn wollten sich die arabischen »Grundbesitzer und Kalifen« jüdisches Vermögen, d. h. die Siedlungen und Städte aneignen.59 Eine so deutliche Position für die jüdische Besiedlung von Palästina und die zionistische Bewegung wie in diesem Artikel sollte er niemals wieder beziehen.
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52 Vgl. Susanne Gillmayr-Bucher: A Hero Ensnared in Otherness? Literary Images of Samson. In: Samson: Hero or Fool? The Many Faces of Samson. Hg. von Erik M. Eynikel, Tobias Nicklas. Leiden: Brill Academic Pub 2014 (= Themes in biblical narrative. Jewish and Christian traditions 17), S. 33–52. Vgl. auch die Rezension von Moritz Scheyer: Simson. In: Neues Wiener Tagblatt vom 27.10.1928, S. 2f. 53 Vgl. Evelyn Adunka: Oberrabbiner David Feuchtwang (1864–1936). In: David 27 (2015), H. 104, S. 56–59. 54 David Feuchtwang an Felix Salten, Brief vom 08.06.1928. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 6, 2.1.153.1. 55 Vgl. Wolfgang Pauker an Felix Salten, Brief vom 12.02.1936. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 8, 2.1.424.4. 56 M[oritz] M[ichaelis]: Felix Salten: Simson, Das Schicksal eines Erwählten. In: Jeschurun 15 (1928), H. 9–10, S. 570f. 57 Felix Salten, Gedenkrede für Theodor Herzl (Anm. 2), S. 4. 58 Vgl. Anita Shapira: Israel. A History. Waltham, Massachusetts: Brandeis University Press 2012, S. 78f. 59 Vgl. Felix Salten: Der Kampf um Palästina. Das Wiederaufbauwerk, der arabische Nationalismus und die britische Politik. In: Neue Freie Presse, Nr. 23349 vom 15.09.1929, S. 1f.
Die letzten Jahre Über Zionismus sprach Salten nach 1930 immer weniger und, falls doch, immer zurückhaltender. Den praktischen und ideologischen Zionismus lehnte er ab. Salten bekannte sich zur deutschen Kultur und trat auch gegen Nationalsozialisten auf, die ihm dieselbe absprechen wollten.60 Dennoch unterstützte er in seinen letzten Jahren zionistische Organisationen, wie aus den Briefen mit der Jewish Agency und dem Keren Kayemet Le’Israel (Jüdischer Nationalfonds) in der Schweiz hervorgeht. Neben dem aus Prag stammenden Fritz Ullmann (1902–1972) von der Jewish Agency hatte Salten mit Josef Weiss vom Keren Kayemet Kontakt. Dabei ging es meistens um Spenden bzw. Hilfszahlungen wie jene an Berta Zuckerkandl, die damals bereits in Algier Zuflucht gefunden hatte.61 Salten führte sein kulturphilanthropisches zionistisches Engagement bis zu seinem Tode fort, ohne weiter aktiv für den Zionismus aufzutreten. Die Trauerrede am Grab Saltens hielt der aus Wien stammende Züricher Rabbiner Zwi Taubes (1900–1966), der vor allem den Band »Neue Menschen auf alter Erde« würdigte: »Und im Buche selbst ist alles Wesentliche enthalten, was unser Volk heute aufs Tiefste bewegt, das Problem des Antisemitismus, die Frage des Ursprungs der Religionen, das Araberproblem, die Sprachenfrage im Judentum, der Sinn der Galuth [Diaspora; Anm. d. Verf.], Palästina, neue Menschen auf alter Erde. […] Hier lauscht er nicht nur wie in anderen Büchern der Tierwelt, sondern auch den Steinen dieses Landes, und vernimmt ihre Sprache, den Zusammenklang der Jahrtausende. […] Man wird hungern und dürsten nach dem Worte dieses Grossen. Sein Leben und Wirken wird unvergessen und gesegnet bleiben.«62
60 Vgl. Manfred Dickel, »Ein Dilettant des Lebens will ich nicht sein« (Anm. 34), S. 427. 61 Vgl. hierzu den Beitrag »Toleranzsache« von Marcel Atze in diesem Band. 62 Zwi Taubes: Grabrede für Felix Salten. Typoskript, 3 Bl., hier Bl. 2f. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 17, 3.14.2.
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ÂťBlutgeschehnisseÂŤ Felix Salten und der Erste Weltkrieg
Marcel Atze
Krieg der Geister: Zivilisation contra Barbarei »Es muß sein«, rief Felix Salten den Lesern der »Neuen Freien Presse« am 29. Juli 1914 zu. Sein Text flankierte unter dem Feuilleton-Strich das kaiserliche
1 Die Festnahme von Gavrilo Princip (1894–1918), des Attentäters von Sarajewo, 28. Juni 1914. WBR, Dokumentation, TF-999287.
Kriegsmanifest »An meine Völker!«, für das an diesem Tag in allen Zeitungen des Habsburgerreichs Seite Eins reserviert worden war. Doch in keinem der vergleichbaren Hauptstadtblätter stellte man dem Aufruf Franz Josephs I. den sinnstiftenden Essay eines bekannten Publizisten zur Seite – was belegt, wie groß das Ansehen war, das der Journalist Salten zu dieser Zeit genoss. Sein Aufmacher steht prototypisch für eine Vielzahl von zeitgenössischen Beiträgen aus intellektueller Feder, die sich bald darin überboten, den bevorstehenden Krieg zu rechtfertigen: »Nichts haben wir gefordert, als nachbarliche Ruhe und die Selbstverständlichkeit, daß die gerichtsbekannten Anstifter des an Franz Ferdinand verübten Meuchelmordes bestraft werden. Und nun erheben wir die Waffen, die so lange Zeit geruht haben. Ziehen blank … weil wir müssen! Es geht nicht anders. Dies Bewußtsein: es geht nicht anders! klingt aus dem Gesang all der Tausende und Tausende, die jetzt in Oesterreichs Städten unter freiem Himmel zusammenströmen.«1 Aber trotz des Entschlossenheit signalisierenden Titels und trotz bisweilen martialischer Wortwahl hielt sich Salten noch merklich zurück; denn vorerst schien bloße Genugtuung für das Attentat auf den Thronfolger in Sarajewo das Ziel zu sein, für das Österreich-Ungarn an Serbien Revanche zu nehmen gedachte. Die Frage, ob es bei einem begrenzten Konflikt bleiben oder ob nicht doch eine kontinentale Konfrontation folgen würde, drängte sich Salten zwar auf, naturgemäß kam er angesichts des von Christopher Clark in »Die Schlafwandler« beschriebenen Tohuwabohus in diesen letzten Tagen der Vorkriegsmenschheit, als selbst die Akteure des Geschehens nicht wussten, wie sich die Lage weiterentwickeln würde, zu einer pessimistischen Prognose: »Man fühlt es in Europa: das war kein Friede mehr, in dem wir lebten. Das war schon ein Kampf, ein ungesunder, heimlicher Kampf, der an die Wurzeln unseres Lebens griff. Wenn der Mord an unserem Thronfolger nicht als Mord bestraft, sondern wie eine ehrliche Kriegstat gefeiert werden darf, wer kann sich noch vorlügen, daß wir in Friedenszeiten leben?«2 So zögerte Salten nicht damit, die aus der Kriegserklärung resultierenden Konsequenzen zu benennen, insbesondere weist er auf jüngste Anstrengungen der Aufrüstung hin. Denn dieses Abschreckungspotential weckte wohl auch seine Hoffnung, die europäischen Großmächte – allesamt geeint durch kulturelle Errungenschaften – würden die Strafexpedition des Kaisers gegen Serbien geschehen lassen, ohne einzugreifen: »Aber den blutigen Ernst des Krieges fühlen wir alle, kennen die furchtbare Vollendung, mit der die moderne Technik den Kampf gerüstet, wissen, wie tödlich scharf die Waffen jetzt geschliffen sind, und deshalb, nur deshalb haben wir gezögert. So oft auch die Hand ans Schwert fahren wollte, immer war uns da die angeborne Farbe der Entschließung von des Gedankens Blässe angekränkelt, wie vielen Jammer, wieviel unmeßbares Elend der Krieg über die Menschen ausschüttet. Wir haben uns dieses der Kulturgrenzen Europas wohnen.«3 Serbien lag für Salten also klar außerhalb
1 Felix Salten: Es muß sein. In: Neue Freie Presse, Nr. 17933 vom 29.07.1914, S. 1–3, hier S. 2.
dieser Grenzen. Auch deshalb schließt er mit dem Appell: »Halten wir den guten
2 Ebd.
Geist, der uns jetzt alle durchdringt, fest. Seien wir besonnen, ruhig, aufrecht und
3 Ebd.
Gedankens nicht zu schämen. Er verbindet uns mit allen Völkern, die innerhalb
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nicht allzu laut in großen Worten. Seien wir bereit zu all den Opfern, die uns noch
4 Ebd., S. 3.
auferlegt werden. Es muß sein!«4
5 Felix Salten an Arthur Schnitzler, Brief vom 10.08.1914 (Abschrift). WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 10, 2.2.61.289.
In den nächsten Tagen folgte Kriegserklärung auf Kriegserklärung, machten die angeblichen Kulturnationen gegeneinander mobil. Salten erlebte die Eskalation, die bekanntlich in einem europäischen und gar in einem globalen Schlagabtausch mündete, der über vier Jahre anhalten sollte, nicht mehr in Wien, sondern er zog sich auf den Berghof am Attersee zurück, wo er seit Jahren mit seiner Familie die Sommer zu verbringen pflegte. Von dort meldete er sich am 10. August 1914 bei
6 Vgl. Der Krieg der Geister. Eine Auslese deutscher und ausländischer Stimmen zum Weltkriege 1914. Gesammelt und hg. von Hermann Kellermann. Weimar: Duncker 1915 (= Heimat und Welt).
Arthur Schnitzler. Saltens Zeilen belegen, dass er offensichtlich in den Jahren des Krieges so manches zu Papier bringen sollte, an das er selbst nicht glaubte: »Wann ich nach Wien komme, weiss ich nicht, weiss nicht einmal, ob ich soll. Hier ist es so ganz still, ganz einsam und das beruhigt einigermassen. Sonst – wenn man sich’s klar macht, was jetzt geschieht und warum es geschieht – könnte man verzweifeln. Wer dran glaubt, dies alles sei wegen Serbien, ist eigentlich zu beneiden. Denn er hat doch etwas, um sein Rechtsgefühl damit zu füttern.«5 Tags darauf erklärte Frankreich Österreich-Ungarn den Krieg. An die Seite dieser Kriegshandlungen sollten bald rhetorische Feindseligkeiten treten, wobei Saltens Mahnung zur Besonnenheit und obendrein dazu, den Mund propagandistisch nicht allzu voll zu nehmen, nicht nur von den europäischen Kollegen, sondern auch von Salten selbst bald vergessen wurde. Der deutsche Einmarsch in das neutrale Belgien am 4. August 1914, die Ermordung von über 600 Männern, Frauen und Kindern in der 6.000 Einwohner zählenden Stadt Dinant durch deutsche Truppen am 23. August und die Zerstörung der Universitätsbibliothek von Leuven in der Nacht vom 25. auf den 26. August fachten den längst ausgebrochenen »Krieg der Geister«6 weiter an. Bereits am 8. August 1914 hatte der
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2 Das zerstörte Quartier St-Pierre in Dinant, um 1915. WBR, HS, Sammlung Hamann, ZPH 1660. 3 Gerhart Hauptmann, um 1920. WBR, Dokumentation, TF-003887.
französische Philosoph Henri Bergson (1859–1941) in einer Rede vor der Pariser Académie des Sciences Morales den Hörern zugerufen: »Der begonnene Kampf gegen Deutschland ist der eigentliche Kampf der Zivilisation gegen die Barbarei«.7 Der Deutsche als Barbar, von diesem Bild machten viele prominente frankophone Literaten Gebrauch (Abb. 5, 6). Zum rhetorischen Gegenschlag holte mit Gerhart Hauptmann (1862–1946) der Träger des Literaturnobelpreises von 1912 aus. Er widersprach Bergson in einem offenen Brief, der am 26. August 1914 im »Berliner Tageblatt« und in der »Täglichen Rundschau« erschien. Darin griff Hauptmann all jene schmähenden Stereotype auf, die Bergson – und vor ihm der belgische Schriftsteller Maurice Maeterlinck (1862–1949) – im Munde geführt hatten8 und schloss mit den Worten: »Der Krieg, den wir führen und der uns aufgezwungen ist, ist ein Verteidigungskrieg. Wer das bestreiten wollte, der müßte sich Gewalt antun«.9 Von Hauptmanns Schreiben fühlte sich der in Genf für das Internationale Rote Kreuz arbeitende Franzose Romain Rolland (1866–1944) derart attackiert, dass er am 2. September 1914 seinerseits einen offenen Brief im »Journal de Genève« lancierte.10 Erneut setzte sich Hauptmann an eine Replik, die in der »Vossischen Zeitung« erschien – und zwar am 10. September 1914.11 Am selben Tag griff Salten in die europaweit entbrannte Diskussion ein12 und sprang Hauptmann unter der Überschrift »Ein Wort vom Barbarentum« zur Seite, wobei er Bergsons Worte fälschlicherweise Maeterlinck zuschrieb: »Jetzt, da der Tod die Ernte mäht und der Haß ihm die Garben bindet, kann es wohl nur ein Literat wie Maeterlinck, der sich nebenher rühmt, ein Boxer zu sein, auf sein Gewissen nehmen, noch mehr des Hasses auszustreuen.«13 Salten sei zuversichtlich gewesen, dass die »Entwicklung der Menschlichkeit« einen Krieg hätte vermeiden helfen: »Und jetzt fließt das Blut in Strömen. Jetzt bricht Europa zusammen unter der furchtbaren Wucht seiner Lüge. Das alte Europa, an das wir geglaubt haben … bis zum 28. Juni. Wir werden diesen Krieg verwinden. So furchtbar er auch sein und wie immer er auch enden mag. Aber daß dieser Krieg überhaupt hat losbrechen dürfen, daß es so weit hat kommen können, das wird sich schwer verwinden und vergessen lassen.«14 Salten meldet sich als Kenner der französischen, der englischen und der russischen Kultur und Literatur zu Wort, in dessen Bibliothek sich viele Werke jener Kollegen fanden, die nun zu Kontrahenten geworden waren: »Kein Talent hat auf Frankreichs oder Englands Boden die Augen aufgeschlagen, dem wir nicht gleich entgegengereist wären, um es zu begrüßen. Kein Talent konnte in Rußland sich regen und seine Sehnsucht nach Befreiung stammeln, daß wir es nicht bemerkt, gepflegt und gehätschelt hätten. Wir haben unsere eigenen Arbeiten beiseite geschoben, um für die anderen Aufmerksamkeit zu werben, wir haben unseren eigenen Kräften den Raum geschmälert, um den Fremden Platz zu schaffen. Fremd – sie waren es uns nicht, sind uns nicht fremd. Ueberall, wo menschliche Begabung am Werke schuf, war es uns Sache der Kultur, unsere Sache, Hilfe zu leisten, Anerkennung zu zollen,Verständnis zu schenken. Wir haben das Wesen der Gallier, der Briten,
7 Zit. nach Romain Rolland: Das Gewissen Europas. Tagebuch der Kriegsjahre 1914–1919. Aufzeichnungen und Dokumente zur Moralgeschichte Europas in jener Zeit. Bd. I: Juli 1914 bis November 1915. Berlin: Rütten & Loening 1983 (= Gesammelte Werke in Einzelbänden), S. 43. 8 Vgl. Georg Misch: Vom Geist des Krieges und des deutschen Volkes Barbarei. Rede gehalten in der Aula der Universität Marburg. Jena: Diederichs 1914, S. 6. 9 Gerhart Hauptmann: Gegen Unwahrheit. In: Ders.: Sämtliche Werke. Hg. von Hans-Egon Hass. Fortgeführt von Martin Machatzke. Bd. XI: Nachgelassene Werke. Fragmente. Frankfurt/M., Berlin, Wien: Propyläen 1974, S. 843–847, hier S. 844. 10 Vgl. Romain Rolland: Offener Brief an Gerhart Hauptmann. In: Ders.: Der freie Geist. Zürich: Büchergilde Gutenberg 1946, S. 66–68. 11 Vgl. Gerhart Hauptmann: Antwort an Herrn Romain Rolland. In: Ders.: Sämtliche Werke, Bd. XI (Anm. 9), S. 847–849. 12 Vgl. Marcel Atze: Von Barbaren, Hunnen und stinkenden Fetzen. In: Erledigungen. Pamphlete, Polemiken und Proteste. Hg. von M. A. und Volker Kaukoreit. Wien: Praesens 2014 (= Sichtungen 14/15), S. 76–88.
verkündet. Und was haben wir empfangen?«15 Salten dreht den Spieß kurzerhand
13 Felix Salten: Ein Wort vom Barbarentum. In: Neue Freie Presse, Nr. 17976 vom 10.09.1914, S. 1–4, hier S. 1.
um. Viele Intellektuelle aus England und aus Frankreich wüssten, so behauptet
14 Ebd.
er, »daß dieser Krieg allerdings ›ein Kampf der Zivilisation gegen das Barbaren-
15 Ebd., S. 2.
der Russen studiert, haben vom Besten aufs Gute geschlossen und es unter uns
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tum‹ ist, und es schmerzt sie, daß ihr Volk in dieser großen Entscheidung nicht auf der Seite der Zivilisation steht. Sie wissen, daß für ihr Volk in diesem Krieg, was immer auch geschehen mag, nicht Ruhm noch Ehre zu gewinnen sein kann. Sie schweigen und schämen sich tief in ihr Herz hinein.«16 Schließlich beschwört er den Krieg als Lehrer – und dessen Lehre heißt, man könne Deutschland nicht aufhalten: »Umlernen. Das wird die Losung sein, die wir ausgeben. Umlernen und sich abfinden werden alle müssen, die den Aufgang eines großen Volkes nicht dulden wollten. Jetzt haben sie es an ihrem eigenen verwundeten Leib erfahren, daß solch ein Aufgang nicht gehemmt werden kann. Umlernen: daß Eifersucht und Wettstreit unter den Völkern nicht auf blutigem Gefilde, sondern auf allen Kampfplätzen friedlicher Arbeit auszufechten sind. Umlernen: daß es in den Grenzen Europas keinen Streifen Boden gibt, dessen Eroberung das Blut der Jugend wert sein darf, daß in Europa jeder zu hoch in der Kultur steht, um die Beute des anderen werden zu können. Ein Erzieher ist dieser furchtbare Krieg, und wir müssen die Lehrmeister sein.« Zuletzt nimmt sich Salten – wie schon Gerhart Hauptmann – der Schuldfrage an: »Aber selbst auf der reinen Höhe des Sieges, zu der der Richter der Welt unser gutes Recht emporführen muß, werden wir noch schaudernd das Verbrechen empfinden, das mit diesem Krieg begangen wurde. Und werden Gott danken, daß wir daran keinen Anteil hatten.«17 Dieser publizistische Paukenschlag sorgte auch beim deutschen Bündnispartner für Aufsehen. »Es hat mich gefreut«, vermeldete Salten am 29. Oktober 1914 gegenüber Hedwig Fischer, »dass vor zwei Tagen das Berliner Auswärtige Amt bei mir telegrafisch anfragte, ob ich gestatte, dass der Essay ›Ein Wort vom Barbarentum‹ ins Englische übersetzt und in Amerika verbreitet werde. Das ist doch wenigstens eine Wirkung und man möchte doch an seinem Platz irgend etwas nützliches, und sei es noch so wenig, leisten.«18 Auch Salten war also zum Kriegsteilnehmer
4 Romain Rolland, um 1920. Foto: Blumberger-Schulz, Wien. WBR, Dokumentation, TF-008786.
geworden, aber nicht als Kämpfer, der dem Feind mit Säbel und Revolver entgegentrat. Er hatte sich vielmehr wie viele andere Intellektuelle mit Bleistift und Papier bewaffnet, um an vorderster Front in den »Krieg der Geister« zu ziehen, wie er im gleichen Schreiben erläuterte: »Damit bin ich auch bei Ihrer Frage, wie ich es aushalte, fern vom Kriegsschauplatz. Ich verstehe so gut, dass Sie mich das fragen; ich frage mich selbst so und so oft danach und halte es ja auch garnicht so leicht aus. Aber die Umstände sind eben stärker als ich.«19 Wie sehr Salten vom verbalen Schattenboxen in Beschlag genommen wurde, belegen mehrere Briefe, die er kurz zuvor an Olga Goldschmidt gerichtet hatte, einer in Berlin lebenden Nichte seiner Frau Ottilie. »Mich hat dieser Krieg ohnehin so ziemlich aus meinen Angeln gehoben«, schreibt Salten am 19. September 1914. »Nicht blos wirtschaftlich. Das möchte noch hingehen. Aber seelisch und beinahe auch geistig. Mir ist, als ob ich alles, was die Menschen vor diesem Krieg getan haben, nur halb und lau und unzulässig gewesen wäre. Wie man sich auf den Tod nur halb und ohne
16 Ebd., S. 4.
an ihn zu glauben vorbereitet, so auf diesen Krieg. Wer kann sagen, er sei wirk-
17 Ebd.
lich gerüstet gewesen, als die Katastrophe eintraf? Weder die Einzelnen noch die viel Bewundernswertes. Aber würden wir alle nicht wünschen, seine Flotte solle
18 Felix Salten an Hedwig Fischer, Brief vom 29.10.1914. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 9, 2.2.22.49.
doppelt so stark, seine Armee doppelt so groß und vor allem sein interkontinen-
19 Ebd.
Völker. Deutschland leistet aus seiner Fülle und aus seiner Kraft des Gemütes sehr
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taler Nachrichtendienst solle unzerstörbar über die ganze Welt hin organisirt sein? Statt dessen ist es jetzt von der Welt abgeschnitten, kann zur Welt nicht sprechen, weil es geknebelt ist und in den großen Kulturgemeinschaften, auf die uns
20 Felix Salten an Olga Goldschmidt, Brief vom 19.09.1914. Privatbesitz. Hervorhebungen im Original.
jetzt so viel ankommen muss, in Amerika wie in Asien wirken die Lügen, die Tag für Tag tausendfach verbreitet werden und richten einen Schaden an, der nicht nur für jetzt, sondern auch weit über die Dauer dieses Krieges hinaus unmessbar groß ist. Jetzt merkt man auch, dass die Einzelnen, alle diejenigen, in deren Händen die Entwicklung der Kultur liegt, viel zu halb und zu lau waren und das Wesen der Deutschen in der Welt garnicht oder nur lax propagirt haben. Englisches, französisches und russisches Wesen ist bei uns gefördert, propagirt, erläutert und studirt worden. Die Folge davon: dass ein wirklicher Hass gegen Engländer, Franzosen und Russen vor Ausbruch des Krieges garnicht bestand. Und wo er sich jetzt natürlich dennoch regt, nimmt er überall milde Formen, jedenfalls gesittetere Formen an als der Hass gegen die Deutschen draussen sie zeigt.«20
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5, 6 Das »Barbarentum« auf französischen und deutschen Propagandapostkarten. WBR, HS, Sammlung Hamann, ZPH 1660.
Salten umschreibt in diesem Brief aber nicht nur Positionen aus dem Artikel »Ein Wort vom Barbarentum«, sondern er interpretiert auf befremdliche Art das Kriegsgeschehen in Ost und West: »Es ist klar, dass uns in Österreich die weitaus schwierigere und undankbarere Aufgabe zugefallen ist. Was ist das für kultiviertes Land, auf dem die Deutschen marschieren: Belgien und Frankreich! Alles ist hier leichter. Bodenverhältnisse, Reichtum und – Reinlichkeit der Städte. Und ein Gegner, dessen Kraft man abschätzen, den man bewältigen kann. Wie anders ist die Arbeit, die Österreich verrichten muss: Ein Land voll Sümpfe. Ohne Eisenbahnen! Unwegsame Straßen. Kaltes Klima. Verseuchte, unnützige Nester statt freundlich heller Städte. Und ein Gegner, dessen Kräfte unerschöpflich sind, die man nicht taxieren und kaum bewältigen kann! Die Franzosen sind moderne Menschen. Und sie haben Nerven! Das heisst, sie gehen zuerst wol mit Elan in den Kampf, wenn sie aber merken, dass es ein Misserfolg ist, dann schnappen sie neurasthenisch zusammen. Dagegen sind die Russen gleichmässig. Sie haben keine deklamierende Theatralik am Anfang und keine Hysterie im Zusammenbruch. Wie klingt das auch nur, wenn die Deutschen in Belgien und Frankreich einen Ort einnehmen: Namur! St. Quentin! Reims! Maubeuge! Da ist in den Namen schon die Musik des Ruhmes. Wir aber, wenn wir irgendwo einen Sieg haben, dann können wir ihn kaum aussprechen und vergessen ihn im nächsten Moment.«21 Man sieht Salten förmlich vor sich, wie er seinen Belgien-Baedeker zur Hand nimmt und mit dem Finger über die Landkarte fährt, um die deutschen Eroberungen im Westen aufzufinden und womöglich gar Fähnchen in die Orte zu stecken. Die Schlachten bei Namur und bei St. Quentin wurden im August 1914 von den deutschen Truppen gewonnen. Die Beschießung der nordfranzösischen Stadt Reims und die damit einhergehende Zerstörung der weltberühmten Kathedrale sorgten für einen neuerlichen internationalen Aufschrei, der jenem nach dem Untergang der Universitätsbibliothek Leuven glich. Und die unmittelbar an der Grenze zu Belgien gelegene Festungsstadt Maubeuge war am 8. September 1914 nach rund 14-tägiger Belagerung in die Hände der Deutschen gefallen, über deren mangelnde Popularität Salten im nächsten Brief vom 28. September 1914 rätselt. Dabei zieht er einen frappierenden Vergleich: »Die Unbeliebtheit Deutschlands ist mir ja lediglich eine Folge seiner großen Tüchtigkeit, seiner enthaltsamen Kraft, seines Geistes und seines großen Strebens. Die Deutschen teilen das Schicksal eines andern Volks, das auch und wegen der Macht seines Geistes gehasst wird, wegen seiner unüberwindlichen Tüchtigkeit, wegen seines nüchternen Fleißes: die Juden. Und dieser Krieg, in dem alle jetzt über die Deutschen herfallen, um sie zu vernichten, klein zu kriegen, zu misshandeln und zu berauben, ist mir in Wahrheit der europäische Pogrom gegen Deutschland.«22 Zu derlei kruden Thesen ließ sich Salten in der Öffentlichkeit zwar nicht hinreißen, aber im privaten Rahmen war seine ambivalente Haltung dem Krieg gegen-
21 Ebd. Hervorhebung im Original.
über offenbar nur schwer erträglich. »Gegen Mittag Salten«, hielt etwa Arthur
22 Felix Salten an Olga Goldschmidt, Brief vom 28.09.1914. Privatbesitz.
Schnitzler am 23. September 1914 in seinem Tagebuch fest, wo es weiter heißt: »wieder recht rattenhaft gestimmt«.23 Im Diarium bleibt diese Beobachtung unkommentiert stehen. Nicht jedoch in der »Charakteristik«, einer Art ›Best of‹ seiner Tagebucheinträge zu bestimmten Personen, die Schnitzler nachträglich anlegte
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23 Arthur Schnitzler: Tagebuch 1913–1916. Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1983, S. 138 (Eintrag vom 23.09.1914).
und mit Ergänzungen versah. Im Salten-Dossier heißt es erläuternd: »Zu Beginn des Krieges sagte er, wenn Oesterreich sinkt, bin ich die erste Ratte, die das Schiff verlässt.«24 Saltens innere Zerrissenheit bezüglich des Krieges sollte fortan immer stärker werden. Zu danken war dies insbesondere den unvermeidlichen Kontakten mit Frontkämpfern, aber auch mit zivilen Opfern. »Die Soldaten tun mir alle, alle Leid, wie Dir«, schreibt Salten an Olga Goldschmidt. »Sie sind ja unschuldig. Und am unschuldigsten noch die russischen, die von den Großfürsten ins Feuer gejagt werden, ohne zu begreifen, wofür. Auch bei uns gibt es Offiziere und Mannschaften, die an Psychose leiden, weil sie mit ansahen, wie man 17.000 Russen, die in die Sümpfe geraten waren, mit Artilleriesalven zusammenschoß. Statt sie zu fangen. Aber es war eine Vergeltung. Denn ein paar Tage vorher hatten die Russen ein in den Sumpf geratenes österreichisches Regiment nicht gefangen, sondern ohne Pardon zusammengeschoßen. Alles das ist furchtbar. Doch man muss sich absichtlich dagegen verhärten, so viel es nur geht. Weil man ja sonst einfach nicht durchkommt. Wenn es mir einfällt, dass ein Tag herandämmern wird, an dem dieses Morden zu Ende geht, dann zittert mir das Herz in der Brust voll Ahnung einer ungeheueren, nie noch erlebten Freude, so sehr, dass ich daran erst erkenne, wie stark mich jetzt die Blutgeschehnisse dieses Krieges hernehmen. Was ist auch im raschen Sturm zweier Monate aus uns geworden?«25 Zudem scheinen Schilderungen aus dem privaten Umfeld Salten sehr zugesetzt zu haben. Dazu zählt ein Brief von Emil Schwarz aus Linz, dem Besitzer des von Salten seit 1910 gemieteten Hauses Cottagegasse 37. Dessen Sohn stand seit Mitte August 1914 als Offizier im Feld und hatte bis zu einer schweren Erkrankung
7 Ein Blick in die Ruine der zerstörten Kathedrale von St. Quentin, um 1918. WBR, HS, Sammlung Hamann, ZPH 1660.
an mehreren Gefechten »auf russischem Boden« teilgenommen. Schwarz hatte das Schreiben nach einem Besuch bei seinem Sohn aufgesetzt: »Der Gemütszustand unseres armen Jungen, den wir im Garnisonsspital in Pressburg in einem herzzerreißenden Zustand angetroffen haben, hat sich in den par [!] Tagen schon wesentlich gebessert und der Arzt hofft, daß sich auch die arg hergenommenen Nerven in ein par [!] Wochen der Ruhe wieder beruhigen werden. Körperlich ist der arme Junge recht elend – er kriecht mühselig, auf den Stock gestützt und hat viel Schmerzen in allen Gliedern. Glücklicherweise stehen die Offiziere dort in Behandlung von Zivilärzten, denn ich habe über Militärärzte die harsträubendsten [!] Dinge gehört. Als unser Junge im Felde zusammenbrach, holte sein Rittmeister den Regimentsarzt, der ihn mit den Worten liegen ließ: ›Für solche Sachen habe ich keine Zeit‹. Ein anderer hat einen Offizier mit einem Leistenbruch zum Dienst zurückgeschickt; natürlich war bald darauf sofortige Operation notwendig; ob der Offizier dann noch mit dem Leben davon kam, weiß man nicht. Und ähnliche Dinge hörte ich eine ganze Menge.«26 Auch dass sein Sohn mit stumpfem Säbel und ohne Schusswaffe an die Front musste, berichtet Emil Schwarz trotz der Überwachung durch die Briefzensur. Man liest sogar, dass Saltens Vermieter den eigenen Browning samt 100 Schuss Munition dem Sohn per Post habe schicken müssen. Selbst Landkarten gebe es nicht. »Ich gehöre nicht zu jenen Patrioten«, fährt Schwarz fort, »die über Alles schimpfen, weil es österreichisch ist, aber nach den haarsträubenden Organisationsfehlern, nach all den traurigen Folgen, die unsere
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24 Arthur Schnitzler: Tagebuch. Auszug. Charakteristik Salten, Bl. 56f. DLA Marbach, HS.NZ85. 0001.00140. Vgl. hierzu auch Arthur Schnitzler: Aphorismen und Betrachtungen. Hg. von Robert O. Weiss. Frankfurt/M.: S. Fischer 1983 (= Gesammelte Werke), S. 346. 25 Felix Salten an Olga Goldschmidt, Brief vom 28.09.1914 (Anm. 22). 26 Emil Schwarz an Felix Salten, Brief vom 03.10.1914. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 8, 2.1.526.1. Hervorhebungen im Original.
Diplomaten, unsere Regierungen und unsere Parlamente auf dem Gewissen haben, muß man sich wirklich fragen, ob ein solches Land noch Existenzberechtigung hat.« Schließlich bittet er Salten um Hilfe. Der Vater wolle verhindern, dass sein Sohn wieder ins Feld müsse, obwohl er nur »halbwegs kriechen« könne, und er gehe davon aus, dass »mit Protektion was zu richten« sei: »Und nun, lieber Herr Salten, will ich Sie doch nicht länger aufhalten; hoffentlich nehmen Sie es mir nicht übel, daß ich Sie wieder bemühe – aber es ist ein Akt der Barmherzigkeit von Ihnen – Gott wird es Ihnen an Ihren lieben Kindern lohnen und Sie beschützen vor so großem Herzleid, wie wir und mit uns Tausende erleben mußten!« Ohne Zweifel hatte Schwarz mit diesem Brief einen wunden Punkt berührt. Denn am 10. August 1914 hatte Salten an Schnitzler geschrieben: »Vielleicht ist es gut, dass dieser Krieg schon jetzt ausgefochten wird. Gut: für unsere Söhne, das mag hässlich und egoistisch gedacht sein, aber ich denke es eben.«27 Ob Salten etwas für den Sohn seines Vermieters tun konnte, ließ sich zwar nicht eruieren, fest steht aber, dass sich trotz seiner Bereitschaft, mit seinen Texten zur geistigen Mobilmachung beizutragen, sein durchaus kriegskritischer Blick zu festigen begann. Dafür legt der Artikel »Ein Tag …« beredtes Zeugnis ab, in dem Salten ein Fazit nach hundert Tagen Krieg zog, das, um es vorsichtig zu sagen, erstaunlich ausfiel. Davon, dass er wenige Wochen zuvor noch ein Protagonist im frontfernen »Krieg der Geister« war, findet sich keine Spur, ganz im Gegenteil. Salten berichtet, in der Cottagegasse einen Soldaten mit Brustschuss aufgenommen zu haben, erzählt von Spitalsbesuchen, von einem Mann mit Lungenschuss, der unbedingt rauchen will, oder von einem General mit zerschmettertem Bein, für den der Krieg nur 15 Minuten dauerte. Und auch davon, dass die Front sogar auf dem Heimweg präsent bleibe: »Da sausen mit gellenden Signalen Autos vorbei. Es sind
8 Otto Weddigen, um 1914. Foto: Fr. Kloppmann, Wilhelmshaven. WBR, HS, Sammlung Hamann, ZPH 1660.
die jetzt schon wohlbekannten, verhängten Wagen, in denen die Schwerverletzten nach den Spitälern gefahren werden. Diesen Wagen begegnet man nicht gern, blickt ihnen nur bekümmert und voll Trauer nach. Junge Menschen liegen darin, junge, zerrissene, verstümmelte Körper. Und überall, in jedem Lazarett, wo man dann an solch ein Schmerzenslager tritt, hört man den gleichen Bescheid: Schrapnell …« Salten erinnert an eine Vorkriegsinitiative, diese grausame Waffe via Haager Konferenz zu ächten und somit »für eine humanere Kriegsführung einzutreten«. Er schließt mit seiner ersten Erinnerung an das Wort »Schrapnell«: »Damals las man es mit kühlem Sinn, las es wie eine Warnung vor unmöglich bevorstehender Gefahr. Jetzt aber, während die Autos vorbeirasen, während das rote Kreuz auf weißem Grunde vorüberblitzt, kommen mir jene Worte plötzlich wieder ins Gedächtnis, und ich glaube sie zu hören, als ob sie jemand laut ausspräche, nahe an meinem Ohr. Werden wir es nun lernen, solche Warnungen künftig zu beachten? Kaum.«28
Kriegspropaganda Trotzdem war es mit Kriegsgeschrei und Hurragebrüll aus Saltens Munde noch nicht vorbei. Auch zu manch Heldengesang stimmte er gelegentlich an, so etwa, als Otto Weddigen (1882–1915), der berühmte Kapitän von »U9«, mit Mann und Maus versenkt wurde. Zu einem Star des Krieges war Weddigen geworden, als er am 22. September 1914 in nur 75 Minuten drei britische Kreuzer, namentlich
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27 Felix Salten an Arthur Schnitzler, Brief vom 10.08.1914 (Anm. 5). 28 Felix Salten: Ein Tag … In: Berliner Tageblatt (Abend-Ausgabe), Nr. 591 vom 20.11.1914, S. [2f.], hier S. [3].
die »Aboukir«, die »Hogue« und die »Cressy«, auf den Grund des Meeres schickte. Kurz darauf hatte Salten das Husarenstück in einem Brief so bewillkommnet: »Das Erdbeben von Messina, der Untergang der ›Titanic‹ hat uns noch mit Entsetzen und Trauer erfüllt. Jetzt sinken drei Panzer, an zweitausend Menschen sterben und ertrinken. Und wir jubeln. Und jubeln mit Recht. Denn ›U 9‹ ist heute mehr als
29 Felix Salten an Olga Goldschmidt, Brief vom 28.09.1914 (Anm. 20). Beim U-Boot-Angriff kamen knapp 1.500 britische Seeleute ums Leben. 30 Felix Salten: Gedenkblatt für Weddigen. In: Neue Freie Presse, Nr. 18194 vom 18.04.1915, S. 5.
irgend eine Heldentat der Antike.«29 Im »Gedenkblatt für Weddigen« kommentiert Salten die Triple-Versenkung trocken als »ganze Arbeit«. Um den hochdekorierten Weddigen wurde ein Kult betrieben, wie sonst wohl nur um den Jagdflieger Manfred von Richthofen und vergleichbare Einzelkämpfer: »Eingehüllt in die Brandung der Gefahr, in die hinreißend tragische Gewalt seines Schicksals, in die glühenden Segenswünsche Millionen banger Herzen sauste er weiter auf seiner Bahn. Und entschwand nun, geheimnisvoll und spurlos, gleich einem jungen Gott. Wohl kennt man die Stelle nicht, an der ihn das Verhängnis ereilte. Aber man denkt sich’s aus, daß die Wasser dort, wo Otto Weddigen zur Tiefe glitt, überschwebt sein müssen vom goldenen Glanz seines Ruhmes.«30 Kaum zwei Monate später geriet ein anderer Titan ins Blickfeld, auch wenn Salten eine kurze Reminiszenz an Weddigen nicht verabsäumt: »Andere müssen unten sterben, in der Tiefe, und über ihr Heldentum breitet die Finsternis den
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9 Hellmuth von Mücke, 1915. Foto: Berliner Illustrations-Gesellschaft. WBR, Dokumentation, TF-007310. 10 Plakat zu Mückes Vortrag in Wien, den auch Salten besucht hat. WBR, PS, P-35198.
furchtbaren Schleier der Unkenntlichkeit. Diesen Mann aber hat das Schicksal auserwählt, hat ihn so sehr erhöht, daß er nun weithin sichtbar bleibt, für immer.« Jener, von dem nun die Rede ist, war ebenfalls Offizier der kaiserlichen Marine und hörte auf den Namen Hellmuth von Mücke (1881–1957). Salten sollte mit der Bemerkung des immerwährenden Ruhms insofern recht behalten, als das Kunststück, das Mücke in den Jahren 1914/15 gelang, dem Regisseur Berengar Pfahl noch 2012 einen Fernsehfilm mit Ken Duken in der Hauptrolle wert war. Mücke schaffte es in rund sechs Monaten, sich von Direction Island im Indischen Ozean, wo am 9. November 1914 sein Schiff »Emden« versenkt worden war, mit 49 Mann wechselweise auf dem See- bzw. auf dem Landweg nach Konstantinopel durchzuschlagen, wo er sich am 26. Mai 1915 meldete. Auf der Heimreise wurden für Mücke einige Propagandastopps organisiert, so am 11. Juni 1915 in Wien, wo ihn der Kaiser persönlich auszeichnete.31 Diesen Termin ließ sich auch Felix Salten nicht entgehen: »Als er jetzt in unsere Mitte trat, der junge Flottenoffizier, da warf sich ihm freilich die Begeisterung der Menge entgegen als einen Einzelnen, wie die Begeisterung der Menge immer dem großen Ruhm und dem großen Erfolg, hingerissen, entgegenjubelt. Aber wie er hereinschritt, war doch das Gefühl sehr stark: das sind die Deutschen! Man sah ihn an und wußte: das ist der Kapitänleutnant v. Mücke, der Mann, der aus Abenteuern, Kämpfen und Gefahren ohnegleichen, als Sieger hervorging. Dennoch schwang immer, wie man ihn auch mit seinem Namen und mit seiner Leistung ansprach, je mehr man ihn damit ansprach, die Unterstimme dazu ein ergänzendes: das sind die Deutschen.«32 (Abb. 10) Auf Seiten der Deutschen befanden sich meist auch die technischen Errungenschaften, die den modernen Krieg erst zu diesem machten. So schrieb Salten immer wieder über das Flugzeug als Waffe. Publizistisch zu würdigen wusste er in der Anfangszeit des Krieges aber vor allem den Zeppelin: »Dem Deutschen Reich ward eine Waffe geschaffen, eine Waffe, so notwendig, wie sie unerhört neu war. Wider einen Feind, gegen den andere Waffen unwirksam schienen. Ein Arm wuchs aus dem Leib des bedrohten Landes, daß es mit ihm den Gegner erreiche, den man anders nicht zu greifen vermag.«33 Obwohl bereits ein Angriff auf die Festung Lüttich am 6. August 1914 ein militärischer Erfolg war, der öffentlichkeitswirksam in den Gazetten der Mittelmächte gepriesen worden war, wartete Salten den ersten Feindflug gegen England ab, ehe er in die Berichterstattung einstieg. Am 19. Januar 1915 waren die in der Grafschaft Norfolk gelegenen Orte Great Yarmouth und King’s Lynn bombardiert worden. Dass den Engländern dank der Zeppeline ihr Inselstatus abhandengekommen war, verglich Salten mit dem vermeintlich unverletzbaren Siegfried: »Ungepanzert von der schimmernden Fläche des Ozeans, furchtbar durch seine Unverwundbarkeit, gehörnt wie Siegfried, ohne jemals wie Siegfried gekämpft zu haben, macht sich England nur erbärmlich, wenn es jetzt über Rechtsbruch stöhnt, weil der Gegner ihm den Rücken absucht, die entblößte, die verwundbare Stelle zu finden. Hagen Tronjes Geist ist es, der nun mit den deutschen Luftschiffen durch Nacht und Wolken über England hingewittert. Aus
31 Vgl. Uwe Schulte-Varendorff: Hellmuth von Mücke – der Mann der »Emden«. Vom Kriegshelden zum Pazifisten? Norderstedt: Books on Demand 2016, S. 82f. 32 Felix Salten: Der Kapitänleutnant v. Mücke. In: Neue Freie Presse, Nr. 18249 vom 13.06.1915, S. 17f.
schließen hervor, grausam zu sein, wo’s nicht möglich ist, Aug’ in Auge zu kämp-
33 Felix Salten: Zeppelin. In: Neue Freie Presse, Nr. 18111 vom 24.01.1915, S. 1–3, hier S. 2.
fen.«34 Und so identifiziert er Hagen von Tronje, der sich angeblich nicht in Drachen-
34 Ebd., S. 3.
geheimnisvollen Tiefen der tapferen deutschen Volksseele steigt dies tödliche Be-
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blut gebadet hätte, mit den Deutschen – den gepanzerten Siegfried freilich mit den Briten: »Wer über andere nur immer Not und Tod verhängt, weil er sich selbst dabei außer Gefahr glaubt, der hat ehrliches Kriegsrecht von Anfang an gebrochen. Fühlen: Unverwundbarkeit im Kampf ist Betrug, verübt am Leben wie am Sterben. Und dann fühlen wir: Glück auf die Fahrt nach England allen Zeppelinen!«35 Obwohl im Mai 1915 die ersten Angriffe auf London stattfinden sollten, blieb das Glück den Zeppelinen nicht hold, weil die Weiterentwicklung der Aeroplane die langsamen Ungetüme bald obsolet machte. Aber die Flugzeuge brachten nicht nur den am Boden Verbliebenen Tod und Verderben, sondern oft auch den Piloten und Besatzungen. »Ich bin im Schmerz«, vermeldete die mit Salten befreundete Schauspielerin Gertrud Eysoldt (1870–1955) am 21. August 1916. »Mein Mann fiel. Peter hat nun keinen Vater mehr. Berneis war noch so jung. 33 Jahre alt. Er liegt in Frankreich begraben. Im Kampf warf man Brandbomben auf seinen Fokker – er fiel mit dem brennenden Flugzeug. 50 m vom Boden weg sprang er ab zur Erde und war sofort tot. Ohne Brandwunden. Er hatte Schädelbruch erlitten. Am nächsten Tag schon wurde er begraben. Ich sah ihn nicht mehr. Durfte nicht mehr hinreisen. Ich sehe ihn nun immer in Gedanken, wie er liegt in der Erde und dass ich seine Hände nicht mehr anrühren kann.«36 Der Verlust von Benno Berneis (1883–1916), im Zivilen ein mit Max Liebermann befreundeter, aufstrebender Kunstmaler, traf auch Felix Salten schwer. Eine andere Waffengattung, die den modernen Krieg prägte und der Salten wiederholt seine Aufmerksamkeit widmete, war die Artillerie. Es scheint bezeichnend, dass der »Besuch in den Skoda-Werken« zu Pilsen in eine Zeit fiel, als die
11 »Nach England!« Deutsche Zeppeline über dem Kanal. WBR, HS, Sammlung Hamann, ZPH 1660.
Schlacht um Verdun auf ihrem Höhepunkt war. Und man ahnt, wie berechtigt das Wort vom Kanonenfutter ist, wenn es heißt: »140.000 Granaten feuerten Franzosen und Deutsche aufeinander ab. Pro Tag.«37 Schon im August 1914 hatten Produkte aus der Skoda-Waffenschmiede zu der von Salten bejubelten Einnahme von Namur beigetragen.38 Natürlich kamen sie auch an Schauplätzen wie der Ost- oder der Südfront zum Einsatz, worauf Salten nicht hinzuweisen versäumt: »In der Kanonenwerkstätte stehen die berühmten Mörser (30,5 Zentimeter). Die breit ausgreifende Lafette trägt die mächtige Gedrungenheit des Rohrs und irgendwie erinnert das Geschütz an die gewalttätig wilde Gebärde eines Raubtiers, das im Begriffe ist, sich drohend aufzurichten. Diese Mörser sind nun schon historisch geworden, ihre Gestalt hat sich dem Gedächtnis der Menschheit für immer eingeprägt und ist so populär wie das Antlitz eines siegreichen Feldherrn. Der Donner, der in diesem stählernen Schlund ruht, bis er geweckt wird, hat in den ersten gewittertobenden Tagen des Weltkrieges die belgischen Festungen niedergelegt und den Erdkreis zum Aufhorchen gezwungen, er hat von den Karpathenhöhen herab dem Russenansturm ein dröhnendes Halt befohlen und er läßt jetzt die Berggipfel der italienischen Alpen erbeben.«39 Zeilen dieser Art dürften es gewesen sein, die Stefan Zweig gegen Salten aufgebracht haben. Denn Zweig stand mit einem guten Freund in Briefkontakt, der vor Verdun kämpfte: dem Schriftsteller Paul Zech (1881–1946). »Lieber Freund Zech«, eröffnet Zweig einen Brief am 8. April 1916, »ich denke so oft an Sie, denke jeden Tag, wenn ich den Heeresbericht aufschlage und die Worte Westen und Schlacht sehe, Sie müssen innerlich eine ganz unbeschreibliche Kraft
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35 Ebd. 36 Gertrud Eysoldt an Felix Salten, Brief vom 21.08.1916. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 6, 2.1.142. 37 Geert Buelens: Europas Dichter und der Erste Weltkrieg. Berlin: Suhrkamp 2014, S. 215. 38 Vgl. Manfried Rauchensteiner: Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie 1914–1918. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 2013, S. 137. 39 Felix Salten: Besuch in den Skoda-Werken. In: Fremden-Blatt, Nr. 167 vom 18.06.1916, S. 1–3, hier S. 1.
haben, dass Sie all dies jetzt schon Monate überdauern und mein inniger Wunsch ist, diese Kraft möge endlich wieder sich in ihrem eigenen Sinne, zu ihrem eigenen Ziele entfalten. Die Ungerechtigkeit gegen die Mitkämpfenden, die ihr Leben zu ent-
12 Der 30,5-cm-M.11-Mörser von Škoda, April 1915. WBR, HS, Sammlung Hamann, ZPH 1660.
setzlichen einzelnen Stunden zerreiben und zerreissen, wird immer titanischer, ich selbst, der ich mir nur zur Hälfte durch meinen Dienst entwendet bin, sehe munter die ganze Schar der Begeisterten (Hofmannsthal, Schaukal, Eulenberg, Salten, Lissauer ect ect) im Gefühl ihrer Enthobenheit am ›Markte‹ (oh wahrlich am Markte!) sich mit ihren Verslein umhertreiben, ich schäme mich für jeden der jetzt noch redet und sich geberdet [!] und mein Ekel brennt mich wund, weil ich ihn nicht offen ausspeien darf (und ich wüsste viele Gesichter!) Auch meine Existenz wird bald härter angefasst sein, ich bin es jeden Tag gewärtig. Aber lieber das, als so vor sich selbst schmachvoll sein wie dies Gesindel der Worte.«40 Obwohl Salten als Chefredakteur des »Fremden-Blatts«, eine Aufgabe, die er schon Ende 1914 übernommen hatte, in der Tat des Militärdienstes enthoben war und obwohl er Geld mit kriegsaffirmativen Bändchen wie »Abschied im Sturm« (München 1915) oder »Prinz Eugen, der edle Ritter« (Berlin 1915) verdiente, lässt sich auch in seiner publizistischen Tätigkeit eine allmähliche Entwicklung weg vom reinen Kriegspropagandisten ausmachen. Als zartes Pflänzchen zeigt sich dies schon in seinem Text über die Skoda-Werke, wo er eine Reihe Eisenbahnräder
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40 Stefan Zweig an Paul Zech, Brief vom 08.04.1916. In: Stefan Zweig / Paul Zech: Briefe 1910–1942. Hg. von Donald G. Daviau. 2., erweiterte Auflage. Rudolstadt: Greifenverlag 1987, S. 82f., hier S. 82.
identifiziert, die dereinst rollen werden für den – Frieden: »Geräte des Friedens, Dinge, bei denen man nicht unbedingt an Kampf und Vernichtung denken muß.
41 Felix Salten, Besuch in den Skoda-Werken (Anm. 39), S. 3.
Auf diesen Rädern wird man vielleicht wieder durch eine versöhnte Welt fahren. Sie werden uns, vielleicht, wieder in ferne Länder tragen, und man wird wieder, wie einst, leichten Gemütes ihrem metallenen Wanderlied lauschen.«41 Begleiten wir Felix Salten also auf einer Fahrt mit einem berühmten Zug, auch wenn dieser keineswegs zu Friedenszwecken verkehrte, sondern vielmehr einer weiteren großangelegten Propagandaaktion dienen sollte.
Balkanzug Am 15. Januar 1916 startete der Balkanzug zu seiner Jungfernfahrt, denn nach der Besetzung Serbiens Ende 1915 ließen sich die Metropolen der Mittelmächte, namentlich Berlin, Wien, Budapest, Sofia und Konstantinopel, via Schiene verbinden. Die erste Fahrt wurde zu einem großen Propagandaereignis, an dem nur wenige reguläre Fahrgäste teilgenommen haben dürften. Vielmehr hielt sich journalistische Prominenz an Bord auf, wie einem Bericht von Julius Hirsch (1874–1942) zu entnehmen ist: »Ich teilte mein Coupé mit dem Schriftsteller Felix
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13 Balkanzug, Werbeplakat für EisenbahnerPostkarten. Prag: A. Haase, 1915. WBR, PS, P-36200. 14 Ludwig Ganghofer, um 1916. WBR, Dokumentation, TF-003076.
Salten. Nach dem Abendessen machte uns Ludwig Ganghofer, der von München nach Nisch reiste, den ersten Besuch. Es war eine Visite um Mitternacht, denn Budapest hatten wir einige Minuten vor 12 Uhr nachts verlassen.«42 Von dort aus folgte, wie Salten schreibt, eine »Fahrt durch erobertes Land. Wenn man die zerschossenen Häuser, die von Granaten entzweigeschlagenen Villen, die geborstenen Mauern, die zerwühlten Schützengräben in der engsten Umgebung Belgrads passiert hat, merkt man nichts mehr vom Krieg. Nichts sieht man als ein armes, stilles Volk, das in unendlich armseligen Hütten wohnt, das auf fettem, fruchtbarem Boden wandelt, und dabei darbt, ein unglückliches Volk, dem geholfen werden muß.«43 Doch zunächst mussten sich die Passagiere selbst helfen, denn bis Nisch gab es keinen Speisewagen: »Ganghofer, der an Erfahrungen Reiche, hatte im Coupé Tee gebraut, ein Hühnchen aus dem Eßkoffer ausgepackt, den ihm seine fürsorgliche Frau ans Herz gelegt hatte, und Salten und mich zum Frühstück geladen. Ganghofers Frühstück war gewiß eine Spezialität des ersten Balkanzuges.«44 (Abb. 13) In Nisch wurde anschließend nicht nur der frisch angehängte Speisewagen gestürmt, sondern »Scheuerfrauen« sorgten auch für einen freien Blick auf beschneite Gipfel: »Ueber diese Berge ist der König Peter geflohen und mit ihm seine Regierung. Nun haben wir sein Land erobert und lassen in Nisch die Fensterscheiben putzen. Es ist ein Anfang.«45 Für derlei Detailbeobachtungen freilich wird die »Neue Freie Presse« Felix Salten nicht als »Spezialberichterstatter« nach Konstantinopel geschickt haben, worauf die »Arbeiter-Zeitung« bissig hinweist. Dieser habe jedenfalls die Gelegenheit zu einer »Gratisfahrt mit dem neuen Balkanzug«46 dankend angenommen. Das Ziel waren auch nicht Reminiszenzen an friedliche Bahnreisen, mit denen Salten seinen Bericht endigt: »In unserem Bewußtsein und in den ersten Worten schon, die wir hier tauschen, ist der Krieg. Aber hier, am Ziel dieser langen Fahrt, ist uns doch, als fühlten wir uns angeweht von einem leisen Hauch des Friedens. Dieser Zug, der uns hierhergetragen, dieser erste Zug, der vom Gestade der Nordsee bis an das Ufer des Bosporus fuhr, gilt ja nicht bloß als die Besiegelung des Erfolges unserer Waffen, sondern auch als der Auftakt einer ungeheuren zukunftsreichen Arbeit, die nun beginnen wird.«47 Seine Absicht war vielmehr ein Interview mit dem türkischen Kriegsminister Enver Pascha (1881–1922), zu dem er, wie auch andere Zeitungskollegen, vorzudringen hoffte. Doch solche Audienzen wurden nicht in Aussicht gestellt. Einem Häuflein Unentwegter verhalf der Zufall zur Begegnung mit dem Objekt der Begierde, das sich überraschend offen den Fragen der Meute stellte. Richard Arnold Bermann (1883–1939), ebenfalls mit von der Partie, erinnert sich wie folgt: »Enver ergab sich sofort in sein Schicksal und stand uns Journalisten Rede und Antwort. In einem ausgezeichneten Deutsch beantwortete er uns die neugierigsten Fragen: über die Lage an den Dardanellen und am Suezkanal, über die Entsendung türkischer Truppen nach Galizien – nichts gab es, was der türkische Kriegsminister uns nicht, mit einem leichten Lächeln auf seinen Lippen, freimütig mitgeteilt hätte. Dieses Interview mit dem Schöpfer der neuen Türkei versprach eine große journalistische Sensation zu ergeben. Sobald es nur irgend möglich war, stoben wir in unser Hotel zurück und fingen an, Depeschen aufzusetzen.«48
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42 Zit. nach Zum ewigen Gedächtnis. Zwei Züge. In: Die Fackel 18 (1916/17), Nr. 418–422, S. 2–6, hier S. 3. 43 Felix Salten: Mit dem ersten Balkanzug. In: Neue Freie Presse, Nr. 18475 vom 28.01.1916, S. 1f., hier S. 2. 44 Zit. nach Zum ewigen Gedächtnis. Zwei Züge (Anm. 42), S. 6. 45 Felix Salten, Mit dem ersten Balkanzug (Anm. 43), S. 2. 46 Anonym: Zu bescheiden. In: Arbeiter-Zeitung, Nr. 27 vom 27.01.1916, S. 5. 47 Felix Salten, Mit dem ersten Balkanzug (Anm. 43), S. 2. 48 Richard A. Bermann: Die Fahrt auf dem Katarakt. Eine Autobiographie ohne einen Helden. Mit einem Beitrag von Brita Eckert hg. von Hans-Harald Müller. Wien: Picus 1998 (= Spuren in der Zeit), S. 224f.
Am Abend trafen sich die Kollegen bestens gelaunt an der Bar, alle waren sich eines ganz besonderen Scoops sicher, vor allem einer: »Felix Salten hatte zweitausend Worte an die ›Neue Freie Presse‹ telegraphiert, die anderen nicht viel weniger. Die Stimmung schlug auch nicht um, als der Telegraphenbeamte des Hotels die Bar betrat und uns mitteilte, unsere Telegramme seien noch nicht abgegangen, weil wir irrtümlich alle zu wenig für sie bezahlt hätten: Man müsse jetzt in Kriegszeiten noch eine hundertprozentige Surtaxe entrichten, zugunsten des ›Roten Halbmondes‹. Noch einmal soviel zu zahlen, als man schon gezahlt hatte, das war gewiß nicht heiter; aber dafür versprach der Telegraphist, die Depeschen bestimmt noch während der Nacht abgehen zu lassen.«49 Doch letztlich wurde keiner von diesen Texten auf den Weg gebracht, denn Enver Pascha hatte dies persönlich unterbunden. Einzig der Bericht von Richard A. Bermann erschien in der »Zeit«, die ihm nicht genügend Geld mitgegeben hatte, um Telegramme bezahlen zu können. Sein Text erreichte die Wiener Redaktion via Diplomatenpost, mit der Bermann die türkische Kriegszensur umging. Salten hingegen hatte seinen größten PropagandaCoup auf diese Weise verpasst.50
Kriegswohlfahrt: Engagement für Kinder Die Kehrseite zur Propaganda-Medaille war das publizistische Engagement Saltens auf dem Gebiet der Kriegswohlfahrt. Besonders widmete er sich den vielen Tausend Flüchtlingen aus Galizien und den Kriegswaisen. Erstmals nahm sich Salten der genannten Themen in dem Essay »Praterspatzen« an, wo er eine Institution beobachtet, die sich bald als Anlaufstelle für alle Vertriebenen etablieren sollte. Dass er über diese Einrichtung schreibt, verwundert aber nicht, denn hier arbeitete auch seine Frau: »Otti hat heute ihren Dienst in der Theestube für galizische Flüchtlinge wieder aufgenommen.«51 Und Salten machte diese Interimszuflucht und ihre Bewohner bekannt: »Das schützende Dach, das sie ihr Eigen nannten, ist eingestürzt oder abgehoben und sie sind nun plötzlich dem wütenden Unwetter dieser Zeit ausgesetzt gewesen. Daheim waren sie in angesehene und in kleinere Leute geschichtet, waren alle, jeder an seinem Platz, in Ordnung zu übersehen und zu erkennen. Hier sind sie durcheinander geraten, sind aus dem Erdboden gerupftes Menschheitsgestrüpp, unkenntlich und entstellt: Flüchtlinge.«52
49 Ebd., S. 226.
Umfunktioniert wurde das »Gasthaus zu den Praterspatzen« (Abb. 15), in dessen
50 Teile seines Telegramms dürften in Saltens Porträt Enver Paschas eingegangen sein, das er zwei Jahre nach dessen Tod vorlegte. Vgl. Felix Salten: Geister der Zeit. Erlebnisse. Berlin, Wien, Leipzig: Zsolnay 1924, S. 187–200.
Kindergarten man sich aufopferungsvoll um die »kleinen und kleinsten der Flüchtlinge« kümmerte, darunter viele Traumatisierte: »Aber diese Kinder da haben mich stärker ergriffen als andere, die ich jemals besucht habe. Diese armen kleinen Praterspatzen sind denn auch wirklich anders. Man merkt das erst nach und nach. Sie spielen wohl wie alle Kinder, sie singen ebenso, aber sie lachen nicht wie andere Kinder. Ein Schatten ist über ihrem Wesen, ein dunkler Schleier umhüllt ihre freie Heiterkeit und dämpft sie ab. Hier gibt es Kinder, deren Augen immer noch starr
51 Felix Salten an Olga Goldschmidt, Brief vom 09.11.1914. Privatbesitz.
nur langsam weichen wird. Hier gibt es Kinder, die noch kein Wort gesprochen
52 Felix Salten: Praterspatzen. In: Neue Freie Presse, Nr. 18079 vom 22.12.1914, S. 1–4, hier S. 2. Ein inhaltlich ähnlicher Beitrag erschien unter dem Titel »Landflüchtiges Volk« am 13. Januar 1915 im »Berliner Tageblatt«.
haben, seit sie herkamen.«53 Salten bittet aber nicht nur um Verständnis für die
53 Ebd., S. 3.
aufgerissen sind von all den Schrecken, die sie gesehen haben. Sie erzählen nichts und sind wohl auch noch zu klein, um erzählen zu können, aber die Aerzte haben die Starrheit des Entsetzens in diesen Kinderaugen festgestellt, eine Starrheit, die
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Kinder, sondern für alle in die kaiserliche Hauptstadt Geflohenen, und erklärt den Lesern ihre besondere Verantwortung für diese Menschen: »Diese Verstörten und
15 Prater-Etablissement »Praterspatzen«, um 1910. Wien Museum, Inv. Nr. 298720.
Erschreckten haben an des Reiches Schwelle gewohnt und bei ihnen zuerst hat der Krieg gepocht. Mit ihren Heimstätten, mit ihrem Hab und Gut wie mit ihrem Leben sind sie am Eingang unseres großen Vaterlandes gelegen, gleich den Schutzdecken, die vor den Türen unserer Wohnungen ausliegen. Der Feind aber, der nun seit Monaten vergebens an Oesterreichs Pforten tobt und rüttelt, ist auf dies arme Volk zuerst getreten.« Schließlich ruft er zur proaktiven Hilfe auf: »Bietet ihnen hilfreich die Hand – es sind Flüchtlinge.«54 Wer meint, derlei Worte seien eher verpufft als wirksam geworden, täuscht sich. Noch in den 1920er-Jahren erreichten Salten Leserbriefe, die sich auf den Artikel bezogen. »Im November 1914, als ich in Wien die qualvolle Lage der Flüchtlinge miterlebte, blätterte ich eines Tages in der ›Neuen Freien Presse‹ und heftete den Blick auf das Feuilleton: ›Praterspatzen‹«, hieß es am 16. Mai 1925 von einer Leserin aus dem westukrainischen Drohobycz. »Mißmutig dachte ich einen Augenblick darüber nach, wie man in dieser schrecklichen Kriegszeit, in der Mil[l]ionen von Menschenwesen verbluteten, oder von der Heimatscholle infolge der
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54 Ebd., S. 4.
erschütterten [!] Kriegsereignisse vertrieben wurden, – noch über ›Praterspatzen‹ schreiben kann. Die ersten Zeilen jedoch, fesselten derart meine Aufmerksamkeit, daß ich den Namen des ungewöhnlich scharfsinnigen u. geistreichen Beobachters wissen wollte: Es war Ihr wundervolles Feuilleton, in dem Sie, hochverehrter Meister, die entsetzliche Lage der armen Flüchtlinge schilderten, die man ihrem Hab u. Gut vertrieben, täglich vom Nordbahnhof über Ihre geliebte Kaiserstadt, sich ergoßen …« Auch nach mehr als zehn Jahren konnte sich die Briefschreiberin an die Auswirkungen der Lektüre erinnern: »Wie ein zu Tode getroffenes Wesen, durch geheimnisvolle Kraft, dem Leben wiedergegeben wird, fühlte ich nach diesen Ihren Worten, alle meine Menschenwürde wieder aufgerüttelt und meine Lebensfreude u. Willensstärke erwachte von Neuem!«55 Felix Salten engagierte sich nicht nur als Journalist für die Vertriebenen, sondern brachte sich auch als Privatmann ein. So unterstützte er einen Kinderhort im 20. Wiener Gemeindebezirk, Jägerstraße 30, und zählte neben anderen zu den prominenten Gästen bei der Eröffnung der Anstalt.56 Darüber hinaus nahm das Ehepaar Salten einen unbegleiteten Flüchtlingsjungen bei sich zu Hause auf, was Arthur Schnitzler am 11. Februar 1915 im Tagebuch en passant festhält: »Gegen Abend zu Salten. Gespräch ging mühselig, befangen, übern Krieg, dann fragte er (in einer gezwungnen Gegenfrage) – Und wie gehts Ihnen mit dem Arbeiten. – Sie haben einen flüchtigen kleinen Isaak bei sich aufgenommen.«57 Zu dem Jungen ließen sich leider keine weiteren Spuren finden. Saltens Einsatz für Kinder ließ während der Kriegsjahre nie nach. Einen nachhaltigen Erfolg hatte sein Artikel »Wer nicht herzlos ist …«, der durch Berichte von Galizienflüchtlingen motiviert war. Erneut rückte er die Kleinsten in den Mittelpunkt seiner Ausführungen: »Man kann sechstausend Kinder nicht an Hunger und Hungerkrankheit hinsterben lassen. Auch in der Krankheit nicht. Allein, wie soll man sechstausend Arme Kinder mit einem Male versorgen?« Mit einem einfachen Kniff profilierte sich Salten als Fundraiser im modernen Sinne – er schreibt, um Gehör zu finden: »Rechne, daß ein Kind für Nahrung, Kleider, Obdach, Aufsicht und Lehrer nur drei Kronen im Tag benötigt. Das macht achtzehntausend Kronen für einen einzigen Tag aus, macht an sieben Millionen im Jahr.« Der Appell Saltens war sowohl an die öffentliche Hand als auch an solvente Private gerichtet: »Diese Sache darf nicht so lange verschleppt und verzettelt werden, bis wir schamrot werden, wenn von den galizischen Kindern die Rede ist. Ich mag der Oeffentlichkeit, an die ich mich wende, nicht schmeicheln, mag nicht erst von dem edlen Gemüt, von der oft erprobten Hilfsbereitschaft, von dem Wohltätigkeitssinn und anderen süßen Dingen reden, um die Leute etwa dieser Aktion geneigter zu stimmen.«58 Drei Wochen nach Saltens Aufruf wurde der Eingang namhafter Spendensummen vermeldet.
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Finden sich beim Propagandisten Salten Hymnen auf Kriegshelden wie Otto Weddigen oder Hellmuth von Mücke, so porträtiert er als ein der Wohlfahrt zugewandter Autor ›Kriegsheldinnen‹ wie Nelly Wahliß (1879–1925) und Anitta Müller (1890–1962). In dem Beitrag »Ein Kapitel Zukunft« stellt er etwa das System von Landerziehungsheimen der Erstgenannten vor und charakterisiert deren aufwendige Arbeit mit Kriegswaisen: »Ein solches Landerziehungsheim für hundert
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55 Paula Safrin an Felix Salten, Brief vom 16.05.1925. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 8, 2.1.497. 56 Vgl. Anonym: Kinderhort für Flüchtlingskinder. In: Neue Freie Presse, Nr. 18149 vom 03.03.1915, S. 11. 57 Arthur Schnitzler, Tagebuch 1913–1916 (Anm. 23), S. 173 (Eintrag vom 11.02.1915). 58 Felix Salten: Wer nicht herzlos ist … In: Neue Freie Presse, Nr. 18627 vom 01.07.1916, S. 1–3. 59 Vgl. Sammlung der »Neuen Freien Presse« für die Aktion zur Rettung der verlassenen Kinder Galiziens. In: Neue Freie Presse, Nr. 18651 vom 25.07.1916, S. 9.
Zöglinge erfordert beiläufig anderthalb Millionen. Wir werden sehr viele solche Institute und sehr viele Millionen brauchen, und es ist keine Frage: sie müssen herbeigeschafft werden. Hier muß der Staat seine Pflicht tun. Die Gesellschaft ebenso und jeder einzelne.«60 Einen Monat später fokussiert er die Initiative der zweiten Samariterin: »Mitten im Wirrsal jener Tage, mitten im Chaos des Jammers, des Mitleids, der verzweifelten Hilferufe und des verzweifelnden Helfenwollens taucht Anitta Müller auf, als eine der Ersten, die zielbewußt zugreifen, Ordnung schaffen und dem Rettungswerk Planmäßigkeit geben.«61 Von ihr gegründete Hilfseinrichtungen wie die Arbeitsschule für Flüchtlinge aus Galizien und der Bukowina fanden sich unter dem Namen »Soziale Hilfsgemeinschaft Anitta Müller« verteilt über die ganze Stadt. Wiederum ist es die Kinderhilfe, die Salten besonders imponiert: »In den Teestuben, in den Ausspeisungsräumen, in all den Lokalen, in denen sich die Flüchtlinge drängen, wimmelt und wimmert es von Kindern. Sie fährt dazwischen, schält die armen Würmer aus den Lumpenbündeln heraus, in die sie gewickelt sind, mustert, sondert sie, die Kranken von den Gesunden, die Kleinen überhaupt von den Erwachsenen. Sie schafft ein Asyl für die Kinder. Erst einmal eines für hundert, dann für drei-, für fünfhundert, endlich, nachdem der Staat ihr zu Hilfe kommt, eines für fünfzehnhundert.«62 Ganz am Rande sei ergänzt, dass womöglich auch die Idee für »Bambi« aus dieser Zeit herrührt – schließlich handelt es sich beim berühmten Rehbock ja um eine Waise. Den Vergleich jedenfalls zog Salten im Rahmen seiner publizistischen Bemühungen um die Kriegskinder aus Galizien: »Schießt jemand auf der Jagd die Hirschkuh, die von ihrem Kälbchen umsprungen ist, das nun elend verhungern muß, weil ihm die Mutter geraubt ward, tötet einer das Vogelpaar, das seiner Brut Atzung ins Nest trug, so mag ihm niemand mehr Gruß noch Hand bieten, denn er gilt für ehrlos. Mancher jungen Menschenbrut ist jetzt der Vater weggeschossen worden, der für das Nest sorgte, manchem hilflosen Kind die Mutter gestorben, aus Gram, aus Not, weil eben Krieg ist. Sollen wir das junge Tier wehleidig bejammern und über verwaiste Menschenjugend minderempflindlich sein?«63
Kriegs(w)ende »S. jetzt dem Kriegsministerium zugetheilt; fährt nächstens Schweiz, Vorträge.«64 Die knappe Notiz aus Arthur Schnitzlers Tagebuch vom 22. Oktober 1916 macht deutlich, dass sich im Herbst 1916 etwas an Saltens Stellung als Journalist geändert haben dürfte. Bis dahin hatte ihn die Kriegsbürokratie weitgehend
60 Felix Salten: Ein Kapitel Zukunft. In: Neue Freie Presse, Nr. 18965 vom 10.06.1917, S. 1–3, hier S. 3.
noch im Jahr 1914 einen Gestellungsbefehl für eine Budapester Kaserne erhal-
61 Felix Salten: Anitta Müller. In: Neue Freie Presse, Nr. 19000 vom 15.07.1917, S. 1–3, hier S. 2.
ten haben, freilich will er dieser Einberufung durch persönliche Intervention bei
62 Ebd.
einem kommandierenden General der Honved-Truppen entgangen sein, der in
63 Felix Salten, Ein Kapitel Zukunft (Anm. 60), S. 2.
unbehelligt gelassen. Laut der Fragment gebliebenen Memoiren soll Salten zwar
der fraglichen Kaserne anrief, um »zu befehlen[,] man solle mich in Ruhe lassen«. Obwohl er durch seine Tätigkeit beim »Fremden-Blatt« vor einer Frontverwendung sicher war, blieb Salten offenbar nervös: »In Wien stellte ich mich nach einiger Zeit dem mir befreundeten General Höhn [!], der der neue Chef des Kriegsarchivs war, für etwelche publizistische Dienste zur Verfügung. Er dankte und behielt sich vor mich zu beschäftigen, falls ein publizistischer Anlass vorliegen sollte.«65 Es sieht
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64 Arthur Schnitzler, Tagebuch 1913–1916 (Anm. 23), S. 322 (Eintrag vom 22.10.1916). 65 Felix Salten: [Erinnerungen]. Typoskript, 64 Bl., hier Bl. 31. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 1, 1.1.1.9.1.
jedoch so aus, als ob Maximilian von Hoen (1867–1940), der von 1914 bis 1917 dem Kriegspressequartier vorstand, Saltens Dienste erst nicht in Anspruch genommen hat. Schließlich wurde er doch nach Zürich entsandt, um austriakische Imagepflege zu betreiben: »Ich habe in meinem Vortrag über Grillparzer notwendig viel über Österreich gesprochen, habe aber kein Wort gegen unsere Feinde gesagt und den Eindruck gehabt, als ob man mir das von Schweizer Seite hoch angerechnet hätte. Besser als die Hetze u. das Schimpfen der Entente wirkt die unparteiische Kulturpropaganda von uns.«66 Daran war aber auch den Organisatoren des Vortrags gelegen, dem »Lesezirkel Hottingen«, der während der Kriegsjahre darum bemüht war, für Lesungen und Reden »jene Persönlichkeiten auszusuchen, die bereit waren, sich seinem Konzept des Vermittelns zwischen den Völkern einzuordnen«.67 Für dieses austarierende Moment, das sich die bekannte Züricher Institution auf ihre Fahnen geschrieben hatte, steht auch ein gemeinsamer Auftritt von Pierre Jean Jouve (1887–1976) und Stefan Zweig im Zürcher Schwurgerichtssaal am 12. Dezember 1917. Salten, der am 5. November 1916 in der Tonhalle sprach, hatte diese diplomatische Aufgabe begriffen, in dem er sich Grillparzer zum Gegenstand machte – ein »Staatssymbol«, wie Eduard Korrodi, der Feuilletonchef der »Neuen Zürcher Zeitung« treffend festhielt. Auch der Redner habe sich, so der neutrale Beobachter
16 Maximilian von Hoen, 1915. Foto: Isidor Harkányi, Wien. WBR, Dokumentation, TF-004308.
weiter, als »sympathischer Repräsentant österreichischer Literatur und österreichischer Art«68 eingeprägt. Tags darauf folgte für den kaiserlichen Abgesandten noch ein eher privater Termin, denn im Pfauentheater ging die Uraufführung seines Stückes »Kinder der Freude« über die Bühne: »Die Reise Felix Saltens zu seinem Zürcher Vortrag hat diese hübsche Kombination ermöglicht, und das ausverkaufte Haus erwies sich überaus dankbar für das ungewöhnliche Geschehnis.«69 Für Salten war die Fahrt in die Schweiz aber nicht nur deshalb eine Offenbarung: »Wenn man jetzt in ein neutrales Land reist, dann stellt man sich vor, man werde endlich ins Freie gelangen, irgendwohin, wo man ›den Krieg nicht spürt‹. Der Zug fährt durch die lieblichen Schweizer Täler, fährt an den Ufern blauer Bergseen hin; man sitzt im Wagen, blickt durchs Fenster auf die sonnbeglänzten Fluren und denkt mit einiger Bewegtheit: Hier ist Frieden!« Doch verdrängt er die durchaus nicht unproblematische Lage der Eidgenossenschaft angesichts der Idylle nicht gänzlich: »Aber kann man sagen, wer auf einer Klippe steht, spüre nichts von Sturm und Wellen? Mitten in dem sturmgepeitschten Unglücksmeer dieses Krieges liegt die Schweiz da gleich einem kleinen Riff. Die Brandung umdonnert dies Riff von allen Seiten, es wird beständig von ihren Schauern übersprüht und von allen Seiten wird es von Schiffbrüchigen, von Schutz und Ruhe Suchenden erklommen. Nie ist ein Land in einer schwereren, peinlicheren Lage gewesen.«70 Erst als er der im Vergleich zu Wien erstklassigen Züricher Versorgungslage gewahr wird, verliert er den Blick auf die Realität: »In den hellen Straßen dieser Stadt, die immer wie von irgendeiner Festlichkeit überschimmert sind, surren die Autos und haben schöne, neue Gummireifen. Auf dem Frühstückstisch gibt es Butter in märchenhafter Menge, Eier, so viel man will, ›mürbe‹ Kipfel und Semmeln. Ganz wie im
66 Felix Salten an Hedwig Fischer, Brief vom 09.11.1916. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 9, 2.2.22.59. 67 Conrad Ulrich: Der Lesezirkel Hottingen. Zürich: Buchverlag Berichthaus 1981, S. 54. Für diesen Hinweis danke ich Caroline Senn vom Stadtarchiv Zürich. 68 E[duard] K[orrodi]: Felix Salten über Grillparzer. In: Neue Zürcher Zeitung, Nr. 1780 vom 07.11.1916 (1. Abendblatt). 69 T: Theater. In: Neue Zürcher Zeitung, Nr. 1774 vom 06.11.1916 (1. Abendblatt).
der kriegsführenden Nationen, trifft und spricht mit Engländern, Franzosen und
70 Felix Salten: Schweizer Reisetage. In: Neue Freie Presse, Nr. 18787 vom 08.12.1916, S. 1–3, hier S. 2.
Russen: »Wir haben in diesem langen Kriege so unermeßlich viel Leid, Unglück
71 Ebd.
Märchen.«71 Darüber hinaus begegnet er erstmals seit 1914 wieder Angehörigen
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und Elend mit angeschaut, daß uns jetzt, da schon das erste leise Morgenlicht des Friedens am Himmel dieser Welt dämmern will, der Unterschied zwischen Freund und Feind nicht mehr ganz so heftig auseinander klafft wie sonst, und wir zuerst und bei allen nur das Eine sehen: Menschen, die leiden, Menschenschicksale, die einander gleichen.«72 Im Gegensatz zu Stefan Zweig, der einen Propagandaauftrag im Herbst 1917 nutzte, um für den Rest des Kriegs in der Schweiz zu bleiben, kehrte Salten nach Wien zurück. Obwohl Oskar Montlong (1874–1932) vom Pressdepartement des Außenministeriums nicht zögerte, Salten zu seinem »grossen Züricher Erfolg zu beglückwünschen« und für seine »Bemühungen im Namen des Ministeriums zu danken«,73 scheint ihm die Schweizer Reise nicht besonders gut getan zu haben. So vertraute er seiner Freundin Hedwig Fischer am 28. Mai 1917 an, jetzt erst recht zu spüren, »in was für einem Zustand ich diesen ganzen Winter über gewesen bin. Ich habe keinem Menschen geschrieben, habe mich zu keinem Brief, kaum hie und da zu Arbeit hinsetzen können. Ich war total unfähig dazu. Zwei Jahre lang habe ich mich in diesem Krieg mit meinen Nerven und den angrenzenden Empfindungswerkzeugen leidlich gehalten. Aber vom November an kam ich doch mehr und mehr ins Wanken und zuletzt in eine Art von Verzweiflung.«74 Dieser Tenor bestimmt denn auch die Bestandsaufnahme »Drei Jahre Krieg«, die Ende Juli 1917 erschien. Obwohl Salten noch einmal mit halbherzigen Durchhalteparolen schließt, merkt man ihm an, dass er sich inzwischen der ideenpolitischen Wende75 jener Monate verpflichtet fühlt: »Es hat uns durchaus umgewandelt, denn keiner von uns ist ja vorbereitet gewesen, alle haben das erst lernen müssen: im Krieg existieren, atmen, schlafen und wachen, seine Arbeit verrichten. Alle haben erst lernen müssen, daß es so furchtbare Gegensätze gibt, wie Menschen, die draußen im Feld sterben und Menschen, die zur selben Zeit in den Städten sicher und gelassen umhergehen. Und haben lernen müssen, daß solche Gegensätze notwendig, ja fast bis zur Trivialität selbstverständlich sind. Wenn wir heute zurückschauen, dann erblicken wir eine von der Katastrophe jählings überraschte Menschheit und dürfen jetzt nach drei Jahren, da niemand mehr zu Ruhmredigkeiten Lust hat, dennoch feststellen: diese Menschheit hat in ihrer großen Stunde überwältigende Beweise von Größe gegeben. Was man früher mit dem ebenso stolzen als übertriebenen Namen Kultur nannte, ist ja durch das bloße Tatsachengewicht des Krieges in sich selbst erbärmlich zusammengebrochen.«76 In der Folge greift Salten einen Begriff auf, der nach der Friedensresolution, die am 19. Juli 1917 vom deutschen Reichstag verabschiedet worden war, schnell an Popularität gewann: der Verständigungsfriede. Bis dato hatte man auf deutscher Seite einzig den »Siegfrieden« für akzeptabel erachtet, nun wurde dank der rasant um sich greifenden Kriegsmüdigkeit ein Friede mit Kompromissen denkbar. Ein Protagonist dieser Position war der Philosoph Ernst Troeltsch (1865–1923), der 1914 entschlossen in den »Krieg der Geister« eingetreten war, um nunmehr umso entschlossener die »Demobilisierung der Geister« zu fordern. Troeltsch hatte sich freilich früh vom zweifelhaften Kurs als Kriegsbefürworter distanziert. Schon in einer Rede, die er am 11. Oktober 1915 in Wien gehalten hatte, übte er lautstarke Kritik an den nationalistischen Exzessen.77 Der Auftritt dürfte Salten seinerzeit
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72 Ebd., S. 3. 73 Oskar Montlong an Felix Salten, Brief vom 13.01.1917. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 7, 2.1.383. 74 Felix Salten an Hedwig Fischer, Brief vom 28.05.1917. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 9, 2.2.22.60. 75 Vgl. Kurt Flasch: Die Ideenwende 1916/17. In: Ders.: Die geistige Mobilmachung. Die deutschen Intellektuellen und der Erste Weltkrieg. Ein Versuch. Berlin: Fest 2000, S. 279–289. 76 Felix Salten: Drei Jahre Krieg. In: Neue Freie Presse, Nr. 19014 vom 29.07.1917, S. 1–3, hier S. 2. 77 Vgl. Kurt Flasch, Die geistige Mobilmachung (Anm. 75), S. 150f.
nicht entgangen sein, jetzt bediente er sich offen des Vokabulars von Troeltsch: »Allein nach dreijährigem Ringen ist neben Triumphmarsch und Siegesfreude doch auch der Verständigungsgedanke maßvoll vernehmlich. Verständigung … das Wort erscheint bezeichnend, wie es, aus unsäglichen Leiden herkommend, in der politischen Sprache stärker und stärker aufleuchtet. Waren die Menschen jemals bemüht, sich zu verstehen? Wie die einzelnen im Dasein nebeneinander hergehen, aneinander vorübergehen, ohne einander in ihrem wahren Wesen zu kennen, so haben die Völker Europas nebeneinander hin, aneinander vorüber gelebt, haben sich belauert, gekränkt, gehaßt und sind schließlich übereinander hergefallen, um sich zu zerfleischen, ohne daß sie einander kennen. Erst das Leid, das allen gemeinsam ist, erst das Blut, das hüben und drüben aus furchtbaren Wunden strömt, erst die Trauer der Mütter und Waisen, die bei Freund und Feind Mütter und Waisen sind, bewirkt es, daß mitten im Tumult solch ein Wort ausgesprochen werden kann.«78 Aber noch ein weiterer Punkt ist mehr als bemerkenswert. Hatte Felix Salten bis dato meist das Hohe Lied auf neueste Waffen und ihre Rolle im Krieg gesungen, so verteufelt er sie jetzt, wobei die Schlussmetapher die einzige Stelle in Saltens Kriegspublizistik zu sein scheint, in der er – wenn auch nur andeutend – den Gaseinsatz thematisiert: »Eine dämonische Rolle spielt die moderne Technik in diesem Krieg. Sie weitet den engen Raum dreier Jahre zu einer fast übertrieben inhaltsreichen Epoche. Von der rasenden Gefährlichkeit ihrer Mittel ist eine Lockung ausgegangen, die das Blut der Menschen zum Sieden brachte. Ungeduldig, ihre unermeßlichen Mittel zu Wasser und zu Land, unter See und in den Lüften endlich besser genützt zu sehen, hat sie die Menschen dazu verführt und gezwungen, ihre Streitigkeiten einmal auszufechten. Die andere Auslegung, daß die Natur sich räche, indem sie nun die Menschen mit den Kräften niederschlägt, die ihr entrissen und enträtselt wurden, ist sentimental und unwahr zugleich, denn sie schafft einen Gegensatz zwischen Natur und Mensch. Geht daran vorbei, daß sich gerade an jenen Menschen, die den Blitz aus der Wolke niederholten, das Geheimnis des Vogelfluges ergründeten, die Mikroben fanden, die Sprengkraft der Vulkane imitierten und dem Tod tausend verborgene, giftige Waffen aus den Knochenfingern wanden, die Natur in ihrer glühendsten Schönheit offenbart.«79 Diese Zeilen sorgten für Aufsehen und erreichten auch das pazifistische Lager. So trat etwa Fritz von Unruh (1885–1970) am 26. August 1917 mit Salten in Verbindung, der ihn wissen ließ, er habe schon lange schreiben wollen, »aber durch eine schwere Nervenverbrennung infolge des Krieges war ich seit Monaten daran verhindert«. Den Brief zeichnet er nur, selbst zu schreiben ist unmöglich: »Verzeihen Sie bitte die Form des Diktates, aber ich liege noch immer im Verband.«80 Der Berufsoffizier Unruh war 1911 durch sein Stück »Offiziere« aufgefallen, dessen Uraufführung Max Reinhardt auf die Bühne gebracht hatte. Aber seine Militarismuskritik führte dazu, dass ihm nahegelegt wurde, seinen Abschied zu nehmen. Nach Kriegsausbruch meldete sich Unruh freiwillig und diente als Kompaniechef
78 Felix Salten, Drei Jahre Krieg (Anm. 76), S. 2.
vor Verdun. »Mich hat der Krieg gehämmert«, heißt es im Brief an Salten. Unruhs
79 Ebd., S. 3.
1916 entstandener Prosaband »Opfergang« erschien erst nach dem Krieg. Der
80 Fritz von Unruh an Felix Salten, Brief vom 26.08.1917. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 9, 2.1.612.1.
Schwerverwundete gelangte in die Schweiz, wo er genas und auch Kontakte zu deutschen Friedensaktivisten wie Paul Cassirer (1871–1926), Harry Graf Kessler
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(1868–1937) und René Schickele knüpfte. Es ist nicht auszuschließen, dass Salten Mitglieder dieses Kreises während seiner Schweiz-Aufenthalte im November 1916 und über Ostern 191781 aufgesucht und mit ihnen die Lage erörtert hat. Darauf könnte sich auch kein anderer als Außenminister Ottokar Graf Czernin (1872–1932) in einem Brief an Salten vom 2. Dezember 1917 beziehen: »Besonders Ihre Nachrichten aus der Schweiz haben mich sehr interessirt und natürlich auch gefreut
17 Oberst Wilhelm Eisner-Bubna, Direktor des Museums von Aquileja, Max Halbe, Franz Karl Ginzkey, Felix Salten, Dr. Schwaner, Ludwig Thoma, Leutnant Walter (v.l.n.r.). Aufgestellt hat sich die Gruppe »Im Museum zu Aquileja, auf der Heimreise von der Kriegsfahrt durchs eroberte Venezien, vom 22.–29. November 1917«. WBR, HS, Nachlass Ginzkey, ZPH 279, Archivbox 15.
obwohl ich das mir im neutralen Auslande gespendete Lob nicht au pied de la lettre nehme. Es ist ganz richtig dass ich das Streben habe die internationale Stellung der Monarchie wieder zu heben und es freut mich wenn so massgebende Männer wie die welche Sie citiren mir darin einen Erfolg zubilligen.«82 Hie korrespondierte Salten mit dem k. k. Minister des Äußeren, der brieflich von »›meinem‹ Frieden«83 berichtete. Da wurde er von Wilhelm Eisner-Bubna (1875–1926), seit Mitte März 1917 neuer Leiter des Kriegspressequartiers, vom 22. bis 29. November 1917 auf eine Fahrt durch das eroberte Venetien befohlen, die er in Gesellschaft von Franz Karl Ginzkey (1871–1963), Max Halbe (1865–1944) und Ludwig Thoma (1867–1921) absolvierte.84 Offenbar hat Salten darauf verzichtet, die Exkursion ins Kriegsgebiet publizistisch zu verwerten. Jedenfalls ist kein Beitrag aus seiner Feder bekannt. Nur im Privaten scheint er sich geäußert zu haben, etwa gegenüber Arthur Schnitzler, der am 8. Januar 1918 festhält: »S. erzählte von seiner Frontreise.«85 Dass sich Salten derart in Schweigen hüllte, mag eben auch dem Umstand geschuldet sein, dass ihn Czernin umfassend über seine Friedensbemühungen – »frei von Ländergier« – ins Bild gesetzt hatte: »Ich schiebe den russischen Friedenskarren langsam und mühsam vorwärts und was ich seit Monaten erwartet scheint endlich zu kommen: der Friede im Osten. Ich werde unbedingt in Friedensverhandlungen mit Petersburg eintreten und gar nicht darnach fragen wer die Regierung dorten ist.«86 Doch der Friede im Osten führte vor allem zur deutschen Frühjahrsoffensive im Westen. Und wenige Tage nach deren Beginn brachte Salten zu Ostern 1918 den ersten offen pazifistischen Artikel in die Zeitung: »Sprechen wir einmal von der
81 Vgl. Felix Salten an Hedwig Fischer, Brief vom 28.05.1917 (Anm. 74). Zu Ostern 1917 weilte Salten mit dem Burgtheater in Zürich.
dürfen durch das weit geöffnete Tor des Friedens eintreten in den hellen Raum still
82 Ottokar Czernin an Felix Salten, Brief vom 02.12.1917. WBR, HS, Nachlass Salten, ZPH 1681, Archivbox 6, 2.1.101.
besänftigter Jahre. Wer kann das wissen?« Dieses Entrée umschreibt keineswegs
83 Ebd.
die Aussicht auf den Sieg. Vielmehr knüpft Salten Hoffnungen an ein Buch, dass er
84 Vgl. hierzu Marcel Atze: Franz Karl Ginzkey reitet für Österreich. In: »Es ist Frühling, und ich lebe noch«. Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs in Infinitiven. Von Aufzeichnen bis Zensieren. Hg. von M. A. und Kyra Waldner. St. Pölten, Salzburg, Wien: Residenz 2014, S. 194–207, besonders S. 202–204.
Zeit nach dem Krieg. Vielleicht stehen wir jetzt schon an der Schwelle dieser Zeit. Vielleicht braucht es nur noch einen Schritt, nur noch ein paar Schritte und wir
seiner Leserschaft vorstellt. Es handelt sich um einen Druck, in dem die Londoner Doves Press 1916 »Auserlesene Lieder« Goethes auf Deutsch vorlegte: »Dieses Buch wirkt gerade jetzt, da im Westen die große Engländerschlacht wütet, wie etwas Unwahrscheinliches. Es wird sicherlich auch Leute geben, die achselzuckend erklären, dieser Band Gedichte aus dem Jahre 16 bedeute gar nichts, da er doch nichts daran ändere, daß im Jahre 18 immer noch gekämpft werden müsse. Allein, wir sprechen ja von der Zeit nach dem Kriege. Und da bedeutet das Buch schon sehr viel. Es öffnet in unserem Gespräch eine Perspektive. Es mahnt uns, daß wir jetzt immer nur von Schimpf und Gehässigkeiten hören, daß man uns jetzt immer nur feindselige Bücher zeigt. Daß es aber drüben, bei unseren Gegnern, doch Menschen gibt, die keinen Haß empfinden und die den Krieg als ein Unglück betrauern.
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85 Arthur Schnitzler: Tagebuch 1917–1919. Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1985, S. 106 (Eintrag vom 08.01.1918). 86 Ottokar Czernin an Felix Salten, Brief vom 02.12.1917 (Anm. 82). Hervorhebung im Original.
Sie müssen jetzt schweigen. Sie können ihre wahre Meinung nur äußern, indem sie Goethes Gedichte in deutscher Sprache drucken lassen und auf die letzte Seite schreiben ›from the Weimar-Text‹. Aber auch die Zustimmung, die sie bei ihren Landsleuten finden, kann sich nur darin kundgeben, daß dieser Band Gedichte binnen wenigen Tagen vergriffen ist und daß man jetzt für ein Exemplar den dreißigfachen Preis bietet.«87 Es klingt, als ob Salten selbstkritisch an den 1914
18 Ottokar Graf Czernin, um 1914. Foto: Leo Ernst, Albert Hilscher, Wien. WBR, Dokumentation, TF-001887. 19 Woodrow Wilson verlässt das Schloss von St. Germain während der dortigen Friedensverhandlungen. Foto: Moreau, St. Germain en Laye, 1919. WBR, Dokumentation, TF-011437.
ausgebrochenen »Krieg der Geister« erinnern wollte, zu dessen Protagonisten er einst gezählt hatte: »Wie viele Torheiten hat der kriegsverwirrte Geist begangen, und wie sehr ist er dadurch mitschuldig am Verfall des geistigen Lebens während des Krieges geworden. Was für ein albernes Wüten gegen sich selbst lag nur allein in diesem zur Kriegsmode erwählten Zweifeln an der Kraft des Wortes, dieser feigen Verleugnung des Wortes und seiner sittlichen, seiner seelischen, seiner schöpferischen Gewalt. Wie lächerlich und beschämend waren diese wortreichen Verdammungen des Wortes in einer Zeit, in der nur noch das Schwert spricht und alles darauf ankommt, dem Wort wieder zu trauen und Gehör zu erringen.«88
Nachkrieg Gehör geschenkt hatte Salten – folgt man den täglichen Notizen Schnitzlers – offenbar auch dem US-Präsidenten Woodrow Wilson (1856–1924). Gegenüber dem Maler und Grafiker Ferdinand Schmutzer (1870–1928) soll er jedenfalls eindeutige Sympathien geäußert haben: »Auf dem Heimweg Tram Prof. Schmutzer; er fragt mich: ›Ich kenn mich in dem S. nicht aus ... bald redt er so, bald so … zuerst hat er für K[aiser] K[arl] geschwärmt – jetzt – …; – und den Wilson nennt er einen anständigen Menschen –.«89 Ob das auch für die Zeit nach dem 8. Januar 1918
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87 Felix Salten: Eines Tages … Eine Fastenpredigt zu Ostern. In: Fremden-Blatt, Nr. 86 vom 31.03.1918, S. 1–4, hier S. 2. 88 Ebd., S. 4. Den Band initiiert hatte der Buchkünstler und Verleger Thomas James CobdenSanderson (1840–1922). 89 Arthur Schnitzler, Tagebuch 1917–1919 (Anm. 85), S. 104 (Eintrag vom 01.01.1918).
galt, als Wilson seine 14 Punkte vom Selbstbestimmungsrecht der Völker vorlegte? Die vorbehaltlose Begeisterung dürfte zwar abgeklungen sein, gleichwohl als »Freund« hat Salten den Staatsmann, der 1919 den Friedensnobelpreis erhalten hat, noch immer begriffen. »Von F. S. ein vorzügl. Feuilleton in der N. Fr. Pr.«, heißt es im Diarium von Arthur Schnitzler am 2. Februar 1919, »Brief an einen amerik. Freund; – auch von einer innern Wärme, dabei so gerade und klug, – daß man fast wieder – nach der guten Seite hin irre werden könnte.«90 In einem offenen Brief wandte sich Salten an den US-Präsidenten, um auf die drohenden Konsequenzen eines den Deutschen »übermütig diktierten Gewaltfriedens« hinzuweisen. »Vieles ist dem Sieger erlaubt«, gibt Salten zu Bedenken, »aber er muß sich, wenn er klug ist, davor hüten, für künftige Zeiten Haß gegen sich zu säen. Alles darf er dem Besiegten zufügen, nur nicht solche Dinge, die unverzeihlich und unvergeßlich sind. Daß es verderblich ist, gefährlich und töricht, einem Volk wie dem deutschen, solche Dinge zuzufügen, daß sich in der Geschichte das Blatt oft fürchterlich wendet, ist Binsenwahrheit. Man brauchte dazu nicht einmal die vierzehn Punkte.«91 Wie wenig hilfreich der Versailler Vertrag schließlich war, ist heute ebenso eine Binsenweisheit. Die USA immerhin haben ihn nicht ratifiziert. Bleibt ein Problem, dessen sich Salten im Nachkrieg mit Vehemenz annahm und das auch durch sämtliche Friedensverträge nicht gelöst worden war. Er brachte die Rede auf jene Soldaten, »die der Krieg nach Rußland und nach Sibirien verschleppt hat« und die »immer noch in der Qual der Gefangenschaft« schmachten: »Seit dem Frühherbst siebzehn ist der eigentliche Krieg zwischen uns und Rußland zu Ende, und wenn Brest-Litowsk auch eine jammervolle Tragikomödie gewesen ist, es war doch ein Friede. Seitdem sind bald drei Jahre vergangen. Anderthalb Jahre ist es her, daß der ganze europäische Krieg zusammenbrach und uns unter seinen Trümmern begrub. Mag man Versailles und Saint-Germain auch als klägliche Possenspiele ansehen, sie werden doch Friedensschlüsse genannt. Und so viel neue Zwietracht sie auch stiften, so viel neue Verwirrung sie auch bewirken, sie gelten mindestens so weit für das Doppelsiegel des Friedens, als es seither keine Kriegsgefangenen mehr gibt. Diese Unglücklichen aber sind immer noch in Gefangenschaft. Und das ist ohne Beispiel in der Geschichte der Menschheit.«92 Noch einmal blickte Salten aus diesem Anlass auf das Jahr 1914 zurück. Er konfrontierte sich selbst und seine Leser erneut mit der Vokabel Barbar, doch diesmal wehrt er sich nicht gegen diese Bezeichnung, sondern zählt sich vorbehaltlos dazu: »Daß wir Barbaren gewesen sind, alle zusammen, vom einen Ende der Welt bis zum anderen, haben wir, hoffentlich, eingesehen. Barbarisch war es, neben vielem anderen, daß die Regierungen Krieg geführt und dabei wohl Milliarden ausgegeben haben für Waffen und Werkzeuge, um Menschen zu verwunden, aber daß man die öffentliche Mildtätigkeit aufrufen und absammeln gehen mußte, damit die Verwundeten verbunden und gepflegt werden. Es ist eine Erbschaft jener Barbarei, die für Schrapnells, aber nicht für Betten sorgte, eine Erbschaft jener alten Zeit (die angeblich vorüber sein soll), daß wir heute sammeln müssen, damit die Gefangenen heimgebracht werden.«93
90 Ebd., S. 226 (Eintrag vom 02.02.1919). 91 Felix Salten: Sieger und Besiegte. Brief an einen amerikanischen Freund. In: Neue Freie Presse, Nr. 19555 vom 02.02.1919, S. 1–3, hier S. 3. 92 Felix Salten: Helfet den Kriegsgefangenen. Anläßlich des Sammeltages. In: Neue Freie Presse, Nr. 19985 vom 17.04.1920, S. 1f. 93 Ebd., S. 2.
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