Wien Museum Katalog „Wien von oben. Die Stadt auf einen Blick“

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Wien von oben Die Stadt auf einen Blick

Wien Museum


Wien von oben Die Stadt auf einen Blick


Wien von oben Die Stadt auf einen Blick

Herausgegeben von Sándor Békési, Elke Doppler

Metroverlag

Wien Museum


Vorwort — 6 Matti Bunzl

Wien auf einen Blick? — 8 Oder: Über die (Un)Möglichkeit, eine Stadt darzustellen Sándor Békési, Elke Doppler

1 Vermessen und Darstellen — 14 1.1 Überblicken — 18 1.2 Abgrenzen — 45 1.3 Reduzieren — 53 1.4 Gestalten — 56

2 Repräsentieren und Idealisieren — 70 2.1.1 Symbolisieren — 74 2.1.2 Special: Leopolds- und Kahlenberg — 84 2.2 Vermarkten — 96 2.3 Erinnern — 116


3 Beherrschen und Ordnen — 128 3.1.1 Bekämpfen — 132 3.1.2 Special: Geheim halten — 148 3.2 Verwalten — 154 3.3 Orientieren — 164 3.4 Planen — 172

4 Emanzipieren und Experimentieren — 186 4.1 Individualisieren — 190 4.2 Protestieren — 200 4.3 Erkunden — 208 4.4 Spielen — 214 4.5 Vermitteln — 220

LeihgeberInnen und AutorInnen — 236 Dank — 237 Abbildungsnachweis — 238 Impressum — 240


Vorwort


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Vorwort

Von der Strenge der Wissenschaft … In jenem Reich erlangte die Kunst der Kartographie eine derartige Vollkommenheit, daß die Karte einer einzigen Provinz den Raum einer ganzen Stadt einnahm und die Karte des Reichs den einer Provinz. Mit der Zeit befriedigten diese übermäßig großen Karten nicht länger, und die Kollegs der Kartographen erstellten eine Karte des Reichs, die genau die Größe des Reiches hatte und sich mit ihm in jedem Punkt deckte. Die nachfolgenden Geschlechter, die dem Studium der Kartographie nicht mehr so ergeben waren, waren der Ansicht, daß diese ausgedehnte Karte überflüssig sei und überließen sie, nicht ohne Verstoß gegen die Pietät, den Unbilden der Sonne und der Winter. In den Wüsten des Westens haben sich bis heute zerstückelte Ruinen der Karte erhalten, von Tieren behaust und von Bettlern; im ganzen Land gibt es sonst keinen Überrest der geographischen Lehrwissenschaften. (Suárez Miranda, Viajes de Varones Prudentes, libro cuarto, cap. XIV, Lérida, 1658.) Zit. n.: Jorge Luis Borges: Sämtliche Erzählungen, München 1970, S. 346

Diese wunderbare Geschichte von Jorge Luis Borges ist nur einen Absatz lang und ist doch eine weitreichende Intervention, aus philo­ sophischer wie sozialwissenschaftlicher Perspektive. Wie in so vielen seiner Werke spielt der große Surrealist Borges in dieser aus dem Jahr 1946 stammenden Geschichte mit einem Paradoxon. Zwar haben wir den Wunsch, die Welt so punktgenau wie möglich abzubilden – eine solche Repräsentation wäre aber nur durch eine vollständige Wieder­ gabe der Realität im Maßstab 1:1 möglich. Das ist natürlich nicht ­realisierbar, was wiederum zur Folge hat, dass alle kartografischen, aber auch alle anderen Darstellungen der Stadt zwangsläufig fragmen­ tarisch sind. Genau da setzt unsere Ausstellung Wien von oben. Die Stadt auf einen Blick an. Wie von Borges beschrieben, versuchen auch die Karto­ grafen und Künstler Wiens seit Jahrhunderten, die Stadt als Ganzes abzubilden. Und sind damit zwangsläufig gescheitert. Eine vollkom­ mene Darstellung einer Stadt, jeder Stadt, ist eben unmöglich. Aber gerade dieser Umstand macht die Resultate der verschiedenen Versu­ che so spannend. Denn die immer partiellen Wahrheiten reflektieren Politik, Ideologie, Technologie und Ästhetik ihrer Entstehungszeit. Deren Zusammenspiel geht die Ausstellung in analytischer ­Weise nach. Anhand von rund 150 Beispielen – von Stadtkarten und Panora­ men bis zu Vogelschauen und Modellen – zeigt sie, dass die Darstel­ lungen Wiens nie neutrale, sondern stets selektive oder symbolische Repräsentationen waren. Sie erwuchsen aus Machtstrukturen genau­ so wie aus Widerständigkeiten und eröffnen so den Blick auf eine neue, kritische Geschichte der Stadt. Erstmals stellt eine ­Ausstellung kon­se­quent kartografische wie künstlerische Darstellungen neben­ einander und bezieht auch alltagsnahe Objekte wie Kitsch oder Protest­­karten gleichwertig mit ein. Dadurch entsteht ein Wien-Bild, das es in dieser Vielschichtigkeit und Zusammensetzung wohl kaum für eine andere Stadt gibt. Auch der Katalog basiert auf der Idee, ­neueste wissenschaftliche Ansätze und Forschungsergebnisse mit ansprechender Ästhetik und Bildband-Charakter zu verbinden. Mein großer Dank gilt den KuratorInnen Sándor Békési und Elke Doppler, die die Ausstellung als transdisziplinäres Projekt kon­ zipiert haben. In ihrer Arbeit wurden sie von Isabel Termini (Vermitt­ lung), Elke Wikidal (Assistenz und Objektverwaltung), Bärbl Schrems (Produktion) und Nadine Vorwahlner (Registratur) großartig unter­ stützt. Die Ausstellungsarchitektur stammt von the next ENTERprise Architects, die Ausstellungsgrafik und Kataloggestaltung von Larissa Cerny. Den Gestalterinnen gelang es, ein das Ausstellungs­thema und -konzept klug und konsequent aufgreifendes Raumgefüge zu s­ chaffen. Matti Bunzl


Wien auf einen Blick?


Einleitung

Oder: Über die (Un)Möglichkeit, eine Stadt darzustellen Sándor Békési, Elke Doppler

Scheinbar anachronistisch widmet sich diese Ausstellung historischen Stadtansichten und Plänen – dies in einer Zeit, in der wir gerade das Verdrängen und Verschwinden von papierenen Karten aus unserem Alltag durch Online-Mapping konstatieren. Objekte dieser Art gehören traditionell zu den Highlights von Stadtmuseen und werden gern in Sonderausstellungen zu verschiedenen Themen eingesetzt. Auch finden diese Medien durch das gestiegene Interesse an Urbanistik, Mapping und Kritischer Kartografie sowie generell im Zuge des soge­ nannten spatial turn in den Kulturwissenschaften in den letzten Jahr­ zehnten mehr und mehr Beachtung. Vielleicht erfahren historische Stadtpläne nicht zuletzt gerade deshalb eine Hochkonjunktur – in der Erzählliteratur ebenso wie in den Wissenschaften.1 So waren in den letzten Jahren international mehrere einschlä­ gige Ausstellungen, die sich schwerpunktmäßig mit der Darstellung der Stadt in Ansichten und Plänen beschäftigten, sowohl in Kunstwie auch in Stadtmuseen zu sehen.2 Vergleichsweise selten waren bis jetzt Gesamtdarstellungen der Stadt im Wien Museum selbst (oder in seinem Vorgänger, dem Historischen Museum der Stadt Wien) Gegenstand einer eigenen Ausstellung. Eine groß angelegte Gesamt­­­ schau von kartografischen Wien-Darstellungen (einschließlich ver­ wandter Medien wie Panoramen und Vogelschauen) gab es hier zuletzt im Jahr 1995 in Zusammenarbeit mit dem Wiener Stadt- und Landes­ archiv.3 In dieser wurden die wichtigsten Kategorien und Entwicklungs­ phasen der Wiener Stadtkartografie, auch entlang von stadthistorisch wichtigen Ereignissen, chronologisch vom 15. ­Jahrhundert bis zur Gegenwart behandelt. Im Unterschied dazu versucht die ­aktuelle Schau, kartografische und künstlerische Darstellungen der Stadt gleich­wertig und nach funktionalen Aspekten einzubeziehen und ebenso alltagsnahe Verwendungen vom Kitsch über Werbung bis zur ­Protestkarte zu berücksichtigen. Ein weiteres Ziel der Ausstellung ist es, die Diskus­sion über die Darstellbarkeit der Stadt, über die ­Vielfalt und Geschich­te solcher Versuche anzuregen.

Zwischen Abbild und Sinnbild Wie können wir Wien als Ganzes fassen? Der Versuch, der Stadt visu­ ell beizukommen, fasziniert seit Jahrhunderten. Gesamtansichten sind seit über 500 Jahren ein zentrales visuelles Medium der Stadt und ein wichtiger Teil ihres kulturellen Gedächtnisses. Der Gesamtblick auf die Stadt war jedoch nie einfach herzustellen – entweder wegen fehlender technologischer Möglichkeiten oder auf­ grund des Stadtwachstums. Vor allem ist ihre „Totalität“ auch von der jeweiligen Definition von Stadt und ihren Grenzen abhängig. Daher ist der Anspruch oder das Bestreben, die Stadt im Bild als Ganzes zu fassen, systemimmanent zum Scheitern verurteilt oder nur um den Preis von starker Reduktion, Vereinfachung oder Homogenisierung zu verwirklichen. Gleichzeitig ermöglichen neue Mobilitätsformen (Fliegen, Satellit) und neue Medien (Internet etc.) ein immer inten­ siveres Erfassen und ein Wechseln zwischen Nah- und Fernblick auf die Stadt (Zoomen). Auch nimmt die praktische Verwendung von Stadtplänen und -panoramen im Alltag durch das Internet immer mehr zu. Noch nie war der mediale Blick auf die Stadt so alltäglich

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und allgegenwärtig wie heute. Ist er aber im selben Maße demokra­ tischer geworden? Wer bestimmte einst und wer bestimmt es heute, wie die Stadt als Ganzes abgebildet wird? Die Ausstellung wirft einen neuen Blick auf dieses Genre der Stadt­ darstellung. Es wird nicht bloß als Ergebnis einer linearen Entwick­ lung und Fortschrittsgeschichte hin zu maximaler Genauigkeit und Objektivität angesehen oder als eine kontinuierliche Akkumulation immer „besserer“ Karten, basierend auf immer genaueren geogra­ fischen Daten. Pläne und Panoramen befinden sich stets im Span­ nungsfeld zwischen Vollständigkeitsanspruch und Fragmentierung, zwischen Sichtbarmachung und Verdecken. Sie reproduzieren oder bilden nicht das „reale“ Territorium an sich ab, sondern sind selektiv, interessensgeleitet und Ausdruck seiner Wahrnehmung. Damit sind sie auch als eine Interpretation, ein Bild oder eine Vision der Stadt anzusehen und lediglich in Hinblick darauf, was man mit ihrer Hilfe mitteilen will, „wahr“ oder „falsch“. Gesamtdarstellungen haben aber nicht nur eine repräsentative, sondern auch eine konstituierende Funktion im Hinblick auf die visuelle Aneignung und letztlich auf die praktische „Nutzung“ der Stadt. Salopp formuliert: Wie wir unsere Umwelt wahrnehmen, nicht zuletzt anhand von materiellen oder im­ materiellen Bildern, so gehen wir mit ihr um. Diese erlangen wiede­ r­um vielfach eine normative, prägende Kraft, gleichsam nach dem Motto: Was nicht auf einer Karte ist, existiert nicht. Die Darstellungen dienten und dienen letztlich verschiedenen Zwecken: als Symbol oder Zeichen der „schönen“ oder „wehrhaften“ Stadt, als Dokument der alten oder als Vision einer neuen Stadt, als Orientierungs- und Kontroll­instrument in der größer werdenden oder „chaotisch“ wir­ kenden Stadt. Wir verstehen Kartografie und Stadtdarstellung vor allem als kul­ turelle Praxis, als Produktion von kultureller Bedeutung. Auf diese Weise soll hier nicht nur die Entwicklung der Stadt veranschaulicht, sondern vor allem der Blick auf die Stadt reflektiert und seine Be­ dingtheit durch gesellschaftliche Faktoren „sichtbar“ gemacht wer­ den. Wir fragen danach, welche Totalität, welches Bild der Stadt man mit diesen Medien jeweils einzufangen trachtete, und inwieweit diese Versuche notgedrungen scheitern mussten oder – andersherum, da Bilder ebenfalls eine Macht haben – doch erfolgreich waren, indem sie in gewisser Hinsicht wirksam und handlungsleitend wurden. Der „Blick von oben“ auf das Stadtganze korrelierte lange Zeit mit Machtanspruch und Kontrolle. Er wurde zum Ausdruck von Herr­ schaft und zum Instrument der Obrigkeit ebenso wie der klassischen Planung. Die „Panorama-Stadt“ der Neuzeit fand ihre Ergänzung und Erweiterung in der „Konzept-Stadt“ der Moderne.4 Erst im Lauf der Zeit ermöglichte der „Blick von oben“ mehr und mehr individu­ elle und nonkonforme Aneignungen oder die kollektive beziehungs­ weise populäre Identifikation mit dem dargestellten Stadtbild. Der titelgebenden, scheinbar obrigkeitlichen Perspektive „Wien von oben“ steht in der Ausstellung auch der Versuch gegenüber, „Wien von unten“ im sozialen Sinn zu zeigen. Wir gehen davon aus, dass die „Sehnsucht nach dem Überblick“ keine anthropologische Konstante ist, wie immer wieder behauptet wird.5 Der „Blick von oben“ ­musste – wie jede kulturelle Praxis und als Imagination und Fiktion – erst ­konditioniert und eingeübt werden. Gesamtdarstellungen der Stadt sind, selbst wenn es dabei um all­ gemeine topografische Karten geht, durchwegs symbolische Reprä­ sentationen. Dabei ist „Repräsentieren“ grundsätzlich ein zentraler, vielschichtiger und gleichzeitig auch problematischer Begriff.6 In unserem Fall mag es zwar auch um eine innewohnende Bedeutung des Wieder-Gebens gehen, jedoch nicht im Sinn eines Richtig-oderfalsch-Abgleichs zwischen der physischen Stadtgestalt und einem


Einleitung

diese Stadtgestalt erst „vergegenwärtigenden“ Bild. Für unsere Be­ trachtungen sind (im wissenschaftlich-kartografischen Sinn) „un­ genaue“ Karten und Pläne genauso interessant und wertvoll, wenn sie auf charakteris­tische oder signifikante kulturelle Praktiken oder Wissensformen verweisen. Sie sind stets im Kontext ihrer politischen, ökonomischen und technischen Entstehungsbedingungen sowie der zeitgenössi­schen und nachfolgenden Gebrauchs- und Rezep­tions­ weisen zu analysieren. So gesehen begreifen wir Stadtbilder und Stadtpläne als Repräsentationen einer wie auch immer gearteten ersten und einer dargestellten zweiten Realität. Sie sind, wenn auch in unterschied­lichem Maß, stets eine Mischung aus Abbild und Sinn­ bild und somit soziale und diskursive Konstrukte und nie wertfrei. Gleichzeitig sind sie nicht losgelöst von den physisch-räumlichen Bedingungen ihrer Entstehung zu betrachten. Die traditionell an­ genommene „direkte“ Verbindung zwischen externer Realität und Repräsentation und die scheinbar neutrale Oberfläche von Karten ­werden insgesamt relativiert. Ebenso die traditionelle binäre Oppo­ sition zwischen Karten, die entweder genau oder ungenau, objektiv oder subjektiv, sachlich oder symbolisch sind.7 Insofern dekonstruieren wir Bilder und Pläne der Stadt, indem wir manche gängige Narrative und Mythen hinterfragen, alternative Be­ deutungsebenen der Stadtrepräsentationen erschließen sowie ihre gesellschaftliche Dimension und Bedingtheit beachten.8 So haben wir versucht, weder in die positivistische noch in eine kulturalistische ­

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ist dabei der Hinweis auf den Traum totaler Beherrschbarkeit und Genauigkeit, der generell für viele wissenschaftliche Disziplinen im­ mer noch gelten mag. Jedenfalls würde eine solch überdimensionale und „alles“ abbildende Karte gerade kartografisch ein Paradoxon darstellen: Denn eine Karte im Maßstab 1:1 wäre eigentlich keine Karte mehr. Die elementaren Schritte in der Entstehung von Karten sind ja Selektion, Vereinfachung und Symbolisierung. Ohne einen solchen Prozess der Generalisierung würde beispielsweise keine Straßenkarte funktionieren. Eine solche muss ja den Häuserbestand ignorieren und zurückstellen, um die Straßen, um die es vor allem geht, überbreit und deutlich darstellen zu können. Das Gleiche gilt für den modernen U-Bahn-Netzplan, welcher zugunsten der Orien­ tierung weitgehend auf topografische Exaktheit verzichtet (vgl. Kat. Nr. 2.2.19 und 4.4.4). Dennoch faszinieren sowohl der große Maßstab als auch übergroße Pläne. In der Ausstellung zeigen wir etwa die ­Plandarstellung der fiktiven Proteststadt Hypotopia auf dem Karls­ platz aus dem Jahr 2014. Diese dem Modell zugrundeliegende Karte dürfte der g ­ rößte begehbare Stadtplan gewesen sein, der in Wien je entstanden ist (vgl. Kat.Nr. 4.2.1).11 Die gesellschaftspolitische Ambivalenz von Stadtdarstellungen (vor allem Stadtplänen), zugleich ein Mittel der Orientierung sowie ein Kontrollinstrument zu sein, hat sich zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich gezeigt. Dieser Aspekt eines gleichzeitigen Freiheitsund Kontrollzuwachses trat im Lauf der Moderne immer stärker hervor und ist heute in einer Zeit massiv zunehmender medialer ­Verfügbarkeit von Stadt besonders virulent: Durch GPS und Smart­ phone können wir uns immer schneller und besser in der Welt veror­ ten, werden dabei aber auch selbst für andere lokalisierbar und somit ein potenzielles Objekt von Datenerfassung und Überwachung.12

Kartografie und Kunst verbinden

Axonometrie der Ausstellungsräume Falle zu tappen. Wir öffnen den Kartenbegriff vom Objekt an sich hin zu der historischen und kulturellen Praxis dahinter. Jedoch tritt da­ durch ihre Gegenständlichkeit gegenüber Aspekten der Herstellung und des Gebrauchs nicht zurück.9 Im Gegenteil: Als Museum sind uns ja gerade die Materialität von Objekten und ihre Historisierung von zentraler Bedeutung. Im Zuge der Ausstellungsvorbereitung und der zahlreichen Ge­ spräche mit Vertreterinnen und Vertretern unterschiedlichster Dis­ ziplinen tauchte immer wieder der Hinweis auf die imaginäre Karte im Maßstab 1:1 aus der Erzählung Von der Strenge der Wissenschaft des Schriftstellers Jorge Luis Borges auf.10 In seiner Parabel verkehrt Borges die Erkenntnis „The map is not the territory“ gleichsam in ihr Gegenteil, indem er von einer Karte erzählt, welche genau die Größe jenes Landes hat, das sie abbilden will, und dadurch letztlich an ihrer Unhandlichkeit scheitert. Bei Borges’ Landkarte dürfte es sich wohl um den derzeit meistzitierten Plan handeln, den es nie gab. Zentral

Stadtbilder oder Veduten waren nie eine „realitätsgetreue“ Wieder­ gabe der topografischen Umgebung – jedoch waren sie auch nur selten rein symbolische Darstellungen. Ein wichtiges Thema der Ausstellung ist der Beitrag künstlerischer Arbeiten zur ­Konstruktion und Festschreibung bestimmter ikonischer „Wien-Bilder“, e­ benso die zentrale, identitätsstiftende Rolle von Landschaftsmalerei.13 ­Bernardo Bellottos Gemälde Wien, vom Belvedere aus gesehen (1758/61, KHM), das Lutz Musner aufgrund seiner Wirkmächtigkeit als „­visuelle Sig­­natur der Stadt“14 bezeichnet hat und das aktuell ­sowohl als stadt­ dokumentarischer Beleg für die Tourismusindustrie als auch in hitzi­ gen Stadtbildschutzdebatten Verwendung findet, kann aus konserva­ torischen Gründen leider nicht ausgestellt werden. Wir zeigen jedoch das Fortschreiben und Weiterleben dieses Motivs in unterschiedlichen Medien wie dem (Werbe-)Plakat oder dem Kunstgewerbe. Einen ­weiteren Schwerpunkt bildet die kritische Infragestellung des Objek­ tivitäts- und Autoritätsanspruchs wissenschaftlicher und administra­ tiver Karto­grafie durch die zeitgenössische Kunst, in der derzeit reges Interesse an Karten und kartografischen Verfahren herrscht. Trotz ­einer integrativen Präsentation ergeben sich somit – medial oder auch thematisch bedingt – Momente der Verdichtung von künstlerischen Arbeiten. Dies ist vor allem in jenen Kapiteln der Fall, die sich mit repräsentativen und symbolischen Funktionen von Wien-­Ansichten auseinander­setzen, und dort, wo es um aktuelle eman­zipatorische ­Bewegungen sowie individuelle Aneignungen und Anwendungen karto­grafischer und sonstiger stadtbildnerischer ­Strategien geht. Zurzeit werden viele Aspekte der Kartografie, die sie in die Nähe von Kunst rücken, hervorgehoben. Kartografie sei als „ältester Zweig


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Der Raster als Gestaltungselement der Bildwissenschaft“15 immer schon eine „Wissenschaft des Auges, des Beobachtens, Festhaltens, Sondierens und Aufzeichnens“16 ­ge­­wesen. Karten hätten eine Schönheit, die ästhetisch an viele Kunst­ werke heranreichen würde.17 Karten seien eine „kreative Interpreta­ tion“18 des Raums, den sie wiederzugeben behaupten. Unzweifelhaft bestehen jedoch gattungsgemäße Unterschiede zwischen klassischer (künstlerischer) Landschaftsdarstellung und Kartografie: Land­ schaftsbilder bedienen sich der Zentralperspektive, die Kartografie der orthografischen Projektion. Während der Maler versucht, die Welt möglichst so wiederzugeben, wie sie das Auge sieht, bemüht sich der Kartograf, die Welt so zu zeigen, wie sie von keinem Auge jemals ge­ sehen werden kann.19 Karten verwendeten zwar ikonische Zeichen, ihre dominierende Funktion ist jedoch indexikalisch: Eine ­Karte, in der eine neu entdeckte Insel verzeichnet ist, will nicht in erster Linie über deren Aussehen, sondern über deren Lage informieren.20 Wenn­ gleich sowohl die Kartografie als auch die Malerei der Durchsetzung territorialer Ansprüche und der Erinnerung historischer Ereignisse gedient haben, habe sich dennoch die Malerei als emotionale Reprä­ sentation von Landschaft zunehmend von der Kartografie als wissen­ schaftlicher Repräsentation von Landschaft differenziert.21 In der Praxis haben sich Kunst und Kartografie jedoch oft inten­ siver berührt, als uns heute wohl bewusst ist. Momente des intensiven Austauschs gab es etwa bei frühneuzeitlichen Vogelschaubildern von Städten. Das erste und berühmteste Beispiel stellt Jacopo de’ Barbaris Darstellung Venedigs aus dem Jahr 1500 dar, in Wien entstand die früheste Vogelschau von Jacob Hoefnagel – international gesehen vergleichsweise spät – im Jahr 1609. Parallel zu diesen ersten Stadt­ bildern etablierte sich im 16. Jahrhundert die Erstellung von Karten auf der Basis geometrischer Landvermessung. Paradoxer­weise gab es also einerseits eine Differenzierung, andererseits aber auch eine Annäherung der Disziplinen, wurden doch beide als unterschiedliche Ausprägungen ein und desselben Fachs, der Geografie oder Erdbe­ schreibung, angesehen.22 Während die Geografie die Erde in ihrer Gesamtheit auf mathematischen Methoden basierend und zeichen­ haft-symbolisch darstellte, zeigte die Chorografie einzelne, regionale Gegenden in piktoral-bildhafter Darstellung als Landschaftsporträts. Geografen mussten so gesehen vor allem rechnen, Chorografen vor allem malen können.23 Die frühneuzeitlichen Vogelschauen von Städten entsprechen als beschreibende Regionalkartenbilder den Kriterien der Chorografie. Von einem fiktiven erhöhten Standpunkt

aus konstruiert, aber auf kartografischen Daten basierend können sie als Annäherung eines Kartenbildes an ein Landschaftsbild, als syste­ matische Überformung der kartografischen Projektion durch einen imaginären Blick gelesen werden.24 Auch der französische S ­ oziologe und Philosoph Henri Lefebvre äußerte sich zum Zwitter­wesen dieser Darstellungen: „Noch sind sie nicht abstrakte Pläne, nicht Projek­ tionen des Stadtraumes in ein geometrisches Koordinatensystem. Vielmehr sind sie eine Mischung aus Vorstellung und Wahrnehmung, aus Kunst und Wissenschaft, zeigen die Stadt von oben und aus der Ferne gesehen, perspektivisch, als Gemälde und gleichzeitig als geo­ metrische Darstellung. Der idealistische und zugleich realistische Blick […] schafft so ein Ganzes: die Stadt.“25 Kartografische Aktivitäten galten in der Frühen Neuzeit als ausge­ sprochen ehrenwerte und auch künstlerische Tätigkeit. Häufig waren Künstler gleichzeitig Kartografen und umgekehrt Kartografen auch Künstler, sprich Zeichner von Landschafts- und Stadtansichten. Daniel Suttinger (1640 – um 1690) etwa betätigte sich in Wien nicht nur als ­Ingenieur und Festungstechniker, sondern auch als Topograf und Zeichner und fertigte zum einen auf Vermessung beruhende S ­ tadt­pläne und zum anderen künstlerisch hochwertige Ansichten der Stadt an.26 Da die Stadtbilder der Huldigung und feierlichen Repräsentation von Städten dienten, wurden sie auch zum Zweck der ­druckgrafischen Verbreitung hergestellt. Das dominante Medium war daher der Kupfer­­ stich, der in Linien und nicht in Farben „dachte“ und insofern zu­ mindest eine optische Nähe zur Kartografie aufwies. Es gibt auch Fälle medialer „Grenzüberschreitungen“ durch die Zweit- oder Dritt­ nutzung eines Motivs: Der Schöpfer der bedeutendsten frühbarocken Vogelschauansicht Wiens, Folbert van Ouden-Allen (Alten-Allen), nahm dafür eigenhändig die Umzeichnung eines von ihm selbst an­ gefertigten, heute verschollenen Wien-Gemäldes in eine Kupferstich­ vorlage vor. Dadurch sei „der die Natur nachaffende Mahl-Pensel mit ­Sinreicher vermischung der Meß-Kunst“ versehen worden.27 Auf der Grundlage dieser Ansicht wiederum fertigte der Maler Domenico Cetto ein repräsentatives G ­ emälde für das Wiener Rathaus an – aller­ dings bezeichnender­weise unter Ausblendung des Vorstadtrings.28 Der dekorative, zelebrierende Stadtdarstellungsstil war in der europä­ ischen Kartografie bis ins 18. Jahrhundert vorherrschend und erlebte in Wien mit der großen szenografischen Vogelschau Joseph Daniel von Hubers (vgl. Kat.Nr. 1.1.6) seinen Höhepunkt.29 Der feier­liche Aspekt dieser ­Bilder ging allerdings nie ganz verloren und erhielt ab Mitte des 19. Jahrhunderts neuen Auftrieb durch Vogelschauen, die die Eleganz und Prosperität der expandierenden Metropolen demonstrierten.30

Auswählen und Anordnen Die Ausstellung zeigt Gesamtdarstellungen der Stadt Wien von den ersten Zeugnissen dieser Art im 15. Jahrhundert bis heute. Im We­ sentlichen geht es um drei klassische Objekttypen beziehungsweise Abbildungsmodi: Vogelschau, „Panorama“ (Rundblick oder Profil­ ansicht)31 und Grundrissplan, zwischen denen es zahlreiche Über­ schneidungen gibt. Doch die Möglichkeiten und Praktiken, die wie auch immer geartete Gesamtheit einer Stadt visuell zu erfassen und zu vermitteln, haben sich verändert, und sie erweitern sich ständig. Daher zeigen wir auch Wolkenpläne (Tag-Clouds), diagrammatische und anamorphe Pläne, aus Icons und Piktogrammen zusammenge­ setzte „Bilder“ und eine 3D-Flug-Animation. Gesamtdarstellungen der Stadt begegnen in der Ausstellung in den unterschiedlichsten Medien und auf diversen Trägern: als Grafik, Foto oder Gemälde, aber auch als dreidimensionales Modell, auf Plakaten, Briefmarken und


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in Ansichtskartenalben, auf Buchumschlägen, kunstgewerblichen Gegenständen, Brettspielen, T-Shirts, in Filmen und nicht zuletzt in unterschiedlichsten Internet-Anwendungen. Wenngleich der Schwerpunkt auf Gesamtdarstellungen liegt, ­stehen in gewissen Fällen auch Teilpanoramen (zumal künstlerischer Art) für das Ganze. Gleiches gilt für Umgebungsansichten und -pläne, in denen Wien nur Teil der Landschaft ist, aber im Zentrum der Dar­ stellung steht. Punktuell und als Kontrast sind auch Nahaufnahmen oder Detailansichten der Stadt in der Ausstellung präsent, nicht zu­ letzt, um Makro- und Mikroperspektive miteinander zu verknüpfen. Der im Vordergrund stehende „Blick von oben“ wird somit punktuell und im räumlichen Sinn um den „Blick von unten“ ergänzt. Das ist einmal bei gewissen audiovisuellen Anwendungen mit Zoom-Mög­ lichkeit quasi automatisch der Fall. Andererseits ergibt sich ein Ge­ samtbild der Stadt als Collage, wenn etwa bei einem Mapping-Projekt mit Studierenden der Akademie der bildenden Künste unterschied­ liche Perspektiven in der Verbindung des Zentrums mit Stadtrandund Grätzeldarstellungen hergestellt werden. Die Entstehungsbedingungen, die Entwicklung und Mannigfaltig­ keit der Gesamtdarstellungen Wiens werden an exemplarisch ausge­ wählten, signifikanten Stadtansichten und Stadtplänen aufgezeigt und reflektiert. Eine umfassende und klassifikatorische Gesamtgeschichte der Wiener Stadtdarstellung mit allen wichtigen Gattungen, Stationen, Protagonisten und Werken war nicht unser Ziel. ­Besonders wichtig war uns ein konsequenter transdisziplinärer Zugang zum Thema, der sich durch die kuratorische Zusammenarbeit eines Stadt- und Um­ welthistorikers und einer Kunsthistorikerin ergeben hat. Die Grenzen zwischen topografischen und künstlerischen Darstellungen waren daher für uns offen. Erstere wurden unter anderem auf ihre ästheti­ schen Qualitäten hin betrachtet, Letztere ebenso entstehungs- und funktionskonstitutiv befragt. Das Überschreiten von Disziplingrenzen entspricht letztlich auch einem zeitgemäßen Kartografiebegriff. Auf der Basis dieses interdisziplinären Zugangs und aktueller Kontexte wollen wir ungewöhnliche und überraschende Nachbarschaften von Objekten herstellen: Neu neben Alt, Kunst und Unikat neben Massen­ ware und Alltagszeugnis. Wohlbekannte Klassi­ker werden mit neues­ ten Trends verknüpft: So werden nicht nur ­einige der ältesten, größten oder berühmtesten Pläne oder P ­ anoramen Wiens gezeigt, sondern ebenso seltene thematische Karten oder künstlerische Zugänge und Designprodukte bis hin zu gegen­wärtigen partizipativen Bestrebun­ gen, welche versuchen, den Ansatz von „Mapping the City“ auf die Be­ dürfnisse minderprivile­gierter Gruppen anzuwenden. Die Ausstellung versteht sich in diesem Sinn auch als kreativ-experimenteller Beitrag zur Geschichte der ­Visualisierung und Erfahrung der Großstadt am Beispiel Wiens. Internationale Vergleiche und Bezüge wurden punk­ tuell auf der Textebene vorgenommen.

Gliedern und Gestalten Die Ausstellung ist nach thematischen Begriffen gegliedert, ­welche konstitutiv für die Entstehung oder Nutzung von Gesamtdarstellun­ gen der Stadt sind: darunter „Überblicken“, „Repräsentieren“, „Ver­ wal­ten“, „Bekämpfen“ etc. Die Verbform soll vermitteln, dass es sich dabei jeweils um menschliche (individuelle oder kollektive) Aktivi­ täten und nicht nur um abstrakte Vorgänge handelt. Die Begriffe sollen nicht zuletzt neugierig machen und zum Nachdenken anregen. Eine solche Gliederung nach dem Schlagwortprinzip erlaubt zudem unterschiedliche Lesarten (etwa im Rahmen von Führungen) und eine wenig vordefinierte Begehbarkeit der Ausstellung.

Mit diesem eher theoretischen und experimentellen Zugang geht die Ausstellung wohlgemerkt ein gewisses Risiko ein, da sie einer­ seits das Thema für verschiedene Aspekte öffnet, gleichzeitig aber durch die Zuordnung von Objekten diese scheinbar auf lediglich einen Bereich reduziert. Außerdem kann diese Art der Gliederung, in der Chronologie nur in Teilbereichen eine Rolle spielt, auf manche Besucherinnen und Besucher gewöhnungsbedürftig oder willkürlich wirken. In den Kapiteltexten finden sich daher jeweils Querverweise auf Objekte, die inhaltlich ebenfalls zum behandelten Thema passen, sich aber in anderen Bereichen der Ausstellung befinden.

Alternative Lesart der Ausstellung Kapitel 1 „Vermessen & Darstellen“ befasst sich mit grundlegenden Darstellungsmodi und Darstellungsstrategien von Stadtansichten und -plänen und ist in die Subkapitel „Überblicken“, „Abgrenzen“, „Reduzieren“ und „Gestalten“ gegliedert. In den nachfolgenden ­Bereichen der Ausstellung werden funktionale und thematische ­Aspekte behandelt. Kapitel 2 „Repräsentieren & Idealisieren“ befragt Gesamtansichten hinsichtlich ihrer symbolischen, identitätsstiften­ den und gedächtnispolitischen Funktionen und thematisiert ihre Rolle in der Vermarktung und Bewerbung von Städten. Kapitel 3 „­Beherrschen & Ordnen“ behandelt Darstellungen, die mit Macht und Herrschaft unter anderem in militärischen Kontexten verbun­ den sind, und zeigt, wie in der modernen Gesellschaft der größer werdenden Stadt Pläne nicht nur der Orientierung oder Bewegung der ­Bewohnerinnen und Bewohner, sondern auch der obrigkeit­ lichen Verwaltung und Planung, Regulierung und Kontrolle dienten. Kapitel  4 „Emanzipieren & Experimentieren“ schließlich beschäftigt sich damit, wie sich die Darstellung der Stadt durch die Kritische ­Kartographie, durch künstlerisch-kreative Zugänge oder zunehmen­de Internet-­Angebote verändert. In Entsprechung dazu, dass die Anordnung der Objekte insge­ samt einem konzeptuellen Raster folgt, greift auch die Gestaltung der Ausstellung die Form eines regelmäßigen Rasters auf. Dieser zieht sich als zwei- und dreidimensionales Ordnungssystem durch den Raum beziehungsweise durch die von the next ENTERprise Architects und ­Larissa Cerny gestaltete Ausstellungsarchitektur und -grafik. Der Raster zitiert die in Plänen verwendeten Suchgitter und Planquadrate als wesentliche kartografische Instrumente, die einerseits der Orientierung dienen und andererseits unseren Blick


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auf die Stadt wesentlich prägten und auch heute noch prägen. Der Raster unterstützt aber auch die Ausstellungsidee, sowohl Pläne als auch (künstlerische) Stadtansichten gemeinsam und ästhetisch gleichwertig auf einem dergestalt normierten und damit „neutrali­ sierten“ Untergrund zu präsentieren. Gleichsam in Umkehrung des Prinzips, dass Pläne und Ansichten den dreidimensionalen Raum auf eine zweidimensionale Fläche übertragen, wächst in der Ausstel­ lung der durch Kartonplatten gebildete Wandraster in den Raum und bildet dort, fallweise zu „Inseln“ verdichtet, Rasterwürfel und Raster­ körper aus, die als Vitrinen für dreidimensionale Objekte dienen. Der dunkle Boden schließlich wird, ebenfalls ein zentrales Element kartografischer und künstlerischer Gestaltung zitierend, von Linien durchzogen, die die ­kapitelübergreifende inhaltliche Verknüpfung einzelner Ausstellungs­objekte andeuten. Sie könnten auch generell als Metapher für die in aktuellen Theoriemodellen vorgeschlagene umfassende, themen- und disziplinenübergreifende Vernetzung im kartografischen Denken gelesen werden.

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Eine besondere Rolle in der Ausstellung nimmt die Vermittlung ein. Von Anfang an war daher die Vermittlerin Isabel Termini Teil des Teams. Dadurch sollten pragmatische Parameter der BesucherInnen­

freundlichkeit gewährleistet sein, etwa schlicht und einfach, dass es ausreichend Sitzmöglichkeiten und genügend Platz für Gruppen und Führungen gibt. Andererseits wurde das kuratorische Konzept noch genauer dahingehend betrachtet, inwieweit es sich für ein möglichst breites Publikum (Einheimische und TouristInnen, ExpertInnen und Laien) erschließt oder auch inwieweit es Spielraum für die Entwick­ lung unterschiedlicher Vermittlungsprogramme bietet. Ein Ziel der Schau ist es, den Besucherinnen und Besuchern die vermeintlich „trockene“ und „sperrige“ Materie der Kartografie und der Stadtpläne näherzubringen. Sie sollen zu einem kritischen Umgang mit diesen Medien angeregt und zum Selbermachen animiert werden. Deshalb wird es in der Ausstellung und in deren Vermittlungs- und Rahmen­ programm die Möglichkeiten zu interaktiven und partizipatorischen Aktivitäten geben, sowohl in analoger als auch in digitaler Form. Die Ausstellung und der Ausstellungsraum können und sollen zum Objekt der Betrachtung und Kartierung und damit selbst zur „­Karte“ werden. Anlässlich der Ausstellung wurden außerdem Formate experimen­teller Vermittlung als Kooperationsprojekte mit einer Uni­ versität und einer Schule entwickelt. „Vermitteln“ heißt in unserem Fall auch, eine Ausstellung aktiv für die wissenschaftliche Öffentlich­ keit und deren Kommentare zu öffnen, weshalb unsererseits das ­Angebot und Ersuchen an zahlreiche einschlägige Institutionen erging, sich mit eigenen Beiträgen und in Kooperation mit uns an dem Projekt zu beteiligen.

1 Vgl. Robert Stockhammer: Bilder im Atlas. Zum Verhältnis von piktorialer und karto­ graphischer Darstellung, in: Sabine Flach (Hg.): Der Bilderatlas im Wechsel der Künste und Medien, München 2005, S. 341f. 2 Siehe u. a. Nina Möntmann, Yilmaz Dziewior (Hg.): Mapping the City – Hamburg­ kartierung (Ausstellungskatalog Kunstverein Hamburg), Ostfildern 2003; Peter W ­ hitfield: London: A Life in Maps (Ausstellungskatalog British Library), London 2006; Ulrich ­Maximilian Schumann (Hg.): Die Stadt: ihre Erfindung in Büchern und Graphiken (Aus­ stellungskatalog ETH Zürich), Zürich 2009; Christian Reder (Hg.): Kartographisches Denken (Universität für angewandte Kunst und Zentrum für Kunst- und Wissenstransfer), Wien/New York 2012; Angela Lampe (Hg.): Vues d’en haut (Ausstellungskatalog Centre Pompidou-Metz), Metz 2013; Yasmin Doosry (Hg.): Von oben gesehen. Die Vogelper­ spektive (Ausstellungskatalog Germanisches Nationalmuseum Nürnberg), Nürnberg 2014. 3 Vgl. Karl Fischer (Red.): „Das ist die Stat Wienn“: Wanderung durch ein halbes Jahrtausend Wiener Stadtkartographie vom Albertinischen Plan bis zur Computerstadtkarte (Ausstellungskatalog Historisches Museum der Stadt Wien und Wiener Stadt- und Landes­archiv), Wien 1995. 4 Vgl. Michel de Certeau: Kunst des Handelns, Berlin 1988 (1980), S. 183–187; ­Christoph Asendorf: Bewegliche Fluchtpunkte – Der Blick von oben und die moderne Raumanschauung, in: Christa Maar, Hubert Burda (Hg.): Iconic Worlds. Neue Bilder­ welten und Wissensräume, Köln 2006, S. 19–49, hier S. 45. 5 Siehe als Beispiel Ursula Zeller: Vorwort, in: dies., Frank-Thorsten Moll (Hg.): Die Welt von oben. Die Vogelperspektive in der Kunst (Ausstellungskatalog Zeppelin Museum Friedrichshafen), Friedrichshafen 2013, S. 9. 6 Vgl. Antje Schlottmann, Judith Miggelbrink (Hg.): Visuelle Geographien. Zur Pro­duk­ tion, Aneignung und Vermittlung von RaumBildern, Bielefeld 2015, S. 15; Gernot Gruber, Monika Mokre, Schlussfolgerungen und Ausblick, in: dies. (Hg.): Re­präsentation(en). Interdisziplinäre Annäherungen an einen ­umstrittenen Begriff, Wien 2016, S. 167–169. 7 Vgl. John Brian Harley: Maps, knowledge, and power, in: Denis Cosgrove, S ­ tephen Daniels (Hg.): The Iconography of Landscape, Cambridge 1988, S. 277–312 , hier S. 278. 8 Vgl. ders.: Deconstructing the Map, in: Trevor J. Barnes, James S. Duncan (Hg.): Writing Worlds: Discourse, Text and Metaphor in the Representation of Landscape, ­London u. a. 1992, S. 231–247, hier S. 238. 9 Vgl. Marion Picker: Einleitung, in: dies. (Hg.): Zukunft der Kartographie. Neue und nicht so neue epistemologische Krisen, Bielefeld 2013, S. 12–15; Jörg Dünne: ­Unheimlichkeit des Mapping, in: ebd., S. 221–240, hier S. 223. 10 Jorge Luis Borges: Sämtliche Erzählungen, München 1970, S. 346. 11 Ein Jahr später präsentierte die Mobilitätsagentur unter dem Titel Urban Village einen etwas kleineren, begehbaren Grundrissplan auf dem Rathausplatz, der tatsächlich Wien zeigte und rund 900 Quadratmeter umfasste. 12 Vgl. Patrick Joyce: The Rule of Freedom. Liberalism and the modern City, London/ New York 2003, S. 2–6, S. 258–261; Robert Stockhammer: Kartierung der Erde. Macht und Lust in Karten und Literatur, München 2007, S. 36. 13 Vgl. Werner Telesko: Kulturraum Österreich. Die Identität der Regionen in der ­bildenden Kunst des 19. Jahrhunderts, Wien/Köln/Weimar 2008.

14 Lutz Musner: Der Geschmack von Wien. Kultur und Habitus einer Stadt, ­Frankfurt a. M. 2009, S. 65. 15 Paolo Bianchi: Das (Ent)falten der Karte, in: ders., Sabine Folie (Hg.): Atlas ­Mapping. Künstler als Kartographen – Kartographie als Kunst (Ausstellungskatalog ­Offenes ­Kulturhaus Linz und Kunsthaus Bregenz), Wien 1997, S. 14–19, hier S. 15. 16 Sabine Folie: Konjekturen über Kartenobsessionen, in: Bianchi, dies., Atlas ­Mapping, S. 9–13, hier S. 9. 17 Vgl. Lucy R. Lippard: Alles auf einen Blick, in: Möntmann, Dziewior, Mapping the City, S. 84–95, hier S. 90. 18 Jerry Brotton: Die Geschichte der Welt in zwölf Karten, München 2014, S. 28. 19 Vgl. Stockhammer, Kartierung der Erde, S. 29. 20 Vgl. ebd., S. 50. 21 Vgl. Richard Hoppe-Sailer: Auf der Suche nach dem rechten Weg. Kartographie und die Wahrnehmung der Welt, in: Bianchi, Folie, Atlas Mapping, S. 207–220, hier S. 216f. 22 Der griechische Mathematiker, Geograf und Philosoph Claudius Ptolemäus traf in seiner im 15. und 16. Jahrhundert vielfach rezipierten Schrift Geographia (um 150 n. Chr.) die Unterscheidung zwischen Geografie und Chorografie. 23 Vgl. Stockhammer, Kartierung der Erde, S. 16ff. Robert Stockhammer zeigt zwei ­emblematische Darstellungen der Renaissance, in denen ein Maler durch das g ­ erasterte Fenster ins Freie hinausblickt, während ein Kartograf, mit dem Rücken zum Fenster ­sitzend, ein Abbild der Erde auf seinem Papier konstruiert. 24 Vgl. Moritz Reiffers: Das Ganze im Blick. Eine Kulturgeschichte des Überblicks vom Mittelalter bis zur Moderne, Bielefeld 2013, S. 168. 25 Henri Lefebvre: Die Revolution der Städte, München 1972, S. 18f. 26 Vgl. Karl Fischer: Der Kartograph Daniel Suttinger. Sein Leben und sein Werk im Rahmen der frühen Wiener Stadtkartographie, in: Jahrbuch des Vereins für Geschichte der Stadt Wien 47/48 (1991/92), S. 51–91. 27 Wien Geschichte Wiki: https://www.wien.gv.at/wiki/index.php/Ansicht_von_Wien,_ Folbert_van_Alten-Allen_(1683) (3.2.2017). 28 Wien Museum, Inv.Nr. 31.806. 29 Vgl. Denis Cosgrove: Karto-City. Kartografie und Stadtraum, in: Möntmann, ­Dziewior, Mapping the City, S. 32–47, hier S. 38. 30 Vgl. Lutz Philipp Günther: Die bildhafte Repräsentation deutscher Städte: von den Chroniken der Frühen Neuzeit zu den Websites der Gegenwart, Wien/Köln/Weimar 2009, S. 145. 31 „Panorama“ ist ein übergreifender, auch im alltäglichen Gebrauch für verschiedene Formen der Stadtdarstellung verwendeter Begriff: Er kann die Profil- oder Seitenansichten einer Stadt ebenso bezeichnen wie perspektivische Veduten von einem erhöhten, aber physisch existierenden Aussichtspunkt aus, oder eben Vogelschauen von einem imaginärem Standort. Siehe zu den klassischen Kategorien von Stadtdarstellungen u. a. Cesare de Seta: Eine deutsche Städteikonographie in europäischer Perspektive, in: Wolfgang Behringer, Bernd Roeck (Hg.): Das Bild der Stadt in der Neuzeit 1400–1800, München 1999, S. 11f.

Vermitteln



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vermessen und darstellen


Gesamtdarstellungen Wiens sind seit dem 15. Jahr­hundert überliefert. Sie zeigen die Stadt in unterschiedlicher Form: als klassisches Panorama, als Vogelschau oder als Stadtplan – mit zahlreichen Zwischenformen. Was all diese Darstellungsmodi bis heute eint, ist ihr Bestreben, die Stadt als ­Ganzes zu fassen. Doch was die Stadt ausmacht und wo ihre Grenzen liegen, war zu verschiedenen Zeiten und je nach Interessenslage oder Blickwinkel unterschiedlich definiert. Ebenso v­ erschieden und zeitgebunden waren die technischen und künstlerischen Möglichkeiten der Umsetzung. In diesem Kapitel befassen wir uns mit grund­legenden Darstellungs­ strategien von Stadtansichten und Stadtplänen, im Gegensatz zu den mehr funktionalen und thematischen Aspekten in den nachfolgenden Bereichen der Ausstellung. Stadtansichten und Pläne befinden sich para­doxer­weise stets im ­Spannungsfeld zwischen Vollständigkeitsanspruch und F ­ ragmentierung, zwischen Wirklichkeitstreue und Ideal. Sie sind, wenn auch in unter­schied­­­­ lichem Maß, eine Mischung aus Abbild und Sinnbild und somit stets Kon­ strukte. So erfolgte selbst bei detailgetreu wirkenden Vogel­schauen notge­ drungen eine kunstvolle Reduzierung einer komplexen Realität, die oft mit einer Idealisierung und Harmonisierung einherging. Auch die genauesten modernen Stadtpläne bilden nie das „reale“ Territorium ab, ­sondern sind interessensgeleitet und selektiv. Karten können und sollen daher nicht ­allein als das Ergebnis einer linearen Fortschrittsgeschichte hin zu maxi­ maler Genauigkeit und Objektivität betrachtet werden. Da sich die Stadt nicht zur Gänze abbilden lässt, müssen ihre Dar­ stellungen notgedrungen an diesem Anspruch „scheitern“ und b ­ ieten somit nur die Illusion einer Totalität. Indem diese aber wirksam, ­popu­lär oder handlungsleitend sein können, sind und waren sie immer schon ­erfolgreich. In diesem Prozess der „Versinnbildlichung“ der Stadt kommt auch der künstlerisch-grafischen Gestaltung von Stadtansichten und ­Plänen eine zentrale Funktion zu. Grafische E ­ lemente, narrative Figuren und normative Symbolik sind Träger und Teil der „­ Botschaft“ zugleich.


1.1 überblicken Zahlreich sind die Versuche, eine Stadt in ihrer Totalität visuell zu erfassen. Zu den klas­ sischen Formen der Gesamtdarstellung zählen die Vogelschau, das Panorama (Rund­ blick oder Profilansicht) und der Grundrissplan. Aber auch dreidimensionale Modelle oder  – als Gegenwartsmedium – das Satel­litenbild streben eine überblickshafte Dar­ stellung an. Genauso gibt es Ansätze, das Gesamtbild einer Stadt seriell oder ­kumulativ zu erfassen, etwa indem man diese aus unterschiedlichen ­Himmelsrichtungen betrach­ tet, sie aus ihren (Teil-)Ansichten und Grundrissen zu einem Tableau zusammenfügt oder sie in Ansichtskartenalben versammelt. Dementsprechend groß ist die Vielfalt der hier gezeigten Objekte. Gesamtdarstellungen sind seit über 500 Jahren ein zentrales visuelles Medium der Stadt. Für Wien existiert mit dem sogenannten Albertinischen Plan von 1421 (?) einer der ältesten erhaltenen Stadtpläne in Europa. International gesehen vergleichsweise spät etablierte sich hier Anfang des 17. Jahrhunderts die Vogelschau als selbstständige und bis nach 1900 bedeutende Form der Stadtdarstellung. Das 19. Jahrhundert wiederum war die Hochzeit des Rundpanoramas. Basierten die Vogelschauen meist auf einer fiktiven, kon­struierten Überschau, wurden die Panoramen häufig tatsächlich von erhöhten Aus­ sichtspunkten oder Türmen erstellt. Gänzlich neue Perspektiven ergaben sich schließ­ lich durch das Betrachten von oben mittels Ballon, Flugzeug oder Satellit. Gesamtdarstellungen der Stadt mögen zwar die realistische Abbildung einer räum­ lichen Totalität – sowohl im Detail wie im Umfang – suggerieren, doch sie nehmen i­ m­mer eine bestimmte Perspektive auf die Stadt ein: je nach den ihnen zugrunde liegen­den poli­ tischen, militärischen, kommerziellen oder künstlerischen Interessen. Sie dien­ten häufig repräsentativen Zwecken und waren nicht selten Ausdruck und Ergebnis technischer Entwicklung. Die „Panorama-Stadt“ (M. de Certeau) oder der Blick von oben korrelierte oft mit Macht­anspruch und Kontrolle und wurde so auch zum Ausdruck und Instrument neuzeitlicher Herrschaft. Der Überblick über eine Stadt kann Zeugnis ihrer Beherrschung sein, aber auch der Versuch ihrer Aneignung oder er kann der kollektiven wie individuel­ len Identi­fikation mit ihr dienen. Letztlich bleibt es immer eine Utopie und ein Trugbild, „ganz“ Wien darstellen zu können.

Siehe auch 2.1.15 — Maier-Aichen Panorama-Fotografie 2.2.17 — Ansichtskarte mit Stadtsilhouette 2.2.20 — T-Shirt mit Icons 3.1.4 — Meldeman-Rundplan 3.2.8 — Leischner/Weixler Vogelschau


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„Das ist die stat Wienn“ … schrieb der Zeichner in sein Werk: Gemeint ist das Ganze, darge­ stellt werden jedoch nur einige ausgewählte Elemente. Ringmauer, Stadt­tore und Wehrtürme sind als allgemeine Symbole für die Stadt zu lesen, wie sie auch in Stadtsiegeln und -wappen vorkommen. Die Tore werden im Plan zwar mit ihren Namen gekennzeichnet, sind aber ebenso schematisch gezeichnet. Sie sind gewissermaßen, vom Stadtinneren aus gesehen, nach außen geklappt. Sonst beschränkte sich der Zeichner auf das „Wesentliche“, und das sind sowohl in wie vor der Stadt fast ausschließlich sakrale Objekte (Kirchen, Klöster und Spitäler). An weltlichen Objekten finden sich in der Stadt die (Hof-)Burg, die Universität und der nicht bezeichnete Passauer Hof. Die Darstellung der Gebäude teils im Aufriss, teils in einer Art Vogelschau hat lediglich Signaturcharakter ohne Zusammenhang mit den tatsächlichen architektonischen Gegebenheiten. Straßennetz oder Häuserzeilen fehlen in der Stadt völlig, lediglich der Graben wird genannt. In der linken oberen Ecke des Blattes ist in der Art einer Nebenkarte Pressburg in gleicher Weise wiedergegeben. Während die Darstellung Wiens etwa nach Südsüdwest ausgerichtet wurde, ist die Pressburgs grob genordet. Trotz Maßstabsleiste bleibt unklar, welches Maßsystem dem Plan zugrunde liegt. Ein möglicher Zusam­

menhang der Entstehung des Plans mit der Wiener-Klosterneuburger geografischen Schule und Johannes von Gmunden (um 1380/84–1442) kann nur vermutet werden. Da der Plan sowohl Wien als auch Pressburg zeigt, dachte man zunächst an einen Zusammenhang mit Albrecht II. (1397–1439), der in seinen beiden letzten Lebensjahren als erster Habsburger sowohl römisch-deutscher als auch ungarischer und böhmischer König war. So bürgerte sich die Bezeichnung Albertinischer Plan ein. Er gilt nun als Nachzeichnung einer unbekannten Vorlage von 1421/22, die viel­ leicht im Zusammenhang mit der Hochzeit Albrechts mit der Tochter Kaiser Sigismunds von Luxemburg, Elisabeth, am 28. September 1421 entstanden ist, und ist der älteste überlieferte Plan Wiens. KF Lit.: Max Kratochwill: Zur Frage der Echtheit des „Albertinischen Planes“ von Wien, in: Jahrbuch des Vereins für Geschichte der Stadt Wien 29 (1973), S. 7–36; Reinhard Härtel: Inhalt und Bedeutung des „Albertinischen Planes“ von Wien. Ein Beitrag zur Karto­ graphie des Mittelalters, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichts­ forschung 87 (1979), S. 337–362; Karl Fischer: Vermessung der Stadt: der Stadtplan, in: Sylvia Mattl-Wurm, Alfred Pfoser (Hg.): Die Vermessung Wiens. Lehmanns Adressbücher 1859–1942, Wien 2011, S. 181–209.

Kat.Nr. 1.1.1 Sogenannter Albertinischer Plan von Wien, 2. Hälfte 15. Jahrhundert (nach einer Vorlage von 1421/22?) Kolorierte Federzeichnung auf Papier, 40,1 x 58,5 cm Bez.: Das ist die stat Wienn / Die stat prespurck Wien Museum, Inv.Nr. 31.018


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Älteste Vogelschau von Wien Jacob Hoefnagel (1573–1632/33) war ein hochbegabter Zeichner, aber auch ein versierter Kupferstecher. Er arbeitete in den 1590er-Jahren – ebenso wie sein Vater Joris (Georg) – am berühmten Städtebuch von Braun und Hogenberg mit und kam spätestens im Jahr 1604 nach Wien, wo sein Vater vier Jahre zuvor verstorben war. 1602 zum Kam­ mermaler Rudolfs II. ernannt und damit vom Hof besoldet, ­heiratete er im Jahr 1605 in Wien. Nach der Niederlage der Protestanten musste er 1621 ins Exil gehen, zunächst nach Schweden, zuletzt nach Hamburg. Seine Vogelschau von Wien (1609) ist auch Zeugnis seiner schwierigen Lebensumstände, wandte er sie doch auf dem Höhe­ punkt des „Bruderzwists im Hause Habsburg“ dem Kaiserbruder,

Erzherzog Matthias, zu. Dem Rat der Stadt ließ Hoefnagel insgesamt 15 Exemplare seines Kupferstichs überreichen, wofür er ein entspre­ chendes „Ehrengeschenk“ erhielt. Bis heute ist die für die Herstellung solch einer Vogelschau an­ gewandte Technik nicht völlig geklärt, wahrscheinlich wurden von hohen Türmen aus vorbereitende Messungen durchgeführt und auch vermessene Stadtpläne verwendet. Die Aufnahme von einem hoch g ­ elegenen Standpunkt nördlich der Wiener Stadtmauern, die hier suggeriert wird, ist so jedenfalls nicht möglich. Bewundernswert bleibt der hohe Detailreichtum, wobei etliche Gebäude in ihrem in­ folge späterer Umgestaltungen verschwundenen ursprünglichen Ge­


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1 vermessen und darstellen / 1.1 überblicken

präge (z. B. die romanische Schottenkirche) hervortreten. Der Kupfer­ stich von 1609 ist heute nur mehr in zwei Exemplaren überliefert, wobei das in der Königlichen Bibliothek in Stockholm befindliche komplett, also mit der Legende, das im Besitz des Hotels Sacher in Wien befindliche ohne die Legende vorliegt. „Der Hoefnagel“ wurde später vielfach nachgestochen und beeinflusste die Darstellung von Wien über mehr als 100 Jahre. FO Lit.: Lucia Nuti: The Perspective Plan in the Sixteenth Century: The Invention of a Re­presentational Language, in: The Art Bulletin 76 (1994) 1, S. 105–128; Peter van der Krogt: „Das ist das Auge von Österreich, das stolze und mächtige Wien“. Niederländische Stadtansichten und Pläne von Wien, in: Studien zur Wiener Geschichte. Jahrbuch des

Vereins für Geschichte der Stadt Wien 64/65 (2008/09), S. 83–149, hier S. 96–100; Karl Fischer (Hg.): Wien 1609. Ansicht aus der Vogelperspektive von Jacob ­Hoefnagel, Schleinbach 2015; Ferdinand Opll, Heike Krause, Christoph Sonnlechner: Wien als ­Festungsstadt im 16. Jahrhundert. Zum kartografischen Werk der Mailänder Familie ­Angielini, Wien 2017, Anhang 9.7, Nr. 23.

Kat.Nr. 1.1.2 Jacob Hoefnagel Vogelschau der Stadt Wien mit Teilen der Umgebung, 1609 Kupferstich von sechs Platten, 76 x 159 cm, Ausrichtung: Südwest Bez.: VIENNA AVSTRIAE Wienn in Osterreich Wien, Ed. Sacher GesmbH


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Vorstädte im Tableau Die urbanistische Entwicklung Wiens nach 1683 war in b ­ esonderer Weise vom Aufblühen der Vorstädte geprägt. 50 Jahre nach den Zer­ störungen des „Türkenjahres“ wurde 1733/34 eine Art Rückblick veröffentlicht, nämlich die von dem Jesuiten Franz Dolfin betreute Wiener Dissertation Lustra decem coronae Viennensis, seu suburbia Viennensia ab anno 1683 ad annum 1733 von Ignaz Schachner. Die Vorstädte erfuhren darin nicht nur textlich Behandlung, der Arbeit wurden auch neun Vogelschauen des aus etlichen einzelnen Vor­ städten bestehenden Siedlungsgürtels rings um die Stadt beigege­ ben. Weder Zeichner noch Stecher werden in der Veröffentlichung genannt, doch hat der Augsburger Verleger Matthäus Seutter die Collage mit den neun Vogelschauen der Vorstädte nach Schachner/ Dolfin auf einem Blatt als Kupferstich herausgebracht. Da eine Da­ tierung fehlt, muss dieses Blatt zwischen 1733/34 und 1757, dem Todesjahr Seutters, entstanden sein, wobei nicht ausgeschlossen

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ist, dass der ab 1740 in Seutters Verlagshaus eingeheiratete Tobias ­Conrad Lotter (1717–1777) als Stecher tätig war. Nach 1762 brachte dieser das Blatt unter seinem eigenen Namen heraus. Mit dem in der Weise anderer Seutter’scher Stiche kolorierten Kupferstich – die Farben haben keinerlei inhaltliche Bedeutung – liegt erstmals eine bildliche Repräsentation des Stadtgebiets in der Form vor, wie es im Gefolge der Errichtung des Linienwalls im Jahr 1704 räumlich defi­ niert worden ist. FO Lit.: Michael Ritter: Die Welt aus Augsburg. Landkarten von Tobias Conrad Lotter (1717– 1777) und seinen Nachfolgern (Ausstellungskatalog Schaezlerpalais Augsburg), Berlin 2014, S. 36–51, bes. S. 43; Ferdinand Opll, Martin Scheutz: Wien im Jahre 1703. Die Vogelschau des Dessauer Gesandten Bernhard Georg Andermüller und die Transformation des Wiener Stadtbildes, in: Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung, Ergänzungsbd. 61 (2017), Anhang 3, Nr. 22.

Kat.Nr. 1.1.3 Stadtansicht von Wien mit neun Vogelschauen der Vorstadtbereiche, nach 1762 (um 1740?) Verleger: Tobias Conrad Lotter Kupferstich, koloriert, 60 x 51,7 cm Bez.: Eigentlich und Neuester Prospect der Kayserl. Residenz Stadt WIEN, in Nieder-Oesterreich, samt neun um selbige herum ligender namhaffter Vor Städte. verlegt von Tobias Conrad Lotter, Geogr. In Augspurg Wien Museum, Inv.Nr. 37.033


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Wien aus vier Himmelsrichtungen Georg Matthäus Vischer (1628–1696) wirkte auf dem Feld der Land­ vermessung, der Kartografie und der topografischen Ansicht. Im Jahr 1667 von den oberösterreichischen Ständen mit einer Landesauf­ nahme beauftragt, erschien diese schon 1669 als Kupferstich. Noch im selben Jahr erging ein gleichlautender Auftrag der niederöster­ reichischen Stände, dem er bereits 1670 mit der Vorlage des entspre­ chenden Kartenwerks nachkam. Bei Bereisungen der beiden Länder entstanden zahlreiche Ansichten, die Vischer als „Topographien“ (NÖ: 1672; OÖ: 1674) in den Handel brachte. Sein Geschäftsmodell, Herrschaftsbesitzern Stiche und Kupferplatten ihres Ansitzes in einem Gesamtpaket anzubieten, scheiterte jedoch. Die ­kaiserliche ­Residenzstadt Wien bezog Vischer gleichfalls in sein Werk ein und

legte u. a. Gesamtansichten aus allen vier Himmelsrichtungen vor. Gegenüber der Hoefnagel’schen Vogelschau von 1609 (Kat.Nr. 1.1.2) wird hier erstmals das weitere Umland der Stadt Thema der Dar­ stellung: Die Nordansicht, seit dem späten 15. Jahrhundert eine klassische Blickrichtung, lässt am Horizont den Semmering sowie den Schneeberg erkennen. Die Westansicht stellt eine Novität dar und reicht am Horizont bis nach Pressburg, Hainburg und (Wiener) Neustadt. Die Südansicht, gleichfalls von alters her eine klassische Blickrichtung, reicht am Horizont vom Kahlen- und Leopoldsberg über den Bisamberg weiter nach Osten und hat eine Legende mit zehn Eintragungen (vor allem Vorstadtnamen, aber auch die Favorita [heute: Theresianum] und die Schlagbrücke in die Leopoldstadt).


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Die Ost­ansicht ist wie die von Westen her eine Novität, reicht am ­Horizont bis zu den Anhöhen des Wienerwaldes und hat eine Le­ gende mit zwölf Eintragungen (durchweg Vorstadtnamen; die erst seit 1670 als „Leo­pold­stadt“ bezeichnete Vorstadt heißt „über der Schlagbrugen“). FO

Lit.: Alfred May: Wien in alten Ansichten. Das Werden der Wiener Vedute, Wien/München, 2. Aufl. 1980, S. 16f. und Tafeln 11a, b und 12a, b; Ferdinand Opll: Wiener Stadt­ansichten im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit (15.–17. Jahrhundert), in: ders. (Hg.): Bild und Wahrnehmung der Stadt (Beiträge zur Geschichte der Städte Mittel­europas, Bd. 19), Linz 2004, S. 157–188, hier S. 169; Gebhard König: Mappae Austriae Inferioris. Niederösterreich im Bild alter Landkarten, Weitra 2007.

Kat.Nr. 1.1.4 Georg Matthäus Vischer Nord-, West-, Süd- und Ostansicht von Wien, 1672 Radierungen, in: G. M. Vischer: Topographia Archiducatus Austriae Inf. Modernae […], [S.I. Wien] 1672, Bezeichnungen und Maße (jeweils beschnitten): Nordansicht: Prospectus Septentrionalis, 13,7 x 35,6 cm, Westansicht: Prospectus Occidentalis, 14 x 36,3 cm, Südansicht: Prospectus Meridionalis, 13,8 x 35,7 cm, Ostansicht: Prospectus Orientalis Viennae Metropolis Austriae, 13,9 x 36,2 cm Wien Museum, Inv.Nr. 32.474/4, 3, 2, 1


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Barockes Wien-Panorama Ein kaiserlicher Ingenieur und Architekturzeichner (Matthias Anton Weiß), der von Kaiser Karl VI. auch mit der Bauaufnahme römischer Antiquitäten beauftragt wurde, arbeitete mit dem in Augsburg ansäs­ sigen Druck- und Verlagsunternehmen, das dort vor 1711 von Johann Andreas Pfeffel dem Älteren (1674–1748) und Christian Engelbrecht (1672–1735) gegründet worden war, bei der Entstehung dieser Stadt­ ansicht zusammen. In ihrem Aufbau steht sie in der Tradition, wie sie vor allem durch Jacob Hoefnagels berühmte Vogelschau von 1609 be­ gründet worden ist, zeigt am oberen Blattrand den Hoefnagel’schen Titel, eingerahmt vom kaiserlichen (links) und vom städtischen Wappen (rechts). Auf dem unteren Blattrand befindet sich ein Schrift­ streifen in lateinischer und deutscher Sprache mit einem Abriss der Stadtgeschichte, einer Legende mit 40 Nummern und der auffälligen Verwendung von aus dem Griechischen stammenden Bezeichnungen (u. a. Nr. 24: nosocomium = Spital als Bezeichnung für das ­ehemalige Spital St. Johannes an der Siechenals etc.) und einer Widmung Pfeffels an Kaiser Karl VI. Hinsichtlich der gewählten Blickrichtung und der

Darstellungsart unterscheidet sich diese Darstellung jedoch markant von älteren Vorlagen: Sie bietet nämlich – völlig ungewohnt – einen Blick auf die Stadt in Form eines Panoramas bzw. Profils: von der Josefstadt, und zwar zwischen Palais Schönborn (heute: Volkskunde­ museum) und der Trinitarierkirche (Alser Straße), bis hin zur Pfarr­ kirche Maria Trost (heute: St. Ulrich), einem der damals boomenden Vorstadt­bereiche. Mit ihrem beachtlichen Format bildet diese An­ sicht die älteste großformatige Wien-Darstellung nach der Zweiten Türken­belagerung von 1683. FO Lit.: Das barocke Wien. Stadtbild und Straßenleben (Ausstellungskatalog Historisches Museum der Stadt Wien), Wien 1966, S. 22, Nr. 26; Friedrich Polleroß: Docent et delectant. Architektur und Rhetorik am Beispiel von Johann Bernhard Fischer von Erlach, in: Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte 49 (1996), S. 165–206, hier S. 202; Augsburger Stadtlexikon, http://www.stadtlexikon-augsburg.de/index.php?id=114&tx_ttnews%5Btt_ news%5D=3671&tx_ttnews%5BbackPid%5D=122&cHash=1aa66fb702 sowie http:// www.stadtlexikon-augsburg.de/index.php?id=114&tx_ttnews[tt_news]=5002&tx_ttnews [backPid]=113&cHash=da064baaf5 (beide 24.8.2016; zu Engelbrecht und Pfeffel).


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Kat.Nr. 1.1.5 Panorama von Wien von der Josefstadt aus gesehen, um 1711 Zeichner: Matthias Anton Weiß Kupferstecher: Christian Engelbrecht und Johann Andreas Pfeffel der Ältere Kupferstich auf Papier, 35 x 174 cm Bez.: Vienna Austriae – Wienn in Österreich Wien Museum, Inv.Nr. 31.093

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Vorwegnahme der erweiterten Stadt Die perspektivische Gesamtansicht der Stadt und ihrer Vorstädte durch Joseph Daniel von Huber (1730/31–1788) bildet den ­Höhepunkt und zugleich den Abschluss dieser Form der kartografischen Dar­ stellung in Wien. Sie zählt zu den bedeutendsten Vogelschau-Stadt­ ansichten überhaupt. Das Werk geht auf einen Auftrag von Kaiserin ­Maria Theresia zurück und stand vermutlich im Zusammenhang mit der frühen absolutistischen Stadtplanung: Der Anlass war die projek­ tierte – aber damals nicht ausgeführte – Stadterweiterung und Ver­ schönerung Wiens, für die man sowohl genaue Unterlagen (erbracht durch den Grundrissplan von Joseph Anton Nagel) wie auch repräsen­ tative Darstellungen brauchte. Für die Aufnahme der Residenzstadt und ihrer Vorstädte benö­ tigte der Militärkartograf vier Jahre. Auf einer nichtverzerrten, geo­metrisch genauen Grundlage trug Huber die einzelnen Häuser der Stadt in der sogenannten Militärperspektive auf, das heißt senkrecht und mit den Höhen proportional zu deren wahrer Größe. Der so ent­ standene großformatige, orthogonale Vogelschauplan ist westlich ausgerichtet. Von den Originalfederzeichnungen, die sich heute in der Albertina befinden, ließ Huber bald auch preisgünstige Kupfer­ stiche in 24 Einzelblättern für den Markt anfertigen. Die meisten ­Straßen und Plätze sind benannt, die Häuser tragen ihre Konskrip­ tionsnummern, basierend auf der ersten offiziellen Häusernumme­ rierung in Wien und den Vorstädten in den Jahren 1770/71. SB Lit.: Jan Mokre: Joseph Daniel von Huber. Leben und Werk eines österreichischen Militär­kartographen des 18. Jahrhunderts, unveröff. Dipl.-Arb. Univ. Wien 1990; ders.: Das große Jahrhundert der Wiener Stadtkartographie, in: Wiener Geschichtsblätter 50 (1995) Beih. 4, S. 29–37; Walter Öhlinger (Hg.): Vogelschauplan der Stadt Wien 1778 von Joseph Daniel von Huber, Schleinbach 2015.

Kat.Nr. 1.1.6 Joseph Daniel von Huber Vogelschauplan der Stadt Wien mit ihren Vorstädten, 1769 –1773 (1778) Kupferstich und Radierung kombiniert, aus 24 Einzelblättern zusammengestellt, 350 x 415 cm, Maßstab: 1:1.430, Ausrichtung: West-Südwest Re. o. Kartusche: Scenographie / oder / Geometrisch Perspect Abbildung / der / Kayl:Königl:Haupt:u:Residenz Stadt / WIENN / in Oesterreich / auf allerhöchsten Befehl aufgenommen und gezeichnet / vom Jahr 1769 May Monats, bis letzten October 1774 [sic] …; darunter, außerhalb der Kartusche, auf einem Schriftband: Josep [sic] Daniel v. Huber. Re. u.: Radirt v. J. Wagner. / J. Eberspach. C. G. Kurtz / Verfertiget von J. Adam. Wien Museum, Inv.Nr. 196.846/A-Z (Reproduktion)

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Wien-Illusion als Massenmedium Der Erfinder des Panoramas, Robert Barker, eröffnete im Jahr 1801 im Wiener Prater die erste Panoramarotunde auf dem europäischen Kon­ tinent mit einer Rundansicht von London. Von der zentral gelegenen Besucherplattform aus konnte man das die Wand entlang gespannte riesige Gemälde betrachten, das aufgrund der schwachen Beleuch­ tung wie auch der überaus realistischen Malweise die Illusion erzeug­ te, sich tatsächlich am dargestellten Ort zu befinden. Die niedrigen Eintrittspreise zogen so viele Besucherinnen und Besucher an, dass das Panorama heute als erstes Massenmedium gilt. Im Jahr 1803 skizzierte Barkers Nachfolger William Barton die Stadt Wien vom Turm der Augustinerkirche aus. Die bekannten Maler Laurenz Janscha (1749–1812) und Carl Postl (1769–1818) führten in der Folge das etwa 300 Quadratmeter große Ölgemälde aus, auf dem man, über die Dächer der Innenstadt hinweg, das Belvedere, die ­Spinnerin am Kreuz, Schönbrunn, aber auch die Berge des Wiener­ walds und die Donau sehen konnte. Die vorliegende T ­ opographische Erklärung des Panorama von Wien wurde schon für das Wiener Publi­ Kat.Nr. 1.1.7 „Topographische Erklärung des Panorama von Wien“, um 1805 Kupferstich, koloriert, 27,9 x 29 cm Wien Museum, Inv.Nr. 48.814/1

kum erstellt und war dann wohl vor allem ab 1806 für die Besucherin­ nen und Besucher des Panoramagemäldes an den folgenden Aus­ stellungsorten wie Leipzig, Berlin, Hamburg und München wichtig, die die Stadt ja nicht aus eigener Anschauung kannten. Ob es für die Präsentationen in Kopenhagen, Stockholm, St. Petersburg und Paris sprachlich adaptierte Erklärungsblätter gab, ist ungewiss. Die Ver­ breitung des Drucks, eigentlich der einzigen erhaltenen bildlichen Darstellung dieses Praterpanoramas, dürfte jedenfalls entsprechend groß gewesen sein. US Lit.: Anton Geusau: Kurze Beschreibung der k. k. Haupt- und Residenzstadt Wien in Österreich: und besonders des Panorama von dieser Hauptstadt, derselben Vorstädten und umliegenden Gegenden, Wien/Prag 1803; Stephan Oettermann: Die Reise mit den Augen – „Oramas“ in Deutschland, in: ders.: Sehsucht. Das Panorama als Massenunterhaltung des 19. Jahrhunderts, Frankf. a. M./Basel 1993, S. 43f.; Ursula Storch: Panorama. Das 360-Grad-Erlebnis, in: Zauber der Ferne. Imaginäre Reisen im 19. Jahrhundert (Ausstellungskatalog Wien Museum), Weitra 2008, S. 80, Abb. S. 82.


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Faszination und Inspiration Ballon Am 21. März 1851 kündigte die Wiener Zeitung an, dass im Wiener Verlag Joseph Bermann die dreiteilige Ansichtenserie Wien aus dem Luftballon gesehen erschienen sei. Diese zeige die Stadt in Flugper­ spektiven von Süden (vom Belvedere), Südwesten und Nordosten (je­ weils vom Stephansturm) aus. Gelobt wird „die originelle Auffassung und naturgetreue Ausführung“ der Blätter, die diese „für Fremde und Einheimische gleich interessant“ machten. Zur Ansicht von Südwes­ ten, die als einzige auch einen über der Stadt fliegenden Ballon zeigt, ist diese Aquarellvorlage erhalten. Ausgeführt wurde sie von Jakob Alt (1789–1872), dem damals 58-jährigen Vedutenroutinier und Vater Rudolf Alts. Angeregt worden sein könnte die Serie durch die aufsehenerregenden Luftfahrten des Riesenballons Adler von Wien, der am 20. April und am 23. Mai 1846 Kat.Nr. 1.1.8 Jakob Alt „Wien aus dem Luftballon gesehen / von Südwesten“, 1847 Aquarell, 32,1 x 43,4 cm Sign. und dat. re. u.: J. Alt / 1847 Wien Museum, Inv.Nr. 141.943

über Wien flog. Es ist unwahrscheinlich, dass die Ansicht tatsächlich auf Skizzen basiert, die in einem Ballon angefertigt wurden. Vielmehr handelt es sich um die geschickte Kombination eines imaginären Blicks aus einem Ballon mit dem Blick auf einen über Wien fliegen­ den Ballon. Der Stephansdom, der gleichzeitig als Aussichts- und Ansichtspunkt inszeniert wird, ist Zentrum der Stadt und des Bildes. Die Darstellung verdeutlicht, welch große Faszination die Ballonfahrt im 19. Jahrhundert auf die Menschen ausübte und welches Interesse an einer neuen Erfahrung und Wahrnehmung einer Stadt „von oben“ bestand. Tatsächlich war die Flugerfahrung jedoch nicht unbedingte Voraussetzung für die Gestaltung einer Vogelschau. ED Lit.: Wiener Zeitung, 21. März 1851, S. 857.


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Das erste fotografische Rundpanorama Zeitgleich mit der Erweiterung Wiens um die Vorstädte ab 1850 wurde auch das damals relativ junge Medium Fotografie genutzt, um eine Gesamtschau und Dokumentation der Stadt zu erstellen. Aus der Pro­duktion der k. k. Hof- und Staatsdruckerei sind drei großformatige Fotoserien dieser Art und aus dieser Zeit bekannt. Als Kamerastand­ ort wählte man das damals höchste und zentral gelegene Gebäude der Stadt, den Südturm des Stephansdoms, und setzte damit eine lang­ jährige Blicktradition in Wien fort. Die dritte, erstmals komplette Aufnahme, welche Leopold Weiß zugeschrieben wird, erfolgte im Jahr 1860. Damals boten die Einrüs­ tung und der Umbau der Turmspitze eine willkommene Gelegenheit und eine Plattform, von der aus die Stadt aus einer Höhe von 70 Klaf­ tern (rund 133 Meter) abgelichtet werden konnte. So entstand eine fotografische 360-Grad-Aufnahme Wiens, die sowohl in der Abbil­ dungsqualität wie in der Größe damals auch international beispiellos war. Die Serie besteht aus zwölf großformatigen Einzelaufnahmen

(mit Überlappungen), die vor wenigen Jahren in Form der vorliegen­ den überarbeiteten Reproduktion zu einer großen, panoramatischen Rundansicht Wiens zusammengefügt wurden. Diese beginnt links beim ehemaligen Militärgeographischen Institut auf dem heutigen Friedrich-Schmidt-Platz und endet rechts bei der Josefsgasse, knapp hinter dem Palais Auersperg, ein kleiner Bereich bei der Josefstädter Straße wurde ausgelassen. Man sieht deutlich die der Stadt zuge­ wandten Häuserfronten der ehemaligen Vorstädte und das noch nicht verbaute Glacis, das bald der neuen Ringstraßenzone weichen sollte. SB Lit.: Klaus Walder: Der Rundblick vom Stephansturm oder Die Quadratur des Blicks. Eine Fotopanoramaserie von Wien aus dem Jahre 1860, Dipl.-Arb. Univ. Wien 2003, S. 112; Monika Faber, Maren Gröning: Stadtpanoramen. Fotografien der k. k. Hof- und Staatsdruckerei 1850–1860 (Beiträge zur Geschichte der Fotografie in Österreich, Bd. 1), Wien 2005, S. 27, S. 90f.; Walter Öhlinger (Hg.): Rundblick vom Stephansturm: Panorama von Wien im Jahre 1860, Schleinbach 2012.


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Kat.Nr. 1.1.9 Fotografische Rundansicht der Stadt Wien, aufgenommen vom Stephansturm, 1860 (2009) Fotografie: Leopold Weiß (zugeschrieben), Hersteller: Trizeps – photography and mediadesign Farbdruck, 43 x 413 cm (verkleinerte und bearbeitete Reproduktion) Wien Museum, Inv.Nr. 157.282 (orig. Inv.Nr. 19.540/1–12)

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Comeback der Vogelschau Die Vogelschau als klassisches Medium visueller Repräsentation von Städten erlebte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein Comeback. Selbst wenn die Großstädte als Ganzes bildlich kaum mehr fassbar waren, konnten Vogelschauen Totalität vortäuschen. In Wien erlebten Vogelschauen ab den 1870er-Jahren einen regel­ rechten Boom. Vor allem der Abbruch der Basteien und der Bau der Ring­straße hatten eine derart massive Veränderung des Stadtbilds zur Folge, dass sich Überblicksdarstellungen zur Veranschaulichung dieser grundlegenden Wandlungen anboten. Zahlreiche Künstler „bewarben“ in ihren Prospekten das spektakuläre „neue“ Wien.

Der vorwiegend als Vedutenmaler tätige Erwin Pendl (1875–1945) stellte mehrere Vogelschauen Wiens her, darunter das gemeinsam mit Hugo Darnaut (1851–1937) gemalte, über zwei Quadratmeter große Bild Wien aus der Vogelschau vom Theresianum aus, das im Jahr 1900 auf der Pariser Weltausstellung präsentiert wurde. Zur Vorbe­ reitung seiner Vogelschauen fertigte Pendl laut eigenen Angaben Detailstudien der einzelnen Gebäude von jeweils zwei Seiten aus einer fiktiven Blickhöhe von bis zu 200 Metern Höhe an. Dieses vom Getreidemarkt aus gesehene Panorama führte Pendl vermutlich im Auftrag von A. L. Keil aus, der es im Spielzimmer seines Kaffeehauses


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am Michaelerplatz präsentierte. Später befand es sich im Besitz der Kaffeehausbetreiber Josef und Anna Siller, die es im Jahr 1921 dem heutigen Wien Museum zum Geschenk machten. ED Lit.: Karl Fuchs: Das Künstlergeschlecht Pendl, Wien 1905, S. 87; Aktenarchiv Wien Museum, Akt 52/1903 (Anbot einer geplanten Vogelschau des Schlosses Neugebäude); Lutz Philipp Günther: Die bildhafte Repräsentation deutscher Städte. Von den Chroniken der Frühen Neuzeit zu den Websites der Gegenwart, Köln/Weimar/Wien 2009, S. 145.

Kat.Nr. 1.1.10 Erwin Pendl Wien aus der Vogelschau vom Getreidemarkt aus, 1904 Aquarell, 108 x 211 cm Sign. und dat. re. u.: Erwin Pendl / Wien 1904 Wien Museum, Inv.Nr. 42.980


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Die Stadt en miniature Das vom bürgerlichen Tischlermeister Eduard Fischer erstellte Mo­ dell der Wiener Innenstadt gehört zu den ältesten erhaltenen plasti­ schen Darstellungen Wiens. Es entstand zur Zeit und vermutlich aus Anlass der ersten Wiener Stadterweiterung der Neuzeit im Jahr 1850. Das Werk veranschaulicht und dokumentiert die gesamte alte (inne­ re) Stadt kurz vor dem Abriss der Befestigungsanlagen und der Errich­ tung der Ringstraße anstelle der freien Glacisgründe ab 1858. Auf der Grundlage des aktuellen Katasterplans und relativ maßstabsgetreu lässt die Nachbildung nicht zuletzt die Ausmaße und die Beschaffen­

heit der Festungsmauern, des Stadtgrabens und der Basteien her­ vortreten. Fischers Modell wurde in der ersten Historischen Ausstellung der Stadt Wien im Jahr 1873 im Pädagogium in der Hegelgasse der Öffentlichkeit präsentiert und wenig später von der Gemeinde erworben. Während der Jubiläumsausstellung 1898 im fünfzigsten Regierungsjahr von Kaiser Franz Joseph diente es der Repräsentation von „Alt-Wien“ und als Gegenstück zum damals neu entstandenen Stadtmodell Erwin Pendls (1875–1945), das bereits die gründerzeit­ liche Innenstadt mit der Ringstraßenzone veranschaulicht. SB

Kat.Nr. 1.1.11 Plastisches Modell der inneren Stadt mit dem Glacis, 1852/54 Modellbauer: Eduard Fischer Holz, Papier und Karton, koloriert, ca. 40 x 412 x 515 cm, Maßstab: 1:450 Beschr. Plakette: Immer trage’ ich ohne Wanken / Meinen Lieblingsort im Sinn / Hab’ dich stündlich in Gedanken / Lieb’ Ost’rreich – mein schönes Wien Wien Museum, Inv.Nr. 94.521


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Stadtansichten zum Sammeln Illustrierte Postkarten verbreiteten sich gegen Ende des 19. Jahr­hun­ derts sehr rasch und wurden zu einem wichtigen Bildträger der Stadt. Das neue Medium wurde damals nicht nur in der touristischen Kom­ munikation oder sogar im täglichen Umgang in der Stadt ge­nutzt – Ansichtskarten waren auch ein beliebtes Sammelobjekt. Sammle­ rinnen und Sammler bewahrten die postalisch erhaltenen Karten in Alben auf und ergänzten diese gegebenenfalls durch eigene Ankäufe. Auf diese Weise entstanden auch die drei vorliegenden, repräsen­ tativen Sammelalben, die insgesamt rund 2.500 Ansichtskarten von Wien enthalten. Sie entstanden im Zeitraum von 1897 bis 1915 und entstammen der Korrespondenz und nicht zuletzt der Sammeltätig­ keit der Familie Reuss aus Bílina (dt. Bilin) in Böhmen. Dr. Wilhelm

Ritter von Reuss war hier als Kurarzt tätig. Die derzeitige Anordnung in den Alben nach Bezirken und Motiven erfolgte durch den Sammler oder die Sammlerin offenbar zu einem späteren Zeitpunkt. So haben wir es hier mit einer biografisch-erinnernden, zugleich auch archiva­ lischen Praxis des Sammelns zu tun. Die Wien-Alben waren Teil einer größeren Ansichtskartensammlung, die Ansichtskarten verschiedener Länder der Monarchie und auch des Auslands umfasst haben soll. SB Lit.: Sándor Békési: Die topografische Ansichtskarte: Zur Geschichte und Theorie eines Massenmediums, in: relation. Beiträge zur vergleichenden Kommunikationsforschung, Online Special N.F. 1 (2004), S. 403–426; Eva Tropper: Das Postkartenalbum als Ordnungsraum. Die 99 Reisen der Else E., in: András F. Balogh, Christoph Leitgeb (Hg.): Reisen über Grenzen in Zentraleuropa, Wien 2014, S. 205–220.

Kat.Nr. 1.1.12 Wien-Ansichtskarten in drei Sammelalben der Familie Reuss, 1897–1915 Album „Wien I. Ansichts-Karten-Sammlung VII“ mit 994 illustrierten Postkarten aus den Bezirken 1. und 19. Album „Wien II. Ansichts-Karten-Sammlung IV“ mit 996 illustrierten Postkarten aus den Bezirken 1. bis 10. und 19. Album „Wien III. Ansichts-Karten-Sammlung XVIII“ mit 420 illustrierten Postkarten aus den Bezirken 10. bis 21. und Wien-Umgebung sowie 552 Karten aus Böhmen. Karton, Papier, je ca. 37 x 38 x 8 cm (geschlossen) Wien Museum, Inv.Nr. 305.659-305.661


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Die Stadt vom Flieger aus Fotografische Luftaufnahmen von Wien gab es vereinzelt bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Dabei wurde der bis dahin imagi­ näre Standort des Betrachters durch den realen, aber exklusiven Ort des Heißluftballons ersetzt. Während die zeichnerische Vogelschau die urbane Landschaft in idealer Schönheit präsentieren konnte, vermochte das fotografische Luftbild zunächst eine eher sachlich bis nüchtern wirkende Darstellung der Stadt in Schwarz-Weiß zu bieten. Unmittelbar vor und während des Ersten Weltkriegs ermöglichten Flugzeuge und neue Kameras eine intensivierte Nutzung dieser Abbil­ dungsform vor allem für die Flugaufklärung. In der Folge verstärkte sich auch die Popularisierung von Luftbildern als Stadtansicht, wie hier am Beispiel einer frühen Wiener Flugbildserie zu sehen ist, die für einen wohltätigen Zweck unmittelbar nach Kriegsende publiziert wurde. Die Stadt wurde dabei in ausgewählten Segmenten unter­

schiedlicher Größe abgelichtet. Vor allem im innerstädtischen Be­ reich benutzte man eine niedrigere Flughöhe, um bekannte Gebäude oder Situationen besser zur Geltung kommen zu lassen. Diese und ähnliche Aufnahmen fanden in den darauffolgenden Jahren vielfach auch auf Ansichtskarten Verbreitung. Die erste flächendeckende und systematische Erfassung Wiens auf Luftbildern erfolgte erst in den späten 1930er-Jahren. SB Lit.: Karl H. Brunner: Weisungen der Vogelschau. Flugbilder aus Deutschland und Öster­reich und ihre Lehren für Kultur, Siedlung und Städtebau, München 1928; W ­ olfgang Sonne: „The entire city shall be planned as a Work of Art.“ Städtebau als Kunst im frühen modernen Urbanismus 1890–1920, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 66 (2003) 2, S. 207–236; Helfried Seemann, Christian Lunzer: Wien von oben 1890–1935, Wien 2007, S. 12f.

Kat.Nr. 1.1.13 „Im Fluge über Wien. Unterstützungsaktion für durch den Weltkrieg geschädigte Reserveoffiziere“ mit 21 fotografischen Schrägluftaufnahmen in Flügelmappe, nach 1918 Auftraggeber: Öst. Reserveoffiziers-Hilfsfonds, Wien Hersteller: Luftbild-Gesellschaft, Wien (Prägestempel) Widmung: Bedürftigen Kriegskameraden zur Hilfe gewidmet. Die Flieger Mappe: Buchleinen, Karton, 33,3 x 24,8 x 2 cm (geschlossen); Fotografien auf Untersatzkarton, jeweils ca. 11,5 x 15,5 cm (Bildmaß) Wien Museum, Inv.Nr. 224.290/1-22


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Blick aus dem Weltall? Die ersten Satellitenbilder eigens für Wien und Umgebung entstan­ den in den 1980er-Jahren für planerische Zwecke. Dafür nutzte man zivile Erdbeobachtungssatelliten (LANDSAT bzw. SPOT), eine ur­ sprünglich für militärische Anwendungen entwickelte Technologie. Im Gegensatz zu traditionellen Luftbildern erzeugten hier nicht­ fotografische Abtastsysteme, die auch im nichtsichtbaren Bereich des elektromagnetischen Spektrums die von der Erdoberfläche reflektierte Strahlung aufzeichnen konnten, digitale Daten, die dann über Computer bearbeitet wurden. Auf diese Weise erhielt man eine wesentlich höhere Informationsdichte – etwa über die aktuelle Land­ nutzung oder geologische Gegebenheiten. Die vorliegende Karte war Teil der Serie Österreichische Satellitenbildkarte. Das natürlich wirkende Bild einer Stadtlandschaft ist allerdings auf Grundlage von digitaler Bildverarbeitung entstanden und war daher gewissermaßen konstruiert: Es beruhte auf einem „Farbmisch­ bild in naturnahen Farben“ mit gleichzeitiger Kontrastverbesserung

und Kantenverstärkung. All das geschah, um die Lesbarkeit der Karte allgemein zu verbessern und gegebenenfalls planungsrelevante Strukturen sichtbarer zu machen. Die Aufnahme erfolgte aus einer Höhe von 705 bzw. 832 Kilometern und bot eine Auflösung von 10 x 10 Metern. Heutige Satellitenbilder liefern bereits Bodenauf­ lösungen von besser als 1 x 1 Meter, während flächendeckende Luft­ bildpläne, die bis zu 15 Zentimeter Bodenauflösung erreichen, in einer viel geringeren Höhe von bis ca. zwei Kilometern vom Flugzeug aus aufgenommen werden (so etwa die Orthofotos der Wiener Stadt­ vermessung). SB Lit.: Planungsatlas für Wien, 3. Lieferung, hg. v. Magistrat der Stadt Wien. Geschäfts­gruppe Stadtentwicklung, Stadtplanung und Personal, Wien 1990; Plan- und Karten­ werke (hg. v. Stadtvermessung MA 41), Wien 1994, S. 39; Stadtvermessung Wien (­Magistratsabteilung 41): Orthofo, https://www.wien.gv.at/stadtentwicklung/­ stadtvermessung/geo­daten/orthofoto/ (28.12.2016).

Kat.Nr. 1.1.14 Satellitenbildkarte Wien, 1994 Hersteller: Geospace Salzburg, in Zusammenarbeit mit der damaligen MA 30 Offsetdruck, 69 x 74 cm, Maßstab: ca. 1:50.000 Wien Museum, Inv.Nr. 249.872


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Neuer Blick auf die Stadt Zwischen 1931 und 1932 wurde nach den Plänen der Architekten Siegfried Theiss und Hans Jaksch das erste Hochhaus Wiens in der Herrengasse 6–8 errichtet. Der Plan, in der Wiener Innenstadt und in der Nähe des Stephansdoms ein Hochhaus zu bauen, war durchaus umstritten. Umso interessanter ist diese Fotografie, die einen Dialog zwischen altem und neuem Aussichtspunkt, zwischen Tradition und Moderne herstellt. Durch die moderne Glasfassade des Hochhauses blickt ein modisch gekleidetes Paar in Richtung Stephansdom. Das von der Fassade vorgegebene Raster systematisiert und prägt den Ausblick als zeitgenössisch, zugleich bildet es den idealen Rahmen für den im Zentrum stehenden Dom. Die durchdachte fotografische Inszenie­ rung dieses Wien-Blicks lässt sich als Kommentar zur Landschafts­ darstellung im Allgemeinen interpretieren, indem sie etwa deutlich macht, dass sich „Landschaft“ erst durch ihre Betrachtung konstitu­

iert. Das Bild verbindet kartografische mit künstlerischen Zugängen: Das geometrische Raster steht für das geografische Vermessen, der panoramatische Überblick für das emotionale und visuelle Erfahren der Stadt. Es ist anzunehmen, dass das Foto knapp nach der Errich­ tung des Hochhauses bzw. rund um die im Jahr 1935 erfolgte Eröff­ nung des Kaffeerestaurants in den verglasten drei obersten Etagen des 16-stöckigen Turms entstand. Das Hochhaus war ein Prestige­ projekt und symbolisches Aushängeschild der christlich-sozialen Staatsregierung. Die Publizierung und Vermarktung des Hochhaus­ blicks verdeutlicht, welch hohe Bedeutung und wichtige identitäts­ stiftende Wirkung diesem Motiv zuerkannt wurde. Zusätzlich war das Stiegenhaus eine Attraktion und eröffnete neue Blicke auf die Stadt. Der unbekannte Fotograf verkaufte das Bild an eine Fotoagentur, die es ihrerseits an internationale Agenturen in Deutschland und Paris weitergab. ED

Kat.Nr. 1.1.15 Blick vom Hochhaus in der Herrengasse, um 1935 unbekannter Fotograf SW-Fotografie Bromsilber, Vintage, 23,5 x 17,3 cm Wien, UNGERundKLEIN Wein Café im Hochhaus


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Wien-Panoramen im Spielfilm Durch das größere Format und die Bewegung eröffnete der (Kino-) Film ganz neue Dimensionen medialer Repräsentation. Stadtansich­ ten und Panoramen nehmen in Spielfilmen traditionell nicht nur eine Verortung des Geschehens vor, sondern enthalten zugleich wichtige symbolische Zuschreibungen. Dies trifft insbesondere auf Eröffnungssequenzen zu, von denen hier zwei gegensätzliche Beispiele aus der Nachkriegszeit gezeigt werden: In Willi Forsts letztem Film Wien, du Stadt meiner Träume aus dem Jahr 1957 leitet ein Überflug über die Stadt die Handlung ein. Der Monarch eines Fantasiereichs, der in Wien studiert hatte, kommt in Begleitung seiner Tochter auf Staatsbesuch nach Wien. Aus dem Flugzeug blicken sie auf die klassischen Sehenswürdigkeiten einer verklärten Stadt. Zwei Jahrzehnte später lässt Peter Patzak im Opener zu Zerschossene Träume die Kamera genau über die „andere“ Seite Wiens schwenken. Man sieht von oben die Baustelle der UNO-City in der Donaustadt, eintönige Plattenbauten und Bahnanlagen am Stadtrand – kontrastiv ergänzt um Bilder des verwahrlosten FranzJosefs-Bahnhofs oder bröckelnder Altbaufassaden. Die Ambivalenz Kat.Nr. 1.1.16 Filmausschnitte: 1. Wien, du Stadt meiner Träume, 1957 (Regie: Willi Forst, A), 1:50 Min. 2. Zerschossene Träume, 1976 (Regie: Peter Patzak, A/F/BRD), 1:00 Min. 3. Jugofilm, 1997 (Regie: Goran Rebi´ c, A), 1:35 Min.

und die Verunsicherung des Protagonisten, wie vielleicht der Stadt selbst, zwischen statisch erscheinender Vergangenheit und forcierter Modernisierung werden angedeutet. An anderer Stelle und aus einem nochmals anderen Blickwinkel betrachtet erscheint das Bild der Stadt in Goran Rebi´ cs Jugofilm aus dem Jahr 1997. Sein tragischer Held Sascha zieht in den Zerfallskrieg am Balkan und kehrt zerrüttet nach Wien zurück, er steht stellvertre­ tend für eine Generation von Gastarbeiterinnen und Gastarbeitern, deren erste Heimat nicht mehr existiert und die in Wien stets als Fremde gelten. Das poetische Bild, das dafür gewählt wird, ist Saschas Rückzugsort: Auf dem Dach des Mariahilfer Flakturms und mit Blick auf Wien aus luftiger Höhe findet Sascha eine Perspektive, die ihm im Leben abhandengekommen ist. SB Lit.: Christian Dewald, Michael Loebenstein, Werner M. Schwarz (Hg.): Wien im Film. Stadtbilder aus 100 Jahren (Ausstellungskatalog Wien Museum), Wien 2010, S. 271, S. 276, S. 285; Sándor Békési: Wien im Auftakt. Stadtansichten und urbane Räume als Opener, in: Dewald, Loebenstein, Schwarz, Wien im Film, S. 26–37.


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Architektur und Aussichten auf die Stadt Aussichten auf eine Stadt werden wesentlich durch die Architektur des jeweiligen Aussichtspunkts vermittelt. Selten jedoch wird wie in diesen Fotografien Stefan Oláhs (geb. 1971) die teils spektakuläre ­Architektur des Aussichtspunkts selbst Teil der Aussicht. Basierend auf der Idee von Schuss und Gegenschuss stellt Oláh in seinen Bild­ paaren jeweils den Aussichtspunkt, also das die Aussicht vermitteln­ de Bauwerk, der sich von dort bietenden Aussicht und der Perspektive auf die Stadt gegenüber. Das Ziel der Serie ist es, Wien in 36 Bildpaa­ ren zu erfassen. Dies ist eine Anspielung auf die berühmte Serie von

36 Aussichten der Residenzstadt Wien, die ab 1779 im Verlag Artaria erschienen war und das beliebte Genre der Ansichten­serien Wiens begründete. Sowohl das Medium der Ansichtenserie als auch der klassische Kanon der wichtigsten Wiener Aussichten und Aussichts­ punkte sollen so neu interpretiert und erweitert werden. Das Projekt stellt auch einen Versuch dar, die Stadt als Ganzes visuell zu erfassen, wird sie doch in insgesamt 72 Fotografien aus allen Himmelsrichtun­ gen, aus unterschiedlichsten Perspektiven und jeweils mit Blick und Gegenblick aufgenommen. ED


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Kat.Nr. 1.1.17 Sechs Bildpaare aus der Serie „Sechsunddreißig Wiener Aussichten“, 2014–2017 Aussicht von der Brigittenauer Lände, Aussicht vom Haus des Meeres, Aussicht vom Donau City Tower, Aussicht vom Cobenzl, Aussicht vom Wasserturm, Aussicht vom Lusthaus Fotografien: Stefan Oláh Idee und Konzept: Sebastian Hackenschmidt Pigmentprints, jeweils 49 x 40 bzw. 49 x 58 cm Stefan Oláh, Wien

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