Perspektiven
Reformerfolg Österreich – Perspektiven für Europa Wolfgang Schüssel, Bundeskanzler der Republik Österreich und Präsident des Europäischen Rates
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olfgang Schüssel betonte, Ludwig Erhard sei „eine ganz besondere Gestalt“ der europäischen Wirtschaftsgeschichte: „Erhard war ein Europäer der allerersten Stunde, der eine federführende Rolle nicht nur für Deutschland, sondern für die europäische Integration gespielt hat“, sagte der Bundeskanzler Österreichs. „Er war ein Vorund Nachdenker.“ Das Wirken Erhards sei bis heute spürbar.
Heute jedoch gehe eine Angst um in Europa. „Die Angst vor Reformen.“ Die sei nicht nur in Deutschland so, auch in Frankreich und Italien habe die Bevölkerung Angst vor der Modernisierung des Sozialstaats. Auch in den Staaten Mittel- und Osteuropas begönnen inzwischen ganz ähnliche Diskussionen wie in den Ländern Westeuropas. „Es ist nirgendwo einfach, Reformen umzusetzen und eine mutige Reformagenda durchzuhalten“, betonte Schüssel. Globalisierung werde als eine Bedrohung empfunden. „Es II/2006 trend
ist schon eigentümlich, dass in einem Land wie Deutschland, das Exportweltmeister ist, Globalisierung als Unwort gilt“, kritisierte Schüssel. Wenn man aber in die Tiefe ginge, stelle man fest, dass Wählerinnen und Wähler immer zwei Grundströmungen hätten, sagte Schüssel. Die eine sei das Streben nach Sicherheit und Stabilität. Die andere sei jedoch die Sehnsucht nach dem Neuen, nach dem Wandel – und damit nach Reformen. Schüssel sagte, es gebe weltweit kaum sicherere und stabilere Gesellschaftsmodelle als die der Deutschen und Österreicher. „Aber wie sind wir da hingelangt? Nicht durch Reformverweigerung, sondern durch ständige Veränderungen, Innovationen, Erfindungen, durch die Suche nach dem Neuen, nach dem jeweiligen Besten“, sagte Schüssel. „Was aber gestern richtig war, ist heute und morgen eben nicht mehr genug.“ Erneuerung sei der entscheidende Motor, auf den sich die Gesellschaften Europas wieder konzentrieren müssten. Schüssel erinnerte in
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Perspektiven diesem Zusammenhang an Friedrich August von Hayek, der den Wettbewerb als Entdeckungsverfahren begriff, weil er Lösungen hervorbringt, die ex ante niemand kennen kann. Mit Blick auf die Politik der Bundesregierung in Deutschland erklärte Schüssel, in Österreich habe es durchaus Phasen gegeben, in denen die große Koalition gut funktioniert habe. „Ich habe aber auch Phasen erlebt, wo sie überhaupt nicht funktioniert hat“, sagte der österreichische Bundeskanzler. Die Bedingung für das Funktionieren einer großen Koalition sei die Übereinstimmung bei einem großen Projekt. „Das ist ein wichtiger Punkt. Wenn es das
Wirtschaftsrat ehrt EU-Ratspräsident Wolfgang Schüssel
Gedenkmünze Ludwig Erhard in Gold für Österreichs Kanzler „Österreich und Deutschland sind gute Nachbarn, wichtige Handelspartner und enge Verbündete in Europa. Mit Bundeskanzler Schüssel steht ein weit über seine Landesgrenzen hinaus respektierter Staatsmann an der Spitze der Regierung in Österreich. Seine Regierung hat mutige Schritte unternommen, um Österreich zukunftsfest zu machen durch die Konsolidierung des Staatshaushaltes in nur vier Jahren, Anhebung des Renteneintrittsalters und Stärkung der Privatvorsorge, durch drastische Vereinfachung des Steuersystems bei einer Nettoentlastung von drei Milliarden €, durch beherzte Privatisierung der Staatsbetriebe, durch Schaffung von mehr Autonomie für Universitäten und durch eine Hochschulreform mit Beendigung der Verbeamtung der Professoren.“ Dies erklärte der Präsident des Wirtschaftsrates, Prof. Dr. Kurt J. Lauk, bei der Ehrung des EU-Ratspräsidenten, Österreichs Bundeskanzler Wolfgang Schüssel, während des Wirtschaftstages 2006. Schüssel erhielt die „Gedenkmünze Ludwig Erhard in Gold“ für seine hervorragenden Verdienste um die Soziale Marktwirtschaft in Österreich und Europa. Lauk weiter: „Österreich schlägt Deutschland derzeit in mehreren Disziplinen: Ob Beschäftigung, Wachstum, Investitionen oder Staatsfinanzen – Österreich liegt vorne!“ Schüssel gebe als Präsident des Europäischen Rates Orientierung: „Er ist ein Glücksfall für Österreich und für Europa.“ Nach Altbundeskanzler Helmut Kohl und dem ehemaligen französischen Ministerpräsidenten Pierre Raffarin ist Wolfgang Schüssel der dritte Träger dieser höchsten Auszeichnung des Wirtschaftsrates.
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nicht gibt, dann ist auch die Bindung für eine große Koalition zu wenig gegeben.“ Für die große Koalition in Österreich sei dieses große Projekt der Beitritt zur Europäischen Union zwischen Ende der achtziger und Mitte der neunziger Jahre gewesen. „Dieses Projekt war für uns lebens-, ja überlebenswichtig. Wir hätten sonst diesen enormen Quantensprung nie geschafft“, sagte Schüssel. Die Erfolge der österreichischen Regierung seit 2000 auf dem Gebiet wirtschaftspolitischer Reformen seien ohne die Vorarbeit der großen Koalition in den Jahren zuvor kaum möglich gewesen. Die Internationalisierung der österreichischen Wirtschaft und das Aufbrechen verkrusteter Strukturen seien nur durch den EU-Beitritt Österreichs zustande gebracht worden. „Diese Phase der großen Koalition will ich nicht missen“, sagte Schüssel. Gerade Deutschland könne zu Beginn des 21. Jahrhunderts ein solches großes Projekt der Umstrukturierung und des Neubeginns vertragen. „Nur bedarf es natürlich der Bereitschaft, auf ein solches Thema einzugehen“, sagte Schüssel. Der Bundeskanzler erklärte allerdings auch, dass es Phasen der großen Koalition in Österreich gegeben habe, in denen es das große Projekt nicht mehr gegeben habe und die Bindung der Koalition verloren gegangen sei. „Ausgangspunkt war die Rentenreform und die Erhöhung der Lohnzusatzkosten wegen der gestiegenen Gesundheitskosten in den Jahren vor 1999“, sagte Schüssel. „Das ist ja auch für Deutschland interessant zu sehen, warum dieser Kitt der großen Koalition gebröckelt ist.“ Österreich habe damals deutlich erkannt, dass es eines flexibleren Arbeitsmarkts bedürfte. „Wir haben heute ein Kündigungsschutzrecht, dass den Betrieben weit gehende Freiheit, aber den Arbeitnehmern auch individuellen Sozialschutz bietet.“ Die Vermittlungsdauer für Stellensuchende sei durch verschiedene Maßnahmen im Bereich der staatlichen Arbeitsvermittlung auf durchschnittlich 100 Tage reduziert worden. In Deutschland liege der Vergleichswert weit höher, sagte Schüssel. Zudem habe sich die österreichische Regierung entschlossen, für eine Portabilität der Betriebsrenten zu sorgen. Dies habe die Mobilität der Arbeitnehmer zwischen den Betrieben deutlich erhöht. Österreich habe ferner das Renteneintrittsalter heraufgesetzt. „Das hat natürlich massive Auswirkungen
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Perspektiven gehabt“, sagte Schüssel. Der Bundeskanzler erinnerte an die großen Demonstrationen, die es in Österreich gegen die Politik seiner Regierung gegeben habe. Inzwischen sei Österreich jedoch das einzige Land in der EU, bei dem der Anteil der Pensionszahlungen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) leicht sinke. „Also: es zahlt sich aus. Es ist schwierig, aber mit einer gewissen Beharrlichkeit und Gelassenheit im Umgang lassen sich Reformen umsetzen“, sagte Schüssel. Gleiches gelte für die Steuerreform, die Österreich auf den Weg gebracht habe. Bereits die große Koalition habe die Gewerbesteuer abgeschafft. Seit Januar 2005 sei die Körperschaftssteuer für die Unternehmen massiv von 35 auf 25 Prozent gesenkt worden. Dies sei für die Sicherung des Standorts von entscheidender Bedeutung gewesen, betonte Schüssel. Zahlreiche Unternehmenszentralen hätten sich in Österreich angesiedelt, zudem sprudelten die Steuereinahmen bereits ein Jahr nach dem Inkrafttreten der Reform kräftig. „Das zeigt: es funktioniert. Man muss sich nur trauen“, sagte Schüssel. Österreich bietet damit nach den Worten Schüssels gutes Anschauungsmaterial für eine Unternehmensteuerreform in Deutschland. Sinkende Steuersätze könnten durch das Ankurbeln der Wirtschaft und der Investitionstätigkeit für steigende Steuereinnahmen sorgen. „Mut, nicht Kleinmut ist erforderlich.“ Dies habe im Übrigen auch Ludwig Erhard mit seinen Entscheidungen bewiesen. Schüssel erklärte, Österreich habe bei der Privatisierung von früheren Staatsbetrieben erhebliche Fortschritte vorzuweisen. Die Schwerindustrie in Ost-Österreich sei früher nicht aus ideologischer Motivation heraus verstaatlicht worden, sondern um sie vor dem Zugriff der Sowjets zu schützen. Nach einer Krise der Stahlindustrie in den achtziger Jahren habe man die Betriebe jedoch schrittweise reprivatisieren müssen. Dies habe bereits in der Regierungszeit der großen Koalition begonnen, sei aber nach 2000 noch konsequenter fortgesetzt worden. Die staatlichen Konzerne hatten nach den Worten Schüssels im Jahr 2000 rund sechs Milliarden € Schulden angehäuft. Dem Schuldenberg gegenüber gestanden habe ein Wert der staatlichen Beteiligungen von nur 5,5 Milliarden €. „Daraufhin haben wir sehr marktnah agiert. Wir haben die Aufsichtsräte völlig entpolitisiert und II/2006 trend
uns die besten Manager geholt. Heute, fünf Jahre später, sind die Konzerne schuldenfrei und der Restwert der Minderheitsbeteiligungen beträgt neun Milliarden €.“ Allerdings habe die Regierung Österreichs nicht nur gespart und Schulden zurückgezahlt, sondern auch in die Infrastruktur investiert. „Wir investieren heute doppelt so viel in Schiene und Straße wie vor dem Jahr 2000.“ Im Bereich der Autobahnfinanzierung komme Österreich durch die Umstellung auf ein Mautsystem für LKW und PKW inzwischen ohne einen einzigen Steuereuro aus, betonte Schüssel. „Das ist ein interessantes Modell, denn die Bürger bekommen mit einer der modernsten Infrastrukturen Europas eine Gegenleistung.“ Ferner seien auch die Forschungsausgaben in der Alpenrepublik verdoppelt worden. „Gerechtigkeit ist wichtig, keine Frage“, sagte Schüssel. „Wer aber beginnt, wirtschaftlichen Fortschritt und soziale Gerechtigkeit gegeneinander auszuspielen, der ist auf dem Holzweg. Beides funktioniert nur Hand in Hand.“
„Österreich bietet gutes Anschauungsmaterial für eine Unternehmensteuerreform in Deutschland.“ Der amtierende europäische Ratspräsident betonte, wie wichtig es sei, die Lissabon-Strategie der Europäischen Union voranzutreiben. Es sei darum richtig, dass der deutsche Bundeswirtschaftsminister Michael Glos von Bundeskanzlerin Angela Merkel als zentraler Koordinator auf diesem Gebiet eingesetzt worden sei. „Wir brauchen eine sichtbare Person, die den Prozess vorantreibt“, sagte Schüssel. Es dürfe nicht sein, dass ein solches wichtiges Vorhaben unsichtbar im Beamtenapparat vonstatten gehe. In diesem Zusammenhang wies Schüssel auf die Fortschritte bei den jahrelangen Verhandlungen um die umstrittene EU-Dienstleistungsrichtlinie hin. Zwar bliebe das erzielte Ergebnis hinter dem Wünschbaren zurück. Jedoch sei es besser, auf einem richtigen Weg kleine Fortschritte zu erzielen als gar keine. In wenigen Jahren werde die Diskussion um eine weit reichende Liberalisierung der Dienstleistungsmärkte ohnehin wieder aufgegriffen, prophezeite Schüssel. Abschließend verwies der Bundeskanzler Österreichs auf die zahlreichen positiven Reformbeispiele in Europa. Großbritannien, die skandinavischen Länder und auch Österreich hätten sich aus Krisen herausgearbeitet. Das könne auch Deutschland gelingen. „Sie haben ein riesiges Potenzial!“, sagte Schüssel. Aus Rede Wirtschaftstag 2006
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Perspektiven
Deutschland fit machen – Regierungsprogramm für den Wiederaufstieg Dr. Angela Merkel MdB, Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland
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ie Bundeskanzlerin betonte, Deutschland müsse aus eigener Kraft heraus wieder eine dynamische Volkswirtschaft werden. „Deutschland hat eine Verantwortung für Europa“, betonte Angela Merkel. „Wenn Europa das Lissabon-Ziel erreichen will, der dynamischste Kontinent der Welt zu werden, dann geht das nicht ohne ein dynamisches Deutschland.“
Merkel sagte, der Respekt der Bundesregierung gelte gegenüber allen Wählergruppen. „Aus meiner Sicht ist vor dem Hintergrund des Wahlergebnisses die große Koalition die Konstellation, die am besten und am zuverlässigsten umsetzen kann, was uns das Wahlergebnis mit auf den Weg gegeben hat.“ Merkel sagte, sie sehe ihre Aufgabe darin, die Chancen der
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Großen Koalition voll auszunutzen und „den Willen des Wählers so zu nutzen, dass dabei für Deutschland etwas Gutes herauskommt“. Reformen könne man indes nur umsetzen, wenn auch ein großer Teil der Bevölkerung davon überzeugt sei. Die Überzeugung, dass Reformen zu einer Verbesserung der Lage führten, sei in Deutschland jedoch noch nicht so stark ausgeprägt wie das zu wünschen wäre. „Die Menschen sind über viele Jahre – im Übrigen länger als Rot-Grün regiert hat – an einen Kreislauf gewöhnt worden, der mit Versprechungen begann, die relativ häufig nicht erfüllt wurden.“ Die Unsicherheit hinsichtlich der Gestaltungsfähigkeit der Politik sei im Zuge dessen bei den Menschen immer größer geworden. „An vielen Stellen
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Perspektiven wurden Erwartungen enttäuscht – und wir müssen Sorge haben, dass am Ende nur noch Enttäuschungen erwartet werden.“ Aus diesem Kreislauf müsse sich die Politik befreien. „Deshalb ist es ganz wichtig, dass wir zu einer Politik kommen, bei der wir den Bürgern sagen, was die Realität ist.“ Dazu gehöre die Aufstellung eines Bundeshaushalts, bei dem sich nicht am Ende eines Jahres die am Anfang des Jahres aufgestellten Haushaltsansätze regelmäßig als Makulatur herausstellten. „Deshalb haben wir uns zu einer ehrlichen Haushaltspolitik entschieden“, sagte Merkel. Die Bundeskanzlerin verwies in diesem Zusammenhang auf die ungünstige Struktur der Bundesausgaben. Durch die hohen konsumtiven Ausgaben und den hohen Anteil für die Bedienung der Schulden sei der Spielraum für Zukunftsinvestitionen bescheiden. Die Bundesregierung stehe vor der Herausforderung, neben dem Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt vor allem auch die Verschuldungsgrenze des Artikels 115 Grundgesetz wieder einzuhalten, wonach die Neuverschuldung nicht höher als die Investitionen sein dürfen. Dies sei schwieriger als die Einhaltung des Stabilitätspakts, erläuterte Merkel. Aus diesem Grunde sei die avisierte Mehrwertsteuererhöhung unumgänglich. „Was leider in der öffentlichen Diskussion zu kurz kommt, ist, dass wir gleichzeitig die Lohnzusatzkosten um netto 1,6 Prozentpunkte senken werden“, sagte Merkel. „Das ist etwas, das für die Arbeitgeber und Arbeitnehmer nicht ohne Bedeutung ist.“ Merkel erklärte, die zweite wichtige wirtschaftspolitische Säule der großen Koalition sei die Förderung des Wirtschaftswachstums. Aus diesem Grunde habe die Bundesregierung ein Investitionsprogramm für die gesamte Legislaturperiode beschlossen. Damit sollten Akzente gesetzt werden. „Wenn wir die Politik von RotGrün damit vergleichen, was wir da gemacht haben, dann wird an mehreren Stellen ein grundsätzlicher Mentalitätswechsel sichtbar.“ Die Bundesregierung gebe in der laufenden Legislaturperiode sechs Milliarden € mehr aus für Forschung und Entwicklung. Dies sei der Beitrag, den die öffentliche Hand auf Bundesebene leisten müsse, um bis 2010 drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Forschung und Entwicklung auszugeben. „Wenn Deutschland das nicht schafft, werden wir international bei Innovationen und neuen Produkten nicht wettbewerbsfähig bleiben“, betonte die RegieII/2006 trend
rungschefin. Merkel erklärte in diesem Zusammenhang die Notwendigkeit des Innovationsrates, den die Bundesregierung sich beratend zur Seite gestellt habe. Dieser sei erforderlich, um die nötige Expertise bereitzustellen. Merkel betonte, ein weiterer wichtiger Mentalitätswandel der Großen Koalition im Vergleich zur Vorgängerregierung betreffe die Behandlung privater Haushalte als Arbeitgeber durch entsprechende steuerliche Regelungen. „Meine Vision ist, Privathaushalte eines Tages so zu behandeln wie einen normalen Arbeitgeber. Das heißt, dass Dienstleistungsjobs in Privathaushalten entstehen können – egal ob für Kinderbetreuung oder Gartenarbeit.“ Sie erinnerte an die jahrelange Debatte um das so genannte Dienstmädchenprivileg. „Davon sind wir weg. Wir fördern jetzt Stellen im Privathaushalt steuerlich, aber das muss noch ausgebaut werden.“
„Meine Vision ist, Privathaushalte eines Tages so zu behandeln wie einen normalen Arbeitgeber.“ Die Große Koalition investiere zudem mehr Geld in die Verkehrsinfrastruktur und habe Public Private Partnership (PPP) vorangetrieben. „Wir haben Maßnahmen ergriffen, die Deutschland wieder besser zu einem mobilen Land machen.“ Außerdem habe die Bundesregierung insbesondere durch die vorteilhaften Abschreibungsbedingungen bis zur Umsetzung einer großen Unternehmensteuerreform 2008 ein Förderpaket für den Mittelstand auf den Weg gebracht. Merkel verwies ferner auf den Beschluss, einen Normenkontrollrat einzurichten, mit dessen Hilfe die Bürokratiekosten quantifiziert und reduziert werden sollen. „Bürokratieabbau wird von uns allen ja immer wieder genannt, aber die Bürokratiekosten waren bislang nie messbar, nie quantifizierbar – deshalb halte ich diesen Schritt für außerordentlich wichtig.“ Merkel verteidigte die Beschlüsse der Bundesregierung zum Anti-Diskriminierungsgesetz. Die alte Bundesregierung habe in Brüssel bei der Richtlinie Fakten geschaffen, an denen sie im Nachhinein nicht mehr vorbei gekommen sei. Merkel sagte, die nun gefundene Regelung entspreche nicht ihren Wunschvorstellungen, sie habe jedoch überwiegend symbolischen Wert. „Wenn ich mir die Breite der Aufgaben in Deutschland anschaue, dann hängt daran nicht das Schicksal der Bundesrepublik“, betonte Merkel.
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Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit hat Priorität
ständigkeit allein auf die Kommunen zu übertragen. „Bei allen Respekt vor den Kommunen: Sie haben nicht unbedingt die Fähigkeit, jemanden von der Uckermark nach München zu vermitteln. Wir brauchen hier eine Verzahnung, aber die Funktionsfähigkeit muss fraglos noch einmal überdacht werden.“ Darüber werde die große Koalition im Herbst sprechen. Ebenso müsse darüber gesprochen werden, „ob die Leistungen, die man über Hartz IV erhält, ausreichend Anreize zur Arbeitsaufnahme geben.“ Jeder habe die Pflicht, im Rahmen seiner Möglichkeiten mit eigener Arbeit selbst für sein Auskommen zu sorgen, unterstrich die Bundeskanzlerin. „Und wir müssen auch sicherstellen, dass diese alte Regel gilt: Wenn jemand arbeitet, muss er mehr bekommen, als wenn er nicht arbeitet.“ Wichtiger für die Koalition sei es zum Beispiel, Anreize für Arbeit zu schaffen. Die Hartz-IV-Gesetzgebung sei bereits reformiert worden, um den Druck auf Arbeitsunwillige zu erhöhen. „Wir haben ein Gesetz beschlossen, welches immerhin sicherstellt, dass Menschen, die ein Arbeitsangebot bekommen und dies mehrmals ausschlagen, zum Schluss überhaupt keine Leistung mehr bekommen – und wenn sie es ein- oder zweimal ausschlagen, deutliche Leistungskürzungen zu erwarten haben.“ Dies sei absolut notwendig. Zudem würden durch die Überführung der Ich-AG und des Überbrückungsgeldes in ein neues Existenzförderinstrument bis zu eine Milliarde € pro Jahr gespart. Merkel machte jedoch auch deutlich, dass dies noch nicht ausreiche. „Wir werden eine weitere grundlegende Überholung brauchen.“ Die Grundidee von Hartz IV ist nach den Worten Merkels jedoch weiterhin richtig. Die Union habe sich seit jeher für eine Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe zu einem Förderinstrument ausgesprochen. „Das war eine alte Unionsforderung.“ Man habe immer gewusst, dass das Gesetz, dem die Union im Bundesrat zugestimmt habe, einige Unzulänglichkeiten habe. „Aber an der grundsätzlichen Idee, Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammenzulegen, zweifele ich auch heute nicht – sie ist und bleibt richtig.“
„Wenn jemand arbeitet, muss er mehr bekommen, als wenn er nicht arbeitet.“ Merkel kritisierte die Kompetenzprobleme in den Jobcentern, die sich aus der gemeinsamen Zuständigkeit der Bundesagentur für Arbeit (BA) und der Kommunen ergäben. Jedoch zweifle sie daran, dass es vernünftig sei, die Zu-
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Merkel erklärte in diesem Zusammenhang, dass die Bundesregierung im Herbst ein Gesamtkonzept für den Niedriglohnsektor vorlegen werde. Dann müsse man sich indes auch genau anschauen, inwieweit es möglich sei, Arbeit zu subventionieren und einen Kombilohn einzuführen. „Wir müssen dafür sorgen, dass der Slogan ,Fördern und Fordern‘ wirklich wahr wird“, umschrieb Merkel das Grundprinzip. Gegenwärtig werde an einigen Stellen nicht genug gefordert, an anderen wiederum würden die Arbeitsuchenden nicht hinreichend gefördert. „Das Hauptanliegen heißt, sich nicht in Hartz IV einzurichten, sondern aus Hartz IV wieder herauszukommen in richtige Arbeit“. Merkel gestand indes zu, dass es in der Großen Koalition sehr schwierig sei, die arbeitsrechtliche Programmatik der Union etwa hinsichtlich betrieblicher Bündnisse für Arbeit durchzusetzen. Die Bundeskanzlerin erklärte, für Erfolge auf dem Arbeitsmarkt bedürfe es neben den genannten Maßnahmen einer Senkung der Lohnzusatzkosten und einer stärkeren Entkoppelung der Sozialversicherungsbeiträge von den Arbeitskosten. „Wir haben uns vorgenommen, die Lohnzusatzkosten auf unter 40 Prozent der Bruttolöhne zu senken“, sagte Merkel. „Das ist, wenn Sie sich die Lage der sozialen Sicherungssysteme anschauen, ein ehrgeiziges Ziel.“ Die Bundeskanzlerin erklärte, die Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters auf 67 Jahre sei ein wichtiger Reformschritt, der in anderen politischen Konstellationen als der Großen Koalition weitaus schwieriger umzusetzen gewesen wäre. 20 Millionen Rentnern seien indes
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Perspektiven keine Kürzungen zuzumuten gewesen. „Ich weiß, dass 80 Milliarden € aus dem Bundeshaushalt in die Rentenkasse fließen – ich weiß aber auch, was weitere Nullrunden für 20 Millionen Rentner bedeuten.“ Die Bundeskanzlerin erklärte, das Hauptaugenmerk der anstehenden Gesundheitsreform müsse auf einer Strukturveränderung liegen. „Diese Strukturveränderung muss mehr Wettbewerb und mehr Transparenz in das System bringen und nach meiner festen Überzeugung den Versicherten zu einem mündigen Subjekt in diesem System machen.“ Dies sei in der großen Koalition eine schwierig umzusetzende Aufgabe. „Wir brauchen eine Gebührenordnung für Ärzte und wir brauchen Transparenz im stationären Bereich – und dann werden wir in Deutschland erstmals in der Lage sein, Preise zu vergleichen und entscheiden können, wo was am besten gemacht wird.“ Dies sei in der gegenwärtigen budgetierten Struktur nicht möglich. „Das sind Zustände, bei denen wir Geld verschwenden, die müssen beendet werden“, sagte Merkel. Die Bundeskanzlerin machte sich zudem für „vernünftige“ Preisstrukturen im Arzneimittelbereich stark. „Wenn ich sage vernünftig, dann heißt das, dass man vor allem für die forschende Pharmaindustrie die Preise nicht beliebig deckeln kann, weil es dann keine Pharmaforschung mehr gibt.“ Die Bundesrepublik habe „ein hohes Interesse“ daran, die forschende pharmazeutische Industrie im Land zu halten und nach Möglichkeit weiter auszubauen. Merkel sagte, dass das Gesundheitswesen trotz aller Strukturreformen langfristig nicht billiger werde. In einer Gesellschaft, die medizinisch mehr leisten könne und in der die Menschen älter werden, werde das Gesundheitssystem mehr kosten, insbesondere dann, wenn es als Wachstumsmarkt ausgestaltet werde. „Wir dürfen jedoch nicht alle Mehrkosten den Kranken auflasten“, warnte Merkel. „Unter den schrittweise steigenden Kosten werden auch solidarische Beiträge sein.“ Wenn die Bundesregierung sicherstellen wolle, dass die Menschen in Deutschland den Weg der Reformen weiter mitgingen, dann gehe es bei der Reform des Gesundheitswesens um einen der sensibelsten Bereiche überhaupt. „Wenn man heute mit älteren Menschen spricht und sagt, wir wollen keinen Weg in die Zweiklassenmedizin, dann müssen Sie als Politikerin aufpassen, dass Sie nicht ausgelacht werden. Die Menschen empfinden, dass es in unserem Land II/2006 trend
schon an vielen Stellen in diese Richtung geht.“ Merkel sagte, sie wolle nicht, dass es soweit komme. „Und deshalb halte ich die Reform des Gesundheitswesens für eine der anspruchsvollsten Reformen, die wir zu bewerkstelligen haben.“
„Wir haben die Möglichkeit, in wichtigen internationalen Bereichen Akzente zu setzen und zu gestalten.“ Merkel kündigte an, die Bundesregierung werde in den kommenden Monaten Eckpunkte für eine Unternehmensteuerreform und eine Reform der Erbschaftssteuer vorlegen. „Wir wollen erreichen, dass die, die ihr Geld mindestens zehn Jahre lang im Unternehmen lassen, am Ende keine Erbschaftssteuer mehr zu zahlen haben.“ Dies sei ein wichtiges Signal an die Mittelständler und werde im Januar 2007 umgesetzt. Die Bundeskanzlerin ging ferner auf die EUund G8-Präsidentschaft Deutschlands im kommenden Jahr ein. „Wir haben damit die Möglichkeit, in wichtigen internationalen Bereichen Akzente zu setzen und zu gestalten.“ Mit Blick auf die EU-Präsidentschaft im ersten Halbjahr 2007 nannte Merkel zwei Punkte, die ihr besonders wichtig seien. „Auf der einen Seite müssen wir dafür sorgen, dass sich der Binnenmarkt in Europa wirklich zu einem Binnenmarkt entwickelt. Ich sehe protektionistische Tendenzen, was nationale Champions anbelangt. Wenn wir einen europäischen Binnenmarkt haben wollen, dann müssen wir uns auch zu europäischer Gemeinsamkeit bekennen. Dann können wir nicht bei jeder Fusion oder bei jedem Merger sagen, das passt uns nicht, weil wir damit nationale Anteile verlieren.“ Zweitens gehe es ihr darum, das Thema „better regulation“ auf EU-Ebene anzugehen und mithin alle Richtlinien zu durchforsten, die in den vergangenen 50 Jahren angehäuft worden seien. „Man muss den Mut haben, auch mal welche zu streichen“, sagte Merkel. Zudem betonte die Bundeskanzlerin, aus ihrer Sicht sei in der EU in den kommenden Jahren das Thema Vertiefung wichtiger als das Thema Erweiterung. Merkel erklärte abschließend, sie schätze die konstruktive Kritik des Wirtschaftsrates an der großen Koalition. „Ich hoffe, dass wir Deutschland in den kommenden Jahren gemeinsam weiter voranbringen werden.“ Aus Rede Wirtschaftstag 2006
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Für Stabilität und Sicherheit: Neue Qualität für transatlantische Beziehung Robert M. Kimmit, Stellvertretender Finanzminister der USA
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obert M. Kimmit betonte, in den vergangenen Monaten sei eine neue Lebendigkeit im deutsch-amerikanischen Verhältnis spürbar geworden. „Kanzlerin Merkel und Präsident Bush und auch ihre Minister sprechen viel häufiger und mit mehr Offenheit über die wichtigen Fragen“, sagte Kimmit. Diese gestärkte deutsch-amerikanische Partnerschaft als Kern einer starken europäisch-amerikanischen Partnerschaft sei entscheidend, um gemeinsam die globalen Herausforderungen zu meistern. „Sie ermöglicht uns, die Chancen der globalisierten Welt zur Mehrung von Wohlstand und Sicherheit zu nutzen.“ Globale Herausforderungen erforderten Führungsstärke, die nur eine wirkliche europäischamerikanische Partnerschaft leisten könne. Die
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neue deutsche Regierung habe wichtige Schritte unternommen, um die Tradition und den Geist der deutsch-amerikanischen und der transatlantischen Kooperation wiederzubeleben, sagte Kimmit. Führungsstärke in einem transatlantischen Verhältnis müsse auf einem starken wirtschaftlichen Fundament basieren. „Die innere Stärke eines Landes ist heute zunehmend davon abhängig, dass eine Volkswirtschaft sich den Herausforderungen der Globalisierung anpassen kann und deren Vorteile nutzt.“ Deutschland und die USA profitierten enorm von der Globalisierung, unterstrich der amerikanische Vize-Finanzminister. Deutschland sei der größte Warenexporteur der Welt. Die USA seien als das bevorzugte Ziel ausländischer In-
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Perspektiven vestitionen darauf angewiesen, dass ausländische Investoren zusätzliches Kapital ins Land brächten, das aus den eigenen Rücklagen nicht aufgebracht werden könne. Für die US-Wirtschaft sei die Globalisierung bislang eine Quelle wirtschaftlicher Dynamik gewesen – und sie habe viele neue Arbeitsplätze geschaffen. Die Wirtschaft der USA habe seit 1995 im Jahresdurchschnitt 1,6 Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen. Die Flexibilität und Fluktuation auf dem amerikanischen Arbeitsmarkt sei indes größer als auf dem deutschen. Die Steigerung der Produktivitätsrate in den USA zeige, dass ein flexibler Arbeits- und Produktmarkt die Zahl der Arbeitsplätze und die Produktivität der Arbeitnehmer steigere. „Die Produktivität hat in den USA im Verlauf der letzten drei Jahrzehnte stetig zugenommen, zunächst durch den Einzug der Informationstechnologie und in jüngster Zeit durch die Einführung von neuen Technologien in der Dienstleistungsbranche“, erläuterte Kimmit. Diese Produktivitätssteigerung werde durch einen dynamischen Arbeitsmarkt und flexible Regulierung möglich, die sich rasch den neuen Möglichkeiten des technischen Fortschritts anpassten. So mache „kreative Zerstörung“ den Weg frei, damit Ideen und Kapital zu besseren Investitionen und in bessere Jobs fließen könnten. „Durch sie können Innovation und Humankapital in mehr Möglichkeiten und steigende Einkommen umgewandelt werden“, sagte Kimmit. Was in wirtschaftlicher Hinsicht dynamisch sei, könne auf der persönlichen Ebene jedoch zu Schwierigkeiten führen. Amerikaner machten sich ebenso wie Europäer Sorgen darum, welche Auswirkungen die Globalisierung auf ihren Arbeitsplatz und ihre Familie habe. „Trotz der vielen neuen Möglichkeiten vollzieht sich ein Jobwechsel nicht ohne Schmerzen“, sagte Kimmit. Doch die Antwort auf diese Stresssituation könne nicht darin liegen, auf die Wachstumsbremse zu treten, indem man die Flexibilität des Arbeitsmarktes einschränke. „Ganz im Gegenteil: Die Antwort muss sein, unsere wirtschaftliche und soziale Infrastruktur so auszurichten, dass sie Dynamik unterstützt.“ Studien der OECD sagten voraus, dass die Anwendung von ‘best practice’-Prinzipien bei der Regulierung von Warenmärkten das europäische Wirtschaftswachstum um jährlich 3,2 II/2006 trend
Prozent steigern könnten – dies entspricht nach den Worten Kimmits 850 € zusätzlich pro Jahr für jeden Mann, jede Frau und jedes Kind in der EU. „Durch die Flexibilisierung der Arbeitsmärkte würde Europa die Beschäftigungsrate um sechs bis neun Prozent steigern. Das entspricht der Schaffung von 22 Millionen neuen Arbeitsplätzen in der EU.“ Kimmit betonte, dass dieser Befund unabhängig von der Verfügbarkeit von Sozialleistungen gelte. „Flexibilität muss nicht um den Preis niedriger Sozialstandards erkauft werden.“ Länder wie Dänemark kombinierten großzügige Leistungen für Arbeitslose mit flexiblen Regelungen des Arbeitsmarktes und Programmen zur Jobvermittlung und seien das beste Gegenbeispiel für den Einwand, mehr Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt ginge notwendigerweise zu Lasten der sozialen Sicherheit. Dänemarks Arbeitslosenquote von fünf Prozent entspreche in etwa der der USA. Die durchschnittliche Verweildauer auf einem Arbeitsplatz sei dabei ebenso hoch wie in Großbritannien und nur wenig höher als in den USA.
Europäisch-amerikanische Partnerschaft bringt Führungsstärke
„Jedes Land muss sein Modell nach seinen eigenen sozialen Prioritäten wählen.“ „Jedes Land muss sein Modell nach seinen eigenen sozialen Prioritäten wählen. Aber Deutschland kann seine wirtschaftliche Flexibilität erhöhen, ohne dadurch die Grundlagen des deutschen Gesellschaftsvertrages zu gefährden“, betonte Kimmit. Die USA sähen Deutschland nach den Worten des stellvertretenden Finanzministers gerne in der traditionellen Rolle als Europas Wachstumsmotor. „Das Land befindet sich in einer guten Ausgangslage, um mit mutigen Reformen große Schritte nach vorn zu machen.“ Deutsche Unternehmen seien wie-
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Grenzüberschreitende Investitionen bedeuten enorme Vorteile für Volkswirtschaften
der wettbewerbsfähig und aufgrund der freundlichen Stimmung in der Lage, sowohl in Deutschland als auch im Ausland zu investieren und Arbeitsplätze zu schaffen.
„Ein beschleunigter Reformprozess in Deutschland hätte Auswirkungen auf ganz Europa.“
Deutschland und die USA sind Partner in der Gestaltung der globalen wirtschaftlichen Entwicklung
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Die Wähler hätten der Großen Koalition ihr Vertrauen ausgesprochen und ihr ein klares Mandat erteilt. „Die frühen Anstrengungen der Koalition, das Haushaltsdefizit unter Kontrolle zu bringen, haben zusammen mit einem verstärkten Wirtschaftswachstum die Defizitquote reduziert. Das erweitert den fiskalpolitischen Spielraum, um die Übergangskosten der Reformen abzumildern“, erklärte Kimmit. Ein beschleunigter Reformprozess in Deutschland hätte nach Einschätzung Kimmits Auswirkungen auf ganz Europa. Die Lissabon-Strategie sei vereinbart worden, um im freundschaftlichen Wettbewerb die Motivation für schwierige, aber
notwendige Reformen zu erhöhen. „Was bislang fehlt, ist ein Land, das mit gutem Beispiel vorangeht.“ Wenn Deutschland diese Rolle übernähme, würde der Rest des Kontinents folgen. Angela Merkels Vision für die Wiederbelebung der deutschen Wirtschaft sei glaubwürdig, sagte Kimmit. Sie fuße auf dem “Kreativen Imperativ”, den die Kanzlerin in ihrer Rede auf dem diesjährigen Weltwirtschaftsforum erläutert habe. „Sie reagiert damit auf die ganze Bandbreite an Herausforderungen, die die Globalisierung mit sich bringt. Sie entwickelt den Gedanken der Innovation über ein begrenztes Verständnis von Forschung, Entwicklung und Bildung hinaus weiter.“ Die Bundeskanzlerin beziehe sich zudem auf Ludwig Erhard. Sie widme sich der praktischen Anwendbarkeit der Erhard’schen Ideen in der heutigen Zeit. Reformen in Deutschland müssten im Grunde oft nur informelle Entwicklungen formalisieren, die in der deutschen Wirtschaft bereits heute Realität seien. Die verbesserte Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen sei zumindest teilweise das Ergebnis informeller Vereinbarungen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern. Sie ermöglichten eine flexiblere Gestaltung der Arbeitsverhältnisse und längere Arbeitszeiten – trotz strikter Regulierung des Arbeitsmarktes. Die Formalisierung dieser Vereinbarungen mache die Wirtschaft effizienter und berge darüber hinaus das Potenzial, die Einnahmesituation des Staates durch Reduzierung des grauen Arbeitsmarktes zu verbessern. Amerikanische und andere ausländische Anleger seien bereit, mehr Kapital, Arbeitsplätze, und Management-Know-how nach Deutsch-
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Perspektiven land zu bringen, sobald sich das Investitionsklima verbessert habe. Grenzüberschreitende Investitionen stellten enorme Vorteile für Volkswirtschaften dar. Auf europäischer Seite sei es wichtig, dass die EU-Mitgliedstaaten die Kommission bei der Durchsetzung der Übernahmerichtlinie unterstützten und protektionistischen Tendenzen Einhalt geböten. „Die vertiefte Marktintegration steht hier vor einer ersten großen Prüfung. Werden die neuen Regeln nicht durchgesetzt, bedeutet dies einen großen Schlag gegen ein Gründungsprinzip Europas: die Freizügigkeit des Kapitals unter den EU-Mitgliedstaaten“, warnte Kimmit. Deutschland habe bislang Versuchen widerstanden, Beteiligungen an großen deutschen Konzernen politisch zu verhindern. Die Beteiligung der Private-Equity-Gruppe Blackstone an der Deutschen Telekom sei ein positives Signal für das Investitionsklima in Deutschland. Das Gewicht Deutschlands und der USA in der Weltwirtschaft machten die beiden Länder zu natürlichen Partnern in der Gestaltung globaler wirtschaftlicher Entwicklungen. Entscheidend sei, dass Deutschland und die USA mit einer Stimme sprächen und die politischen Herausforderungen entschlossen angegangen werden. So könnten beispielsweise die Amerikaner ihr Leistungsbilanzdefizit kaum durch unilaterale Maßnahmen abbauen. „Was wir dringend brauchen, ist ein geordneter Ausgleich zwischen weltweiten Ersparnissen und der Nachfrage“, erklärte Kimmit. Im Zentrum der globalen wirtschaftlichen Kooperation sollte zudem die Schaffung eines offenen Handelssystems stehen. Deutschland profitierte enorm von der Handelsliberalisierung und habe daher ein Interesse an Verantwortung in einer Führungsrolle in der europäischen Handelspolitik. Eine erfolgreiche Doha-Runde, die Fortschritte bei Zöllen und Marktzugang für landwirtschaftliche Erzeugnisse, Industriegüter und Dienstleistungen bringe, sei im Interesse der USA und Deutschlands. Da die „Fast-Track“-Verhandlungsbefugnis des US-Präsidenten allerdings Mitte 2007 ablaufen werde, gebe es nur noch wenig Zeit für einen Durchbruch. Deutschland solle seinen großen Einfluss geltend machen und die EU in Richtung einer Position lenken, die den Stillstand beim Zugang zu den Agrarmärkten überwinde. „Wenn das möglich ist, können wir gemeinsam als Partner auf ehrgeizige Ergebnisse hinwirken und die II/2006 trend
Verhandlungen zu einem erfolgreichen Abschluss bringen“, betonte Kimmit.
Globale Herausforderungen erfordern Führungsstärke
Der stellvertretende US-Finanzminister ging ferner auf die Rolle der Finanzministerien bei der Bekämpfung des Terrorismus und der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen ein. „In der Welt nach dem 11. September 2001 tragen diese Ministerien eine neue Last, da Terroristen, Waffenhändler und andere kriminelle Akteure versuchen, mithilfe von Banken ihr Geld anzulegen und zu verschieben.“ Finanzministerien seien heute auch zu Sicherheitsministerien geworden, da sie eng mit den traditionellen Sicherheitsbehörden zusammenarbeiteten, um die Sicherheit ihrer Bürger zu gewährleisten. Kimmit verwies auf Äußerungen Angela Merkels, wonach kein Staat die Bedrohung des internationalen Terrorismus alleine abwehren könne. „Auch dafür müssen Europa und Amerika zusammenstehen, sagte Kimmit.
„Die vor uns liegenden Jahre werden in vielerlei Hinsicht schwierig sein.“ Als weitere wichtige Bereiche der strategischen Zusammenarbeit nannte Kimmit die Förderung der Demokratien in Osteuropa, den Frieden im Kosovo, Afghanistan, die Situation im Irak und die Bedrohung durch Iran. „Die vor uns liegenden Jahre werden in vielerlei Hinsicht schwierig sein“, sagte Kimmit. „Ich bin jedoch überzeugt, dass sie keine schwierigen Jahre für die deutsch-amerikanischen Beziehungen sein werden. Ganz im Gegenteil, aus meiner Sicht werden unsere Beziehungen sich zum Nutzen unserer beider Staaten und der Welt weiter positiv entwickeln.“ Aus Rede Wirtschaftstag 2006
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Innovationen als Antwort auf die Globalisierung Prof. Dr. Klaus Schwab, Executive Chairman, Weltwirtschaftsforum
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laus Schwab sprach vom Übergang der „Wissensgesellschaft“ zur „intelligenten Gesellschaft“. Wissen werde gegenwärtig durch das Internet zum Allgemeingut. Wissen sei statisch. Intelligenz hingegen sei ein dynamischer Prozess, der die Anwendung, die Erneuerung und die Integration von Wissen beschreibe. „Die intelligente Wirtschaft beruht auf dauernder Innovation“, betonte Schwab. „Und wenn die deutsche Exportwirtschaft heute so gut dasteht in der Welt, dann vor allem deshalb, weil sie diesen Schritt in die intelligente Wirtschaft relativ rasch vollzogen hat.“ Die Welt stehe am Beginn einer dritten Globalisierungswelle. Die erste sei vor allem von Nationen getragen worden auf Basis der Theorie der komparativen Kostenvorteile von David Ricardo. Dann sei die zweite Welle gekommen, die in den vergangenen 50 Jahren vor allem von den multinationalen Unternehmen getragen worden sei. Die gegenwärtige dritte Welle, „ein Tsu-
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nami gewissermaßen“, werde von den Individuen getragen, weil es möglich sei, selbst Kleinunternehmen oder Individuen weltweit zu vernetzen. „Ich sehe fünf Herausforderungen für die deutsche Wirtschaft“, sagte Schwab.
Die erste sei die Verlagerung des weltweiten wirtschaftlichen Schwerpunktes von West nach Ost, „das Auferstehen von Indien, China und anderen Ländern als globale Wirtschaftskräfte“. Schwab machte deutlich, dass die deutsche Wirtschaft bei Fortschreiben der heutigen Wachstumsraten in 75 Jahren im Vergleich zu China marginalisiert sein werde. „Ein oder 1,5 Prozent genügen einfach nicht“, warnte Schwab. Mit den derzeitigen Wachstumsraten werde die Bundesrepublik ihre Probleme am Arbeitsmarkt nie in den Griff bekommen.
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Perspektiven Die zweite Herausforderung sei der „Kampf der Talente“. Der Vorsprung der deutschen „Intelligenzgesellschaft“ werde durch die gut ausgebildeten Wissenschaftler und Fachkräfte zunehmend aufgezehrt.
„Die dritte Herausforderung, die auf uns zukommen wird, ist die Globalisierungswelle bei den Dienstleistungen“, sagte Schwab. „Unsere Wirtschaft wird zunehmend geprägt durch die Globalisierungsmaßnahmen bei höherwertigen Dienstleistungen im Forschungsbereich
Die vierte Herausforderung für die deutsche und europäische Wirtschaft ist nach den Worten Schwabs das Entstehen neuer Konkurrenten. Wenn man heute über China und Indien rede, spreche man meist noch über europäische oder amerikanische Unternehmen, die dort Produktionsstätten aufgebaut hätten. Chinesische und indische Unternehmen jedoch würden in den kommenden Jahren zu starken Konkurrenten der europäischen Konzerne heranwachsen. „Konzerne wie Lenovo und Mittal werden Mitspieler im internationalen Geschehen sein“, prophezeite Schwab.
Die fünfte Herausforderung sei die weltweite Rohstoffverknappung durch den Nachfrageboom in den aufstrebenden Volkswirtschaften. „Das wird zu gewaltigen Restrukturierungsprozessen innerhalb der Wirtschaft führen“, sagte Schwab. „China ist bereits
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heute – mit Ausnahme von Energie – der weltweit größte Konsument von Rohstoffen. Sei es Zement, Stahl oder Weizen.“ Wie muss Deutschland auf die Herausforderungen reagieren? „Wir müssen den kreativen Imperativ zum Ziel in allen Bereichen machen – in der Wirtschaft, in der Gesellschaft, in der Politik“, forderte Schwab. Der Vorsitzende des Weltwirtschaftsforums kritisierte, dass die Bundesrepublik beim Wettbewerbsbenchmarking des World Economic Forum (WEF) nur an 15. Stelle stehe. „Heute zählen nur noch Spitzenleistungen“, sagte Schwab. Interessant sei der Vergleich des 15. Rangs in der Gesamtplatzierung mit dem Rang der Bundesrepublik im Hinblick auf die Qualität und Innovationskraft des Managements. „Hier steht die Bundesrepublik an erster Stelle.“ Das deutsche Management werde als das beste weltweit betrachtet, müsse sich aber in einem mittelmäßigen Umfeld bewegen, kritisierte Schwab.
„Ich sehe fünf Herausforderungen für die deutsche Wirtschaft und drei ,goldene Regeln‘.“ Der WEF-Vorsitzende sagte, es sei schwierig einzusehen, warum sich Deutschland mit den notwendigen Reformen so schwer tue. „Reformen“ sei zunächst ein viel zu defensiver Begriff, um die Herausforderungen der Zukunft zu beschreiben. Eigentlich gehe es um „Innovationen“ und um „Vorbereitungen auf die Zukunft“. „Wenn Reformen ausgehandelt werden von Interessengruppen oder Parteien, dann kann man über die Spieltheorie einfach
Im Übergang von der Wissen- zur intelligenten Gesellschaft
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Perspektiven zeigen, dass ein suboptimales Ergebnis herauskommt“, erläuterte Schwab weiter. Einen weiteren Grund, warum Reformen schwierig umzusetzen seien, beschwöre eine Situation herauf, in der Psychologen von „totaler Verneinung“ sprechen würden. „Ich habe die Befürchtung, dass wir bei einem weiteren Herausschieben der Reformen nicht mehr das positive Klima haben, in dem wir uns heute befinden“, warnte Schwab. „Reformen sind nicht nur dann erfolgreich, wenn sie umfassend sind, sondern insbesondere dann, wenn sie auch schnell sind.“ In der Welt von morgen werde nicht mehr allein der große Fisch den kleinen fressen, sondern vor allem der schnelle den langsamen. „Wir brauchen den kreativen Imperativ nicht nur in den Unternehmen, wir brauchen ihn vor allem in der Gesellschaft“, sagte Schwab.
„Was wir aber auch brauchen, ist eine neue gegenseitige Durchdringung von privatem und öffentlichem Sektor.“
Wir brauchen Unternehmen, die als Muster dastehen
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Er verwies auf das Beispiel der skandinavischen Länder. Diese hätten zwar eine höhere Staatsquote als die Bundesrepublik, könnten jedoch in wesentlichen Bereichen ihrer Gesellschaft weit mehr Flexibilität aufweisen als die Deutschen. „Das gibt ihnen einen Wettbewerbsvorteil“, sagte Schwab. Er betonte, dass die großen Herausforderungen der Zukunft nicht durch die Unternehmen, die Politik oder die Zivilgesellschaft allein gelöst werden könnten. „Was wir brauchen, sind Plattformen der Zusammenarbeit. Was wir aber auch brauchen, ist eine neue gegenseitige Durchdringung von privatem und öffentlichem
Sektor. Wir brauchen mehr öffentlich-private Partnerschaften“, sagte Schwab. Das WEF sei gegenwärtig in mehr als 20 Partnerschaften aktiv. Ein Beispiel sei die Zusammenarbeit des WEF mit der Informationstechnologiebranche und der ägyptischen Regierung, um das Erziehungssystem des Landes zu revolutionieren. „Wir brauchen auch mehr Social Entrepreneurship“, forderte Schwab. Die großen sozialen Aufgaben könnten nicht vom Staat allein gelöst werden. „Wir brauchen Unternehmen, die diese sozialen Innovationen unten im Einzelkampf an der Basis bewirken und als Musterbeispiele dastehen.“ Schwab nannte „drei goldene Regeln“, die es zwingend zu beachten gelte.
„Die einzige Methode, heute die Wettbewerbsfähigkeit zu sichern, ist, in die Fähigkeiten und Talente zu investieren.“ Nur so sei es möglich, beim Wettbewerb der Talente mithalten zu können.
Die zweite goldene Regel sei das Bekenntnis zu Meriokratie. „Das bedeutet nicht, dass wir erfolgreiche soziale Netze in Frage stellen sollten. Aber es bedeutet, dass man Erfolgreiche nicht bestrafen, sondern fördern muss.“
Gute Führungspersönlichkeiten, so die nach Auffassung Schwabs dritte goldene Regel, zeichneten sich aus durch „Seele, Herz, Verstand und gute Nerven.“ Aus Rede Wirtschaftstag 2006
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Perspektiven
Wirtschaftspolitik für ein starkes Europa Michael Glos MdB, Bundesminister für Wirtschaft und Technologie
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oziale Marktwirtschaft war nie ein starres Konzept, sondern immer eine Leitidee“, betonte Bundeswirtschaftsminister Michael Glos (CSU). Sie beruhe auf der Erfahrung, dass Freiheit und Selbstverantwortung ungeahnte Kräfte mobilisierten und so die Grundlage für wirtschaftliche Dynamik schafften. „Wirtschaftliche Dynamik und Leistungsfähigkeit sind für Ludwig Erhard und die anderen Vorkämpfer der Sozialen Marktwirtschaft die wesentlichen Fundamente sozialer Ziele gewesen“, erinnerte Glos. „Wir müssen immer schauen, dass sich weder das Wirtschaftliche noch das Soziale zu sehr nach einer Seite verschiebt.“ In der Großen Koalition sei die Gefahr, dass sich das Gewicht zu sehr auf die Seite der Marktwirtschaft verschiebe, etwas geringer, sagte Glos. „Deshalb ist es meine Aufgabe als Minister einer großen Koalition, für die Durchsetzung marktwirtschaftlicher Positionen zu kämpfen.“ Die Soziale Marktwirtschaft sei die
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Voraussetzung dafür, dass alle Bevölkerungsschichten eine Chance bekämen, einen Anteil am wirtschaftlichen Erfolg zu erlangen. Hinzu komme die Notwendigkeit des sozialen Ausgleichs. „Jedoch nur für diejenigen, die ein akzeptables Auskommen unter Marktbedingungen nicht erzielen könnten“, betonte Glos. „Und nicht für diejenigen, die es nicht erzielen wollen und nicht genügend eigene Anstrengungen dafür unternehmen.“ Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und der subsidiäre soziale Ausgleich stünden in einem steten Spannungsverhältnis, das ein permanentes Austarieren erfordere. Dies sei in Österreich gelungen und müsse auch in Deutschland wieder gelingen, sagte Glos. „Heute fordern vor allem die Globalisierung und der demographische Wandel von uns, dieses Spannungsverhältnis zwischen Eigenverantwortung und sozialem Ausgleich neu zu
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Perspektiven Arbeitslosigkeit. „Das ist im Grunde auch die Kernaufgabe der Wirtschaftspolitik“, sagte Glos. Zuletzt sei die Arbeitslosigkeit zwar im Zuge der Frühjahrsbelebung zurückgegangen, jedoch seien 4,5 Millionen Arbeitslose nach wie vor zu viele. „Die Zahl ist zu hoch“, sagte Glos. „Ich bin überzeugt, dass wir wieder mehr Wachstum brauchen. Denn ohne Wachstum lassen sich die Probleme unseres Landes nicht lösen.“ Deutschland brauche einen kräftigen Wachstumsschub durch „Vorfahrt für Innovationen und Investitionen“.
Ohne Wachstum lassen sich die Probleme in unserem Land nicht lösen
ordnen, um das, was Ludwig Erhard sich zum Ziel gesetzt hat, nämlich Wohlstand für alle, zu ermöglichen.“ Glos sagte, dies sei die entscheidende Herausforderung für die Wirtschaftspolitik. Österreich sei es im Vergleich zu Deutschland jedoch bislang besser gelungen, auf die Herausforderungen zu reagieren.
„Aus leeren staatlichen Kassen allein kann man es nicht schaffen.“ Glos erinnerte daran, dass die Bundesrepublik nach der Wiedervereinigung nach seinen Worten „den Schutt von Sozialismus und Kommunismus beiseite räumen musste.“ Die Wiedervereinigung sei „Lust und Last zugleich“. Sie habe die westdeutsche Wirtschaft in den vergangenen 15 Jahren mit hohen Transferzahlungen belastet. Dies könne jedoch auf Dauer keine Ausrede für unterlassene Reformen sein. „Und da haben wir auch eine Verpflichtung für die Europäische Union“, sagte Glos. „Alle Mitglieder der EU sind gefordert, mit einer erfolgreichen Wirtschaftspolitik im eigenen Land zu einem wirtschaftlich starken Europa beizutragen.“
Glos verwies darauf, dass die Bundesregierung ihren Beitrag dazu leiste, den Anteil der Forschungsausgaben bis 2010 auf drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts anzuheben. „Wir brauchen die private Wirtschaft, damit sie sich daran beteiligt“, sagte Glos. „Aus leeren staatlichen Kassen allein kann man es nicht schaffen.“ Der Bundeswirtschaftsminister betonte, dass die Regierung auch Erfolge suchen müsse bei den Themen Deregulierung und Bürokratieabbau. „Ich meine, die Bürokratie ist eine der neuen Geißeln unserer Zeit“, sagte Glos. Auch für den Arbeitsmarkt sei es wichtig, Freiheitsräume zu eröffnen, um die Anreiz- und Lenkungsfunktion der Löhne zu stärken. „Ich glaube nach wie vor, dass zu viel Schutz vor Entlassungen ein großes Einstellungshemmnis ist“, erklärte der Minister. Das sei indes in der großen Koalition schwer voranzubringen. Die Union müsse jedoch weiter daran arbeiten. „Ich glaube, es gibt sogar vernünftige Sozialdemokraten – und
Deshalb sei es eine gute Nachricht für ganz Europa, dass es in Deutschland wirtschaftlich wieder aufwärts gehe. Das Wachstum habe sich beschleunigt. Die Aussichten für die weitere Wirtschaftsentwicklung im laufenden Jahr seien günstig. Glos bekräftigte, dass die Bundesregierung 2006 mit einem Wachstum von rund 1,5 Prozent rechne. Wenn es gut laufe, sei jedoch auch mehr möglich. Die Hauptaufgabe bleibe jedoch die Bekämpfung der hohen
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Perspektiven ich hoffe, dass die sich innerhalb ihrer eigenen Organisation durchsetzen.“ Der CSU-Politiker betonte die Notwendigkeit einer „guten Unternehmensteuerreform“. Zwar sei die Steuerlast im internationalen Vergleich nicht besonders hoch, die Steuersätze jedoch wirkten abschreckend. „Mein Leitmotto ist: Besser niedrigere Steuersätze und weniger Ausnahmen als hohe Steuersätze, die durchlöchert sind wie ein Schweizer Käse und die die Innovationskraft der Menschen hauptsächlich auf das Steuerthema lenken statt auf die technischen Entwicklungsabteilungen der Unternehmen.“ Ein neues Gleichgewicht zwischen Eigenverantwortung und sozialem Ausgleich müsse auch durch eine Modernisierung der Sozialversicherungssysteme herbeigeführt werden. „Ich halte es für ganz wichtig, dass die große Koalition im Koalitionsvertrag festgeschrieben hat, dass die staatlich verordneten Lohnzusatzkosten 40 Prozent nicht übersteigen dürfen“, sagte Glos. Anfang 2007 würden in einem ersten Schritt die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung um „mindestens“ zwei Prozentpunkte sinken, sagte der Bundeswirtschaftsminister. „Ich finde es auch richtig, dass zur Entlastung der Rentenversicherung ab 2012 die Regelarbeitszeit schrittweise auf 67 Jahre angehoben wird.“ Bei der anstehenden Gesundheitsreform müsse die große Koalition aufpassen, dass am richtigen Ende begonnen werde. „Das Nachdenken darüber, woher man Einnahmen bekommt, darf nicht im Vordergrund stehen.“ Im
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Vordergrund stehen müsse Sparen und mehr Effizienz bei den Ausgaben.
„Deswegen muss ein Thema unserer Ratspräsidentschaft sein, die Kommission aufzufordern, dass europäische Richtlinien entbürokratisiert werden.“ Der Bundeswirtschaftsminister betonte, dass ein Großteil der Rahmenbedingungen für die deutsche Wirtschaft inzwischen auf europäischer Ebene bestimmt werde. „Deswegen haben wir die Verpflichtung, Europapolitik mit zu gestalten. Und das ist der Grund dafür, warum das Wirtschaftsministerium neben dem Außenministerium ein wichtiger Arm nach Europa ist“, erklärte Glos. Der wirtschaftliche Arm nach Brüssel sei verpflichtet, für wirtschaftspolitisch günstige Rahmenbedingungen in Deutschland zu sorgen. Glos verwies auf das Subsidiaritätsprinzip. Nur wo eine europäische Regelung einen Mehrwert verspreche, sei eine solche erforderlich. „Sonst brauchen wir sie eigentlich nicht“, sagte Glos. „Deswegen muss ein Thema unserer Ratspräsidentschaft sein, dass wir die Kommission auffordern, dass europäische Richtlinien entbürokratisiert werden.“ Glos versprach, für eine Entbürokratisierung europäischer Regelungen im Sinne der Wirtschaft zu kämpfen. Der Minister betonte, dass Europa nur stabil bleiben könne, wenn die Gemeinschaftswährung stabil bleibe. „Deswegen halte ich es ungeheuer wichtig, dass die Bundesrepublik Deutschland den Europäischen Stabilitätspakt wieder einhält“, unterstrich Glos. „Wenn man langfristig Wachstum haben will, muss man auch stabilitätsgerecht handeln.“ Aus Rede Wirtschaftstag 2006
Wachstumsschub durch Vorfahrt für Innovationen und Investitionen
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Wirtschaftstag 2006
Deutschland erneuern – Wettbewerbsfähigkeit für Europa gewinnen Rund 2.000 Gäste aus Wirtschaft, Politik und Wissenschaft folgten der Einladung zum Wirtschaftstag 2006 in Berlin. Wie ein roter Faden zog sich die Überzeugung durch alle Diskussionen: Europa wird unter den globalen Wirtschaftsmächten nur eine führende Rolle spielen können, wenn es konsequenter als bisher auf Wachstum und Beschäftigung setzt. Gerade Deutschland ist gefordert, die notwendigen Reformen für ein stärkeres Wirtschaftswachstum, eine Belebung des Arbeitsmarktes, die Sicherung der Sozialsysteme und solide Staatsfinanzen voranzutreiben und die vorhandenen Chancen und Potenziale entschlossener zu nutzen. Die Bildungs- und Forschungspolitik sind neu auszurichten, damit wir uns auch in Zukunft mit hochqualifizierten Arbeitskräften und innovativen Gütern und Dienstleistungen auf dem Weltmarkt behaupten können. Die Europäische Union ist dabei auf ihre Kernkompetenzen zu beschränken. im Internet – Aktuelles, Archiv, Daten, Kontakte: 62
www.wirtschaftsrat.de trend
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Bundesdelegiertenversammlung 2006 Freiheit – Verantwortung – und zugleich Chance Bericht des Präsidenten Kurt J. Lauk
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ie Bundeskanzlerin hat mit dem Leitprinzip „Mehr Freiheit wagen“ den Bürgern wie den Unternehmern aus dem Herzen gesprochen. Unser Freiheitsbegriff ist weder Nachtwächterstaat noch Raubtierkapitalismus. Wir verstehen Freiheit als Verantwortung und zugleich als Chance. Aber diese Koalition hat sich in der Tagesarbeit von dem Leitprinzip der Bundeskanzlerein weit entfernt. Der ihr vom Wirtschaftsrat und von der Wirtschaft eingeräumte Vertrauensvorschuss
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ist inzwischen verbraucht. Die Union läuft Gefahr, ihre marktwirtschaftlichen Prinzipien dem Koalitionspartner und dem Koalitionsfrieden zu opfern. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich: Die Seele des Wirtschaftsrates kocht! Der erste Grund ist eine ungehemmte Blockadepolitik der SPD. Sie verhindert die Schaffung neuer Arbeitsplätze; und leistet der Ausbeutung unserer Sozialsysteme bewusst Vorschub.
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Der zweite Grund ist die mangelnde Sichtbarkeit von wirtschaftspolitischen Konturen in der Union. Es ist für uns wichtig, hörbar unsere Stimme zu erheben. Wir setzen auf vier Prioritäten:
Sanierung der Staatshaushalte; Deckelung der solidarischen Sozialsysteme; Flexibilisierung des Arbeitsmarktes; der Abbau der ausufernden Bürokratie.
„Kompromisse sind zwar nötig, aber die Koordinaten der Union müssen deutlich sichtbar bleiben.“ Deutschland steht vor einer Richtungsentscheidung – entweder starker Bürger, guter Staat, oder aber starker Staat, schwacher Bürger. Wir wollen, dass der Bürger den Staat gestaltet und nicht umgekehrt. „Der Wirtschaftsrat ist als Organisation auf gutem Weg. Er hat sich in den letzten zwölf Monaten in vielen Bereichen neu aufgestellt, erstmals haben wir stabil über 10.000 Mitglieder erreicht: Das sind immerhin Unternehmen in der Summe mit über fünf Millionen Arbeitsplätzen. Damit haben wir eine Verdoppelung der Mitgliederzahl seit 1991, während zum gleichen Zeitraum zwei Drittel der Verbände in Deutschland mit massivem Mitgliederschwund kämpfen. Wir stehen im Wettbewerb mit etwa 2.000 beim Bundestag akkreditierten Verbänden. Wir können stolz auf das sein, was wir gemeinsam erreicht haben! 2013 wird der Wirtschaftsrat 50 Jahre alt. Wir werden bis dahin auch weiter dynamisch wachsen und uns modernisieren, verändern, aufstellen, wie die Zeit es erfordert. Wir werden deshalb die ständige Modernisierung – Marke und Produkt – im Wirtschaftrat weiter verbessern, attraktiver machen. Und wir werden intern die Themen mitgliederfreundliche IT-Struktur und neues Marketingkonzept anpacken. Wir sind als Wirtschaftsrat für die Investitionsprojekte gut gerüstet. Wir werden die Zukunft sichern und die Schwächen angehen. Beste Voraussetzung ist dafür die positive Haushaltslage durch sparsame Verwendung der Mitgliedsbeiträge. Dank hierfür an den Schatzmeister Dr. Schleifer sowie Generalsekretär Hans Jochen Henke. Unsere wichtigste Basis ist der persönliche Einsatz des Ehrenamtes. Er zeichnet den Erfolg des Wirtschaftsrates in besonderer Weise aus. Durch sein Engagement steht der Wirtschaftsrat auf festem Boden. Ich danke deshalb besonders unseren Landesvorsitzenden und den Landesvorständen, den Sektionsvorständen und den Sektionssprechern, den Vorsitzenden und mehr als 500 Mitgliedern der Bundesfachkommissionen sowie ganz herzlich allen Mitgliedern! Besonderer Dank gilt auch meinen Kollegen im Präsidium und im Bundesvorstand sowie der Bundesgeschäftsführung und allen Mitarbeitern auf Bundes- und Landesebene. Sie alle haben dazu beigetragen, dass wir auf ein sehr erfolgreiches Geschäftsjahr zurückblicken können.“
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Unbestritten sind Erfolge der Bundeskanzlerin in der Außenpolitik. Deutschland ist wieder wer in der Welt. Deutschland lässt das missverständliche Achsendenken hinter sich und hat seine Führungsrolle in Europa neu austariert. Unser transatlantisches Bündnis ist wieder von Misstrauen befreit. Deutschland erweitert die Geschäftsgrundlagen mit seinen Nachbarn ebenso wie mit Russland und China. Bundeskanzlerin Merkel hat nachgewiesen, dass sie diese komplexe Koalition führen kann. Jetzt zügig die drängenden Reformthemen der Innenpolitik anzupacken, ist das Gebot der Stunde. Wir sind nicht so naiv anzunehmen, dass die Große Koalition das Unionsprogramm 1:1 umsetzen und in Reinkultur verwirklichen könnte. Niemand darf überrascht sein, dass diese Regierung auch sozialdemokratische Positionen umsetzt, ob uns das gefällt oder nicht. Ich weiß, es gefällt uns nicht. Entscheidend ist aber, Schwarz-Rot muss mehr erreichen als RotGrün. Daher muss konkretes Regierungshandeln deutlich über Koalitionsvereinbarungen hinausgehen. Kompromisse sind zwar nötig, aber die Koordinaten der Union müssen deutlich sichtbar bleiben. Der Wirtschaftsrat teilt die Sorge, dass die Union ihr marktwirtschaftliches Profil verliert, dass ihre ordnungspolitische Kompassnadel, ins Trudeln gerät. Große Koalition darf nicht heißen, dass die CDU marktwirtschaftliche Koordinaten außer Kraft setzt. Umgekehrt wird ein Schuh draus. Drei Bundesminister haben ihre Hausaufgaben nicht gemacht. Bundesminister Müntefering schiebt die dringend erforderlichen Reformen auf dem Arbeitsmarkt immer weiter hinaus. Er behindert die Schaffung neuer Arbeitsplätze. Bundesgesundheitsministerin Schmidt kann sich von der Bürgerzwangsversicherung nicht trennen. Strukturreformen sind notwendig. Und Bundesfinanzminister Steinbrück erliegt einem fundamentalen Irrtum, wenn er behauptet, der Staat habe ein Problem bei den Einnahmen und nicht bei den Ausgaben. Hinzu kommt, dass der Finanzminister statt für die Abschaffung der Gewerbesteuer für die Verbreiterung der Gewerbesteuer auf Selbstständige und Freiberufliche ausdehnen möchte. Mit uns läuft das nicht. Wir werden uns mit solchen Ergebnissen sozialdemokratischer Philosophie nicht abfinden. Für uns bleiben die CDU-Programme von Leipzig und Düsseldorf die Richtlinie.
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Im Koalitionsvertrag steht, Abbau der Arbeitslosigkeit sei zentrale Verpflichtung der Regierungspolitik, meine Damen und Herren. Damit muss jetzt ernst gemacht werden. Was aber geschieht? Die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze sinkt weiter, von 26,2 Millionen im Herbst 2005 auf 25,8 im Frühjahr 2006. Die Belebung des Arbeitsmarktes ist die eigentliche Reformaufgabe. Jetzt gilt, Regierungsanspruch in Wirklichkeit umsetzen. Die nächsten 15 Monate sind entscheidend für den Erfolg oder Misserfolg der Großen Koalition. Der Wirtschaftsrat wird der Bundeskanzlerin den Rücken stärken, wenn es um marktwirtschaftliche Koordinaten geht, die wir bislang vermissen. Es widerspricht sowohl unserer Ordnungspolitik wie einer seriösen Finanzpolitik, wenn nur ein Drittel der Haushaltssanierung über Ausgabenkürzungen stattfindet und gleichzeitig die größte Steuererhöhung seit 1945 eingefädelt wird. Wenn alle Bürger mit höherer Mehrwertsteuer geschröpft werden, aber die Lohnzusatzkosten nicht oder nicht ausreichend sinken und damit der Konjunkturaufschwung gefährdet wird, dann läuft das in die falsche Richtung. Wenn die Leistungsträger mit Reichensteuer bestraft und damit ins Ausland vertrieben werden, läuft das in die falsche Richtung. Und wenn der Gesundheitssoli kommt und den Selbständigen und Freiberuflern die Gewerbesteuer zusätzlich droht, dann läuft das in die falsche Richtung. Mit uns geht dies nicht. Das ist keine Politik in der Tradition Ludwig Erhards. Die Leistungsträger verdienen weder Neid noch Missgunst, sondern sie brauchen Zuspruch und Ermunterung, damit sie in diesem Land die Rahmenbedingungen haben, um ihre Leistungen erbringen zu können und damit solidarisch den anderen helfen zu können. Der Wirtschaftsrat hat als erster vor mehr als einem Jahr durch flächendeckende Kampagnen maßgeblich dazu beigetragen, dass der rot-grüne Entwurf zum Anti-Diskriminierungsgesetz letztendlich gefallen ist. Einiges ist verändert worden, aber noch weit weg von einer 1:1-Umsetzung. Was unter Rot-Grün falsch war, kann unter Schwarz-Rot nicht richtig sein. Der Wirtschaftsrat wird deshalb seine bundesweite Kampagne gegen das Antidiskriminierungsgesetz fortsetzen. Der Wirtschaftsrat hat schon einmal 40 Nachbesserungen durchgesetzt. Jetzt muss vor allem das Klagerecht der GeII/2006 trend
werkschaften fallen. Wir geben nicht auf in dieser Sache, sondern kämpfen weiter. Wir müssen uns immer wieder vor Augen führen, warum weniger Staat besser ist als zu viel Staat. Ist der freie und starke Staat wirklich gewollt? Erschreckend ist die Umfrage „Perspektive Deutschland“. 76 Prozent der Bürger wollen mehr Umverteilung und damit noch mehr Staat. Diese Umfrage erschreckt.
„Die Politik muss den Bundeshaushalt aus der Geiselhaft nicht mehr funktionsfähiger Sozialkassen befreien.“ Zudem erschreckt die Rolle rückwärts der SPD bei ihrem neuen Grundsatzprogramm. Sie fällt selbst noch hinter Schröder zurück – Neidsteuer, Reichensteuer, Vermögenssteuer, gefährliches Leitbild vorsorgender Sozialstaat. Damit blockiert die SPD notwendige Reformen und leistet dem Missbrauch von Sozialleistungen bewusst Vorschub. Wir widersprechen ausdrücklich dieser Philosophie. Der Staat ist jetzt schon überfordert. Jeder Zweite in Deutschland erwirtschaftete Euro wird über den Staatsapparat umverteilt. Seit Jahren haben wir ein strukturelles Defizit von über 60 Milliarden €. Und nur noch 39 Prozent der Bürger in unserem Lande beziehen Lebensunterhalt aus eigenem Erwerbseinkommen. Mit dem sozialstaatlichen Ansatz fällt Deutschland im Wohlstandsvergleich immer weiter zurück. Deutsche Bank Research warnt: Beim Pro-Kopf-Einkommen liegt Deutschland abgeschlagen auf nur noch Platz 11 der alten EU-15. Spanien und selbst Italien werden uns in den nächsten Jahren überholen. Unser Land darf aber nicht mehr länger auf der Standspur liegen bleiben, während andere auf der Überholspur an uns vorbeiziehen. Die Globalisierung schlägt unerbittlich zu. Die drei Schwergewichte USA, EU 15 und Japan erwirtschaften mit einem Achtel der Weltbevölkerung über 70 Prozent aller Güter und Dienste in dieser Welt. Damit verfügen wir pro Kopf ungefähr über das 17fache an Gütern und Dienstleistungen von dem, was dem übrigen Durchschnitt in der Welt zur Verfügung steht. China trägt heute gerade mal vier Prozent zur globalen Wertschöpfung bei. Glaube bitte keiner, dass das so bleibt. Die Mehrheit der heute armen Länder wird sich immer größere Stücke vom Wohlstandskuchen abschneiden wollen. Dieser Kuchen wird aber langsamer wachsen als der Appetit derer, die sich neu zu Tische setzen.
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Wir brauchen ein viel intelligenteres Wirtschaften. Die bisherige Verhaltensweise im Umgang mit unseren Steuergeldern, mit unserer Sozialpolitik, mit unserer angeblichen Solidarität reicht nicht mehr aus, um uns zuverlässig in die Zukunft zu führen. Die Politik muss den Bundeshaushalt aus der Geiselhaft nicht mehr funktionsfähiger Sozialkassen befreien. Das Nachgießen von Wasser hilft – wie wir alle wissen – bei löcherigen Eimern wenig. Die Deckelung der solidarischen Sozialsysteme ist notwendig. Denn nach oben hin offene Sozialsysteme konterkarieren jede Haushaltssanierung. Wir als Unternehmer wissen: Wenn die Kosten aus dem Ruder zu laufen beginnen, gibt es nur im ersten Schritt die Möglichkeit der Deckelung und dann muss man strukturell einsparen und sich wirklich auf das Notwendige konzentrieren. Man findet immer noch was, wo man sparen kann, ohne an die Solidarität mit denen, die sie wirklich brauchen, zu tasten. Wir brauchen Vorsorge nach Risikokalkulation. Mit Kapitalunterlegung ist die Vorsorge erst richtig angelegt. Dies ist das, wofür wir stehen. Dies ist das, was wir brauchen.
„Wir haben die guten Ideen, wir müssen sie Realität werden lassen. Dann schaffen wir Wohlstand und mehr Wachstum.“ Wir brauchen auch bessere Kriterien und klare Kriterien für jene, die sich dem Gemeinwesen als nicht erwerbsfähig präsentieren. Solange die Einnahmen nicht durch Wachstum steigen, müssen die Sozialhaushalte eingefroren werden. Das gilt für die Rentenversicherung, die Krankenversicherung, die Hartz-Gesetze und die Subventionierung in der Familienpolitik. „Die Vorsorge aus selbst erwirtschaftetem Einkommen, Private Krankenversicherung und Immobilien zur Altersversicherung, dürfen natürlich nicht angetastet werden. Die bisherigen Reformansätze, insbesondere unter Rot-Grün, zeichnen sich allesamt durch Halbherzigkeit und Flickschusterei aus. Von Schwarz-Rot erwarten wir mehr. Was in anderen Ländern als Selbstverständlichkeit gilt, wird in Deutschland immer wieder von den Besitzstandswahrern blockiert. Dabei müssen wir illusionslos einsehen: Soziale Marktwirtschaft in ihrer augenblicklichen Verfassung hat den Reiz des Exportschlagers verloren. Reformländer wie Mittel-, Osteuropa sowie Länder Asiens haben sich für das liberalere angelsächsische Modell entschieden. Historische Aufgabe ist es, die Soziale Marktwirtschaft aus ihrer Erstarrung wieder zu befreien und weiter zu entwickeln. Das sind wir unseren Erben schuldig. Wenn der Großen Koalition dies nicht gelingt, wird sie scheitern.“
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1. Wir brauchen eine Generalrevision für Arbeitsrecht und Hartz Langzeitarbeitslose sind aus der Sozialstaatsfalle zu befreien Seit der Einführung von Arbeitslosengeld II im Januar 2005 sind die Bedarfsgemeinschaften um eine Million auf 3,9 Millionen Menschen bis zum März 2006 angestiegen. Das muss korrigiert werden. Eine Generalrevision ist unerlässlich. Die Hartz-Reformen entpuppen sich als Fässer ohne Boden. Nach Anstieg der Kosten von 14 auf 25 Milliarden im Jahr 2005, drohen die Kosten im laufenden Jahr von geschätzten 25 auf 28 Milliarden € auszuufern. Innerhalb von zwei Jahren haben sich die Kosten also verdoppelt. Statt nach neuen Finanzierungsmitteln zu suchen, sollte die Bundesregierung durch Generalrevision die Leistungen senken. Hierzu gehören die Abschaffung der zweijährigen Zuschläge auf das Arbeitslosengeld II, stärkere Überprüfung der Erwerbsfähigkeit von Arbeitslosengeld-II-Empfängern durch Amtsärzte, pauschale Unterkunftszahlungen direkt nur an den Vermieter, weitere Verschärfung der Kriterien zur Bildung von Bedarfsgemeinschaften durch Absenkung des Schonvermögens bei Bedürftigkeitsprüfung sowie Rückkehr zum Unterhaltsrückgriff wie in der früheren Sozialhilfe. Wir sollten uns an die Werte der Familien in diesem Zusammenhang erinnern. Die Absenkung des Arbeitslosengeldes II um 30 Prozent bei Arbeitsverweigerung sollte Regelfall werden. Uns allen sind täglich Geschichten bekannt, dass Menschen, die arbeiten können, nicht arbeiten wollen, weil es bequemer ist, Arbeitslosengeld II zu beziehen. Der Vorwurf geht nicht an die, die das nutzen. Das muss moralisch jeder mit sich selbst ausmachen. Der Vorwurf geht gegen ein System, das in die falsche Richtung führt. Hier sind wir gefordert und wir stellen uns dieser Aufgabe. Gesetzlicher Kombilohn muss sich auf die wirklich bedürftigen Arbeitslosengeld-II-Empfänger konzentrieren. Der Wirtschaftsrat lehnt unmittelbare Lohnzuschüsse an die Arbeitgeber ab, um Missbrauch und Drehtüreneffekte zu vermeiden. Sonst droht ein weiteres Milliardengrab. Wir wenden uns entschieden gegen die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes. Die Gewerkschaften bauen auf mittelalterliche Wagenburgenmentalität. Sie machen die Tore auf dem Arbeitsmarkt zu. Für diejenigen, die drin sind, die übrigens immer weniger wer-
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den, ist es kurzfristig gut. Schlimm aber für jene Millionen, die hinein wollen. Das ist unsozial, generell genuin unsozial. „Deutschland leistet sich monatelang Streik wegen täglicher Mehrarbeit von 18 Minuten. Ich kenne keinen erfolgreichen Mittelständler, der weniger als 60 Wochenstunden arbeitet. Er geht mit gutem Beispiel voran und hat längst auch die Arbeitszeit seiner Mitarbeiter, die auch mitziehen, auf 40 Stunden und mehr erhöht, und zwar ohne die Gewerkschaft und ohne Arbeitgeberverbände zu fragen. Diese Freiheit muss sein. Auch die Gewerkschaftsfunktionäre arbeiten mittlerweile längst über 45 Stunden, denn die Zeit brauchen sie auch, um den Mitgliedern den Unsinn der 35-Stunden-Woche zu erklären!“ Woher nehmen die Gewerkschaften Arroganz und Anspruch, für das Wohl aller Beschäftigten zu sprechen, wenn es nur noch 6,8 Millionen Gewerkschaftsmitglieder gibt? 40 Prozent Schwund seit 1991, dies entspricht faktisch der Zahl der Arbeitssuchenden. Dieser Mitgliederschwund ist eine glatte Delegitimation der Gewerkschaften in diesem Land. Je weniger Mitglieder, desto unsinniger die Forderungen. Besonders unsinnig ist ein Mindestlohn von 8,70 € pro Stunde. Das würde bedeuten, dass 39 Prozent der Arbeitsplätze in Ostdeutschland subventioniert werden müssten. Keiner könnte das bezahlen. Deshalb würden sie wegfallen. Opfer wären vor allem die Geringqualifizierten. Also: mit uns keinen Mindestlohn! „Geringqualifizierte sind ein besonderes Problem für unsere Gesellschaft. Diese Gruppe wächst weiter, solange zwölf Prozent die Hauptschule ohne Abschluss verlassen und weitere fünf Prozent keinen Abschluss in der Lehre erreichen. Das heißt, fast 20 Prozent eines Jahrgangs, sind ohne qualifizierten Abschluss oder Ausbildung. Das ist ein Bodensatz, der erschreckend ist. Hier müssen wir ansetzen. Hier muss in Bildung investiert werden. Hier muss in die Schulen investiert werden. Hier müssen alle Kräfte in der Gesellschaft zusammenwirken, um die Ausbildung der nächsten Generation auf ein erträgliches Maß zu bringen, damit sie einsatzfähig und gebrauchsfähig in dieser Gesellschaft arbeiten und mitwirken können. Deshalb ist die gute Ausbildung junger Menschen die effizienteste Arbeitsmarktpolitik. Kein Jugendlicher darf länger ohne Schul- oder Berufsabschluss sein.“ II/2006 trend
Der gesetzliche Kündigungsschutz näher ran an die Betriebserfordernisse. Aktuelle Regierungspläne benachteiligen wieder einmal den Mittelstand, Deutschlands eigentlichen Jobmotor. Wir fordern den Arbeitsminister auf, das verkrustete Arbeitsrecht endlich aufzusprengen: Legalisierung betrieblicher Bündnisse ohne Gewerkschaftsveto, eine traditionelle starke Forderung von uns; Beibehaltung der sachgrundlosen Befristung von Arbeitsverträgen; individuelle Vereinbarungen zwischen Beschäftigten und Unternehmern, wie in der Schweiz längst üblich und erfolgreich praktiziert.
2. Gesundheitsprämien und mehr Wettbewerb schaffen ein zukünftiges Gesundheitswesen und nicht Bürgerzwangsversicherung und neue Staatsmedizin Es gibt einen Grundsatz, von dem wir nicht abweichen in der Gesundheitspolitik: Der Patient muss die steuernde Größe im Gesundheitswesen sein und nicht der Staat.
Die SPD-Bürgerzwangsversicherung ist ordnungspolitisches Gift, zwingt alle Bürger in eine Staatsmedizin, kassiert durch höhere Steuern nur ab, beseitigt aber nicht strukturelle Probleme. Unsere klare Warnung an die Union ist, nicht auf das Dreisäulenmodell hereinzufallen. Eine aktuelle Prognos-Studie belegt: Ohne Gegensteuern droht mittelfristig der Anstieg der Sozialbeiträge um 50 Prozent. Das bedeutet einen weiteren Verlust von einer Million Arbeitsplätzen, wenn nicht gegengesteuert wird. Die Last der Sozialbeiträge ist einer der Hauptgründe für den Existenzkampf vieler Mittelständler.
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Mit massiver Arbeitsplatzvernichtung und Geldverschwendung im Gesundheitswesen muss Schluss sein. Ein Drittel der Krankenhäuser steht vor dem finanziellen Aus, da bislang nicht wirtschaftlich geführt, so eine McKinsey-Studie. Allein hier ließen sich fünf Milliarden € einsparen, ohne schlechtere Versorgung. Wie kann es sein, dass in Deutschland jedes fünfte Arzneimittel ungenutzt im Müll landet – Schaden: vier Milliarden €; dass bei uns doppelt so viele Computertomographien gemacht werden wie in Frankreich, trotzdem sind die Menschen nicht gesünder; dass Franzosen, Spanier, Schweden, Griechen, Schweizer, Holländer gesünder sind, obwohl sie relativ weniger für die Gesundheitspolitik aufwenden; dass der deutsche Durchschnittspatient doppelt so häufig zum Arzt geht wie ein Amerikaner, Franzose, Brite oder Niederländer, dass er dreimal so oft geröntgt wird; dass seine Verweildauer im Krankenhaus die anderer Nationen bei weitem übertrifft. Kernpunkt einer Gesundheitsreform muss also eine strukturelle Reform sein, so, wie wir Unternehmer sie auch machen würden. Der Wirtschaftrat lehnt die Pläne für einen Gesundheitssoli ganz klar ab. Entgegen den Behauptungen kommt er gerade nicht den jungen Familien mit Kindern zugute. Sie würden beim Gesundheitssoli mit etwa 197 Euro im Durchschnitt im Jahr zusätzlich belastet. Stattdessen werden die Rentner mit 173 Euro pro Jahr entlastet, die ohnehin die höchsten Gesundheitskosten verursachen. Der Wirtschaftsrat fordert, Wirtschaftlichkeitsreserven zu heben, Wachstumsmarkt Gesundheitswesen und
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Wettbewerb zu entfesseln. Dazu brauchen wir: Abkoppelung der Gesundheitskosten vom Beschäftigungsverhältnis bei Einführung einer Gesundheitsprämie für das medizinisch Notwendige, Erhöhung der sozial gestaffelten Eigenbeiträge, vollständige private Absicherung des gesamten Zahnbereichs, der privaten Unfallrisiken und des Krankengeldes, mehr Transparenz über die Kosten der medizinischen Behandlung – vor allem durch Wechsel zum Kostenerstattungsprinzip – weniger Regulierung und Bürokratie sowie Förderung des Wettbewerbs, sowie die Aufhebung des Verhandlungsmonopols der Kassenärztlichen Vereinigung. Wir kämpfen für den Erhalt der Privaten Krankenversicherung und gegen die Enteignung der Altersrückstellungen, meine Damen und Herren, die diese Kassen gebildet haben. Das ist unser Geld, das ist unser Eigentumsanspruch. Das muss erhalten bleiben. Die Einbeziehung der privaten Krankenversicherung in ein marodes Umlagesystem lehnen wir entschieden ab.
3. Nur durch echte Konsolidierung auf der Ausgabenseite können der Pleitestaat Deutschland saniert und mehr Wachstumsdynamik erreicht werden Finanzminister Steinbrück liegt falsch: Nach den Steuererhöhungen von 30 Milliarden € haben wir mit Sicherheit kein Einnahmeproblem mehr, sondern ein Ausgabenproblem. Bei einer Rekordverschuldung von 1,5 Billionen € ist die Schuldenfalle längst zugeschnappt. Denn die jährlichen Neuschulden reichen heute nicht einmal dazu aus, die Zinsen für die alten Kredite zu bedienen. Die Sanierung der Staatshaushalte kann ohne Deckelung der soli-
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darischen Sozialsysteme nicht gelingen. Die hohe Staatsverschuldung Wohlstand, Wachstum und Zukunftschancen. Ein überschuldeter Staat nützt niemandem, schadet allen und unseren Kindern und Enkeln am meisten. Die jüngste Studie der Europäischen Zentralbank vom April 2006 beweist, Wirtschaftswachstum ohne Konsolidierung funktioniert nicht. Das Wirtschaftswachstum von Konsolidierungsländern liegt mit drei Prozent doppelt so hoch wie bei den Reformverweigerern Deutschland, Frankreich und Italien. Das sind eindeutige Zahlen. Statt echter Einsparungen hat die Bundesregierung eine der größten Steuererhöhungen von 30 Milliarden durchgesetzt. Die Entlastungen der Steuerreform von 2000 sind bereits zu zwei Dritteln wieder zurückgenommen.
Der Wirtschaftsrat wendig sich grundsätzlich gegen immer neue Sondersteuern. Wer glaubt, die Solidarität in unserer Gesellschaft könne über das Finanzamt hergestellt werden, der irrt gründlich. Nachhaltige Solidarität heißt, die Zahl der Leistungsträger zu erhöhen und sie zu ermutigen, statt sie durch abschreckende Konditionen außer Landes zu treiben. Nur eine breite Basis von Leistungsträgern ermöglicht die Solidargemeinschaft mit den Bedürftigen. Die Bundesregierung sollte erkennen, dass Deutschland in Unternehmensteuerrecht und
Die strukturelle Schieflage bei den Bundesfinanzen ist unverändert. Steueraufkommen im Bund mit 193 Milliarden decken nicht einmal gesetzliche Verpflichtungen ab. Soziales, Zinsen, Personal verschlingen 198 Milliarden bei 193 Milliarden Einnahmen. Das wäre der Bankrott jedes Unternehmens, jeden Haushalts. Die Senkung der Staatsausgaben ist dringend erforderlich. Unsere EU-Nachbarn haben uns das längst vorgemacht.
4. Attraktive Unternehmensteuersätze sorgen dafür, dass der Staat wieder mehr in der Kasse hat, ohne die Unternehmen aus dem Land zu treiben
Steuerbelastung der Bürger weit abgeschlagen ist. Unternehmensgewinne werden hier effektiv mit einem EU-Spitzenwert von 36 Prozent belastet. Länder wie Österreich oder Skandinavien liegen um zehn Prozentpunkte niedriger. Der EU-Durchschnitt liegt sogar bei 24 Prozent. Daher legt der Wirtschaftrat im Juni Eckpunkte für eine Unternehmensteuerreform vor. Besonders dringlich ist die Vereinfachung des Steuerrechts. Es kennt so viele Ausnahmen, dass es keiner mehr versteht! Oberste Priorität hat für uns die Abschaffung der Gewerbesteuer. Einbeziehung der Freiberufler in die Gewerbesteuer wäre ein Frontalangriff gegen die Unternehmer in unserem Land. Das brächte die Seele unserer Mitglieder nochmals zum Kochen.
Die SPD sollte einsehen: Von jedem zusätzlich verdienten Euro kassiert der Fiskus bis zu 68 Cent. Das ist ein absoluter Rekord in Europa. Zusatzbelastung durch indirekte Steuern sind weitere acht Prozent vom Brutto. Das heißt, wir sind im Grunde bei 75 Prozent Steuerlast, wenn alles in allem gerechnet wird. Beim Schafscheren sollte man aufhören, wenn die Haut kommt. Das muss auch beim Steuereintreiben gelten.
Deutschland braucht attraktive Unternehmensteuersätze von deutlich unter 30 Prozent. Hiervon muss auch der Mittelstand profitieren. Das ist entscheidend für die Steuergerechtigkeit. Abgeltungssteuer von einheitlich 24 Prozent auf Zinsen, halbe Dividenden, Veräußerungsgewinne bringen dem Finanzstandort mehr Wettbewerbsfähigkeit und wir sind aus-
„Wir brauchen, das ist unsere zentrale Forderung, dafür werben wir, eine Schuldenbremse nach Schweizer Vorbild. Dem Staat muss endlich die Kreditkarte entzogen werden. Die Unterstützung dieser Forderung durch die Ministerpräsidenten Milbrandt und Öttinger haben wir bereits erreicht. Wir sind für eine Grundgesetzänderung nach der der Staat ein ausgeglichenes Budget vorzulegen hat. Jahr für Jahr, ohne neue Schulden.“
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drücklich gegen eine Verschiebung dieser Abgeltungssteuer ins Jahr 2010. Wegfall der Erbschaftssteuer bei zehnjähriger Betriebsfortführung ist Bestandteil der Koalitionsvereinbarung. Wir wollen das auch in der Steuerreformvorlage wiedersehen. Neues Abkassieren bei Immobilienbesitzern lehnt der Wirtschaftsrat ab. Vertrauensschutz bei dieser Alterssicherung aus versteuertem Geld darf nicht angetastet werden. Nach einer großen Steuerreform muss es Berechenbarkeit und Verlässlichkeit geben. Das soll Planungssicherheit für die Wirtschaft schaffen und Schwung in die Konjunktur bringen.
5. Keine ideologischen Tabus in der Energiepolitik, denn sie hat die Chance vom Kostentreiber zum Innovationsmotor zu werden Im EU-Vergleich ist Deutschland Energiehochpreisland. Der Staatsanteil am Benzinpreis ist über 70 Prozent. Bei 1,40 € je Liter kassiert der Staat einen Euro. Das ist EU-Rekord. Der Strompreis für Privathaushalte stieg um 40 Prozent von 40 auf 57 € pro Monat im Durchschnitt. Und der Staatsanteil am Strompreis liegt bei über 40 Prozent. Deutschland kann es sich nicht länger leisten, die Abwanderung der Industrie, die Energie braucht, zu riskieren. Hier ist eine Kehrtwende notwendig. Wir importieren heute bereits über 70 Prozent der Energie aus politisch instabilen Regionen – Tendenz steigend. Dabei ist der höhere Stellenwert der Versorgungssicherheit mehr als gerechtfertigt. Umso wichtiger ist es: Ein breiter Energiemix ohne ideologisches Tabu muss blei-
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ben. Die SPD hat immer noch kein Konzept für CO2-freien Ausstieg aus der Kernenergie. Er würde 256 Milliarden € Kosten verursachen. Der Ausstieg aus der Kernenergie ist verantwortungsloser Umgang mit Volksvermögen. Wir sollten Abstand davon nehmen. Wir fordern daher eine Wende in der Energiepolitik. Sie hat die Chance, vom Kostentreiber zum Innovationsmotor zu werden. Das ist dringend notwendig. Ideologisch überzogene Steuern und Abgabenlasten für Energie können wir reduzieren, Laufzeiten für Kernkraftwerke verlängern – international sind bei der jüngsten Generation 60 Prozent üblich – und erneuerbare Energien schneller in die Wettbewerbsfähigkeit führen: aber bitte keine Dauersubvention! Vor allem muss unser Land wieder zum Motor innovativer Energietechnologien werden. Bei Clean-Coal-Projekten und Kernkraftwerken der vierten Generation muss Deutschland eine Führungsrolle übernehmen. Das Erbe von RotGrün: Die Investitionen in Energieforschung seit 1998 sind um 40 Prozent gesunken, während die USA und Japan mittlerweile über das Fünffache im Vergleich zu Deutschland in Energie investieren. Deshalb muss Energieforschung als strategische Zukunftsforschung weiter ausgebaut werden.
6. Wir brauchen einen bundesweiten Mentalitätswandel für Forschung und Innovationen Wohlstand ist auf Dauer nur haltbar, wenn Deutschland bei Forschung und Innovation besser wird und leistungsfähiger als die Konkurrenten. Wir brauchen einen bundesweiten Mentalitätswandel, damit die von der Bundeskanzlerin ausgerufene zweite Gründerrepublik
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Realität werden kann. Die Bürger müssen wieder Lust bekommen, Unternehmer zu werden und Unternehmen zu gründen. Nach wie vor ist der bürokratische Aufwand für Unternehmensgründungen in Deutschland abschreckend, viel zu hoch, in den USA im Schnitt fünf Tage, in Deutschland 24 Tage. Existenzgründern droht der Erstickungstod im Paragraphendschungel. Das muss geändert werden. Deshalb ist Verwaltung zu halbieren, Zahl der Unternehmer zu verdoppeln die richtige Perspektive. Wir sind vor einem neuen Gründungsboom. Starthilfe für innovative Neu- und Ausgründungen kann gegeben werden. Damit muss vor allem die private Finanzierung von Startups attraktiver werden. EU-weit haben mit Private Equity und Venture Capital finanzierte Unternehmen seit 2000 eine Million Arbeitsplätze geschaffen. Deutschland hingegen lässt enormes Wachstumspotenzial brach liegen und verjagt Investoren durch verantwortungslose Heuschreckendebatten. Dabei hat der Verursacher dieser Debatte, Müntefering sein Name, selbst die Verträge unterschrieben und hat an die so genannten Heuschrecken als Verkehrsminister Tank & Rast verkauft. Er hat die Eisenbahnerwohnungen an die Heuschrecken verkauft. Und dann stellt er sich hin und beschimpft sie. Das ist die Unehrlichkeit, die wir in dieser Republik abschaffen müssen. Deshalb ist jetzt die zügige Umsetzung des Koalitionsvertrags wichtig. Abbau rechtlicher und steuerlicher Barrieren für private Beteiligungen, Verbesserung der Mittelstandsfinanzierung und Verabschiedung eines Private-EquityGesetzes sind dringend notwendig. Zusätzliche Spinn-offs gezielt fördern und die Vernetzung von Wirtschaft, Wissenschaft und Forschung weiter ausbauen. Deutschland hat alle Voraussetzungen, gute Ideen Realität werden zu lassen. Wir haben die guten Ideen, wir müssen sie Realität werden lassen. Dann schaffen wir Wohlstand und mehr Wachstum in unserem Land.
Untertanen, wie er formulierte. Deshalb ist oberste Priorität ein Kurswechsel zu mehr unternehmerischer Freiheit und damit zu mehr Wachstum und Beschäftigung und Wohlstand in unserem Land.
Das wirtschaftspolitische Credo des Wirtschaftsrates lautet: Wenn wir die Wahl haben zwischen mehr Rente oder mehr Geld für Forschung, dann wählen wir Forschung. Wenn wir die Wahl haben zwischen Subventionen für Familien oder mehr Geld für die Ausbildung unserer Kinder, dann wählen wir die Ausbildung unserer Kinder. Und wenn wir die Wahl haben zwischen mehr Solidarbeiträgen zulasten der Leistungsträger oder mehr unternehmerischer Freiheit, dann wählen wir mehr unternehmerische Freiheit. Wir Unternehmer sind bereit, Mitverantwortung zu tragen.
Benjamin Franklin hat einmal zu recht gesagt: „Wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, wird am Ende beides verlieren.“ Noch zu oft wirft uns ein deutscher Gendefekt zurück: Der Ruf nach Staat wird laut, wenn Angst vor dem Markt um sich greift – eine absurde Reaktion. Schon Ludwig Erhard warnte vor der Hand in der Tasche des Nachbarn. Der Wahn des Versorgungsstaates führe zum sozialen II/2006 trend
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Mehr Freiheit wagen heißt Leistung belohnen
Bericht des Generalsekretärs Hans Jochen Henke
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eine Gesellschaft in Europa ist so unternehmungslustig wie die deutsche. Niemand reist mehr und hat größere Lust, etwas Abenteuerliches zu unternehmen. Kein Volk unternimmt lieber etwas im Schatten als wir Deutsche – und betreibt Schwarzarbeit. Sich jedoch im klassischen Sinne unternehmerisch zu betätigen und ein Unternehmen zu gründen, kommt in diesem Lande immer weniger Menschen in den Sinn.
„Ludwig Erhard hat bereits festgestellt, dass dem Unternehmer kein bequemes Dasein oder eine beschauliche Rente winkt. Vielmehr wird von ihm zu jeder Zeit voller Einsatz und uneingeschränkte Leistungsbereitschaft gefordert“.
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Statt die Lust am Unternehmen zu befördern, wird in diesem Land viel zu viel unternommen, um unter dem vermeintlichen Nimbus der sozialen Gerechtigkeit die Umverteilung von Einkommen und Vermögen „zu verbessern“. Die eigene Leistung wird immer weniger zur Antriebskraft des individuellen Wohlstandes. Die
Bürokratie tut hierzu ein Übriges. Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, das so genannte AGG, ist Höhepunkt einer solchen Entwicklung. Hier fallen Reden und Tun der Akteure sichtbar auseinander. Fast jede Entscheidung der großen Koalition führt nicht zu weniger, sondern zu mehr Bürokratie, Komplexität und Intransparenz. Insofern ist die Frage berechtigt: „Was sollte heute jemanden veranlassen, etwas eigenständig, verantwortlich und Risikobehaftetes zu unternehmen?“ Auf den ersten Blick mögen die Hauptmotive für Unternehmensgründungen in rein materiellen Anreizen liegen. Ich frage jedoch: „Wer wirbt in dieser Gesellschaft eigentlich noch da-
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für, dass junge Leistungsträger mit Leidenschaft und Lust gute Ideen, Kreativität, organisatorisches Talent und Mut einsetzen und Bereitschaft zeigen, andere Menschen mitzunehmen und zu begeistern?“ In den 50er und 60er Jahren war der Mittelstand in diesem Land maßgeblich von diesem Geist geprägt. Ich behaupte, dieser Geist ist nicht tot. Er ist vielleicht an der einen oder anderen Stelle etwas erschüttert, erlahmt oder irritiert, aber es gibt nach wie vor Institutionen, in denen er lebt. Ich bin stolz darauf, Mitverantwortung für eine solche Organisation zu tragen.
Leistung und unternehmerische Verantwortung sind Säulen für Wachstum und Beschäftigung Wir müssen uns offen dazu bekennen, dass Gewinne erzielen und Mehrwert schaffen, die reinvestiert werden können, elementare Grundvoraussetzung für Wachstum und Beschäftigung in unserem Land sind. All zu oft wird bislang der Fehlschluss gezogen, dass erst dem einen etwas weggenommen werden muss, damit andere zufrieden gestellt werden können. Die Kapitalismusdebatte macht deutlich, dass auf sehr gefährliche, fast demagogische Weise der marxistische Grundgedanke vom ausbeuterischen Unternehmer benutzt wurde, um von den Missständen der rotgrünen Reformpolitik abzulenken.
gericht, Di Fabio, sagt: „Das grundlegende Prinzip der Gegenseitigkeit und damit der Gerechtigkeit funktioniert in einer Gemeinschaft von freien Individuen und Persönlichkeiten nur dann, wenn der produktive Eigennutz genügend Raum hat und erst dann in zweiter Stufe in gesellschaftlich vernünftige Bahnen gelenkt wird“. Reichensteuer, Mindestlohn, die Forderung nach einer Erhöhung von Vermögen- und Erbschaftsteuern sind falsche Ansatzpunkte und widersprechen diesem Grundverständnis fundamental. Gewinn durch Leistung, Freiheit zur Selbstständigkeit und Respekt vor dem Eigentum anderer sind unveränderliche Grundwerte des Unternehmertums in Deutschland. Das in unserer Öffentlichkeit falsche Bild des Unternehmers muss endlich korrigiert werden. Umso mehr ist es zu begrüßen, dass die CDU eine Debatte über die Grundwerte unserer Gesellschaft im Rahmen von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität angestoßen hat, an der sich der Wirtschaftsrat intensiv beteiligt. Im Vordergrund der Debatte sollten folgende Fragestellungen stehen:
„Welche Verantwortung tragen Unternehmen und Unternehmer heute für unser Land?“
„Was tut dieses Land mit seiner Gesellschaft für Unternehmer und Unternehmen?“
Weil der vorsorgende Sozialstaat am Ende ist, wird die Last der Gemeinschaft jenen aufgebürdet, die rechtzeitig vorgesorgt haben. Der Vorsitzende Richter am Bundesverfassungs-
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„In welchem Verhältnis steht dieses Thema zu den drei Grundwerten Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität?“
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„Welche Bedeutung besitzen die heutigen gesellschaftlichen Megatrends Globalisierung und demographischer Wandel in unserer Gesellschaft?“
„Welche speziell von christdemokratischen Grundwerten getragenen Anliegen sind als Themenschwerpunkt hier von Bedeutung?“
Der Wirtschaftsrat ist kein Abziehbild der CDU Im Rahmen der CDU-Grundsatzkommission, an der ich für den Wirtschaftsrat als Vorsitzender des Arbeitskreises „Verantwortung der Unternehmer“ mitwirke, werden wir auch die Wertedebatte innerhalb unserer Organisation intensiv führen. Mitte des Jahres wird bei einer Klausurtagung das Präsidium einige Kernforderungen formulieren. Darüber hinaus planen wir unter Einbezug aller interessierten Mitglieder die Durchführung eines Werteforums. Bis Ende September 2006 besteht die Gelegenheit, die Beratungsergebnisse in die weitere Diskussion der Gesamtkommission einzubringen. Der Wirtschaftsrat ist ein wirtschaftlich und ordnungspolitisch ausgerichtetes Kompetenzzentrum. In einer föderalen Bundesrepublik mit 16 Ländern und 16.000 Kommunen, die alle mit finanzieller, personeller und organisatorischer Eigenständigkeit ausgestattet sind, ist es ein großer Vorteil, dass auch der Wirtschaftsrat horizontal und vertikal breit aufgestellt ist und rechtlich, politisch und finanziell eigenständig agiert. Wir bewegen uns in einem sich ständig wandelnden Markt. In Brüssel sind rund 20.000 Verbände registriert und organisiert, in Deutschland rund 14.000, davon 8.500 mit hauptamtli-
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cher Führung. Knapp 2.000 davon sind beim Bundestag registriert. Bei mehr als zwei Drittel dieser Verbände schwindet der Mitgliederbestand dramatisch. Diese Entwicklung macht auch vor den Gewerkschaften und den Spitzenverbänden der deutschen Industrie und Wirtschaft nicht Halt. Hinzu kommen allein in Berlin mehr als 100 Public-Affairs-Agenturen und eigenständige Konzernrepräsentanzen. Der Wirtschaftsrat nimmt eine gegenläufige Entwicklung: Seine Mitgliederzahlen steigen kontinuierlich auf nunmehr über 10.000. Dennoch sind wir gut beraten, weiterhin intensiv zu überprüfen, wie das Profil und die Wahrnehmbarkeit des Wirtschaftsrates nachhaltig verbessert werden kann. Attraktiv sind seine Alleinstellungsmerkmale und hier liegen auch in Zukunft unsere Chancen. Es gibt keinen Verband, der so branchenübergreifend aufgestellt ist wie der Wirtschaftrat. Wir vertreten alle Unternehmensgrößen, von dem EinpersonenDienstleister bis zu den größten Unternehmungen in diesem Land. Wir haben acht Bundesfachkommissionen mit herausragenden Unternehmerpersönlichkeiten an der Spitze und über 500 Unternehmensvorständen sowie Repräsentanten aus Wissenschaft und Politik. Ergänzt werden diese Kommissionen durch themenbezogene Arbeitskreise sowie projektbezogene Allianzen und Partnerschaften mit anderen Verbänden, Medien und beteiligten Akteuren.
Der Wirtschaftsrat ist ordnungspolitischer Vordenker Wir waren von Anbeginn ein Treiber für die große Steuerreform und Mitstreiter bei dem
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Thema der Sanierung der Staatsfinanzen. Bei der Mitbestimmung fordern wir ebenso konsequent die Rückverlagerung von mehr Verantwortung in die Betriebe. Als erster Verband haben wir uns bereits vor dem Regierungswechsel für eine Kehrtwende hin zu einer wettbewerbsorientierten und ideologiefreien Energiepolitik eingesetzt.
schaften belegen. Motivation und Begeisterung – das färbt auf junge Menschen nachhaltig ab.“
Der Wirtschaftsrat bindet junge Leistungsträger aktiv ein
Von der Bundes- bis hin zur Landes- und Sektionsebene stärken wir die Kampagnefähigkeit des Wirtschaftsrates. Hierzu ist Intensivierung der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit dringend erforderlich. Unsere Kampagnethemen in der zweiten Jahreshälfte 2006 sind u. a.:
Besonders stolz sind wir auf unsere dynamische Nachwuchsorganisation, den WR-Juniorenkreis mit bereits mehr als tausend Mitgliedern. Mit dem jüngst etablierten Vorstand unter dem Vorsitz von Paul Jörg Feldhoff haben wir eine voll legitimierte Führung geschaffen. Der Geist und das Selbstverständnis, mit dem die jungen Leute antreten, ist ein hoffnungsvolles Element für unsere Organisation.
Antidiskriminierung öffentliche Finanzen, Konsolidierung der
Der Wirtschaftsrat in einer globalisierten Welt
Haushalte
sowie die Fortführung der Kampagne zur Arbeitsmarktpolitik
Der Wirtschaftsrat setzt auf die aktive Mitwirkung seiner Mitglieder Nach meinem Selbstverständnis müssen wir viel stärker eine Mitmach-Organisation werden. Hierzu arbeiten wir intensiv an einem Marketing-Gesamtkonzept und einer IT-Modernisierung. Mein Appell richtet sich auch an die Mitglieder: „Wenn die Minderheit wirtschaftlich denkender, leidenschaftlich ausgerichteter Bürgerinnen und Bürger sowie Unternehmerpersönlichkeiten in diesem Land stärker Einfluss nehmen und mehrheitsfähig werden wollen, dann müssen wir unternehmerische Verantwortung nach außen vorleben, und Unternehmertum nicht nur mit negativen Bot-
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Der Wirtschaftsrat in Brüssel ist mit mehr als 100 Mitgliedern unsere europäische Speerspitze. Dort gibt es regelmäßige Jours Fixes mit EUAbgeordneten und einen Beirat mit hochrangigen Vertretern der EU-Kommission. Mehr als 70 Prozent der Regelungen kommen bereits aus Brüssel – dieser Entwicklung müssen wir Rechnung tragen. Erstmals werden wir in der zweiten Jahreshälfte 2006 eine Plattform in Brüssel zur Intensivierung des Dialogs zwischen Vertretern der EU-Gremien und Unternehmen in Deutschland schaffen. Darüber hinaus befindet sich eine Sektion in New York in Gründung. Bei dieser Sektion sowie bei allen weiteren Anfragen aus großen Kapitalen legt der Wirtschaftsrat großen Wert auf eine maßvolle kostenorientierte und risikominimierende Vorgehensweise.
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WR-Polit-Puls Klaus-Peter Schöppner, Geschäftsführer von TNS-Emnid
Wirtschaft beklagt das „Weiter-so-Syndrom“
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ein halbes Jahr hat es gedauert, die Anfangseuphorie der Mitglieder des Wirtschaftsrates über die schwarzrote Bundesregierung zu dämpfen. Aus Zuversicht wurde erst Nachsicht über Anfangsschwierigkeiten, dann Vorsicht, nun Enttäuschung: Im Mai schlug das gute Starturteil ins Negative um: Nur noch 48 Prozent bewerten die Arbeit des Merkel-Kabinetts positiv (2 Prozent: sehr gut – 46 Prozent: eher gut), 49 Prozent dagegen negativ. Selten verbreitete ein Start größeren Optimismus. Selten wurde aber auch eine Politeuphorie schneller enttäuscht. Übersicht: Anteile „sehr wichtig“ 77%
Belebung des Arbeitsmarktes 66%
die Sanierung der Staatsfinanzen die große Steuerreform
63%
Senkung der Lohnzusatzkosten
57%
Stärkung von Bildung und Forschung 36%
Familienpolitik
29%
die Föderalismusreform
27%
Verlängerung der Laufzeiten von Kernkraftwerken Verstärkte Kosten-Nutzen-Analyse bei umweltpolitischen Maßnahmen
24% 23% 0
Stimmen Sie zu, dass die Unternehmen und Unternehmer verstärkte Gesamtverantwortung in Staat und Gesellschaft übernehmen sollten? *
Die Unternehmer urteilen umso unzufriedener, desto enger die Politbereiche etwas mit Wirtschaft zu tun haben. 59 Prozent unterstützen die Familien-, 36 Prozent die Bildungs- und Forschungspolitik und 30 Prozent die Föderalismusreform. Mit der Energiepolitik sind dagegen nur 13, den Lohnnebenkosten gerade noch elf, mit der Steuerpolitik – schlechtestes Urteil – blasse acht Prozent zufrieden. Je wichtiger das Politfeld für die Zukunft Deutschlands, desto schlechter das bisher Erreichte.
53%
Sicherung einer Energieversorgung zu wettbewerbsfähigen Preisen
Wie wichtig ist Ihnen, dass folgende politische Ziele in dieser Legislaturperiode angepackt werden? *
verbessert, sondern durch immer neue Abgaben ohne erkennbaren Systemwechsel zum Schwächeln gebracht werden. Verärgerung auch darüber, dass sich die Politik selbst unter dem Druck anhaltend hoher Arbeitslosigkeit und exorbitanter Staatsverschuldung weit von ihren Reformforderungen entfernt hat.
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Noch allerdings sehen die meisten der im Mai an der Wirtschaftsrats-Polit-Puls-Umfrage teilnehmenden 2061 Wirtschaftsführer einen Positiveinfluss auf ihr Unternehmen. Vergleicht man aber die Regierungsqualität mit der aus den letzten Tagen von Rot-Grün, dann bewerten nur 57 Prozent die Rahmendaten für ihr Unternehmen besser, 37 Prozent schlechter. Kritisiert wird fehlender Reformelan. Und, dass die Sozialsysteme nicht durch Strukturveränderungen
Jeweils an oder über 90 Prozent fordern den Abbau der Kosten im öffentlichen Dienst, die Lockerung des Kündigungsschutzes, die Stärkung der privaten Altersvorsorge sowie die Einhaltung der Maastrichter Defizitkriterien. Für die Kombilöhne sprechen sich 62, für das Elterngeld immerhin 55 Prozent aus. 91 Prozent widersprechen der These von Kurt Beck, den Staat für seine vielfältigen Aufgaben besser mit Steuermitteln auszustatten. 79 Prozent der Wirtschaftsräte bieten an, in Zukunft stärker bei der Reform unseres Sozialstaates in die Pflicht genommen zu werden.
Stimmen Sie zu, dass die Unternehmen einen verstärkten Beitrag zur Familienpolitik leisten sollten durch Verbesserung der Möglichkeiten, Beruf und Familie miteinander verbinden zu können? * k. A.
k. A.
4%
nein
4%
17% nein
79%
23%
73%
ja
ja
* Befragungszeitraum: 09. 05. - 19. 05. 2006 n = 2.061 TNS-Emnid
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Vertiefung vor Erweiterung – Europa handlungsfähig gestalten
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n der Diskussion auf Podium I wurden zentrale Fragen rund um die Vertiefung und Erweiterung der Europäischen Union erörtert. Moderator Henning Krumrey, Leiter der Focus Parlamentsredaktion, warf die Frage auf, ob sich EU-Beitrittsländer wie Rumänien angesichts der politischen Diskussionen überhaupt noch in der Europäischen Union willkommen fühlten.
Ovidiu Victor Gant, Beobachter von Rumänien im Europäischen Parlament, sagte, er fühle sich durchaus dazu gehörend. Für ihn gehe es darum, dass die alten und neuen EU-Mitgliedstaaten gemeinsam Europa gestalteten. Für Rumänien stelle sich die Frage – anders als für Norweger oder Schweizer – nach einem EU-Beitritt nicht. Wie ein Kartenhaus seien die kommunistischen Regime in Osteuropa nach dem Mauerfall zusammengebrochen. Für Rumänien sei der EUBeitritt eine logische Konsequenz dessen. „Der II/2006 trend
Verfassungsvertrag ist leider in Frankreich und in den Niederlanden abgelehnt worden“, sagte Gant. Es hätten jedoch viele andere Staaten den Vertrag ratifiziert, einschließlich Rumänien und Bulgarien – trotz der Tatsache, dass sie noch nicht Mitglieder der EU seien. „Es ist offensichtlich, dass wir auf diesem Wege weiter machen müssen“, sagte Gant. „Es geht ja nicht nur um den juristischen Rahmen der EU, sondern meiner Meinung nach auch um den europäischen Geist, um die europäische Idee.“ Die Mitgliedschaft in der EU bedeute nicht nur, wirtschaftliche Vorteile genießen zu dürfen, sondern auch gewisse Werte zu teilen. „Die Verfassung bedeutet für mich auch eine mehr und mehr wirkende allgemeine Einhaltung der Spielregeln, egal ob es die Einzahlungen in den EU-Haushalt, die Währungsunion, das Schengener Abkommen oder die Außen- oder Verteidigungspolitik anbelangt.“ Dabei spiele es auch keine Rolle, ob es um ältere oder neuere Mitgliedstaaten gehe.
Podium I In das Thema „Vertiefung vor Erweiterung – Europa handlungsfähig gestalten“ führten ein: Hartmut Nassauer MdEP, Vorsitzender CDU/CSU-Gruppe im Europäischen Parlament sowie Zden˘ek T°uma, Gouverneur, Tschechische Nationalbank. Unter der Moderation von Henning Krumrey, Leiter der Parlamentsredaktion Focus, Berlin, diskutierten: Ovidiu Victor Gant, Beobachter von Rumänien im Europäischen Parlament; Eggert Voscherau, Stellvertretender Vorsitzender des Vorstands der BASF AG; Klaus-Peter Müller, Sprecher des Vorstands der Commerzbank; Daniel Gros, Direktor des Centre for European Policy Studies (CEPS).
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Hartmut Nassauer MdEP Vorsitzender CDU/CSU-Gruppe im Europäischen Parlament ne Mitgliedschaft gebe. „Kein Staat hat diesen Anspruch – nicht die Türkei, nicht die Schweiz und auch nicht Norwegen“, stellte Nassauer klar. „Die EU-Mitglieder entscheiden völlig frei, ob sie ein neues Mitglied in ihren Club aufnehmen oder nicht.“ Mit Blick auf die Aufnahme der zwölf mittelund osteuropäischen Staaten in die EU erklärte Nassauer, die Teilung Europas habe nur mit einer Öffnung nach Osten beantwortet werden können. „Dies ist die Bedingung für eine friedliche, freiheitliche, demokratische und rechtsstaatliche Entwicklung in diesen Ländern.“ An dieser Entwicklung habe insbesondere Deutschland ein existenzielles Interesse. Nassauer sagte, im Großen und Ganzen sei die Erweiterung geglückt, sie sei insbesondere aus wirtschaftlicher Sicht ein großer Erfolg, gerade für Deutschland. Hartmut Nassauer sagte, Vertiefung und Erweiterung in der Europäischen Union müssten jeweils getrennt analysiert werden. Der Vorsitzende der CDU/CSU-Gruppe im Europäischen Parlament begann mit der Analyse der Erweiterung. Es stelle sich die Frage, ob nach der Aufnahme von zehn Mitgliedstaaten im Mai 2004 weitere Aufnahmen möglich oder notwendig seien. „Ich spreche dabei nicht über die Fälle Rumänien und Bulgarien, denn hier sind die grundsätzlichen Entscheidungen gefallen, egal wie man dazu stehen mag“, sagte Nassauer. Beide Länder würden aufgenommen. Die einzige offene Frage sei, ob die Aufnahme der beiden Länder zum Januar 2007 oder 2008 vollzogen werde. „Wie geht es danach mit der Erweiterung weiter?“, fragte Nassauer. Dies beinhalte die Frage, welche Ausdehnung die EU überhaupt haben solle. Ein erster Hinweis finde sich in den EU-Verträgen. Dort heiße es, dass jeder europäische Staat, der die Grundsätze der Freiheit achte, beantragen könne, Mitglied der EU zu werden. Mithin sei die Frage zu untersuchen, ob Staaten, die nur zum Teil oder nur zu einem kleinen Teil europäische Staaten seien, aufgenommen werden könnten. Noch wichtiger sei der Passus, dass eine Mitgliedschaft zur EU zwar beantragt werden könne, es aber aus juristischer Sicht keinen Anspruch auf ei-
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Nassauer kritisierte jedoch, dass die Bundesregierung die Freizügigkeit für Arbeitnehmer aus den mittel- und osteuropäischen Staaten für weitere drei Jahre eingeschränkt habe. Dies werde Deutschland im Wettbewerb um die besten Köpfe zurückwerfen. Ein weiteres Problem bei der zurückliegenden Erweiterung sei die Tatsache, dass zwar den Beitrittsländern erhebliche Anstrengungen abverlangt worden seien, die alten Mitgliedstaaten der EU aber zu wenig für ein erfolgreiches Gelingen der Erweiterung in ihren eigenen Ländern getan hätten. „Wenn es kein Zusammengehörigkeitsgefühl mit den Beitrittsländern gibt, dann gibt es auch nicht die Solidarität, die man etwa benötigt, um zu begründen, warum man Geld in die Hand nimmt, um diesen Ländern zu helfen“, kritisierte Nassauer. „Allein mit wirtschaftlichen Vorteilen, ja selbst mit der friedensstiftenden Funktion der Erweiterung ist der Vorgang der Erweiterung für viele Menschen bei uns offensichtlich nicht hinreichend erklärt.“ Es sei versäumt worden, deutlich zu machen, dass es im Kern nicht um eine Erweiterung, sondern um die Wiederherstellung einer freiheitlichen europäischen Ordnung gehe, die es früher bereits gegeben habe. „Das Bewusstsein dafür haben wir nicht hinreichend entwickelt“, kritisierte Nassauer.
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Die Grundlage für dieses Bewusstsein sei aber vorhanden, da die europäischen Staaten eine gemeinsame Geschichte und gemeinsame Werte verbinde. „Diese Gemeinsamkeit bezeichnet gleichzeitig die Grenze Europas und damit auch die Grenze für mögliche Erweiterungen“, sagte Nassauer. „Europa endet dort, wo die geschichtlichen Voraussetzungen für die gemeinsamen kulturellen Wurzeln nicht mehr gegeben sind. Dies schließt nach meinem Verständnis eine Aufnahme der Türkei in die Europäische Union aus.“ Die Türkei sei für die EU ein sehr wichtiger Partner. Nach den Worten Nassauers müssen aber andere institutionelle Voraussetzungen für die Zusammenarbeit mit der Türkei gefunden werden. „Wir brauchen jetzt eine Konsolidierung des Standes, der bislang erreicht wurde.“ Zur Vertiefung der EU sagte Nassauer, diese müsse vor allem mehr Handlungsfähigkeit eröffnen. „Sie zielt auf die Integration der EU.“ Materiell gehe es dabei um die Frage, welche Zuständigkeiten auf Ebene der EU und welche auf der Ebene der Mitgliedstaaten angesiedelt werden sollen. Formell gehe es um die Frage, mit welchen Methoden die EU ihre Zuständigkeiten ausüben solle. „Mit der Frage der Vertiefung hängt also zwingend die Frage zusammen, wohin die EU sich entwickeln
Eggert Voscherau, Stellvertretender Vorsitzender des Vorstands der BASF AG, sagte, ein handlungsfähiges Europa sei zwar wichtig, ein erfolgreiches Europa aber sei wichtiger. „Fast 50 Jahre lang haben wir den Unglücklichen jenseits des Eisernen Vorhangs erzählt, wir wollen den nicht, wir wollen euch. Jetzt kostet es uns alle was, und dann sagen wir: aber bitte nicht so schnell. Das können wir weder den Rumänen, den Polen noch den anderen Ländern in dieser Form klar machen. Denn wir haben nichts anderes als Glück gehabt, dass wir auf der richtigen Seite des Eisernen Vorhangs waren“, sagte Voscherau. Die EU sei bislang nicht über den „Wohlstandsegoismus“ der einzelnen Länder hinaus gekommen. Europa werde nur dann erfolgreich sein, wenn verstanden werde, dass nicht Schutzmaßnahmen, sondern Öffnung unsere Zukunft am besten sicherten. „Das ist nicht nur konkret bei Märkten der Fall – das ist auch insgesamt zu verstehen: „Wir müssen Europa eben nicht zukunftsfest, sondern zukunftsoffen machen – offen für II/2006 trend
soll.“ Die Vertiefung könne ebenso wenig schrankenlos voran getrieben werden wie die Erweiterung grenzenlos sein könne. „Die Vorstellung der EU als überstaatliche Einrichtung ist jedenfalls eine zu begrenzende. Wir wollen nicht schrankenlos und beliebig weit Zuständigkeiten auf die EU übertragen“, betonte Nassauer. Dazu bedürfe es eines Maßstabs, und dieser Maßstab sei das Prinzip der Subsidiarität. „Die EU soll sich also füglich nur mit Dingen befassen, die sie auf der überstaatlichen Ebene besser erledigen kann.“ Wenn man die Zuständigkeitsordnung so definiere, gewinne sie Plausibilität, sagte Nassauer. „Dann kann man nämlich begründen, warum die EU etwas macht. Mit Plausibilität gewinnt das Handeln der EU auch Akzeptanz.“ Gegenwärtig fehle es allerdings an einer Subsidiaritätskultur auf europäischer Ebene, mithilfe derer präzise untersucht werde, was auf EU-Ebene und von den untergeordneten Gebietskörperschaften geregelt werden könne. „Wir wollen uns nicht zum Europäischen Bundesstaat entwickeln“, betonte Nassauer. Darum benötige auch die Vertiefung eine Grenze. „Erweiterung und Vertiefung müssen begrenzt bleiben. Überdehnung stellen Handlungsfähigkeit und Akzeptanz in Frage.“
Wettbewerb, offen für Innovationen“, sagte Voscherau. Die Frage Krumreys, ob die Wirtschaft überhaupt auf eine politische Union in Europa angewiesen sei, beantwortete Klaus-Peter Müller,
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Zden˘ek T°uma Gouverneur Tschechische Nationalbank gungen könnten den Prozess zwar befördern oder bremsen, jedoch kaum ganz beenden. Aus ähnlichen Gründen verliefe auch die Vertiefung der bestehenden EU aus ökonomischer Sicht weiterhin eher spontan. „Wir beobachten zum Beispiel eine dynamische Integration der Finanzarchitektur und eine wachsende Zahl grenzüberschreitender Unternehmenszusammenschlüsse – sowohl im Finanzsektor als auch in anderen Branchen“, sagte T°uma.
Zden˘ek T°uma stellte die Frage, ob die Europäische Union tatsächlich einem Dilemma zwischen Vertiefung und Erweiterung gegenüberstehe. „Wir sollten den Integrationsprozess von zwei Seiten – vom ökonomischen und politischen Standpunkt aus – betrachten“, sagte T°uma. Vom ökonomischen Standpunkt aus gesehen seien sowohl Vertiefung der EU als auch deren Erweiterung primär spontane Prozesse. Dies gelte jedoch nicht notwendigerweise aus politischer Sicht. „Unglücklicherweise werden diese beiden Aspekte oft verwechselt – und dies kann zu irreführenden Schlussfolgerungen führen“, mahnte T°uma. Zunächst ging T°uma auf die ökonomische Perspektive ein. „Als ein Neuling der EU kann ich bestätigen, dass wir eine spontane Integration mit der EU beobachtet haben, lange bevor der Beitrittsfahrplan für unser Land überhaupt öffentlich genannt wurde“, betonte der Gouverneur der Tschechischen Nationalbank. „Deswegen rechne ich auch nicht damit, dass die Erweiterung der EU allein wegen eines fehlenden politischen Willens zu Erweiterung enden wird.“ Marktkräfte würden die EU-Nachbarländer „im Spiel halten“, prophezeite T°uma. Die politischen und institutionellen Rahmenbedin-
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Auch hier würde ein angemessenes institutionelles Regelwerk helfen, sagte der Gouverneur der Tschechischen Nationalbank. Aber der Konsolidierungsprozess schreite auch ohne ein solches voran. „Aus ökonomischer Sicht ziehe ich deshalb die Schlussfolgerung, dass das angebliche Dilemma zwischen EU-Erweiterung und Vertiefung so gar nicht existiert“, sagte T°uma. „Tatsächlich gehen beide Vorgänge in der Praxis in jedem Moment unverändert weiter voran, politische Entscheidungsträger haben deswegen nur sehr begrenzte Möglichkeiten, sich zwischen diesen beiden Aspekten der Integration zu entscheiden.“ Allerdings werde die Fragestellung unter Berücksichtigung der politischen Dimension weitaus komplexer. Zwar finde die wirtschaftliche Integration relativ unabhängig vom politischen Willen statt, wenngleich das politische Regelwerk auch die Geschwindigkeit der ökonomischen Integration beeinflusse. Doch seien Politiker gefangen zwischen ihrer Vision eines integrierten Europas und dem Druck ihrer Wähler in ihrem Heimatland, die ihre Besitzstände wahren wollten. „Ihre Unfähigkeit, den Wählern die Vorzüge der europäischen Integration zu erklären, ist eine Quelle der Frustration – und sie setzt der wirtschaftlich mehr und mehr integrierten EU bei ihrer politischen Erweiterung und Vertiefung enge Grenzen“, warnte T°uma. Diese Situation verführe Politiker dazu, das Argument eines angeblichen Dilemmas zwischen Erweiterung und Vertiefung zu nutzen. „Aber Unternehmer werden Politiker nicht um Erlaubnis fragen, wenn sie beabsichtigen, einen Firmensitz in der Türkei oder auf dem
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Balkan zu eröffnen. Sie werden ihre Regierungen auch nicht fragen, wenn sie ihre Aktivitäten in Mitgliedstaaten innerhalb der derzeitigen EU-Grenzen intensivieren wollen. Sie werden es einfach tun“, betonte T°uma. Die Rolle der Regierungen sei darum nicht, die spontane ökonomische Integration der EU zu behindern, sondern diesen Prozess zu fördern. „Mei-
ne zweite Schlussfolgerung lautet deshalb: Unzufriedenheit mit der Unfähigkeit, die bestehende EU politisch zu vertiefen, darf nicht zum Argument dafür werden, die politische Erweiterung zu bremsen. Die Wirtschaft wird ihren Weg auch ohne die Politik machen – Europa aber würde verlieren, wenn die Politik nicht mitzieht.“
Sprecher des Vorstands der Commerzbank, mit der Feststellung, eine politische Union habe seiner Auffassung nach entscheidende Vorteile. Müller kritisierte jedoch, dass die „Politik die Menschen verloren“ habe. „Die Politik hat ein Tempo vorgelegt, das die Mehrzahl der betroffenen europäischen Bevölkerung nicht mehr verstanden hat“, sagte Müller. „Der negative Ausgang der Verfassungsreferenden in Frankreich und den Niederlanden ist die Chance, innezuhalten, Konsens herzustellen und das Konzept der Europäischen Union neu zu verankern“, sagte Müller. Der bisher scheinbar geltende Automatismus stetiger Vertiefung bei gleichzeitiger Erweiterung per „Kabinett-Diplomatie“ sei seit Juni 2005 in Frage gestellt. „Viele Bürger sehen in der Europäischen Integration eben noch keine überzeugende Antwort auf die Herausforderungen der Globalisierung, sondern betrachten sie vielmehr als Teil des Problems.“ Die nun angestoßene Phase der Reflexion sollte daher dazu genutzt werden, den Bürgern zuzuhören, ihre Erwartungen an die EU besser zu verstehen und eine überzeugende Diskussion über ihre künftige Gestalt zu führen. Zudem gelte es, im globalen Wettbewerb um leistungsfähige Märkte und Institutionen eigenständige Antworten für die EU zu ent-
wickeln. Die abstrakten Konzepte der „Erweiterung“ und „Vertiefung“ könnten daher keine eigenständigen Ziele „an sich“ sein, sondern lediglich zentrale Mittel zu deren Erreichung, betonte Müller.
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Daniel Gros, Direktor des Centre for European Policy Studies (CEPS), erklärte in Übereinstimmung mit Zden˘ek T°uma, zwischen Vertiefung und Erweiterung der EU bestehe kein Widerspruch. Gros konstatierte, die Malaise der EU konzentriere sich im Wesentlichen auf die großen Länder wie Deutschland, Frankreich und Italien. Diese Länder hätten es versäumt, sich rechtzeitig auf die EU-Erweiterung und die Globalisierung einzustellen. „Das ist das grundsätzliche Problem“, sagte Gros. Der Bevölkerung seien Versprechungen gemacht worden, die nicht hätten gehalten werden können. „Die Probleme Europas sind zur jetzigen Zeit fast immer nicht ein Problem der europäischen Verfassung, sondern der schlechten Verfassung der Staaten, insbesondere der größeren Mitgliedstaaten“, sagte Gros. Gros machte deutlich, dass der Erweiterungs- und Vertiefungsprozess der EU seit jeher zwei parallel laufende Vorgänge gewesen seien, die sich nicht gegenseitig ausschlössen.
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Schlüsselfaktor Bildung und Forschung – Innovationspolitik für den Arbeitsmarkt von morgen
Podium II In das Thema „Schlüsselfaktor Bildung und Forschung – Innovationspolitik für den Arbeitsmarkt von morgen“ führten ein: Thomas Rachel MdB, Parlamentarischer Staatssekretär bei der Bundesministerin für Bildung und Forschung sowie Dr. Dieter Hundt, Präsident, Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände. Unter der Moderation von Romanus Otte, stellvertretender Chefredakteur der Welt am Sonntag diskutierten: Hans-Jörg Bullinger, Präsident der FraunhoferGesellschaft; Jürgen Kluge, Direktor, McKinsey & Company Inc.; Edward Krubasik, Präsident des Zentralverbands Elektrotechnik- und Elektroindustrie (ZVEI); Klaus Schmidt, Vorsitzender der Vorstände der DEKRA e.V. und der DEKRA AG.
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omanus Otte, stellvertretender Chefredakteur der Welt am Sonntag, moderierte auf dem zweiten Podium die Debatte um den „Schlüsselfaktor Bildung und Forschung – Innovationspolitik für den Arbeitsmarkt von morgen“.
Hans-Jörg Bullinger, Präsident der FraunhoferGesellschaft, betonte, dass Deutschland nur als kreative, innovative Gesellschaft überlebensfähig sei. „Vorsprung durch Innovation ist der einzige Weg, um am Standort Deutschland Arbeit und Wohlstand zu sichern“, erklärte Bullinger. Eine Exportnation wie Deutschland müsse Produkte und Dienstleistungen anbieten, die auf den Weltmärkten konkurrenzfähig seien. „Wenn wir in Deutschland einen deutlich höheren Lebensstandard haben wollen als andere Länder, dann müssen wir auch etwas herstellen oder etwas leisten, was diese nicht können – innovative, einzigartige Produkte und Dienstleistungen, für die Verbraucher auch bereit sind, einen höheren Preis zu bezahlen“, sagte Bullinger. Bildung und Forschung schafften die Grundlagen für Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit.
Jürgen Kluge, Direktor, McKinsey & Company Inc., stimmte zu. Dabei stehe Bildung am Beginn einer Wirkungskette, deren letztes Glied gesellschaftlicher Wohlstand sei. „Die Bedeutung von Bildung verstärkt sich insgesamt noch – sowohl für jeden Einzelnen als auch für die Gesellschaft.” Der Grund sei der Strukturwandel hin zu einer auf Wissen basierenden Dienstleistungsgesellschaft. „Wissen ist nahezu der einzige Rohstoff Deutschlands. Geschaffen wird er durch Bildung und umgesetzt wird er in Innovationen – die Basis für Wachstum und damit für Wohlstand.” Um in Zukunft erfolgreich zu sein und unser Wohlstandsniveau zu halten oder sogar zu steigern, seien alle gefordert: Bürger, Unternehmen und Politik. Umfrageergebnisse belegten, dass die Existenz einer solidarischen Leistungsgesellschaft erwünscht und möglich sei. „Die Deutschen zeigen sich nämlich keineswegs reformmüde: Sechs von zehn Befragten plädieren für einen schnelleren gesellschaftlichen Wandel hin zu mehr Markt in Maßen“, sagte Kluge. Dafür seien sie bereit, mehr Lebensrisiken selbst zu tragen und größere soziale Unterschiede hinzunehmen.
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Thomas Rachel MdB Parlamentarischer Staatssekretär bei der Bundesministerin für Bildung und Forschung phisch leisten, dass junge Frauen und Männer nicht in die Arbeitswelt integriert werden.“ Deutschland müsse in die Menschen und ihre Talente investieren, forderte Rachel. „Aber auch die Arbeitnehmer, die bereits im Erwerbsleben stehen, müssen wir in den Blick nehmen. Denn ganz klar ist, Bildung ist ein lebenslanger Prozess.“ Bildung eröffne Lebensperspektiven und Teilhabechancen in der Gesellschaft. „Deshalb müssen wir uns gemeinsam darum bemühen.“
Thomas Rachel sagte, im Wettbewerb der Kraft- und Wohlstandsquellen in Deutschland müssten Bildung, Forschung und Wissenschaft ganz oben stehen. „Denn sie sind der Schlüssel für die Zukunftsfähigkeit unseres Landes.“ Dies habe auch die neue Bundesregierung so wahrgenommen. „Wir sagen aber zu Beginn ganz offen, dass sich neben der Politik auch die Wirtschaft in den Dienst dieser Sache stellen muss, damit wir Deutschland wieder zu einem Pionierland für Innovationen machen können“, betonte Rachel. Die Bundesrepublik brauche eine stimmige Innovationspolitik, weil sie nach wie vor die drittgrößte Industrienation weltweit sei. 16,5 Prozent aller OECD-Exporte an Technologiegütern machten Deutschland zum exportstärksten Land. „Wir haben auch Stärken hier: hohe politische und soziale Stabilität, eine gute Infrastruktur. Wir haben ohne Frage eine gewisse Rolle in Europa. Aber: Wir sollten uns davor hüten, im Technologie- und Bildungswettbewerb von unseren Nachbarn abgehängt zu werden“, warnte Rachel. Ein wichtiges gesellschaftspolitisches Anliegen sei es, dass alle jungen Menschen eine berufliche Perspektive bekämen. „Wir können es uns weder volkswirtschaftlich noch demograII/2006 trend
Um die Arbeitsplätze der Zukunft zu entwickeln, habe Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU) einen Innovationskreis zum Thema berufliche Bildung und einen Innovationskreis zum Thema Weiterbildung einberufen, an dem auch wichtige Vertreter der deutschen Wirtschaft beteiligt seien. „Wenn wir sagen, Deutschland muss Talentschmiede werden, dann heißt das, dass wir alle Begabungsreserven heben müssen. Das heißt auch, dass wir die Potenziale, die bei den Migranten liegen, sehen und erkennen müssen.“ Bei der Bildungspolitik gehe es darum, die Begabten ebenso zu fördern wie die Benachteiligten. Deshalb habe die große Koalition die Förderung für die Begabten aufgestockt. „Wir brauchen Leistungseliten in der Bundesrepublik, damit die Volkswirtschaft wieder nach vorne kommt“, betonte Rachel. Deutschland brauche darüber hinaus qualifizierte Wissenschaftler. „Die Herausforderung will ich Ihnen nur mit einer einzigen Zahl deutlich machen: In China wurden zwischen 1997 und 2004 mehr Forscher eingestellt, als wir in Deutschland insgesamt haben.“ Dies zeige das dramatische Tempo in Asien. Gemessen an dem Ziel, drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Forschung und Entwicklung ausgeben zu wollen, fehlten der Bundesrepublik rund 90.000 Ingenieure. Deshalb sei es ein Glücksfall, dass die Zahl der Studienberechtigten steigen werde. Die Bundesländer und der Bund stünden deshalb allerdings auch vor der Herausforderung, den Studierwilligen Chancen zu geben, ihre berufliche Qualifizierung an Hochschulen und Fachhochschulen vorzubereiten. „Deswegen hat die Bundesbildungsministerin den
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Bundesländern einen Hochschulpakt angeboten, mit dem wir zwei Ziele erreichen wollen: Einerseits sollen die Hochschulen für den absehbaren Studentenandrang offen gehalten werden. Andererseits soll die Qualität der Lehre gestärkt werden“, erläuterte Rachel. Autonomie und Wettbewerb seien die Leitbilder der christdemokratischen Wissenschaftspolitik, sagte der Parlamentarische Staatssekretär. „Dabei wollen wir uns als Bundesregierung bemühen, die Strukturen in den Bildungs- und Forschungseinrichtungen in den Blick zu nehmen, die Profilbildung zu stärken
Edward Krubasik, Präsident des Zentralverbands Elektrotechnik- und Elektroindustrie (ZVEI), betonte ebenfalls, Grundlage jeder erfolgreichen Wirtschaftspolitik sei, die Innovations-, Wachstums- und Wettbewerbsfähigkeit zu stärken. Deutschlands Chancen lägen in der Innovation – und nicht allein bei der Kostensenkung. „Innovationen sind ohne kreative Köpfe nicht möglich. Exzellenz in Ausbildung, Bildung und Wissen ist in einem rohstoffarmen Land wie Deutschland die Basis von Wertschöpfung, Innovation und Wachstum.”
und die Spitzenforschungszentren in ihrer internationalen Ausstrahlung zu verbessern“, sagte Rachel. Damit dies umgesetzt werden könne, habe die Bundesregierung beschlossen, den Anteil der Forschungs- und Bildungsinvestitionen am Bruttoinlandsprodukt spürbar zu steigern. „Noch nie hat eine Bundesregierung so viel Geld für Forschung und Entwicklung zur Verfügung gestellt.“ Die Bundesregierung habe ihren Anteil zur Steigerung der Forschungsausgaben beigesteuert, nun sei auch die Wirtschaft gefragt, ihren Anteil zu leisten, forderte Rachel. „Wir brauchen das Zusammenspiel von Politik und Wirtschaft.“
tungsbranche beschäftige überdies bereits mehr als zwei Drittel aller Erwerbstätigen in Deutschland. „Humankapital fördert – das ist unbestritten – Innovationen und Wachstum. Deutschland hat dabei erheblichen Nachholbedarf, speziell im Dienstleistungssektor”, sagte Schmidt. Ein Indikator dafür seien die Ausgaben für Forschung und Entwicklung. Der Anteil der deutschen FuE-Aktivitäten am Bruttoinlandsprodukt liege mit 2,5 Prozent nur noch leicht über dem OECD-Mittel. Das Ziel der Bundesregierung, zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands die Investitionen in Bildung und Forschung zu erhöhen, sei deshalb richtig. Bullinger betonte, motivierte und gut ausgebildete Fachkräfte seien die wichtigste Ressource für den Standort Deutschland. In den nächsten Jahren sei jedoch ein Fachkräftemangel absehbar. Insbesondere in den zukunftsträchtigen Schlüsseltechnologien würden Wissenschaftler und Ingenieure fehlen.
Klaus Schmidt, Vorsitzender der Vorstände der DEKRA e.V. und der DEKRA AG, hält den Wandel von der produzierenden Industrie hin zur Dienstleistungsgesellschaft in Deutschland für „unaufhaltsam”. Beim Wertschöpfungsanteil nach Sektoren liege die Dienstleistungsbranche bereits weit vorne: Etwa 70 Prozent des Bruttoinlandsprodukts gingen auf das Konto von Dienstleistungen. „Dementsprechend hat die Bedeutung von Humankapital deutlich zugenommen”, sagte Schmidt. Die Dienstleis-
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Krubasik sagte, die deutsche Wirtschaft brauche jährlich weit mehr als 10.000 Ingenieure der Elektro- und Informationstechnik. Es habe 2005 jedoch nur 8.000 Absolventen gegeben. „In fünf bis zehn Jahren könnte sich dieses Missverhältnis wieder einstellen, wenn wir nicht die heutigen Trends durch eine Reihe von Maßnahmen umkehren”, warnte Krubasik. Nach den Erfahrungen der letzten fünf Jahre nehme der Akademikerbedarf der deutschen Wirtschaft allein wegen des Wandels der Beschäftigungsstruktur zugunsten forschungsund wissensintensiver Wirtschaftszweige und des Innovationsdrucks jährlich um über
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Dr. Dieter Hundt Präsident Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände präsident. Schlüsselfaktoren für den Unternehmenserfolg in Deutschland seien unter anderem die Ausbildungsfähigkeit der Schulabgänger, die Berufsfähigkeit der Absolventen der dualen Ausbildung und die Beschäftigungsfähigkeit der Hochschulabsolventen sowie der Erhalt eines hohen Qualifikationsniveaus der Beschäftigten. „Grundlage für die Reformen müssen die erfolgreichen marktwirtschaftlichen Prinzipien sein, auf denen auch der unternehmerische Erfolg beruht“, sagte Hundt. Dazu zählten insbesondere Autonomie und Wettbewerb für die Einrichtungen im Bildungssystem. Dies führe zu größeren Bildungserfolgen und zu einer kontinuierlichen Leistungssteigerung der Bildungseinrichtungen.
Das Engagement der Arbeitgeber in der Bildungspolitik fasste BDA-Präsident Dieter Hundt unter dem Motto „Bildung schafft Zukunft“ zusammen. Bildung schaffe Zukunft für Menschen, unterstrich Hundt. „Die Entwicklung von Berufsfähigkeit und Persönlichkeit ist der entscheidende Schlüssel für die Teilhabe an der wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklung der Zeit“, sagte der Arbeitgeberpräsident. Bildung schaffe auch Zukunft für die Wirtschaft: „Wirtschaftliche Entwicklung ist abhängig von den Kompetenzen der Menschen in Betrieben, in Forschung und Entwicklung. Der Wirtschaftsstandort ist auf den Bildungsstandort Deutschland angewiesen“, betonte Hundt. Bildung schaffe ferner Zukunft für das gesamte Land: „Deutschland benötigt eine Prioritätensetzung in der Bildung. Erforderlich ist eine Umschichtung von teuren sozialpolitischen Reparaturmaßnahmen hin zu Investitionen in Bildungschancen“, erklärte der BDA-Präsident. Eine umfassende Debatte über Bildungsreformen sei inzwischen in Gang gekommen. „Zentrale Aufgabe ist es jetzt, das Bildungssystem auf neue Herausforderungen auszurichten und notwendige Reformen umzusetzen beziehungsweise die bereits begonnenen Reformen zu forcieren“, forderte der ArbeitgeberII/2006 trend
Vor dem Hintergrund einer zunehmend international vernetzten Wirtschaft gewönnen die grenzüberschreitende Mobilität und die interkulturelle Erfahrung für die Unternehmen kontinuierlich an Bedeutung, erläuterte Hundt. „Diese Mobilität muss im Rahmen der Ausbildung ausgebaut werden. Das gilt besonders für die Auszubildenden in der beruflichen Bildung.“ Die Abschottung der Bildungsbereiche sei jedoch zu überwinden, forderte der Arbeitgeberpräsident. „Aus bisherigen Abschlüssen müssen neue Anschlüsse entstehen. Durchlässigkeit ist vor allem zwischen beruflicher und hochschulischer Bildung, aber auch zwischen den Schulformen sowie zwischen Berufstätigkeit und Weiterbildung erforderlich“, so Hundt weiter. Wichtige Instrumente dabei seien ein europäischer und ein nationaler Qualifikationsrahmen, die nach den Worten des Arbeitgeberpräsidenten beide rasch entwickelt und umgesetzt werden müssen. „Transparenz und Vergleichbarkeit von Kompetenzen und Fähigkeiten sichert Mobilität und Durchlässigkeit.“ Die in Deutschland erschreckend hohe Korrelation zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg entspreche dem Zusammenhang von sozialer Herkunft und Wahl des Bildungsganges. „Dieser Zusammenhang kann entkoppelt werden, wenn konsequent auf Kompetenzen und nicht auf Abschlüsse geschaut wird“, betonte Hundt. Dies schaffe die Grundlage für ein hohes Qualifikationsni-
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veau der Gesamtbevölkerung, für individuelle Entwicklungsmöglichkeiten von Fach- und Führungskräften und für die Herausbildung von Eliten im Wettbewerb. „Arbeitgeber formulieren nicht nur Forderungen, sie engagieren sich auch in vielfältiger Weise bei der Umsetzung von Reformansätzen im Bildungsbereich“, stellte Hundt klar. Beispiel sei die Bundesarbeitsgemeinschaft „Schulewirtschaft“, die kontinuierlich wachse. Hundt forderte, dass Schulen und Hochschulen intensiver von den Kooperationsan-
50.000 zu. „Wir haben in Deutschland im internationalen Vergleich einen deutlichen Nachholbedarf an technisch ausgebildeten Menschen”, sagte Krubasik. Bullinger betonte, die Deutschen seien noch immer hervorragende Erfinder und Ingenieure. „Doch viele bahnbrechende Erfindungen wurden nicht in Deutschland, sondern in Asien und den USA zu Innovationen, zu erfolgreichen Produkten umgesetzt“, kritiserte Bullinger. Ob aus einer Idee ein marktreifes Produkt werde, entscheide sich in den Unternehmen. „Doch oft sind die Innovationsprozesse ineffizient und wenig systematisiert.“ Je innovativer ein Unternehmen sei, desto profitabler sei es auch. „Wachstumsstarke Unternehmen erzielen fast drei Viertel ihrer Umsätze mit Produkten, die jünger als drei Jahre sind. Kreative Ideen reichen dafür alleine nicht aus, sie müssen in erfolgreiche Produkte am Markt umgesetzt werden.“ Romanus Otte stellte die Frage, ob eine Renaissance der Ingenieurkunst in Deutschland zu beobachten sei. „Es gibt etwas Hoffnung“, sag-
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geboten der Unternehmen Gebrauch machen sollten, um damit den erforderlichen Praxisbezug für Schüler und Studierende sowie für Lehrer und Professoren sicherzustellen. „Die Verbindung aus der Vermittlung von schulischem und hochschulischem Wissen mit der beruflichen Wirklichkeit sichert Anwendungsfähigkeit und erleichtert den beruflichen Einstieg“, betonte der BDA-Präsident. Ziel aller Akteure müsse es sein, das Individuum, die Bildung seiner Persönlichkeit sowie die Entwicklung seines Potenzials und seiner Berufsfähigkeit in den Mittelpunkt zu stellen.
te Bullinger. Allerdings werde der Ingenieurmangel noch eine Weile anhalten. Gegenwärtig studierten noch immer mehr junge Menschen Soziologie und Psychologie als Ingenieurwissenschaften. Bullinger kritisierte, dass sich der Mythos „vom genialen Erfinder“ auch heute noch hartnäckig halte, obwohl schon lange nachgewiesen sei, dass meist mehrere Forscher oder ganze Gruppen hinter den Erfolgen stünden. „Heute stehen wir vor einem erneuten Paradigmenwechsel hin zu unternehmensübergreifenden Netzwerken.“ An die Stelle der traditionellen großen Unternehmen und staatlichen Forschungseinrichtungen treten nach den Worten Bullingers flexible Innovationsnetzwerke. Bullinger erläuterte, dass in einer risikoaversen Gesellschaft die Innovationsfähigkeit verkümmere. „Innovation ist immer mit einem Risiko verbunden, denn der Erfolg am Markt hängt von vielen unvorhersehbaren Entwicklungen ab. Wir sind in Deutschland aber eine Gesellschaft geworden, die ein extremes Sicherheitsbedürfnis entwickelt hat. Wir investieren lieber in Immobilien als in neue Technologien oder Geschäftsideen.”
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Arbeit schaffen – Sozialstaat zukunftsfest gestalten
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uf dem Podium III wurde unter Moderation von Roland Tichy, Stellv. Chefredakteur des Handelsblatts, die Frage erörtert, wie der hohen Arbeitslosigkeit beizukommen ist und der Sozialstaat zukunftsfest gestaltet werden kann.
Martin Kannegiesser, Präsident des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall, betonte, Deutschland müsse weiter daran arbeiten, das Land an die veränderten Bedingungen einer globalisierten Wirtschaft anzupassen. „Allein mit den dynamisch wachsenden Ländern China und Indien sind drei Milliarden Menschen zusätzlich in diesen globalen Arbeitsmarkt eingetreten“, sagte Kannegiesser. Gerade wenig qualifizierte Arbeiten gerieten unter hohen Wettbewerbsdruck. Der Weltmarkt gebe ein hohes Tempo vor. „Je besser wir uns auf die Veränderungen einII/2006 trend
stellen, desto höher sind unsere Chancen – auch auf dem Arbeitsmarkt“, unterstrich Kannegiesser. Der Gesamtmetall-Präsident sagte, die Bundesrepublik müsse den Sozialstaat zukunftsfest gestalten und seine Finanzierung neu organisieren. Das veränderte Umfeld der Globalisierung erfordere, die Sozialversicherungssysteme neu auszutarieren. „Es geht dabei nicht um die Demontage des Sozialstaats“, betonte Kannegiesser. Die Deutschen aber hätten in den vergangenen Jahrzehnten ihre Ansprüche immer höher geschraubt und nicht darauf geachtet, dass die Leistungskraft nicht mehr Schritt halten könne. Das habe die Sozialsysteme teuer werden lassen und die Arbeitskosten nach oben getrieben. „Wenn wir es ernst meinen, müssen wir die Schaffung von Arbeitsplätzen wirklich in den Vordergrund stellen – und alles andere tritt da hinter zurück“, sagte Kannegiesser.
Podium III In das Thema „Arbeit schaffen – Sozialstaat zukunftsfest gestalten“ führten ein: Peter Müller MdL, Ministerpräsident des Saarlandes sowie Prof. Dr. Hans-Werner Sinn, Präsident, Ifo Institut für Wirtschaftsforschung. Unter der Moderation von Roland Tichy, Stellv. Chefredakteur des Handelsblatts diskutierten: Martin Kannegiesser, Präsident des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall; Frank-Jürgen Weise, der Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit (BA); CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla; Gerhard Rupprecht, Mitglied des Vorstands der Allianz AG.
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Peter Müller MdL Ministerpräsident des Saarlandes fahrungen gemacht“, betonte der Ministerpräsident. Die Anpassung der Beschäftigung an die Auftragslage sichere Arbeitsplätze. Analog solle die Entlohnung stärker an den Ertrag der Unternehmen angepasst werden können, etwa durch Einmalzahlungen in Abhängigkeit von der Ertragslage, erklärte Müller. „Öffnungsklauseln tragen ebenfalls dazu bei, die Arbeitsbedingungen an die betrieblichen Gegebenheiten anzupassen“, sagte der Ministerpräsident. Staatliche Mindestlöhne hingegen wären der falsche Weg. Die Vereinbarung der Lohnhöhe solle Sache der Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften sein, forderte Müller. Der CDU-Politiker machte ferner deutlich, dass eine bessere Altersvorsorge, mehr Eigenkapital und höhere Produktivität durch Mitarbeiterbeteiligung notwendig seien. Peter Müller machte deutlich, dass Innovationen in entwickelten Industriestaaten der entscheidende Faktor für Wachstum und Wohlstand seien. „Innovation steigert die industrielle Wettbewerbsfähigkeit und schafft und sichert Arbeitsplätze“, sagte der saarländische Ministerpräsident. Um Innovationen hervorzubringen, komme es vor allem auf den Informationsaustausch zwischen Wirtschaft und Wissenschaft an. Die enge Vernetzung von Technologieangebot und -nachfrage ermögliche Transferprozesse und wechselseitige Lerneffekte. „Denn es genügt nicht, Neues zu erfinden. Um möglichst viel Beschäftigung zu schaffen, kommt es vor allem darauf an, innovative Produkte und Dienstleistungen tatsächlich auf den Markt zu bringen“, betonte Müller. Das Saarland habe darum im Rahmen seiner regionalen Innovationsstrategie Cluster gebildet, in denen Bildungs- und Forschungseinrichtungen sowie auch Unternehmen ihre Kompetenzen bündelten und zusammen an gemeinsamen Projekten, Produkten und Wertschöpfungsketten arbeiteten. Müller erläutere, dass es darüber hinaus einer höheren Flexibilität am Arbeitsmarkt bedürfe. „Angesichts der hohen Lohnkosten in Deutschland braucht die Wirtschaft flexible Arbeitsmärkte. Viele Unternehmen haben mit der Flexibilisierung der Arbeitszeiten gute Er-
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„Zahlreiche Herausforderungen unserer Zeit lassen sich mit Hilfe von mehr Mitarbeiterbeteiligung bewältigen“, zeigte sich Müller überzeugt. Die Beteiligung der Arbeitnehmer am Gewinn respektive Kapital ihres Unternehmens biete Vorteile für Beschäftigte, Unternehmen und die Gesellschaft. „Die Beschäftigten erhalten durch eine Kapitalbeteiligung eine zusätzliche Einkommensquelle und eine ergänzende Altersvorsorge sowie betriebliche Mitentscheidungsmöglichkeiten.“ Durch variable Entgeltbestandteile werde das Entlohnungssystem flexibler, so dass die Einstellungsbereitschaft der Betriebe steige, erläuterte der Ministerpräsident. „Für Unternehmen verspricht Mitarbeiterbeteiligung erweiterte Finanzierungsmöglichkeiten, eine Erleichterung der Nachfolgeregelung und Vorteile bei der Akquise und Bindung von Arbeitskräften. Sie steigert zudem nachweislich Produktivität, Rentabilität und Innovationsfähigkeit“, sagte Müller. Die Gesellschaft profitierte von einer breiteren Streuung von Produktivvermögen und Kapitalerträgen. Mitarbeiterbeteiligung fördere darüber hinaus die Entwicklung einer Unternehmenskultur, die von Partnerschaft und Mitverantwortung geprägt sei. Müller betonte ferner, dass sich aufgrund der demographischen Entwicklung in der gesetz-
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lichen Rentenversicherung das zahlenmäßige Verhältnis von Beitragszahlern zu Rentenbeziehern weiter verschlechtern werde. Derzeit käme auf zwei Arbeitnehmer ein Rentner, im Jahr 2030 werde es nur noch ein Arbeitnehmer sein. „Die Alterssicherung der Zukunft wird deshalb auf mehreren Säulen ruhen. Die gesetzliche Rente wird ihre zentrale Rolle verlieren, wohingegen die private und betriebliche Altersvorsorge an Bedeutung gewinnen werden“, erläuterte Müller. „Das Drei-Säulen-Modell der Altersvorsorge ist demographiefest, weil es sich sowohl auf das Umlage- als auch auf das Kapitaldeckungsverfahren stützt.“ Damit der Beitragssatz zur gesetzlichen Rentenversicherung und damit die Lohnzusatzkosten bezahlbar blieben, müsse sich die Bundesrepublik auf eine längere Lebensarbeitszeit einstellen. „Zunächst ist das durchschnittliche Rentenzugangsalter an das gesetzliche Eintrittsalter anzunähern, etwa durch weniger Frühverrentungen. Mittel- bis langfristig ist eine schrittweise Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters unvermeidlich“, so Müller. Ebenso trage ein früherer Berufseintritt, zum Beispiel durch kürzere Studienzeiten, zur Verlängerung der Lebensarbeitszeit bei. Müller kritisierte die Intransparenz und Komplexität des Steuersystems. „Ein hohes Wirt-
Frank-Jürgen Weise, der Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit (BA), machte in diesem Zusammenhang deutlich, dass der deutsche Sozialstaat heute unter ganz anderen Rahmenbedingungen als noch vor 20 Jahren agiere. „Die Veränderungen der Wirtschaftsund Arbeitswelt haben zu vielfältigen Herausforderungen für die Zukunft geführt“, sagte Weise. Der Globalisierungsdruck führe zu einem erheblichen Kostendruck in den Betrieben. Internationale Konkurrenzfähigkeit ist nach den Worten Weises nur über hohe Wertschöpfung und Innovationen möglich. Aus dem technischen Fortschritt resultierte zugleich eine große Nachfrage nach qualifizierten Arbeitnehmern. Sowohl das Beschäftigungsniveau als auch die Arbeitslosenquote variierten stark mit dem Qualifikationsniveau. „Eine gute Ausbildung ist der beste Schutz gegen Arbeitslosigkeit“, betonte der Vorstandschef der BA. Weise forderte, vor diesem HinterII/2006 trend
schaftswachstum stabilisiert die Einnahmen der sozialen Sicherungssysteme. Daher braucht Deutschland ein international wettbewerbsfähiges Steuersystem, das Investitionen, Wachstum und Beschäftigung fördert“, erklärte der Ministerpräsident. Ein effizientes Steuersystem müsse sich an den Kriterien geringer Erhebungsaufwand, Finanzierungs-, Investitions- und Rechtsformneutralität sowie Transparenz und Planungssicherheit messen lassen. Der Abbau von Subventionen und Ausnahmetatbeständen schaffe Spielräume für eine Senkung der Steuertarife. Darüber hinaus müsse das Steuerrecht wesentlich vereinfacht werden. „Bei der für 2008 geplanten Reform der Unternehmensbesteuerung ist der Mittelstand besonders zu berücksichtigen. Kleine und mittlere Unternehmen stellen die meisten Arbeits- und Ausbildungsplätze bereit. Angesichts des Eigenkapitalmangels braucht der Mittelstand steuerliche Anreize, welche die Bildung von Eigenkapital aus einbehaltenen Gewinnen erleichtern“, forderte Müller. Ferner sei eine Reform der betrieblichen Erbschaftsteuer nach britischem Vorbild hilfreich. „Um den unternehmerischen Generationswechsel zu erleichtern, sollen Erben, die einen Betrieb zehn Jahre lang fortführen, keine Erbschaftsteuer zahlen müssen“, erklärte Müller.
grund müsse auch die Weiterbildung in den Betrieben verstärkt werden. Ferner gehe es in Deutschland um eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Das Potenzial der Älte-
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Prof. Dr. Hans-Werner Sinn Präsident Ifo Institut für Wirtschaftsforschung
Hans-Werner Sinn erläuterte, dass die Globalisierung, die seit dem Aufstieg der asiatischen Tigerländer, dem Fall des Eisernen Vorhangs und zuletzt durch die Beteiligung Indiens stark an Dramatik gewonnen habe, eine internationale Lohnkonvergenz erzwinge, die zunächst vor allem die gering qualifizierte Arbeit betreffe. „Die Löhne für einfache Arbeit geraten in der westlichen Welt unter Druck, und die Lohnskala spreizt sich nach unten hin aus. Die Welt wird ihr neues Gleichgewicht erst nach vielen Jahrzehnten der Anpassung gefunden haben“, prophezeite Sinn. Die Länder des Westens haben nach seinen Worten die Wahl zwischen Mengen- und Lohnreaktionen. Länder, die sich den Marktkräften widersetzten, indem sie die Lohnspreizung mit politischen Mitteln verhinderten, würden in die Massenarbeitslosigkeit getrieben, erklärte der Präsident des Ifo-Instituts. Sinn warnte vor gesetzlichen Mindestlöhnen. Diese schützten nicht jene Menschen, denen man helfen wolle, sondern treibe sie in die Arbeitslosigkeit. “Westliche Beispiele, die funktioniert haben, ziehen nicht. Erstens stehen wir erst am Beginn der Phase einer wachsenden Niedriglohnkonkurrenz bei einfacher Industriearbeit, was den Ländern, die Mindestlöhne haben, noch genug Probleme bereiten wird” unterstrich Sinn. Und zweitens gebe
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es im vereinten Deutschland noch für längere Zeit viel größere Standortunterschiede als in anderen Ländern. “Mindestlöhne, die in Westdeutschland für tolerierbar gehalten werden, führen in Ostdeutschland zu einer weiteren Vernichtung von Arbeitsplätzen”, sagte Sinn. Sinn empfahl stattdessen Innovationsoffensiven. Diese könnten den Druck lindern. “Doch kann niemand den Besitzer technischen Wissens daran hindern, dieses Wissen in Niedriglohnländern zu verwerten”, führte der Ifo-Präsident aus. Die Konkurrenzsituation für einfache Arbeiter werde dadurch nicht wesentlich entschärft. “Vom Fax-Gerät bis zum MP3-Player hat es schon viele Innovationen gegeben, die nicht in Deutschland kleben blieben.” Hilfreich zur Verteidigung hoher Löhne und zur Abmilderung des Konkurrenzdrucks seien vor allem Bildungsoffensiven. “Denn nur das Wissen, das man im Kopf hat, kann man verkaufen”, sagte Sinn. “Aber selbst wenn sofort die Ecole maternelle und die Ganztagsschule eingeführt und weitere sinnvolle Maßnahmen zur Verbesserung des Schul- und Universitätssystems realisiert würden, kämen die ersten besser ausgebildeten Schüler doch erst in 15 Jahren auf den Arbeitmarkt”, sagte der Forscher. Das Land brauche aber auch schnellere Lösungen. Lohnersatzleistungen wie das Arbeitslosengeld II wirkten wie Mindestlöhne, da die private Wirtschaft das überbieten muss, was der Staat für das Nichtstun zahlt. “Auch sie zwingen Deutschlands gering Qualifizierte in die Arbeitslosigkeit”, erklärte Sinn. “Die Arbeitslosigkeit kostet, wenn man die Frührentner mit einrechnet, fast genau 100 Milliarden Euro, die Bediensteten in den Arbeitsagenturen und Rentenkassen noch nicht gerechnet.” Die Kosten der Arbeitslosigkeit würden schon heute nicht mehr beherrscht. Der deutsche Weg, den Kräften der Globalisierung durch ein umfangreiches Lohnersatzsystem trotzen zu wollen, sei gescheitert. “Deutschland steht am Ende dieses Weges”, sagte Sinn. Die einzige Möglichkeit, eine Existenz sichernde Sozialpolitik im Einklang mit der internationalen Niedriglohnkonkurrenz zu betreiben, liege im Kombilohn. “Der Staat muss dauerhaft jenen helfen, die bei ihrer Arbeit
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nicht genug verdienen. Die Devise sollte sein, dass jeder zu dem Lohn arbeiten muss, zu dem er Arbeit findet, dass aber der Staat diesen Lohn notfalls durch ein Sozialeinkommen auffüllt, so dass in der Summe aus beiden Einkommen das soziale Existenzminimum erreicht wird. Mindesteinkommen kann man sichern, Mindestlöhne nicht.” Der Wissenschaftler empfahl das Modell der „aktivierenden Sozialhilfe“. „Dieser vom Ifo Institut, vom Sachverständigenrat und vom Wissenschaftlichen Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft vertretene Ansatz ist eine prak-
tische Möglichkeit, die sich auf einfache Weise durch eine Modifikation des Hartz-IVTarifs realisieren lässt”, erläuterte Sinn. Der Staat spare mit ihr kurzfristig rund acht Milliarden €, längerfristig sogar bis zu 20 Milliarden € pro Jahr. Lohnzuschüsse müssten dabei jedoch als Subjekt- statt als Objektförderung konzipiert werden, weil die Objektförderung zu große Streuverluste nach sich zöge. “Um die Kosten des Programms im Griff zu halten, ist es unabdingbar, die Förderung an den subjektiven Verhältnissen auszurichten“, sagte Sinn.
ren müsse besser genutzt werden. Soziale Gerechtigkeit, so Weise, dürfe indes nicht mit Wohltätigkeit verwechselt werden. CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla sagte, durch die Überschüsse bei der Bundesagentur für Arbeit im laufenden Jahr sehe er Chancen für eine noch stärkere Absenkung der Arbeitslosenversicherung als bislang geplant. Möglicherweise könne der Beitragssatz von derzeit 6,5 Prozent Anfang 2007 nicht nur um zwei, sondern um 2,5 Prozentpunkte gesenkt werden, sagte Pofalla. Komme es zu einer Senkung um 2,5 Prozentpunkte, bedeute dies eine Entlastung um fast 20 Milliarden €. Das wäre die größte Senkung der Lohnnebenkosten in den vergangenen Jahrzehnten. Der Generalsekretär der CDU forderte zudem weitere Änderungen an der Arbeitsmarktreform „Hartz IV“ ein. Es sei eine Fehlentwicklung, dass Langzeitarbeitslose oft nur Teilzeit-Jobs in genau dem Umfang annähmen, der im Rahmen der Zuverdienstmöglichkeiten erlaubt sei. Die Betroffenen hätten eine Verpflichtung zur Arbeit, wenn ihnen eine zumutbare Vollzeitstelle angeboten werde. Pofalla betonte, auch die Ein-Euro-Jobs und die Zuschläge für den Übergang vom Arbeitslosengeld I auf das Arbeitslosengeld II müssten angesichts der Kostenexplosion überprüft werden. Gerhard Rupprecht, Mitglied des Vorstands der Allianz AG, machte auf die Bedeutung der Reform der Sozialen Sicherungssysteme für den Arbeitsmarkt aufmerksam. „Durch die demographische Belastung stoßen die umlagefinanzierte Renten- und Krankenversicherung an ihre Grenzen. Das liegt vor allem daran, dass keine Investitionen in die Zukunft stattfinden“, sagte Rupprecht. Deutschland habe bei der kapitalgedeckten Altersvorsorge erheblichen II/2006 trend
Nachholbedarf, betonte der Allianz-Vorstand. Mehr als 80 Prozent der Alterseinkommen in Deutschland stammten heute aus den umlagefinanzierten Systemen. Die Kernfunktion der gesetzlichen Rentenversicherung werde sich in den kommenden Jahren jedoch von der Lebensstandardsicherung zur Grundsicherung entwickeln. Die Riester-Rente sei auf einem guten Weg. Für die gesetzliche Krankenversicherung gelte, dass die Förderung des Wachstumsmarkts Gesundheitswesen nur über eine Begrenzung der „Zwangssolidarität“ im Sozialstaat auf den notwendigen Umfang erfolgen könne. „Nur die Leistungen, über die der Bürger eigenverantwortlich entscheidet, ermöglichen einen Wachstumsmarkt, der nicht von Kostendämpfungsgesetzen bedroht wird“, sagte Rupprecht. Die Sicherung des Sozialstaats erfordere mehr Kapitaldeckung auch bei der Finanzierung des Gesundheitswesens. Berichterstattung Wirtschaftstag 2006 Erwin Lamberts und Peter Hahne
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