trend Dokumentation zum Wirtschaftstag 2005

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Deutschland auf Kurs bringen

Unionskonzepte 2005 bis 2009 Dr. Angela Merkel MdB, Vorsitzende der CDU Deutschlands und Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag

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ch möchte mich beim Wirtschaftsrat für seine gute Arbeit bedanken. Sie ist für uns immer ein Impuls, aus dem Blickwinkel der Wirtschaft darüber nachzudenken, was Deutschland voranbringt. Wir wissen, dass es in Deutschland nicht vorangehen wird und dass auch keine Arbeitsplätze geschaffen werden, wenn sich die Politik gegen die Wirtschaft aufstellt. Wir schaffen es nur mit der Wirtschaft gemeinsam. Der österreichische Bundeskanzler Wolfgang Schüssel hat innerhalb einer überschaubaren Zeit gezeigt, wie man das Schicksal eines Landes durch entschlossenes Handeln wenden kann. Seine Regierungsarbeit zeichnet aus, dass er gleich am Anfang der jeweiligen Legislaturperiode in einem umfassenden

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Ansatz durchgesetzt hat, was er für nötig hielt. So wurden für die Menschen die Zusammenhänge klar. Es reicht nicht aus, hier und dort Einzelmaßnahmen zu beschließen. Wer erfolgreich sein will, muss in einer konzertierten Aktion vorgehen. Wolfgang Schüssel hat diese Politik aus einem Guss nicht nur in ein Wahlprogramm gefasst, sondern er hat sie gegen manche Widerstände, aber mit einem großen Erfolg für die Österreicherinnen und Österreicher verwirklicht. Auch Deutschland braucht wieder eine Politik aus einem Guss. Der Bundeskanzler hat nach den Erfolgen der Union in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen die Vertrauensfrage gestellt, mit dem Ziel, Neu- ... trend

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... wahlen herbeizuführen. Die Begründung dafür hat sich unter anderem auf die unterschiedlichen Mehrheitsverhältnisse in Bundestag und Bundesrat bezogen. Richtig ist, der Bundesrat ist mehrheitlich durch unionsregierte Länder geprägt. Wir haben eine ganze Fußballmannschaft von Ministerpräsidenten, zehn bei der CDU und den elften von der CSU. Aber nur, weil die Mehrheiten im Bundesrat unionsgeprägt sind, kann man nicht von Blockade sprechen. Wir hatten in dieser Legislaturperiode 92 Gesetze, die in den Vermittlungsausschuss mussten. Von diesen 92 Gesetzen sind 91 einvernehmlich mit der rot-grünen Koalition zu einem Kompromiss gebracht worden. Jedes dieser Gesetze ist besser aus dem Bundesrat herausgekommen, als es hineingekommen ist. Bei einem einzigen Gesetz, nämlich beim so genannten Verfütterungsverbotsgesetz ist es zu keiner Einigung gekommen. In 91 von 92 Fällen hat es Kompromisse gegeben. Unser Prinzip dabei lautete immer: Wenn der Kompromiss dem Lande dient, wenn die Vorteile die Nachteile überwiegen, werden wir zum Wohl des Landes der Sache zustimmen. Diesen Weg haben wir ganz konsequent fortgesetzt. Von Blockade kann also keine Rede sein. Bilanz nach sieben Jahren Rot-Grün im Bund Angesichts der bevorstehenden Neuwahlen möchte ich die Bilanz von sieben Jahren rot-grüner Regierung ziehen. Wir haben fast fünf Millionen registrierte Arbeitslose. Wir wissen, wie viele arbeitslose Menschen darüber hinaus durch Tricks aus der Statistik gefallen sind, wie viele in den vorzeitigen Ruhestand geschickt wurden. Wir wissen, wie viele Menschen Angst haben, ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Jeden Tag verschwinden in Deutschland über tausend sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse. Wir haben 40.000 Insolvenzen pro Jahr. Wir haben ungefähr hundert Milliarden € strukturelles 8

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Defizit, davon mindestens 40 Milliarden € im Bundeshaushalt (zum Vergleich: der Bundeshaushalt umfasst etwa 250 Milliarden €). Wir haben 20 Milliarden strukturelles Defizit in den sozialen Sicherungssystemen. Das ist im Wesentlichen auch auf die sehr schlechte Beschäftigungssituation zurückzuführen. Und wir haben noch einmal etwa 30 bis 40 Milliarden € Defizit in unseren Bundesländern. Die Länderhaushalte sehen dramatisch aus. Vor 2010 kann beispielsweise Nordrhein-Westfalen keinen verfassungsgemäßen Haushalt, also einen Haushalt, bei dem die Investitionen größer sind als die Netto-Kreditaufnahme, vorlegen. Das ist im größten Bundesland der Bundesrepublik Deutschland die Hinterlassenschaft von Rot-Grün. Wir sind Letzter im Wirtschaftswachstum in Europa. Die rote Laterne für Deutschland kann man nicht mit der wirtschaftlichen Entwicklung in den neuen Bundesländern entschuldigen. Aufgrund der positiven Entwicklung im produktiven Bereich müssten die neuen Bundesländer eher höhere Wachstumsraten haben. Dass Deutschland im Gegensatz zu Österreich sehr viel schlechter abschneidet, ist hausgemachte Politik und hat nichts mit Globalisierungseffekten zu tun. Globalisierung bestimmt unser Leben Die gute Nachricht ist, dass wir die Dinge anpacken können, wenn wir uns über ein paar grundlegende Dinge einigen. Wir können die Frage, was unser Land voranbringt, nicht mehr allein entscheiden. Denn die Globalisierung bedeutet auch eine immer stärkere Durchdringung der verschiedenen Ökonomien. Damit ist das, was andere tun, für uns immer auch ein Maßstab und eine Aufforderung, selber etwas zu tun. Physikalisch formuliert: Es zählt heute nur die Relativgeschwindigkeit. Ob wir glauben, dass wir uns angestrengt haben, ist bei der Betrachtung des Resultats relativ egal, wenn andere ... um uns herum sich mehr angestrengt haben. III. Quartal 2005


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Globalisierung bestimmt unser Leben, unser Tun. Globalisierung heißt für uns, dass wir uns entscheiden müssen, wo wir mitspielen wollen. Wo wollen wir den Ton angeben? Deutschland wird sich, das hat der Bundespräsident wunderbar gesagt, sicher nicht an dem Kampf um die niedrigsten Löhne in den verschiedensten Bereichen beteiligen können. Wir müssen in Deutschland so viel besser sein wie wir teurer sind. Dieser ökonomischen Wahrheit müssen wir uns stellen. Wachstum braucht Freiheit Schon die DDR hat es nicht geschafft, die Naturgesetze außer Kraft zu setzen. Auch Demokratie und Freiheit können das in dem Fall nicht. Wir müssen uns fragen, womit wollen wir in Zukunft eigentlich unser Geld verdienen? Was können wir gut und was brauchen wir dafür? Für mich ist das Thema Arbeit das zentrale Thema. Um mehr Arbeitsplätze zu schaffen, brauchen wir Wachstum. Aus meiner Sicht ist sicher, dass Wachstum Freiheit braucht. Deshalb ist die Diskussion darüber, was das bedeutet, zentral. Unser Freiheitsverständnis bedeutet keine Abwehr von irgendetwas. Sondern unser Freiheitsverständnis resultiert aus dem christlichen Menschenbild. Das III. Quartal 2005

macht auch den sozialen Charakter der Marktwirtschaft aus. Es gibt in der politischen Diskussion jetzt eine Tendenz, einen Gegensatz zwischen der Wirtschaft und den Menschen zu konstruieren. Aber ohne Menschen gäbe es keine Wirtschaft. Der Markt ist der Aktionsraum, in dem sich einzelne Menschen einmischen und sich ihrem Gegenüber versuchen zu bewähren, Angebote zu machen, in einen Wettbewerb einzutreten, um sich damit selbst zu verwirklichen, um ihre Produkte zu verkaufen. Wirtschaft ohne Menschen gibt es nicht. Gerechtigkeit und Solidarität Es geht darum, die Rahmenbedingungen so zu fassen, dass aus dem Wirtschaften ein möglichst hohes Maß an Gerechtigkeit und Solidarität entsteht. Das setzt voraus, dass das, was geschaffen wird, erst einmal mehr ist als das, was verbraucht wird, damit man für die Schwachen in der Gesellschaft noch etwas zum Verteilen hat. Das war auch viele Jahre bis zur großen Koalition in den 60er Jahren in der Bundesrepublik Deutschland ganz klar. Erst danach hat man angefangen, Schulden zu machen und Wachstum auf Pump zu finanzieren. Das können wir uns nicht weiter leisten, schon gar nicht in der demo... graphischen Lage, in der wir uns befinden. trend

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Wenn wir nun so viel besser sein müssen wie wir teurer sind, müssen wir uns unserer Ressourcen, Fähigkeiten und Kräfte besinnen. Das sind in allererster Linie die Menschen in unserem Land. Wir haben noch die Steinkohle als Rohstoff, aber die bringt uns wenig Gewinn. Wir haben die Braunkohle, die ist da etwas besser. Aber im Wesentlichen sind wir auf die Fähigkeiten der Menschen angewiesen. Aus diesem Grund lautet die zentrale Frage: Wie ist unser Bildungssystem ausgerichtet? Wie können wir mit anderen Ländern der Welt mithalten, die vielleicht sogar noch über Rohstoffe verfügen und sich gar nicht so sehr auf die menschliche Kreativität stützen müssen? Bildung auf dem Prüfstand Wir müssen alle Ebenen der Bildungspolitik immer wieder auf den Prüfstand stellen und hinterfragen. Zu einem modernen, hoch entwickelten Industrieland, zu einem Land, das sich der Wissensgesellschaft öffnen will, gehört nach meinem festen Verständnis eine Schulausbildung, bei der die Kinder am Ende Lesen, Schreiben und Rechnen können. Selbst das ist heute nicht mehr hundertprozentig garantiert. Nun ist es bereits eine große Verheißung, wenn die Stunden, die auf dem Stundenplan stehen, auch gegeben werden. Roland Koch hat das in Hessen verwirklicht und Jürgen Rüttgers wird das für Nordrhein-Westfalen jetzt auch tun. Wir müssen auch den Leistungsgedanken in der Schule wieder voll anwenden. In Nordrhein-Westfalen ist die „geniale“ Idee geboren worden – die mit uns jetzt natürlich wieder rückgängig gemacht wird – in den Klassen fünf, sechs, sieben und acht Biologie, Physik und Chemie zu einem Fach – zu Naturwissenschaften – zusammenzulegen. Das sieht dann so aus: Wer sich mit der Schwerkraft nicht so befassen möchte, kann drei Blumennamen auswendig lernen, dann kriegt er die gleiche Zensur. Es ist auch hochgradig verlogen, wenn bis weit in Gewerkschaftsfunktionärskreise hinein jeder versucht, sein Kind auf einer Privatschule unterzubringen, während bei staatlichen Schulen nicht einmal mehr die Bil-

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dungsgrundversorgung gewährleistet ist. Wir brauchen einen funktionierenden Staat, der diese Grundbildung unserer Kinder endlich wieder sicherstellt. Ein weiteres wichtiges Thema ist das duale Ausbildungssystem, bis heute ein echter Schlager der Bundesrepublik – da, wo duale Ausbildung stattfindet. In Wirklichkeit aber bekommt nur noch jeder zweite Schulabgänger einen Berufsausbildungsplatz im klassischen dualen System. 50 Prozent der Schulabgänger werden durch verschiedenste staatliche Ersatzmaßnahmen erst einmal weitergebildet. Es hat keinen Sinn, über Ausbildungsplatzabgaben und ähnliches zu reden, wir müssen endlich wieder mehr Ausbildungsplätze bekommen. Wir müssen die mittelständische Wirtschaft so stärken, dass sie nicht ständig vom Konkurs bedroht ist, sondern eine Perspektive hat. Dann stellen die Unternehmen auch wieder junge Leute ein, weil sie Nachwuchs brauchen für die Prosperität ihres Unternehmens. Seit vielen Jahren beschäftigt uns das Thema Studiengebühren. Es bedurfte eines Verfassungsgerichtsprozesses, damit die Bundesbildungsministerin einsah, dass das Verbot im Bundesgesetz nicht verfassungsgerecht ist. Jetzt lautet die Frage: wie können Studiengebühren ausgestaltet sein. Leider ist es in Deutschland ja so, dass im internationalen Vergleich verhältnismäßig wenig Kinder aus Nichtakademikerfamilien studieren. Mit Gerechtigkeit hat das heutige Studiensystem wenig zu tun. Deshalb halten wir es für richtig, dass Universitäten selbst darüber entscheiden, ob sie Gebühren erheben wollen, und dass dafür die Möglichkeit von Darlehen eröffnet wird. Wenn man von maximal 500 € ausgeht, wie die Kultusminister das jetzt pro Semester ins Auge gefasst haben, dann bedeutet das: Falls man in zehn Semestern fertig geworden ist, muss man ein Darlehen von 5.000 € zurückzahlen. 5.000 € Darlehen, die man zurückzahlen muss, sobald man einen Arbeitsplatz hat, sind eine machbare Herausforderung. Für diejenigen, die schneller studie- ... III. Quartal 2005


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... ren wollen, kann man Stipendien als Leistungsanreize setzen. Ich bin auch der Meinung, dass die Universitäten sich ihre Studenten vollständig selbst aussuchen sollten, damit hier wieder eine persönliche Bindung entsteht. Außerdem halte ich Langzeitstudiengebühren für völlig angemessen. Es gibt nicht den geringsten Grund, dass Krankenschwestern und Facharbeiter mit ihren Steuergeldern das Studium von Menschen bezahlen sollen, die 16, 17, 18 Semester studieren.

einseitige Abhängigkeiten kommen. Wir brauchen natürlich erneuerbare Energien, aber Degression und die langfristige Wirtschaftlichkeit dieser erneuerbaren Energien dürfen nicht aus dem Auge geraten. Die Gesamtheit der staatlichen Mittel, CO2-Emissionszertifikate, Erneuerbare-Energiegesetz, Ökosteuer, dürfen nicht kumulieren. Sie müssen so eingesetzt werden, dass die notwendigen Anreizwirkungen entfacht werden.

Wenn der Mensch sich dann fertig gebildet und ausstudiert hat, stellt sich die Frage, was er mit seinem Wissen macht. Da kommt für mich der zentrale Punkt, der auch über das Schicksal Deutschlands, über seine Zukunft entscheiden wird. Wie innovationsbereit sind wir? Wie viel Kraft haben wir, neue Wege zu gehen? Welche Hindernisse müssen aus dem Weg geräumt werden?

Bei der Ökosteuer existiert so gut wie keine Anreizwirkung. Leider wird es bei der von mir beschriebenen Haushaltslage nicht möglich sein, den Weg, den man da gegangen ist, nun sofort wieder umzukehren. Deshalb ist es umso wichtiger, dass wir uns beim Erneuerbaren-Energiengesetz und dem Zusammenspiel mit den CO2-Zertifikaten nicht Bürden auferlegen, die wir später im Energiepreis nicht mehr rechtfertigen können und die zur Abwanderung von verschiedenen Industrien führen.

Energiepolitik im Focus Wenn man davon ausgeht, dass Energie auch in den nächsten Jahren der Blutkreis einer entwickelten Volkswirtschaft ist, müssen wir als erstes unsere Energiepolitik in den Fokus nehmen. Der Strom kommt nicht einfach aus der Steckdose, sondern muss irgendwo erzeugt werden und zwar zu wettbewerbsfähigen Preisen. Die gesamte Liberalisierung, die im Strommarkt in den Jahren 97/98 durchgeführt wurde und die Preissenkungen in Höhe von 20, 25 Prozent erbracht haben könnte, ist im Grunde durch zusätzliche staatliche Maßnahmen wieder aufgefressen worden. Deshalb heißt für mich die Devise: Es ist ein ideologischer Beschluss gewesen, volkswirtschaftlich durch nichts zu rechtfertigen, nach bestimmten Zeiten Kernkraftwerke abzuschalten. Die Frage, wie lange ein Kernkraftwerk in Deutschland läuft, muss sich am Stand von Wissenschaft und Technik, also am Sicherheitsstand orientieren und an nichts anderem. Alles andere ist volkswirtschaftlicher Unsinn. Wir brauchen einen Mix von Energieträgern. Wir müssen aber aufpassen, dass wir gerade beim Gas nicht in III. Quartal 2005

Bei der unbegrenzten Förderung von Wind- und Sonnenenergie müssen wir uns ebenfalls fragen, ob das dem Industriestandort Deutschland entspricht. Wir werden nach der Erprobungsphase der CO2Zertifikate fragen müssen, ob dabei Wachstumsrestriktionen entstehen. Österreich hat z. B. immer Wachstumsmargen in die CO2-Zertifikate mit eingerechnet, während Deutschland da sehr restriktiv vorgegangen ist. Wir dürfen uns durch solche Maßnahmen im europäischen Wettbewerb nicht Nachteile schaffen, für die uns nachher keiner bedauern wird, weil wir sie uns selbst geschaffen haben. Wir brauchen eine wettbewerbsfähige Energiepolitik, die zukunftsgewandt ist und uns nicht in einseitige Abhängigkeiten bringt. Wir brauchen im Übrigen auch eine sehr viel breiter angelegte Energieforschung. Auch dort sind wir auf dem besten Wege, uns von internationalen Entwicklungen abzukoppeln. Grüne Gentechnologie Ich kann zum zweiten Gebiet übergehen, zur grünen Gentechnologie: Wenn wir die Möglichkeit ... trend 11


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... bekommen, Politik in diesem Land zu gestalten, dann werden wir die einseitige Risikoabladung beim Nutzer der grünen Gentechnologie verändern. Denn dies ist ein Wachstumsbereich, der weit über die Frage hinausgeht, ob man Babynahrung nun mit gentechnisch veränderten Lebensmitteln macht oder nicht. Darüber soll jeder Verbraucher selbst entscheiden. Aber die grüne Gentechnologie ist unmittelbar mit der weißen Gentechnologie, mit der gesamten Enzymforschung verbunden. Wenn wir uns auf dem Gebiet der nachwachsenden Rohstoffe nicht zutrauen, dass wir hier ganz gezielte Eigenschaftsveränderungen machen, werden wir in der Enzymforschung zurückfallen. Das hat dann tiefste Auswirkungen bis hinein in die chemische Industrie. REACH – zusätzliche Lasten Ich kann sofort bei der chemischen Industrie weitermachen. Da richte ich meinen Blick nach Europa. Die viel gelobte Richtlinie REACH hat 4.000 Änderungsanträge im Europäischen Parlament erfahren. Diese Richtlinie hat über tausend Seiten und ist aus meiner Sicht der sichere Weg, Europa und damit natürlich die Chemiestandorte, also auch in ganz besonderer Weise Deutschland, in eine Situation hineinzubringen, in der wir mit Sicherheit Marktanteile im Weltwettbewerb verlieren werden. Wir konkurrieren mit Importen aus außereuropäischen Ländern, die nach den WTO-Regeln längst nicht die Anforderungen an die Produkte stellen müssen, die wir uns in Europa mit Reach selber auferlegen. Eine KPMG-Studie zeigt zwar, dass der Mehraufwand geringer ist als erwartet, nur 20 Prozent Mehraufwand und nicht 40 Prozent. Wenn ich mir aber die Rendite von kleinen und mittelständischen Chemieunternehmen anschaue, so liegt die weder bei 20 noch bei 40 Prozent, sondern eher zwischen drei und fünf Prozent. Es ist das sichere Aus für viele kleine Chemikalienhersteller, wenn wir ihnen solche zusätzliche Lasten aufbürden. 12 trend

Nun hatten der Bundeskanzler, Tony Blair und Jacques Chirac zusammen die gute Idee, eine Initiative zu ergreifen, die Chemikalienrichtlinie nicht nur im Umweltausschuss, sondern auch im Wettbewerbsausschuss beraten zu lassen, um sie auch industriepolitisch zu bewerten. Sie liegt jetzt beim Wettbewerbsrat und wer kommt für Deutschland? Trittin! Weil die nationale Kabinettsordnung vorsieht, dass immer derjenige in den Rat geht, dessen Thema dort behandelt wird, und der Bundeskanzler seine Kompetenz nicht nutzt, um genau das in diesem Fall zu ändern. Dann brauchen wir solche Initiativen nicht. Dann werden im Wettbewerbsrat die gleichen Anträge gestellt wie im Umweltministerrat. Damit ist das Ganze erledigt. Wir wissen, dass wir in einem starken Wettbewerb stehen, in der pharmazeutischen Industrie und in vielen anderen Bereichen. Aber unter dem Strich ist die Zahl der Beschäftigungsfelder, die Zahl der Bereiche, in denen wir weltführend sind, nicht mehr geworden, sondern weniger und sie reicht für 80 Millionen Menschen nicht aus. Deshalb müssen wir an dieser Stelle wieder besser werden. Halten, was zu halten ist Das psychologisch Dramatische an dieser Situation ist, dass viele Menschen befürchten, dass dort, wo sie arbeiten, pro Stunde mehr hergestellt werden könnte durch Rationalisierung und höhere Effizienz. Sie ziehen für sich die Schlussfolgerung, dass die Summe der Arbeit in Deutschland immer weniger wird. Die Zahl der Menschen, die die Erfahrung machen, dass es Arbeitsgebiete gibt, die wir gestern und vorgestern noch gar nicht kannten, dass völlig neue Beschäftigungsfelder entstehen können, reicht nicht aus für Optimismus in die Zukunft und für die Überzeugung, dass die Arbeit nicht weniger wird. Ich habe kürzlich SAP besucht. Was ist aus der Tatsache geworden, dass der erste Computer in Deutschland erfunden wurde? Wenn wir uns heute angucken, wie viel Prozent der Wertschöpfung im ... III. Quartal 2005


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... Software-, im Hardwarebereich und im Internetbereich in Deutschland stattfindet, dann ist das eines Industrielandes wie Deutschland nicht würdig und so haben wir den Schritt in die Wissensgesellschaft nicht geschafft. Es ist, wenn man einmal den Anschluss verloren hat, unendlich schwer, im globalen Wettbewerb wieder mitspielen zu können. Deshalb heißt die Devise: Halten, was zu halten ist. Es heißt vor allen Dingen auch, verlässliche Rahmenbedingungen für Investoren von außen zu schaffen, denn wir werden von innen heraus nicht alle zusätzlichen Investitionen tätigen können. Das heißt, es muss auch das Bewusstsein dafür geschärft werden, Investoren, die zu uns kommen, willkommen zu heißen, weil sie zum Teil auch völlig neue Wertschöpfungsmöglichkeiten nach Deutschland bringen. Ansonsten werden wir unsere Wachstumsmöglichkeiten niemals voll ausschöpfen. Kein Draufsatteln mehr bei EU-Richtlinien Ich will das Thema Bürokratiehindernisse nur streifen. Für mich ist klar: EU-Richtlinien werden mit uns nur noch 1:1 umgesetzt, kein Draufsatteln mehr, weil alles Draufsatteln uns Wettbewerbsnachteile verschafft. Man kann das wunderbar an der Legehennenverordnung sehen. Da werden inzwiIII. Quartal 2005

schen 60 Millionen Eier im Jahr außerhalb Deutschlands gekauft und in Deutschland gegessen. Es hat zum Schluss noch nicht mal die deutsche Henne etwas davon, weil sie in Deutschland überhaupt nicht mehr gehalten wird, weil sie hier nicht mehr brüten kann, weil ihre Eier teurer sind und vom Kunden nicht gekauft werden. Das nützt niemandem etwas: Weder dem deutschen Arbeitsplatz noch dem deutschen Huhn. Wir müssen uns überlegen, wie wir insbesondere kleine Unternehmen von Bürokratie entlasten. Das ist sicherlich auch eine Gemeinschaftsaufgabe von Bund und Ländern. Gerade bei den kleinen Unternehmen werden die Renditen durch die Bürokratieaufwendungen nahezu aufgefressen oder, anders herum, die Eigenkapitalbasis der kleinen Unternehmen könnte wesentlich besser aussehen, wenn wir die Bürokratieaufwendungen runterfahren würden. Gegen große Koalition – Für grundlegenden Wechsel An die Adresse derjenigen, die sagen: „Vielleicht wäre eine große Koalition ja auch nicht schlecht“: Schauen Sie sich die Summe der sozialdemokratischen Abgeordneten an. Es reicht nicht, einmal mit Herrn Clement Abendbrot zu essen, weil die sozial- ... trend 13


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... demokratische Fraktion im Allgemeinen das Gegenteil von dem macht, was Herr Clement für richtig hält. Es geht bei allem, was in der Politik umgesetzt werden muss, nicht nur darum, dass der zuständige Minister eine gute Idee hat, sondern man muss auch eine parlamentarische Mehrheit finden. Deshalb brauchen wir einen grundlegenden Politikwechsel in Deutschland. Alles andere hält uns auf und bringt uns wieder nur Halbheiten. Weil wir nicht in allen Bereichen von vornherein schon Weltspitze sein können, ist es wichtig, dass wir unser Arbeitsrecht an die veränderten globalen Bedingungen anpassen. Wir wollen, dass die Betriebe die Möglichkeit erhalten, während der Dauer des Tarifvertrages in spezifischen Fragen davon abzuweichen, wenn die Mehrheit der Belegschaft und die Betriebsleitung das für richtig halten. Das sind die so genannten betrieblichen Bündnisse. Ich halte sie für die adäquate Antwort auf die Herausforderung der Globalisierung. Als Unternehmer muss ich mich nämlich schnell entscheiden. Ich kann nicht wochenlang warten, ob die Gewerkschaftszentrale mir nun das o.k. gibt oder ob sie es mir nicht gibt. Alles andere führt dazu, dass zunehmend Arbeitsplätze in andere Länder abwandern. Viele 14 trend

Menschen sind doch inzwischen bereit, um des Erhalts ihres Arbeitsplatzes willen, gerade auch bei der Arbeitszeit Kompromisse einzugehen. Ich finde, man muss an das Selbstbewusstsein der Menschen glauben. Die Soziale Marktwirtschaft wäre in Deutschland niemals zustande gekommen, wenn Erhard der Meinung gewesen wäre, man müsse den Leuten alles vorschreiben, sondern sein Konzept war ein Vertrauensbeweis an den einzelnen Menschen. Ein Stück müssen wir genau da wieder hinkommen. Deshalb ist die Frage nach der Zumutbarkeit auch immer eine sehr differenziert zu beantwortende Frage. Ist es eine Zumutung, seinen Arbeitsplatz zu verlieren? Ich finde, es ist die schwierigste soziale Zumutung, die mir widerfahren kann. Gemessen an der Frage, ob ich stattdessen vielleicht eine oder zwei Stunden in der Woche mehr arbeite, ist es doch vollkommen klar, dass die meisten Menschen sich dann für die Variante, etwas länger zu arbeiten, entscheiden. Veränderungen sind nicht unbedingt Zumutungen Auch wenn wir über den Kündigungsschutz reden, bin ich weit davon entfernt, hier Veränderungen gleich als Zumutung zu empfinden. Wir haben ... III. Quartal 2005


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... heute folgende Situation: In vielen kleinen und mittleren Betrieben werden Überstunden gemacht. Gleichzeitig wissen wir, dass fünf Millionen Menschen auf einen Arbeitsplatz warten. Viele sagen, ich tue mir das nicht an, in einer konjunkturell unsicheren Zeit Neueinstellungen vorzunehmen. Dann lasse ich lieber die Leute, die ich habe, Überstunden machen. Ehe ich mich nachher bei einer notwendigen Entlassung vorm Arbeitsgericht wiederfinde, lasse ich das lieber sein. Jetzt haben wir gesagt: Jeder, der einen Arbeitsplatz hat, soll diesen Arbeitsplatz behalten, mit dem Kündigungsschutz, der ihm gewährt worden ist. Aber für diejenigen, die neu in Arbeit kommen, soll die Option bestehen, dass bei Einstellung vereinbart wird, welche Höhe von Abfindung er bekommt, falls er entlassen werden muss. Für wen ist das eine Zumutung? Für den Arbeitgeber ist es keine, weil er das Arbeitsgericht nicht mehr im Nacken hat. Für den, der gar nicht so gerne Überstunden macht, ist es auch keine, weil er nicht mehr so viele Überstunden machen muss. Und für den, der in einen Job kommt, ist es nun schon gar keine, weil er endlich wieder eine Chance hat, Arbeit zu finden. Ich finde, dass wir diese Dinge so diskutieren müssen, dass wir in ihnen auch einmal die Chancen sehen. In Deutschland wird an vielen Stellen die Chancendebatte immer unterdrückt, indem man erst mal langwierig über die Risiken einer möglichen Veränderung spricht. Dieses Denken muss sich ändern. Das braucht einen Mentalitätswandel. Wir sollten die EUArbeitszeitrichtlinie umsetzen. Ich begegne bei so vielen Betriebsbesuchen der Tatsache, dass die Unflexibilität des deutschen Arbeitsrechts, nämlich dass man pro Tag nicht länger als zehn Stunden arbeiten darf, dazu führt, dass zum Teil sogar unentgeltlich länger gearbeitet wird. In den unteren Lohnbereichen haben wir in Deutschland das Problem, dass wir nicht nur die Löhne haben, sondern natürlich auch die Lohnzusatzkosten. Das heißt, hier besteht die Notwendigkeit – die haben wir zwischen CDU und CSU auch III. Quartal 2005

ausgiebig diskutiert –, eine Entkoppelung des Faktors Arbeit von den sozialen Sicherungssystemen zu erreichen. Lohn- und Sozialkosten entkoppeln Ich sehe mit großer Sorge, dass die im Grundsatz richtigen Minijobs zu einem Ausweichfeld zu werden drohen, weil sie bei den Minijobs nur 20 Prozent Lohnzusatzkosten zahlen gegenüber den klassischen sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen. Wenn sich das in den Bereichen festmacht, die heute noch alle mit sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen ausgestattet sind, hat diese natürlich einen dramatischen Einnahmeschwund der sozialen Sicherungssysteme zur Folge, den wir überhaupt nicht verkraften können. Deshalb ist für mich die geregelte, die geordnete Entkoppelung der Lohnkosten von den Sozialkosten einer der ganz zentralen Punkte. Deshalb haben wir auch die Diskussion über die Gesundheitsprämie geführt. Mit der Gesundheitsprämie mehr Wettbewerb Die Gesundheitsprämie bietet die Chance, mehr Wettbewerb im System zu haben. Wir können den Menschen im Übrigen sagen, niemand zahlt mehr als sieben Prozent seines Einkommens. Ich weiß, dass die Wirtschaft den Kompromiss mit der CSU sehr kritisiert hat. Ich bitte Sie aber im Kopf zu behalten: Wir haben den Arbeitgeberbeitrag auf 6,5 Prozent festgelegt und dauerhaft eingefroren. Ob Sie so ein Angebot noch einmal bekommen? Das würde ich mir überlegen, bevor Sie unseren Kompromiss kritisieren. Das ist ein ganz festes Versprechen, das wir auch umsetzen werden. Wir werden dann die Prämie haben mit der Zusage, niemand leistet mehr als sieben Prozent seines Einkommens. Die Gesundheit der Kinder wird nicht mehr nur eine Aufgabe der Beitragszahler, sondern eine Aufgabe des Steuerzahlers sein. Denn es ist nicht sozial gerecht, dass jemand wie ich zur Gesundheit der gesetzlich krankenversicherten Kinder über- ... trend 15


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... haupt keinen Beitrag leistet, dafür die gesamte Gesundheit aller Kinder in Deutschland nur von denen finanziert wird, die bis 3.500 € verdienen. Wer mehr verdient, zahlt nur bis 3.500 € ein. Das ist nicht gerecht. Aus meiner Sicht ist es richtig, diese Entkoppelung einzuführen. Das macht etwa die Hälfte der Umverteilungssummen im deutschen Gesundheitssystem aus und ist ein erheblicher Beitrag zur Entkoppelung und vor allem zum Abbau von Schwarzarbeit. Der Facharbeiter wird dann nicht mehr gezwungen, für jede Überstunde wieder Beiträge zu bezahlen. Sie werden die Wahl haben bei dieser Bundestagswahl zwischen einer Bürgerversicherung und unserer Gesundheitsprämie. Das erinnert an ganz alte Diskussionen mit Ludwig Erhard, als es schon mal Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre die Idee der Zwangskollektivierung der sozialen Sicherungssysteme gab. Ludwig Erhard vertrat aus meiner Sicht richtigerweise, dass es auf gar keinen Fall sein darf, dass alle in die gesetzlichen Systeme kommen, sondern dass die, die nun erwiesenermaßen für die Risiken ihres Lebens alleine einstehen können, dieses auch tun sollten. Darin besteht doch auch ein Leistungsanreiz, sich im Wettbewerb der Versicherungsmöglichkeiten zu bewähren. Ein zentraler Punkt Steuerrecht Ein zentraler Punkt in der Diskussion wird das Steuerrecht bleiben. Beim Steuerrecht wird in den nächsten Jahren angesichts der Finanzlage der öffentlichen Kassen der Gedanke der Vereinfachung Vorrang vor dem Gedanken der Steuersenkung haben. Davon unabhängig muss man die Besteuerung von Unternehmen betrachten, wobei Sie alle wissen, dass wir hier in Deutschland das prinzipielle Problem zwischen Personengesellschaften und Körperschaften haben. Das müssen wir lösen. Wir werden die Einkommensteuersätze nicht so weit senken können, dass wir mit den Körperschaftssteuern international wettbewerbsfähig sind. Dafür müssen wir eine Lösung finden. Aber im Einkommenssteuerbereich 16 trend

ist das eigentliche Problem die extreme Kompliziertheit des Steuersystems. Die radikale Vereinfachung darf dann aber nicht so diskutiert werden, dass bei jeder Ausnahme – ob das nun die Filmförderung oder die Windenergieförderung oder der Sonntagszuschlag ist oder die Pendlerpauschale – gesagt wird: Ja, einfach soll es sein, aber bitte nicht an dieser Stelle. Das wird schlicht und ergreifend nicht gehen. Ich will auch darauf hinweisen, dass wir sehr große Freibeträge einführen, 8.000 € pro Person in einer Familie. Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Mir ist besonders wichtig, dass diejenigen, die Kinder erziehen, im Steuersystem nicht schlechter gestellt werden, sondern dass sie sozusagen einen Leistungsbonus bekommen. Ein Land wie Deutschland kann sich aus meiner Sicht nun wirklich nicht damit abfinden, dass wir bei der Bewertung von Steuersystemen in der Welt nur auf Platz 120 sind. Hier sollten wir einen höheren Anspruch an uns selber haben. Es ist sicher nicht so einfach wie in Mittel- und Osteuropa, wo man ganz neue Steuersysteme installieren kann. Aber die Erfahrung von Ländern wie der Slowakei oder Estland zeigt, dass nicht weniger Steuern eingesammelt werden, sondern im Gegenteil, diese Länder verzeichnen zum Teil steigende Steuereinnahmen. Das heißt: Das Gefühl für Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft könnte sich dramatisch verbessern, wenn man mit den vielen Schlupflöchern und Ausnahmen wirklich Schluss machen würde. Entscheidungen sind zu langwierig Ein Manko in der deutschen Politik ist, dass unsere Entscheidungen langwierig sind. Die Väter und Mütter des Grundgesetzes hatten die Hoffnung, dass 30 Prozent der Gesetze zustimmungspflichtig, 70 Prozent nicht zustimmungspflichtig sind. Wir haben heute genau eine umgekehrte Relation: 70 Prozent zustimmungspflichtig, 30 Prozent nicht. Deshalb bleibt aus meiner Sicht die Föderalismusreform ganz oben auf der Agenda. Es ist ausgesprochen ... III. Quartal 2005


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... bedauerlich, dass die Sozialdemokraten jetzt nicht mehr die Kraft hatten, die Dinge zu Ende zu führen. Wir wären dazu bereit gewesen. Wir hatten sehr wohl Ministerpräsidenten, die befürchtet haben, auch Einflussmöglichkeiten zu verlieren. Aber wir haben gesagt: Um der Schnelligkeit von Entscheidungen willen und um der Tatsache willen, dass man wieder sagen kann, wer ist für was verantwortlich, ist es wünschenswert, dass wir diese Föderalismusreform haben. Wir werden dafür auch weiter kämpfen. Ausdruck des Unbehagens in Europa Ich bin damit fast automatisch beim Europäischen Verfassungsvertrag. Sie haben alle gehört, es wird jetzt ein Jahr nicht mehr darüber gesprochen. Mal sehen, ob es dann besser wird. Aber, es ist ja auch bei den Entscheidungen in Frankreich und Holland gar nicht im Wesentlichen nur über diesen Verfassungsvertrag abgestimmt worden, die Menschen haben ihr Unbehagen über das Europa, das sie vorfinden und erleben, ausgedrückt. Wenn ich höre, dass in der Kommission noch 700 Richtlinien in der Pipeline sind und Herr Verheugen jetzt stolz sagt, wahrscheinlich möchte er doch nur 254, dann befriedigt mich das alles nicht. Es gibt keinen politischen Mechanismus, mit dem in Europa politisch relevant entschieden wird, „was brauchen wir jetzt eigentlich und was III. Quartal 2005

nicht“. Wenn die Europäer es mit dem Lissabon-Ziel, also dem Ziel, Wachstum zu kreieren und einer der dynamischsten Kontinente der Welt zu werden, ernst meinen, wenn wir dieses Ziel zur Priorität erheben, muss sich jede Richtlinie, die in Europa verabschiedet wird, an der Frage messen lassen: Dient das diesem Ziel? Oder dient das diesem Ziel nicht? Politischer Steuerungsprozess wieder notwendig Ich bin mir nicht sicher, ob wir 254 neue Richtlinien brauchen, wir müssen besser ein paar Richtlinien richtig gestalten. Es hat auch keinen Sinn, bestimmte Richtlinien zu Hassobjekten zu erklären und andere ganz locker durchlaufen zu lassen. Ich bin mir nun wirklich ganz sicher, dass die Regelung der Sonnenschirmdichte in deutschen Biergärten nicht notwendigerweise durch die Europäische Union geregelt werden muss. Man hat das gemacht, weil bestimmte Kellner sich beklagt haben, dass bei zu viel Sonnenschein die Köpfe rot werden. Deshalb braucht man einen bestimmten Besatz an Sonnenschirmen. Das mag ja in Portugal oder in Spanien ganz sinnvoll sein. Aber dass wir es von Irland bis Norddeutschland brauchen und damit schon die Gründung von Biergärten verhindern, weil das Eigenkapital für den Kauf von so viel Sonnenschirmen gar nicht ausreicht, das ... trend 17


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... kann ernsthafterweise nicht die Intention der Europäischen Union sein. Deshalb ist hier ein politischer Steuerungsprozess wieder notwendig. Es kann doch nicht sein, dass aus den Tiefen von Generaldirektionen unentwegt Richtlinien hervorsprießen, die man durch nichts auf der Welt wieder wegkriegt, weil das Europäische Parlament noch nicht mal das Diskontinuitätsprinzip kennt, was besagt, dass ein noch nicht verabschiedeter Entwurf das Ende einer Legislaturperiode nicht überlebt. In Europa überlebt die Richtlinie schon per Gesetz. Das ist nicht richtig und auch ein Unterschied zu den nationalen Parlamenten.

Integrationskraft nicht überfordern Der zweite Punkt ist die Erweiterung der Europäischen Union. Ich kann sehr gut verstehen, dass Bulgarien und Rumänien eine europäische Perspektive haben wollen. Ich finde es auch richtig, dass sie 2007 nur beitreten können, wenn sie die Kopenhagener Kriterien erfüllen. Aber dass man in der Europäischen Union dann einstimmig beschließt, wenn sie diese 2007 nicht erfüllen, kommen sie 2008 auf jeden Fall rein, ohne die Erfüllung der die Kopenhagener Kriterien noch mal zu überprüfen, das kann ich nicht verstehen und das kann ich auch keinem Menschen in Deutschland erklären. Das ist das, was zurzeit in Europa schief läuft.

Der Verfassungsvertrag war an vielen Stellen eine Antwort auf Beschwernisse mit der Europäischen Union. Er hat Entscheidungsmechanismen einfacher gemacht und nationale Parlamente in die Lage versetzt, Einspruch zu erheben, wenn man meint, Europa kümmert sich um etwas, wofür Europa gar nicht zuständig ist. Dafür muss der Blick wieder frei werden. Ich denke, dafür brauchen wir einige wirklich klare Signale, die zeigen, jawohl, die Staats- und Regierungschefs, die politisch Verantwortlichen dieser Europäischen Union haben verstanden, was die Menschen beschwert.

Auch in Wirtschaftskreisen wird die Frage der Vollmitgliedschaft der Türkei kontrovers diskutiert. Diese Frage ist viele Jahrzehnte hin- und hergewendet worden. Ich halte in der augenblicklichen Situation und hinsichtlich der Frage, wie die Europäische Union auf absehbare Zeit ihre Integrationskraft behalten kann, ohne überfordert zu werden, eine Vollmitgliedschaft der Türkei für nicht realistisch. Ich halte es politisch auch deshalb für außerordentlich fragwürdig, der Türkei eine Perspektive zu eröffnen, weil ich nach heutigem Stand eigentlich sagen müsste: Selbst wenn Verhandlungen aufgenommen wer- ...

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... den, kann man überhaupt nicht absehen, ob eine solche Entscheidung jemals die Mehrheit der Bevölkerung bekommen würde. Dann ist der politische Schaden nämlich da. Wenn Sie zehn Jahre verhandelt haben, mit der Türkei alles ausgemacht haben, anschließend zu erleben, dass Frankreich oder irgendein anderes Land ein klares Nein dazu sagt. Deshalb gebietet es die politische Verantwortung, zu sagen, was wir glauben leisten zu können und nicht irgendwelche Erwartungen zu erwecken, die hinterher zu ganz massiven Friktionen z. B. mit der islamischen Welt führen können. Mein Gebot der Stunde ist an dieser Stelle: Ehrlichkeit zum rechten Zeitpunkt und nicht Visionen, die niemals erfüllt werden können und die unrealistisch sind. Damit bin ich abschließend auch bei dem, was sich – wenn wir den Auftrag bekommen sollten – durch unsere Regierungsarbeit ziehen muss wie ein roter Faden. Das sind Prinzipien. Es muss sich nicht nur in der Sache in Deutschland etwas ändern, sondern es muss sich vor allem auch an dem Stil, wie Politik agiert und arbeitet, wieder etwas ändern. Verlässlichkeit ist das Allerwichtigste Die Menschen erwarten, dass das, was gemacht wird, handwerklich vernünftig ist. Sie erwarten, dass nicht alles und jedes nach einem halben oder dreiviertel Jahr wieder nachgebessert werden muss. Die Menschen erwarten, dass sie sich verlassen können. Für Investoren ist ja oft die Verlässlichkeit das Allerwichtigste. Wenn sie jedes halbe Jahr wieder eine neue Diskussion über die Veränderung der Mindestbesteuerung bekommen, obwohl man die Mindestbesteuerung an sich schon für Unsinn hält, dann ist das für Investoren, die das Ganze vom Ausland her betrachten, natürlich keine adäquate Möglichkeit. Dann werden selbst Familienunternehmen sich noch fragen, ob sie denn in diesem Land weiter investieren wollen oder nicht. Die CDU war immer eine Partei, die keine Angst hatte, in bestimmten Phasen Dinge auch zu lösen, Widerstände zu durchbrechen und damit einen III. Quartal 2005

Beitrag dazu zu leisten, dass diese Dinge dann zur Staatsraison oder zum Allgemeingut wurden. Als Bundeskanzler Konrad Adenauer zum ersten mal im Deutschen Bundestag über das Prinzip der Sozialen Marktwirtschaft sprach, vermerkt der stenographische Bericht im Deutschen Bundestag: „Lachen links“. Soziale Marktwirtschaft oft nicht richtig verstanden Wir können uns ja freuen, dass heute links nicht mehr gelacht wird, aber wir müssen uns Sorgen machen, dass die Soziale Marktwirtschaft bis heute in ihrem Wesen offensichtlich immer noch nicht richtig verstanden wurde. Es ist notwendig, dass wir uns den Realitäten stellen, dass wir Wege zur Veränderung finden und dass wir diese Wege auch in einen Gesamtzusammenhang stellen. Die Dinge hängen miteinander zusammen, fast ein bisschen wie bei diesem so genannten Zauberwürfel, den es mal in den 70er Jahren gab und den ich gerne aus dem Westpaket entnommen habe, um ihn dann meinem Bruder zu geben, damit er das ordentlich einstellen kann. Die Dinge hängen zusammen. Wir können nicht mit einer eindimensionalen Änderung erwarten, dass sich alles ändert, sondern wir müssen in den verschiedenen Richtungen die Zusammenhänge begreifen und das machen, was ich oft sage: Politik aus einem Guss. Politik aus einem Guss Dieses auch den Menschen zu erläutern und nicht die politischen Einzelmaßnahmen und Punkte immer wieder in Belastung und Entlastung und Zumutung und noch mehr Zumutung zu dividieren, das halte ich für wichtig. Die Menschen haben das begründete Recht, von der Politik einen Weg zu sehen, mit dem Deutschland es schaffen kann, mit dem Licht am Ende des Tunnels zu sehen ist. Wir wollen diesen Weg aufzeigen. Und wir werden darum werben, dass nicht Populismus regiert, sondern Realismus. 앬 Aus Rede Wirtschaftstag 2005 trend 19


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Europa im Aufbruch Neue Politik für Wachstum und Beschäftigung Günter Verheugen, Vizepräsident der Europäischen Kommission, zuständig für Industrie und Unternehmen

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uropa steckt nach den abschlägigen Voten bei den Referenden in Frankreich und in den Niederlanden in einer Krise. Das kann man nicht bestreiten. Es ist eine Krise mit einem ganz eigenen Charakter. Es ist keine Krise zwischen Mitgliedsländern oder führenden Staatsmännern. Sondern es ist offenkundig eine Krise des Vertrauens, eine Krise der Zustimmung und eine Krise wegen der Bereitschaft der Bürgerinnen und Bürger Europas, den Weg der europäischen Integration weiter so wie bisher mitzugehen. Es ist wichtig und richtig, dass in unseren Gesellschaften über Europa diskutiert und gestritten wird. Es ist mir viel lieber, es wird über Europa gestritten, als dass mit Ahnungslosigkeit oder Teilnahmslosigkeit einfach das hingenommen wird, was geschieht. Aber auf eines müssen wir gemeinsam achten: Die Funda-

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mente dessen, was wir in fünf Jahrzehnten europäischer Integration geschaffen haben, dürfen nicht erschüttert werden. Die europäische Einigung ist die historisch notwendige und auch einzig mögliche Antwort auf die unglückliche Geschichte Europas im 20. und 19. Jahrhundert. Es ist das Beste, was Europa in seiner Geschichte politisch eingefallen ist. Es ist die Grundlage für Frieden, Wohlstand und soziale Sicherheit in Europa. Man kann, man muss über vieles streiten. Es geht darum, dass Europa nie wieder zurückfallen darf in die Zeiten der nationalen Egoismen und Rücksichtslosigkeiten auf Kosten der anderen. Es ist richtig, dass die europäische Einigung gerade in den vergangenen 15 Jahren eine ungeheuer starke Dynamik entfaltet hat. Ich kann verstehen, dass viele Menschen in Frankreich, in den Niederlanden und

auch in Deutschland sagen, das ging uns zu schnell. Ich habe darauf eine Antwort: Wir können uns als verantwortliche Politiker nicht die Aufgaben aussuchen, die die Geschichte uns stellt. So wie Deutschland sich 1989 nicht aussuchen konnte, wie es mit dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums und dem Fall der Mauer umgehen wollte. Hätte Bundeskanzler Helmut Kohl 1989 sagen sollen: Das lassen wir erstmal liegen? Das ist im Augenblick nicht so wichtig? Das geht vielleicht zu schnell für die Menschen? Natürlich nicht. Gleiches gilt für Europa. Hätte man einfach den Binnenmarkt und die Währungsunion lassen sollen? Hätte man sagen sollen, das geht vielleicht zu schnell? Es ist eine historische Notwendigkeit, Europa auf den schärferen Wettbewerb durch die Globalisierung vorzubereiten. Ich erinnere aber auch an die Wechselkursschwierigkeiten der achtziger Jahre, an die Schwierigkeiten, die alle europäischen Volkswirtschaften damals hatten. Wenn ich heute sehe, dass die Gemeinschaftswährung in Teilen der Öffentlichkeit in Frage gestellt wird, dann frage ich mich, welches kurze historische Gedächtnis haben die Leute, die die Vorteile nicht sehen wollen? Die Dynamik des Einigungsprozesses ist nicht eine, die künstlich geschaffen wurde, sondern sie ist eine, die uns von historischen Gegebenheiten auferlegt wurde. Sie musste gestaltet werden. Der Streit über Europa, in dem wir uns im Moment befinden, kann ein heilsamer Streit sein. Das Projekt einer Europäischen Verfassung sollte nicht aufgegeben werden. Ganz einfach deshalb nicht, weil es, so paradox das klingen mag, ja die Antwort gibt auf die Unzufriedenheit, Unsicherheit und Ängste vieler Bürgerinnen und Bürger Europas. Eine Europäische Verfassung schafft die Voraussetzungen für mehr direkte Demokratie, demokratische und transparente Entscheidungsstrukturen und eine klare Abgrenzung von Aufgaben zwischen Mitgliedsländern und EU-Institutionen. Und die Verfassung schafft auch die Instrumente, die Europa braucht, um auf der Weltbühne als starker Akteur aufzutreten, der seine Interessen vertritt. Darum sollte das Projekt einer Europäischen Verfassung nicht aufgegeben werden. Die von den Staats- und Regierungschefs beschlossene Denkpause im RahIII. Quartal 2005

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P E R S P E K T I V E N

... men des Ratifizierungsprozesses kann nur als eine ,Pause zum Denken’ verstanden werden. Sie sollte auch wirklich dazu genutzt werden, um in einen Dialog mit einer breiten europäischen Öffentlichkeit zu treten, um darüber zu reden, wie es weitergehen soll. Ich betone: Mit einer breiten europäischen Öffentlichkeit, nicht nur mit den Eliten. Die Probleme, die wir haben, hängen auch damit zusammen, dass es so schwer ist zu erklären, wohin die Reise gehen soll. Das ist vor allem deshalb so schwer zu erklären, weil es darüber keine Einigkeit unter den 25 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union gibt. Wir müssen jetzt die Frage beantworten, was Europa tun soll und was nicht. Ich plädiere entschieden dafür, dass wir uns sehr viel mehr Zurückhaltung auferlegen bei der Inanspruchnahme von Kompetenzen und Regelungsmöglichkeiten. Und dass wir sehr viel stärker als bisher auf den Grundsatz der Subsidiarität achten. Es muss zu einer ganz entscheidenden Frage werden, ob wir bestimmte Dinge nicht besser national oder regional regeln können. Wir dürfen Europa nicht auswuchern lassen in alle nur möglichen Lebensbereiche. Europa soll da tätig werden, wo ein europäisches Land die Bedürfnisse seiner Bevölkerung nicht mehr erfüllen kann, weil nationale Gestaltungskraft dazu nicht mehr ausreicht. Es muss auch die Frage beantwortet werden, wie weit die Vertiefung der europäischen Integration noch gehen kann. Können wir mit schnellen Schritten in Richtung einer politischen Union gehen oder muss dieser Prozess verlangsamt werden? Ich möchte es sehr deutlich sagen: Es ist eine Illusion zu glauben, dass wir in vorhersehbarer Zukunft einen europäischen Bundesstaat erreichen können. Ich bin noch nicht einmal sicher, ob das wünschenswert wäre. Ich bin nicht davon überzeugt, dass wir gut beraten sind, wenn wir den Menschen in Europa ihre nationale Identität nehmen würden, die sich normalerweise festmacht an der Kultur, der Tradition, der Sprache und der Geschichte. Ich denke, dass der Versuch, den wir in Europa gemacht haben, eine neue Art der Verschränkung zwischen souveränen Nationalstaaten herbeizuführen, der richtige Weg ist. Damit wird der Kompromiss zwischen Staaten zum Wesen der europäischen Politik. Darum sollte man aufhören, über einen europäiIII. Quartal 2005

schen Superstaat oder ähnliches zu reden. Ich möchte daran erinnern, dass die verschiedenen Erweiterungsrunden, die wir seit 1957 erlebt haben, aus unterschiedlichen Motiven erfolgt sind. Sie sind teilweise aus wirtschaftlichen Gründen erfolgt. Sie sind teilweise aus strategischen und außenpolitischen Gründen erfolgt. Und dann gab es die große Erweiterungsrunde, die im vergangenen Jahr vollzogen wurde, und die jetzt ein bisschen, wie ich überrascht zur Kenntnis nehme, ins Gerede gekommen ist. Ich möchte daran erinnern, dass die strategische Entscheidung, die Reformstaaten Mittel- und Osteuropas dauerhaft dadurch zu stabilisieren, dass man ihnen den Weg in die Europäische Union ebnet, im Jahre 1990 von der Bundesrepublik Deutschland als erstem Land eingefordert worden ist. Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl hat als erster die Auffassung vertreten, dass auch diese Länder das Recht haben, voll an der europäischen Integration teilzunehmen. Und das wir die Pflicht haben, ihnen auf diesem Weg zu helfen. Ich erwähne das Jahr 1990 deshalb, weil man jetzt oft hört, die Osterweiterung sei viel zu schnell gegangen. Ich finde das nicht. Ich finde nicht, dass 14 Jahre zu schnell sind. Ich bin der Auffassung, dass wir alle gemeinsam stolz darauf sein können, dass es dank der europäischen Integration gelungen ist, die friedliche Transformation eines ganzen Dutzend früherer kommunistischer Länder in vitale junge Demokratien, in offene Gesellschaften und in freie Marktwirtschaften zu verwandeln – ohne, dass ein einziger Schuss abgegeben worden ist. Das soll uns Europäern erst mal jemand nachmachen. Bestimmte deutsche Medien, die den Eindruck erwecken, Menschen, die östlich der Elbe leben, seien Europäer minderen Rangs, muss ich schon daran erinnern, dass diese europäische Einigung notwendig geworden ist wegen unseres Landes, wegen der Verbrechen, die mit unserem Namen verbunden sind – kein anderes Land in Europa hat so viel Anlass wie Deutschland, sich zur europäischen Einigung zu bekennen. Wenn die Erweiterungsrunde mit den zwölf mittel- und osteuropäischen Ländern abgeschlossen ist, bleiben noch Kroatien und die Türkei. In beiden Fällen weiß ich nicht, wie lange die

Prozesse dauern und ob sie zum Erfolg führen werden. Damit ist dann das Maß des für uns Möglichen erreicht. Das muss dann erst einmal konsolidiert und verarbeitet werden. Wir müssen Erfahrungen sammeln, wie das große, kontinentale Europa funktioniert. Die Vollmitgliedschaft in der Europäischen Union ist im Übrigen nicht die einzige Möglichkeit, die Verbreitung der europäischen Werte Freiheit und Demokratie zu erreichen. Was wir jetzt brauchen, ist ein breiter Dialog. Ich bitte alle, die in der Wirtschaft und in der Gesellschaft Verantwortung tragen, den Mythen entgegenzutreten, was Europa bewirkt oder nicht bewirkt. Niemand darf zulassen, dass die von allen deutschen Regierungen seit Konrad Adenauer betriebene Politik der offenen Grenzen, des Freihandels und der Liberalisierung für die hohe Arbeitslosigkeit und die wirtschaftlichen Probleme Deutschlands verantwortlich gemacht werden. Die größte und stärkste Exportnation der Welt, die Bundesrepublik Deutschland, kann nicht ohne offene Grenzen und freie Märkte existieren. Offenheit ist eine Existenzgrundlage für uns. Niemand darf zulassen, dass bei uns der Eindruck entsteht, dass wir von Billiglöhnern aus unseren Nachbarländern überrannt werden. Es mag solche Erscheinungen geben, aber diese sind illegal und müssen mit aller Kraft bekämpft werden. In der EU gibt es eine ganz klare Regel. Arbeitnehmer sollen nach den Regeln des Landes behandelt und bezahlt werden, in dem sie arbeiten. Es ist auch nicht im Interesse der osteuropäischen Länder, Billigarbeit zu exportieren. Wer das tut, setzt eine Spirale nach unten in Gang. Und am Ende einer solchen Spirale sind alle ärmer. Ferner muss auch immer wieder darauf hingewiesen werden, dass die mittel- und osteuropäischen Länder einen enorm großen Markt für die Exportnation Deutschland bieten. Wir dürfen nicht zulassen, dass die europäische Integration zum Schuldigen gestempelt wird für die Probleme des Strukturwandels, die wir in europäischen Ländern haben. Wir können uns nicht gegen den Wandel stemmen. Was wir aber tun können, ist den Wandel ökonomisch und sozial vernünftig begleiten. 앬 Aus Rede Wirtschaftstag 2005

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Was erwartet die deutsche Wirtschaft von der Europäischen Union? Jürgen R. Thumann, Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI)

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uropa liegt mir am Herzen: Als Bürger, als Unternehmer und auch als Präsident des BDI.

Vor mehr als 50 Jahren waren Kohle und Stahl die Wirtschaftszweige, die die Gründungsstaaten der Europäischen Union zusammenbrachten. In der Montanunion verpflichteten sich sechs Mitgliedsstaaten zu enger Zusammenarbeit. Dabei war es kein Zufall, dass die Geschichte der europäischen Integration mit Kohle und Stahl begann. Der Krieg spielte eine Rolle, vor allem aber die internationale industrielle Verflechtung zwischen Deutschland, Frankreich, Luxemburg und Belgien. Stahl war die Boombranche in den Aufbaujahren der Europäischen Gemeinschaft. Heute stehen wir vor der Frage, wie sich die Europäische 22 trend

Union darstellt. Die Staats- und Regierungschefs haben aus dem Nein der Franzosen und Niederländer zur EU-Verfassung die Konsequenz gezogen, den Prozess der Ratifizierung ein Jahr lang auszusetzen. Das gibt den Regierungen genügend Zeit, den Bürgerinnen und Bürgern den Verfassungsvertrag zu erläutern und die Vorteile der EU besser zu vermitteln. Für die wachsende Distanz der Bevölkerung gegenüber Europa gibt es viele Ursachen. Auf drei will ich eingehen: Das Tempo der Erweiterung, die europäische Rechtsetzung und die Wirtschaftssituation in Europa. Die Performance der europäischen Wirtschaft war trotz der Lissabon-Strategie in den vergangenen Jahren enttäuschend. Der Konjunkturaufschwung fiel schwächer aus als in den USA und Asien.

Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in der EU macht nur 72 Prozent des US-Niveaus aus. Auf der weltweiten Rangliste liegt Deutschland nur noch auf dem 17. Platz. Der Produktivitätszuwachs pro Arbeitnehmer ist geringer als in den USA. Die EU investiert nur rund zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in Forschung und Entwicklung. Europa steht vor großen Herausforderungen. Der internationale Wettbewerb verschärft sich. Europa wird von Asien und den USA gewissermaßen in die Zange genommen. Zugleich eröffnet der chinesische Markt ein großes Wachstumspotenzial. Europa steht jedoch auch vor dramatischen Veränderungen seiner Bevölkerungsstruktur. Heute steht vier Erwerbstätigen eine Person im Ruhestand gegenüber. Bis zum Jahr 2050 wird sich die Zahl der Rentner mindestens verdoppeln. Zwar soll die Lissabon-Strategie auf genau diese Schwächen Europas reagieren – die Bilanz jedoch ist enttäuschend. Auch die Neuausrichtung, die im März dieses Jahres vorgenommen worden ist, ist meines Erachtens nicht entschlossen genug. Von der dringend notwendigen Fokussierung auf Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung – wie sie von der EU-Kommission gefordert worden war, ist bis heute nur wenig erkennbar. Die Lissabon-Strategie muss sich stärker auf die eigentlichen Ursachen der europäischen Wachstumsschwäche konzentrieren. Die Rahmenbedingungen für die Unternehmen müssen jetzt im Vordergrund stehen. Denn nur Unternehmen sind in der Lage, dauerhaft und wirtschaftlich Arbeitsplätze zu schaffen. Die Neuausrichtung der Lissabon-Strategie muss sich dabei stärker als bisher im Legislativprogramm der Europäischen Kommission niederschlagen. Ein zweiter wichtiger Grund für die wachsende Skepsis der Bürger gegenüber Europa ist die europäische Rechtsetzung. Bürger und Unternehmen fühlen sich durch intransparente Entscheidungen und einer Flut von Regulierungen zunehmend fremdbestimmt. Ich weiß zwar sehr wohl, dass ein vernünftiges Maß an Harmonisierung notwendig ist, wenn der Binnenmarkt funktionieren soll. Der Binnenmarkt und die Gemeinschaft haben den Bürgern und den Unternehmen in den vergangenen Jahren unschätzbare Wettbewerbsvorteile und Wachstumsdynamik gebracht. Aber immer wieder versuchen III. Quartal 2005

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... sowohl die europäischen Institutionen als auch die Mitgliedstaaten unter Berufung auf den Binnenmarkt, Maßnahmen durchzusetzen, die zu einer übertriebenen Regulierung führen. Das galt in den zurück liegenden Jahren insbesondere für den Umwelt- und Verbraucherschutz. Aus Sicht des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI) muss es gelingen, das Potenzial des Binnenmarktes noch besser auszuschöpfen, ohne dass gleichzeitig der Wettbewerb behindert wird. Zu den vorrangigen Projekten gehört die überfällige Öffnung der Märkte für Dienstleistungen. Wenn wir von Europa reden, müssen wir auch über Subsidiarität sprechen. In den vergangenen Jahren hat sich jedoch der Eindruck verstärkt, dass sich die Balance in der Rechtsprechung immer stärker zugunsten der europäischen Ebene verschoben hat. Vor diesem Hintergrund ist es geradezu paradox, dass viele Bürger dem EU-Verfassungsvertrag skeptisch gegenüberstehen – denn dieser hätte in dieser Hinsicht durch die Einbeziehung der nationalen Parlamente und durch ein Klagerecht entscheidende Fortschritte gebracht. Vielleicht gelingt es ja, wenigstens Teile des Verfassungsvertrages noch zu realisieren. Seit Jahren bemüht sich die Europäische Union um eine bessere Rechtsetzung. Dabei muss indes auch beachtet werden, dass alle Regeln, die zu unverhältnismäßigen Belastungen für Unternehmen führen, auf den Prüfstand gehören. Zur gleichen Zeit muss endlich eine praktikable Gesetzesfolgenabschätzung auf EU-Ebene geschaffen werden. Und wenn die Europäische Kommission eine Folgenabschätzung durchführt, muss sie auch die notwendige Unabhängigkeit der prüfenden Dienststellen garantieren. Ferner muss in der Europäischen Union die Frage beantwortet werden, wo die politischen, geographischen und kulturellen Grenzen Europas liegen. Diese Frage ist noch nicht zu Ende gedacht. Darum ist es auch kein Wunder, dass das Tempo der Erweiterung die Menschen verunsichert. Für die deutsche Industrie möchte ich feststellen, dass die Erweiterung der Europäischen Union um zehn neue Mitgliedstaaten in Mittel- und Osteuropa ein historischer Schritt war. Schon jetzt ist die Einbindung der neuen EULänder in den Binnenmarkt ein wirtIII. Quartal 2005

schaftlicher Erfolg – und ein politischer ohnehin. Gerade deutsche Unternehmen haben von der Erweiterung profitiert. Kein anderes Land hat so profitiert wie die Bundesrepublik und zur gleichen Zeit so zur wirtschaftlichen Dynamik in den neuen EU-Ländern beigetragen. Aber gleichzeitig ist auch klar, dass die jüngste Erweiterungsrunde die Integrationskraft der EU noch lange Zeit beanspruchen wird. Deshalb muss jetzt eine Phase der Konsolidierung folgen. Vor jeder neuen Entscheidung für Beitritte muss geprüft werden, ob die politische und institutionelle Balance der Europäischen Union gewahrt bleibt. Die Erweiterung der EU darf keine Bedrohung werden. Sie soll eine Chance bleiben! Heinrich von Pierer hat einmal eine Parallele gezogen zwischen unternehmerischer Tätigkeit und dem politischen Prozess der Erweiterung. Die Herausforderung liege nicht nur in der Wahl der richtigen Akquisition und des passenden Zeitpunkts, sondern auch in der Integration. Eine Erfolgsgeschichte entstehe nur, wenn das größere Ganze so aufgestellt und gesteuert werde, wie es die neue Dimension verlange. Viele Unternehmer, mich selbst eingeschlossen, haben hier immer wieder Lehrgeld zahlen müssen. Ähnliches gilt auch für die Europäische Union. Die Wirtschaft hat ein Interesse daran, dass es nicht zu einer ernsteren Krise kommt mit dauerhaften Folgen für die Handlungsfähigkeit der EU im Binnenmarkt und für die Europäische Gemeinschaftswährung. Denn trotz der Kritik und dem offensichtlichen Unbehagen in der Bevölkerung gilt, dass uns die Europäische Union mit ihren 450 Millionen Einwohnern alle Vorteile bringt. Wir dürfen die europäische Integration nicht grundsätzlich in Frage stellen – auch deshalb, weil andere Volkswirtschaften aufholen und der globale Wettbewerb schärfer wird. Die Europäische Union darf auch nicht zum Sündenbock werden für das, was die Regierungen der Mitgliedstaaten versäumt haben. Womit wir auch bei der Situation in der Bundesrepublik wären. Ähnlich wie die Referenden in Frankreich und in den Niederlanden waren auch die Landtagswahlen Ende Mai in NordrheinWestfalen ein deutliches Zeichen. Wir haben gesehen, dass die Bürger zu Veränderungen und weiteren Reformen bereit sind – und keine politische Stagnation wollen.

Sicher ist, dass wir Veränderungen brauchen. Deutschland ist im europäischen Vergleich schon seit Jahren Wachstumsschlusslicht, und unsere Nachbarn registrieren unsere Schwäche mit zunehmender Sorge. Die Politik wird zu Recht daran gemessen, ob es gelingt, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Angesichts einer unerträglich hohen Zahl von Arbeitslosen ist dies auch angebracht. Jedoch müssen wir die Reihenfolge beachten. Nur wenn es gelingt, in Deutschland für Wertschöpfung zu sorgen, kann es zu spürbaren Impulsen für die Binnennachfrage und die Beschäftigung kommen. Deutschland muss wieder Motor des Wachstums in Europa werden. Das ist unser wichtigster Beitrag für die Zukunftsfähigkeit der Europäischen Union. Und das erwarten unsere europäischen Partner und Freunde auch zu Recht. Deutsche Unternehmen profitieren zwar weiterhin von der gut laufenden Weltkonjunktur. Sie investieren auch wieder etwas mehr. Unser Hauptmotor bleibt der Export. Unser Exportwachstum zeigt, welches Potenzial unsere Unternehmen und unser Standort noch immer haben. Trotzdem aber halten sich viele Unternehmen mit ihren Investitionen in Deutschland zurück, weil sie kein Vertrauen in den Absatz haben oder weil sie woanders investieren. Gerade der industrielle Mittelstand prüft Produktionsverlagerungen. In früheren Konjunkturzyklen konnten wir noch stets darauf setzen, dass der Außenhandel die schwache Inlandsnachfrage ausgleicht. Aber der Exportfunke springt nicht mehr so schnell und stark auf das Inland über. Das liegt daran, dass unsere Exporte immer mehr importierte Vorprodukte enthalten. Das hat zur Folge, dass unsere europäischen Nachbarländer immer mehr am deutschen Export mitwirken. Das hat auch viel mit unserer Kostenstruktur in Deutschland zu tun. Die Arbeitskosten und Energiepreise sind in den vergangenen Jahren durch politisches Zutun, allzu oft aus ideologischen Gründen, erhöht worden. Um die Wertschöpfung bei uns im Lande zu halten und auszubauen, müssen wir jedoch die Investitionsbedingungen am Standort Deutschland wieder verbessern. Das bedeutet vorrangig, dass wir endlich eine verlässliche Politik brauchen. Reformen in Deutschland und in Europa – für mehr Wachstum brauchen wir beides! 앬 Aus Rede Wirtschaftstag 2005

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Wirtschaftstag 2005 www.wirtschaftsrat.de

Deutschland stark machen – Neuer Kurs für Wachstum und Arbeit

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eutschlands Zukunft als Industrienation und internationales Kompetenzzentrum steht vor einer Bewährungsprobe: Entweder gelingt es, den Weg wieder freizumachen für Kreativität, Innovation und Unternehmergeist, oder es droht der Absturz in die Zweitklassigkeit. Steuer-, Sozial-, Arbeitsmarkt- und Bildungspolitik müssen auf das Wachstumsziel ausgerichtet und die Wertschöpfung wieder verstärkt ins eigene Land geholt werden. Deutschlands Erfolg wird mitentscheidend dafür sein, ob auch Europa im Wettbewerb der Kontinente wieder eine Chance erhält: Asien macht Tempo, Amerika legt zu, wo bleibt Europa?

Diese nationalen und internationalen Perspektiven standen im Mittelpunkt des Wirtschaftstages 2005 in Berlin unter dem Motto: „Deutschland stark machen – Neuer Kurs für Wachstum und Arbeit“. Bekanntermaßen lösen Medienberichte nicht immer Beifallsstürme aus. Als positives Beispiel ist „Die Welt“ zu zitieren, die die Aufgaben des Wirtschaftsrates nach der Präsentation seines Masterplanes 2005 bis 2009 „Von der Anspruchs- zur Leistungsgesellschaft – Deutschland nimmt wieder Fahrt auf“ zum politischen Neubeginn beschrieb: „Der Wirtschaftsrat schreibt sich seit Jahrzehnten auf die Fahnen, die Union in Wirtschaftsfragen zu beraten. Frau Merkel stößt dabei auf Menschen, die ihr wohlwollen und ihr deutlich sagen, was sie programmatisch für richtig und für falsch halten.“ Wirtschaftsrat-Präsident Kurt J. Lauk betonte: „Unabhängigkeit im Urteil und Kontinuität in der Ordnungspolitik bleiben unsere Markenzeichen!“ Und Kanzlerkandidatin Angela Merkel bedankte sich: „Ich möchte mich beim Wirtschaftsrat für seine gute Arbeit bedanken. Sie ist für uns immer ein Impuls, aus dem Blickwinkel der Wirtschaft darüber nachzudenken, was Deutschland voranbringt. Wir wissen, dass es in Deutschland nicht vorangehen wird und dass auch keine Arbeitsplätze geschaffen werden, wenn sich die Politik gegen die Wirtschaft aufstellt. Wir schaffen es nur mit der Wirtschaft gemeinsam!“ III. Quartal 2005

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BundesdelegiertenVersammlung 2005

Der Weg von der Anspruchs- zurück zur Leistungsgesellschaft ist steinig Die Wende zur Sozialen Marktwirtschaft beherzt und zügig angehen Bericht des Präsidenten: Kurt J. Lauk

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ie rot-grüne Bundesregierung hat Insolvenz angemeldet. In den Koalitionsparteien brechen jene alten Konflikte auf, die der Machterhalt bisher übertünchte. Rot-Grün befindet sich in Selbstauflösung. Richtungskämpfe brechen auf. Die Sozialdemokraten zerlegen sich. Fast möchte ich ihnen zurufen: Haltet ein, Genossen! Wir brauchen euch noch als Opposition!

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Ludwig Erhard wäre entsetzt gewesen Das Erbe von sieben Jahren rot-grüner Politik hat diesem Land mehrere schmerzliche Rekorde beschert: Die Staatsfinanzen sind zerrüttet; unter dem Schuldenberg erstickt die Zukunftsfähigkeit unseres Landes; über den Systemen der sozialen Sicherung schwebt der Pleitegeier; mehr als fünf Millionen Menschen

sind der Perspektive eines selbstbestimmten Erwerbsleben beraubt. Gewiss hat diese traurige Bilanz historische Wurzeln, die teilweise über Jahrzehnte zurückreichen. Aber unter dieser Bundesregierung sind die Versäumnisse zur Krise mutiert, das Reparable wurde zum gefährlichen Sanierungsfall. Dass die Gesellschaft im Innern erschüttert ist und sich zunehmend in Konflikten zerreibt, hat eine funIII. Quartal 2005

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... damentale Ursache: Die Bürger haben das Vertrauen in die Politik der rot-grünen Bundesregierung verloren. Sie haben sie an der Wahlurne entsprechend abgestraft. Enthemmt ist der Umverteilungswirrwarr Besonders zu beklagen waren die ordnungspolitischen Entgleisungen der letzten Jahre. Unser bewährtes Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft wurde rot-grüner Deutungshoheit unterworfen, ausgehöhlt und mit wirren Inhalten gefüllt. Ludwig Erhard wäre entsetzt gewesen. Den Höhepunkt dieser ordnungspolitischen Verdrehung setzt SPD-Chef Müntefering. Gesichtslose Finanzinvestoren fielen, so wetterte er, „wie Heuschreckenschwärme über Unternehmen her, grasen sie ab und ziehen weiter“. Man wollte seinen Ohren nicht trauen. Derselbe Politiker, der sich als Reformer preist und gerade um Steuersenkungen für Unternehmen warb und Investoren umgarnt, fällt über diese Investoren her. Dass er damit den Abstieg des Standorts Deutschland im internationalen Wettbewerb eher beschleunigt als verhindert, kam ihm offenbar nicht in den Sinn. Dem Kapital – besser: dem Investitionskapital – die Zähne zu zeigen, statt es willkommen zu heißen, wird Investoren eher „Heuverschrecken“ als ermuntern, sich in diesem Land zu engagieren. Vom Sozialismus ist kein Land reich geworden Enthemmt ist hierzulande nicht der Kapitalismus, sondern Umverteilungswirrwarr, Bürokratie und deutsche Regelungswut. Das bremst die Marktkräfte aus, von denen Wohlstand erwartet wird. Die Marktwirtschaft, an der Müntefering das Soziale vermisst, wird nicht durch raffgierige Manager aus dem Lot gebracht, sondern durch Überfrachtung mit Sozialleistungen, die verteilt werden, bevor sie erarbeitet sind. Dieser unsoziale Prozess endete bekanntlich in einer Rekordverschuldung des Staates. Wer die Kapitalismuskeule schwingt, sei daran erinnert: Alle wohlhabenden Länder dieser Welt haben im letzten Jahrhundert ihren Reichtum durch den Kapitalismus erworben. Dagegen ist keines bekannt, wo dies durch Sozialismus erreicht worden wäre. Unsere Alternative ist klar, sie war überaus erfolgreich und wird uns wiederum ein III. Quartal 2005

verlässlicher Kompass durch die Krise sein: die Soziale Marktwirtschaft. Ludwig Erhard war übrigens Zeit seines Lebens vehement gegen jeden Laissez-faire-Kapitalismus. Liberalismus, wie er ihn verstand, sei „weder Freibeutertum noch ein seelenloser Termitenstaat“. Deutschland nimmt wieder Kurs auf Zum umstrittenen Adjektiv der Marktwirtschaft, dem Sozialen, hatte Erhard gegenüber dem Nobelpreisträger

Friedrich August von Hayek bemerkt: „Ich meine, dass der Markt an sich sozial ist, nicht dass er sozial gemacht werden muss.“ Bei der Gründungsveranstaltung unseres Wirtschaftsrates im Jahre 1963 ermunterte uns Erhard: „Der Wirtschaftsrat muss Mitverantwortung für die freiheitliche Gestaltung unserer Wirtschaftsordnung übernehmen.“ Und er fügte an: „Je freier die Wirtschaft – um so sozialer ist sie auch.“ Dass die CDU in dieser Tradition lebt, belegt ein Schlüsselzitat aus der Rede von Angela Merkel zum 13. Jah-

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Nach einem Jahr des Umbruchs nun optimal aufgestellt Nach den Turbulenzen des letzten Jahres ist der Wirtschaftsrat jetzt organisatorisch und inhaltlich optimal aufgestellt. Das vergangene Jahr war für den Wirtschaftsrat ein Jahr des Umbruchs mit vielen organisatorischen und personellen Veränderungen. Wir waren Angriffen bis hin zu Verleumdungen ausgesetzt, die wir erfolgreich abwehren konnten. Aber es bedurfte eines intensiven, außerordentlichen und in der Sache auch höchst ungewöhnlichen Einsatzes durch das Ehrenamt. Dabei sind wir auf einige administrative und satzungstechnische Unzulänglichkeiten gestoßen. Diese haben uns veranlasst, die Schwachstellen in unserer Satzung zu bereinigen. Wir haben erwogen, die Satzung grundsätzlich zu überarbeiten. Davon haben wir jedoch Abstand genommen, weil wir im Jahr der politischen Zeitenwende und einer besonderen Herausforderung für unseren Verband diesen nicht mit einer zusätzlichen Satzungsdiskussion belasten wollten. Vor diesem Hintergrund schlagen wir die sich als unabdingbar zeigenden Änderungen vor. Die außerordentlichen Belastungen im vergangenen Jahr geben mir allen Anlass, den beiden Vizepräsidenten und dem Schatzmeister aufrichtig zu danken. Es war eine besonders gute Erfahrung, dass dann das gesamte Präsidium in der schwierigen Zeit zusammenstand und kooperativ und kollegial zusammengear-

beitet hat. Wir bedanken uns auch beim Bundesvorstand, der alle Entscheidungen des Präsidiums uneingeschränkt mitgetragen hat. Aus den schweren Tagen und Monaten ist der Wirtschaftsrat gestärkt hervorgegangen. Wir haben in kurzer Zeit überzeugende Lösung für die personell notwendige Erneuerung gefunden. Auch dies gelang einvernehmlich und in bester freundschaftlicher Weise. In unserer Mitte begrüße ich deshalb heute unseren neuen Generalsekretär Hans Jochen Henke. Lieber Herr Henke, seit Ihrer Berufung im Spätherbst 2004 sind Sie Ihre neue Aufgabe mit Elan und Tatkraft angegangen. Wir wünschen Ihnen in dieser Zeit des Umbruchs, dass es uns gemeinsam gelingt, die politische Einflussnahme auszubauen und das einzigartige Markenprodukt „Wirtschaftsrat“ erfolgreich weiter zu entwickeln. Zu danken ist Rüdiger von Voss, der 21 Jahre lang die Geschäfte des Wirtschaftsrates mit großem Geschick lenkte. Er wich keiner kritischen Debatte aus und speiste so manche Idee in die politische Debatte ein. Herr von Voss hat unsere Organisation entscheidend geprägt und ihr intellektuellen Glanz verliehen. Ein besonderes Kompliment gilt allen Mitgliedern und Freunden, die sich ehrenamtlich engagierten. Ich weiß, wie mühevoll dies manchmal ist. Unsere Gesellschaft, an deren Fortschritt Sie alle mitwirken, lebt mit und vom Ehrenamt. Dank dafür. trend 87


... restag der deutschen Einheit. Sie wiederholte den Erhardschen Imperativ: „Die Soziale Markwirtschaft ist eine Ordnung der Freiheit.“ Dieses Erbe ist dem Wirtschaftsrat historische Verpflichtung, obgleich zuweilen eine Bürde, die uns in Diskussionen zwingt – was wir begrüßen. Es bedeutet: Freiheit statt Gleichheit, Wettbewerb statt Regulierung, Aufbruch statt Verzagtheit, Bürgerverantwortung statt Bevormundung, Eigeninitiative statt Behördenbefehl. Wir dürfen keine Ansprüche wecken, ohne sie seriös zu finanzieren, und keine Besitzstände zementieren, sondern die Chance des Wandels wahrnehmen. Unser Leitmotto für die Neuordnung der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik in der kommenden Legislaturperiode lautet: „Deutschland nimmt wieder Kurs auf: Wachstum – Arbeit – Wohlstand.“ Der Weg von der Anspruchs- zurück zur Leistungsgesellschaft ist gewiss steinig. Lassen Sie mich unsere wichtigsten Wegmarken kurz skizzieren: Lohnenswerte Arbeit mit mehr Netto Es ist ein wirtschaftliches wie soziales Ärgernis, wenn dieses Land auf die Leistung und die Kreativität von mehr als fünf Millionen seiner Mitbürger verzichtet und sie ausgrenzt. Aus dieser sozialen Krise darf keine Katastrophe werden. Es demotiviert die Menschen, wenn von ihren vergleichsweise hohen Bruttolöhnen nur ein mageres Netto in der Tüte verbleibt. Die Verantwortung für die Lohnpolitik zu markieren, bedeutet das Tarifkartell aufzubrechen. Der Arbeitsmarkt ist von den starren Fesseln der Regulierung zu befreien. Die Beschäftigungshürden für reguläre Arbeit müssen endlich abgeräumt werden. Die Lohnnebenkosten sind beherzt zu senken. Es ist ein ökonomischer Treppenwitz, wenn ein Klempner fast sechs Stunden arbeiten muss, um sich auch nur eine einzige Dachdeckerstunde leisten zu können. Beschäftigungsprogramme sind Beschäftigungstheorie. Auch Ein-Euro-Jobs sind ein Irrweg. Sie bedrohen rentable Arbeitsplätze und verfestigen die Arbeits88 trend

losigkeit, statt sie abzubauen. Sie wiegen die Menschen in Scheinsicherheit. So wird Arbeit verrichtet, die man eigentlich nicht braucht, gegen Geld, das man nicht hat. Wer Nichtarbeit höher entlohnt als Arbeit, zermalmt das Leistungsprinzip und lädt zur Schwarzarbeit ein. Warum sind die Deutschen unfähig, ihren eigenen Spargel zu stechen oder ihre heimische Erdbeeren zu pflücken? Dafür sei der deutsche Rücken nicht geeignet, heißt es – eine Satire aus Absurdistan. Und: Warum sollen mündige Belegschaften nicht darüber entscheiden dürfen, ob ihnen ihr Arbeitsplatz wichtiger ist als einige Lohnprozente? Das Günstigkeitsprinzip wartet auf eine betriebsnahe Reform. Es war ein historischer Fehler, den Arbeitslohn zum Packesel des Sozialstaates zu machen. Dies muss korrigiert werden, indem man die Sozialabgaben weitgehend vom Lohn abkoppelt. In einem Land, dessen Wiegen leer bleiben, aber dessen Altersheime sich füllen, funktioniert das Prinzip „Jung zahlt für Alt“ in der Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung nicht mehr. Schon heute betragen die Anwartschaften an sozialen Ansprüchen 360 Prozent eines Bruttoinlandsprodukts. Der Wirtschaftsrat hat ein schlüssiges Konzept vorgelegt, wie wir die Schuldenberge Schritt für Schritt abbauen können. Diese Generation darf nicht länger das Holz verfeuern, an dem sich unsere Kinder und Enkel wärmen sollten. Das ist ein grober Verstoß gegen das Prinzip der Nachhaltigkeit, das Rot-Grün zwar predigt, aber tatsächlich ignoriert. Wer die marode Umlagenversicherung schrittweise durch Kapitaldeckung und Eigenverantwortung ersetzt, stellt die Sozialsysteme wieder vom Kopf auf die Füße. Der Vorschlag der derzeitigen Bundesregierung für eine Bürgerversicherung ist so verführerisch wie gefährlich. Es handelt sich in Wahrheit um eine Bürger-zwangsversicherung. Einem maroden System soll frisches Geld zugeführt werden. Es wartet indes auf frische Reformen. Hier versucht ein Kapitän, alle Passagiere auf einen leckgeschlagenen Seelenverkäufer zu zwingen – und lässt auf dem Zwischendeck auch noch Jubelgesänge anstimmen.

Die Bürgerzwangsversicherung atmet Kollektivismus. Der Wirtschaftsrat setzt ihr die solidarische Gesundheitsprämie entgegen. Sie räumt endlich damit auf, den Arbeitslohn mit Krankenkassenbeiträgen zu befrachten. Zugleich räumt sie mit der Ungerechtigkeit auf, dass nur die Beitragszahler am Sozialausgleich für Einkommensschwache und Familien mit Kindern beteiligt. Der soziale Ausgleich findet dort statt, wo er ordnungspolitisch auch hingehört: im Steuersystem. Mich freut es, dass inzwischen mehr als 80 Prozent der Mitglieder unser Gesundheitskonzept unterstützen. Aber geben Sie sich keinen Illusionen hin: Das wird ein mühsamer Kampf der Argumente. Im Revier der Flachdenker ist viel Polemik zu Hause. Statt das Tarifkartell weiter zu betonieren, brauchen wir umgehend flexible Löhne, die sich wieder stärker an der Qualifikation der Arbeitskräfte orientieren. Betriebliche Bündnisse für Arbeit vereinigen Beschäftigungschancen mit Mündigkeit. Das Vetorecht betriebsfremder Gewerkschaftsfunktionäre ist abzuschaffen. Wenn es gelänge, den Kündigungsschutz bei Neueinstellungen zu lockern, würden die unseligen Prozesse um Abfindungen endlich aufhören. Die Forderung nach gesetzlichen Mindestlöhnen ist so verführerisch wie gefährlich. In der Bauwirtschaft, deren Tarifparteien einen Mindestlohn vereinbarten, ist der Abbau von rund 700.000 Arbeitsplätzen damit nicht verhindert worden. Dort wird übrigens jeder zweite Euro schwarz verdient. Man möchte Finanzamt und Krankenkasse nicht mit Überweisungen behelligen. Die Gutmenschen mit dem Mindestlohn übersehen geflissentlich, dass es durch das Arbeitslosengeld II bereits einen faktischen Mindestlohn gibt: rund zehn € in der Stunde. Die französischen Erfahrungen mit dem Mindestlohn werden von den Verfechtern als Vorbild gepriesen. Sie sind jedoch eine Warnung, denn dort verdoppelte sich die Jugendarbeitslosigkeit – sie ist doppelt so hoch wie bei uns. Gegenüber der Jugend ist dies verantwortungslos. Die Bundesagentur für Arbeit zentralistisch zu organisieren, war ein Fehler. Städte und Gemeinden können die Langzeitarbeitslosen viel gezielter betreuen. Es wäre ein doppelter Befreiungsschlag, würde sich III. Quartal 2005

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... die Bundesagentur auf ihre Kernaufgabe, die Arbeitslosenversicherung konzentrieren: Der Beitragssatz könnte mittelfristig auf drei Prozent halbiert werden und die 90.000-Mitarbeiter-Behörde auf die Hälfte schrumpfen. Ausnahmsweise stimme ich Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement zu, der kürzlich feststellte: „Es gibt kein Land, das so viel Geld gegen die Arbeitslosigkeit einsetzt, wie wir. Und keines ist so erfolglos.“ Die so genannten Hartz-Reformen sind bei dieser Bundesregierung in keinen guten Händen, hat sie sich doch bei deren Kosten um einen zweistelligen Milliardenbetrag verschätzt. Auch dies ein Grund, der jetzigen Bundesregierung die rote Karte zu zeigen – Pardon: die schwarze. Regelungswut stoppen und Schulden drosseln Die Verschuldung des Staates hat sich in den letzten drei Jahrzehnten verzwanzigfacht, auf heute mehr als 1,4 Billionen €. Sie steigt um 1.714 € – in jeder Sekunde! Jedem Neugeborenen legt der Staat 17.000 € Schulden in die Wiege. Mit den Anwartschaften aus den Sozialversicherungen summiert sich diese Last auf mehr als 100.000 €. Gibt es hier einen Unternehmer, der seit 35 Jahren rote Zahlen schreibt und ständig neue Kredite aufnehmen muss, um die Zinsen für seine Altschulden zu zahlen? Eine nationale Anstrengung ist auch nötig, um den gewucherten Paragraphendschungel zu lichten – nicht wie bisher mit der Nagelschere, sondern mit der Axt. Der Staat maßt sich eine Fülle von Aufgaben an, die Sache der Bürger sind. Die Staatsquote wieder unter 40 Prozent zu drücken, auch durch Privatisierung und Subventionsabbau, beschert Wachstumsgewinne. Dieses Land rast mit atemberaubender Geschwindigkeit ungebremst auf den Bankrott zu. Ex-ChryslerChef Lee Iacocca bringt es auf den Punkt: „Es ist Zeit, dass jemand der Regierung die Kreditkarte entzieht.“ Um diese verhängnisvolle Entwicklung endlich zu stoppen, wird der Wirtschaftsrat seine Kampagne für gesunde Staatsfinanzen bundesweit ausbauen. Alle Landesvorstände und Sektionssprecher sind mit Argumentationshilfen und Redeentwürfen ausgestattet worden. III. Quartal 2005

Mit einer Großen Reform das Steuerchaos beenden Das deutsche Steuerrecht ist chaotisch. Es bestraft die Leistung, belohnt die Trickser und bremst mögliches Wachstum aus. Das fiskalische Flickwerk ist – weil irreparabel – endlich durch eine Große Steuerreform zu ersetzen. Um die Sätze kräftig zu senken, sind alle Privilegien und Abzugsbeträge abzuschaffen. Damit wären zugleich 163 Steuerschlupflöcher geschlossen, wie Paul Kirchhof errechnete. Die Ungleichbehandlung von Einzelpersonen, Personen- sowie Kapitalgesellschaften ist zu beenden. Die effektive

Steuerlast der Unternehmen muss unter 30 Prozent sinken, die Gewerbesteuer ist abzuschaffen. Kapitalerträge sollen mit einer Abgeltungssteuer von 24 Prozent erfasst werden. Ein einfaches, gerechtes und leistungsfreundliches Steuersystem ist eine weitere fundamentale Voraussetzung für mehr Wachstum und Beschäftigung. Deutschland hat europaweit mit 36 Prozent noch immer die durchschnittlich höchste nominelle Steuerbelastung für Unternehmen (UK: 28,9 Prozent, DK: 27 Prozent, CH: 21,8 Prozent). Dennoch erzielt der deutsche Finanzminister mit die niedrigsten Steuereinnahmen in

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Kehrtwende zur ideologiefreien Politik ist Überlebensfrage Der Wirtschaftsrat erhebt zu allen wichtigen Fragen der Wirtschafts-, Finanzund Sozialpolitik seine Stimme. Er belebt die politische Debatte in jüngster Zeit immer häufiger mit eigenen mutigen Konzepten. Nicht selten wird uns die Meinungsführerschaft unterstellt – was ja so falsch nicht sein muss. Wir freuen uns darüber. Wir legten ein durchgerechnetes und schlüssiges Konzept zur Sanierung der Staatsfinanzen vor. Die Verschuldung des Staates hat sich in den letzten drei Jahrzehnten verzwanzigfacht, auf heute mehr als 1,4 Billionen €. Jetzt ist die Schuldenfalle zugeschnappt. Weil gesunde Staatsfinanzen Voraussetzung für neue Wachstums- und Beschäftigungsdynamik sind, fordert der Wirtschaftsrat einer Schuldendeckelung mit Verfassungsrang. Unser Bundessymposion Staatsfinanzen mit dem österreichischem Finanzminister Grasser und mehr als 400 Teilnehmern gab dabei den Startschuss für unsere Kampagne zur Haushaltskonsolidierung ab. WR hat den Kampf um die besten Köpfe für Deutschland wieder aufgenommen. Wir wollen, die Zukunft der jungen Leistungsträger in Wirtschaft, Forschung und Politik im eigenen Land wieder attraktiv machen. Das 2. Berliner Generationenforum – mit CDU-Generalsekretär Volker Kau-

der – hat erneut den Nerv von mehr als 400 jungen Leistungsträgern getroffen. Diese Generation – leistungsbereit, risikobereit und weltoffen – ist die ureigenste Klientel des WR. Die jungen Leistungsträger passen zu uns – der WR bietet ihnen eine Heimat. Wir haben darüber hinaus die europäische und internationale Perspektive in die deutsche Corporate Governance Debatte eingeführt. Hauptredner unserer viel beachteten Tagung waren der Chef der New Yorker Börse, John Thain, und BP-Chairman Peter Sutherland. Teile unseres Mitbestimmungskonzepts werden jetzt in der Europäischen Union aufgegriffen. Der pointierte Pressetenor: „WR übertrifft mit seinen Forderungen alle anderen Verbände.“ Zusammen mit namhaften Repräsentanten aus Energiewirtschaft und Europäischer Kommission haben wir in einer Klausurtagung die Leitsätze für einen Paradigmenwechsel in der Energiepolitik erarbeitet. Die Kehrtwende zu einer wettbewerbsorientierten und ideologiefreien Politik ist für den Industriestandort Deutschland eine Überlebensfrage. Deshalb ist es wichtig, dass unsere Positionen beim jetzt bevorstehenden Neuanfang weitgehend von der Union übernommen worden sind. Unsere Arbeit hat sich gelohnt. trend 89


... Europa – weil hohe nominelle Steuersätze die Unternehmen verprellen und weil ein Wildwuchs an Ausnahmen und Umgehungen Steuerzahler wie Staatskassen belastet. Das deutsche Steuersystem ist zu kompliziert, ungerecht und lädt zu Umgehungen ein. Ich möchte noch einmal an Ludwig Erhards Credo erinnern: „Wohltaten müssen immer teuer bezahlt werden – denn kein Staat kann mehr geben, als er vorher Bürgern und Unternehmern genommen hat.“ Mitglieder unserer Steuerkommission erarbeiten zusammen mit Friedrich Merz mit Hochdruck ein vollständig neues Steuergesetzbuch. Eine losgelöste Erhöhung der Mehrwertsteuer lehnt der Wirtschaftsrat energisch ab. Sie wäre Gift für die Konjunktur, nähme Reformdruck aus dem Kessel und verführte die Finanzpolitik zum Weiterwursteln. Bildung braucht Freiräume Deutschland ist ein rohstoffarmes Land. Über einen Rohstoff könnte es jedoch in Fülle verfügen – wenn es dem Bildungswesen seine Freiheitsräume zurückgibt. Bildung. Im Kampf um die besten Köpfe ist es jedoch zurückgefallen.

Wir müssen uns wieder zu unseren Eliten bekennen, damit sie nicht abwandern. Um das Bildungssystem wettbewerbsfähig zu machen, brauchen die Hochschulen die Freiheit, ihre akademischen Lehrer und ihre Studenten selbst auszuwählen. Professoren sind nach Leistung statt nach Beamtenrecht zu bezahlen. Studiengebühren fördern den Wettbewerb und damit den Bildungsstandort Deutschland. Zur universitären Freiheit gehört die Kooperation mit der Industrie. Bildung, Forschung und Innovation sind der Schlüssel für künftigen Wohlstand. Dieses Land war einst für seine industrielle Intelligenz und seine kreativen Tüftler weltweit berühmt und angesehen. Seit es sein Bildungssystem einer Zwangsbewirtschaftung unterwarf, hat es seine Chancen verschüttet. Der Chef der Fraunhofer-Gesellschaft, Hans-Jörg Bullinger, warnte jüngst: „Nur Dank der Automobilindustrie, Pharma und Chemie gehört Deutschland noch immer zu den weltweiten Technologieführern.“ Heute schauen wir neidvoll auf die Technologien, die in den USA und im pazifischen Raum gedeihen und schneller als bei uns

zur Marktreife geführt werden. Unsere Zukunft, unser Wohlstand liegt auch in Disziplinen wie der Nanotechnologie, den Biowissenschaften und der Gentechnologie. Die deutsche Graswurzel-Fraktion gefällt sich dagegen darin, diese Unternehmen als Risiko darzustellen. Ergebnis: Spitzenforscher wandern ins Ausland ab. Die Innovationsblockaden bei Kernenergie, Gendiagnostik, Pharma und Stammzellenforschung sind schnellstens aufzulösen, die weitere Abwanderung von Biotech-Unternehmen ist zu verhindern. Wir müssen diese zukunftsweisenden Technologien aus der Umklammerung kurzsichtiger Öko-Folklore befreien. Was berechtigt den Staat eigentlich, den braven Facharbeiter zu zwingen, der Tochter eines gutverdienenden Arztes oder Anwalts ein kostenloses Studium zu finanzieren? Antwort: Nichts – weder die Gerechtigkeit noch das Subsidiaritätsprinzip. Deswegen fördert die Freiheit, Studiengebühren zu erheben, auch die Freiheit der Wissenschaft. 500 € pro Semester sind im internationalen Maßstab ein erster Schritt. Noch im Herbst startet der

Das Ehrenamt – wichtige Basis für unseren Erfolg Seit dem Jahr 2000 hat Herr BonseGeuking, Group Vice President der BP, unsere Energiekommission mit hohem Engagement geleitet. Er war zugleich die Stimme der Bundesfachkommissionen in der Herzkammer des Wirtschaftsrates – im Präsidium. Er wird zum Ende der Legislaturperiode die Kommissionsleitung in neue Hände geben. Ich möchte ihm für seine großartige Arbeit danken. Zugleich freue ich mich, dass wir den Vorsitzenden der Geschäftsführung der Deutschen Shell, Herrn Kurt Döhmel, für diese wichtige Aufgabe gewinnen konnten. Nach über acht Jahren erfolgreichem Einsatz für die Kommission Innovation & Information wird Herr Dr. Joachim Dreyer – der Gründungsvorsitzende – den Stab weitergeben. Ihm wird Herr Prof. Edward Krubasik, Mitglied Zentralvorstand Siemens AG und ZVEI-Präsident, als Kommissionsvorsitzender folgen. Er übernimmt Mitverantwortung beim WR für das Thema Kompetenzzentrum Deutschland. 90 trend

Schließlich steht die Verkehrskommission unter neuer Leitung von Herrn Dr. Hugo Fiege, der ein bedeutendes Logistik-Unternehmen als persönlich haftender Gesellschafter führt. Er hat sein Amt von Dr. Wolfgang Ziebart –Vorstandsvorsitzender von Infineon – übernommen. Den langjährigen Kommissionsvorsitzenden schuldet der gesamte WR für den hohen persönlichen Einsatz besondere Anerkennung. Zugleich wünschen wir den neuen Kommissionsvorsitzenden Überzeugungskraft und Durchsetzungsstärke, um unsere Positionen bei den neuen Regierungsparteien mehrheitsfähig zu machen. Weil das Engagement im Ehrenamt eine wichtige Basis unseres Erfolges ist, danke ich besonders unseren Landesvorsitzenden, den Sektionsvorständen und Sektionssprechern, den Vorsitzenden und den mehr als 500 Mitgliedern der Bundesfachkommissionen sowie ganz

herzlich Ihnen allen, den Mitgliedern der Bundesdelegiertenversammlung. Besonderer Dank gilt auch meinen Kollegen in Präsidium und Bundesvorstand sowie der Bundesgeschäftsführung und allen Mitarbeitern auf Bundes- und Landesebene. Auf der jüngsten Präsidiumsklausur haben wir uns eingehend mit der organisatorischen und inhaltlichen Neuaufstellung des Wirtschaftsrates befasst und zugleich die Eckpunkte des Masterplans 2005 bis 2009 festgelegt. Auf der ersten Konferenz der Landesvorsitzenden sind hierzu wichtige Vorarbeiten geleistet worden. Bereits jetzt möchte ich Sie zur 2. bundesweiten Sektionssprecher-Konferenz im Herbst 2005 einladen. Mit den Konferenzen stellen wir die kontinuierliche und intensive Kommunikation mit dem Ehrenamt auf allen Ebenen sicher. III. Quartal 2005

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... Wirtschaftsrat dazu seine Schlüsselkampagne „Kompetenzzentrum Deutschland“. Wir möchten auch hier eine Vorreiterrolle übernehmen. Europa vertiefen statt erweitern Franzosen und Niederländer haben den Entwurf zu einer EU-Verfassung eindrucksvoll verworfen. Auch Großbritannien ging auf Distanz. Die Europäische Union wirkt ziellos und verwirrt. Sie steckt in einer fundamentalen Krise. Eine abgehobene Politik hat es versäumt, die Bürger auf den schwierigen Integrationsprozess mitzunehmen. Darin liegt die Chance, Weg und Ziel der europäischen Integration neu zu definieren. Das bedeutet, sich auf die Kernaufgaben zu besinnen. Eine maßlose Überregulierung durch Brüsseler Verwaltungsakten stößt die Menschen ab und entmündigt sie. Sie verstehen immer weniger, warum man den Krümmungsradius von Salatgurken, das Grundwasser oder den Neigungswinkel eines Traktorsitzes durch europäische Richtlinien umständlich definieren muss – und das in 20 Amtssprachen. Allein die Auflistung aller EU-Richtlinien umfasst beeindruckende 130.000 (!) Seiten. Dass die gescheiterte EU-Verfassung zehnmal so umfangreich ist wie die amerikanische ist Teil dieser Realsatire. Das erste Opfer der Eurokraten ist der drangsalierte Bürger, das zweite die Subsidiarität. Das ist jenes selbstgewählte, aber konstitutive Prinzip der EU, wonach stets die bodenständige regionale Lösung der zentralistischen vorzuziehen sei. Zudem sind die Brüsseler Ergüsse, die auf Europa niedergehen, demokratisch höchst zweifelhaft legitimiert. Eine EU-Erweiterung um Rumänien und Bulgarien, gar um die Türkei, ist alles andere als vorrangig. Interessant ist, dass 60 Prozent der Mitglieder unseres Wirtschaftsrates eine Vollmitgliedschaft Ankaras ablehnen und stattdessen die privilegierte Partnerschaft mit der Türkei wünschen (Quelle: Politpuls). Das Subsidiaritätsprinzip sollte endlich von den Festreden in die Realität wechseln. So wie der Paragraphendschungel bei uns gelichtet werden muss, so müssen die Eurokratie ihren Wildwuchs beherzt ausdünnen – nicht mit der Nagelschere, sondern mit der Axt. III. Quartal 2005

Ausbau der Kommunikationsoffensive Ein Kernbestandteil unserer Anstrengungen – den Mitgliederservice und die Wirkungsmächtigkeit zu erhöhen – ist der Ausbau der Kommunikationsoffensive. Die 2. Mitgliederbefragung WR-Politpuls belegt: 90 Prozent unserer Mitglieder beurteilen den Internet-Auftritt als wesentlich verbessert. 87 Prozent unserer Mitglieder empfinden die Schnellbriefe als willkommene Information. Die Vollendung eines liberalen Binnenmarktes geht allen zentralistischen Machtphantasien in Brüssel vor. Die EU braucht nicht mehr Geld, sondern mehr Demokratie und mehr Marktwirtschaft. Ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts genügen vollauf. Wir bedauern es, dass der Bundeskanzler diese Linie bereits verlassen hat. Vermutlich möchte er sich in seinen letzten Wochen noch als Krisenmanager in die Geschichtsbücher einschreiben – mit dem Scheckbuch, für das der deutsche Steuerzahler haftet. Wir glauben an dieses Europa. Der angeblich „alte“ Kontinent hat noch genug jugendliches Feuer. Worunter er leidet, ist die alte Politik. Die Europäische Union benötigt ein wirtschaftlich starkes Deutschland – und umgekehrt. Männer wie Adenauer, de Gaulle und De Gasperi stießen die epochale Idee der europäischen Einigung an. Für uns Nachgeborene ist sie ein kostbares Erbe. Eine führungslose und handlungsschwache Politik darf es nicht verschleudern. Mutige deutsche Reformerfolge machen nicht nur das eigene Land wieder stark, sondern auch die Europäische Union. Wir wünschen klare Konturen des Neuanfangs Wir stehen vor einer Richtungswahl. Der Wirtschaftsrat wünscht sich klare und unverwechselbare Konturen eines Neuanfangs. Er muss von Vertrauen und Verlässlichkeit begleitet sein. Das wird nicht einfach, denn niemand hält Politiker für Organe der Wahrheitsfindung, zumal nicht vor Wahlen.

Inzwischen konnten wir die E-MailErreichbarkeit unserer Mitglieder von 70 auf über 80 Prozent erhöhen. Damit sind wir besser vernetzt als alle anderen Verbände. Dieses Potenzial, das wir im letzten Jahr aufgebaut haben, wollen wir künftig verstärkt nutzen. Mehr denn je kommt es darauf an, dass wir die unternehmerischen Erfahrungen unser Mitglieder noch stärker bei der Entwicklung unserer Positionen einbinden. Die Ehrlichkeit gebietet es, die Bürger von einer Rundumversorgung zu entwöhnen und sie für die Runderneuerung unserer Wirtschaft zu gewinnen. Es ist kein Freibier auszuschenken, sondern nur reiner Wein. Reformen, die nichts kosten, sollten unverzüglich ins Werk gesetzt werden. Das gilt beispielsweise für den erstarrten Föderalismus, für die Entrümpelung des Arbeitsmarktes oder für die Bürokratie. Für kostspielige Reformen sollte man sich dagegen etwas Zeit nehmen. Sie müssen schließlich seriös und schuldenfrei finanziert sein. Den Poltergeist des Kapitalismus zu beschwören, hat sich schon einmal als Flop erwiesen. Von einer Wiederholung ist abzuraten, aber dieser Rat dürfte ausgeschlagen werden. Wer mit dem Denkschema Reich gegen Arm punkten möchte, sei daran erinnert, dass noch nirgendwo die Armen reich wurden, wenn die Reichen verarmten. Eine gute Politik sorgt vielmehr dafür, dass alle ihre Chance auf mehr Wohlstand bekommen. Schließlich ist ein Land ohne Reiche ein armes Land. Wende zur Sozialen Marktwirtschaft Im Schillerjahr ist es gewiss nicht verboten, den Dichtertitan zu zitieren: „Das Alte stürzt, es ändern sich die Zeit, und neues Leben blüht aus den Ruinen.“ Die Wende zu Freiheit und Eigenverantwortung, zu Wachstum und Beschäftigung – kurzum zur Sozialen Marktwirtschaft – sollte beherzt und zügig angegangen werden. Aber bitte nicht nach Art von Dosenpfand und Legehennenverordnung. Schon gar nicht nach Art der kabarettreifen Rechtschreibreform. 앬 trend 91


Deutschlands Zukunftsfähigkeit steht auf dem Spiel Das Vertrauen der Bürger in die Politik schwindet, das öffentliche System muss vollständig modernisiert werden Bericht des Generalsekretärs: Hans Jochen Henke sondern auch von den Standortbedingungen für unsere Organisation in den letzten 40 Jahren erheblich gewandelt und verändert hat. Wenn wir Berlin im Jahr 2005 betrachten, dann sehen wir nicht nur das Berlin von 1945 – in dem damals die Altvorderen die Union gründeten – sondern dass sich der Wirtschaftsrat in einem Umfeld bewegt, in dem rund 120 Firmenrepräsentanzen ansässig und fast 1.900 Verbände beim Deutschen Bundestag akkreditiert sind. 1.900 Verbände, mit denen wir Tag für Tag auf der Bühne der Hauptstadt konkurrieren.

E

s ist die erste Gelegenheit, Ihnen aus meiner Sicht einige Ausführungen machen zu können, in einer Zeit, die sicherlich besonders bedeutungsvoll ist. Gestern feierte die Union ihr 60-jähriges Gründungsjubiläum. 40 Jahre ist der Wirtschaftsrat alt. Vor 20 Jahren wurde mit dem Doppelrüstungsbeschluss für die Nato die Weiche für die Wiedervereinigung gestellt und vor zehn Jahren haben wir uns über den Maastricht-Vertrag unterhalten.

Gleichwohl ist die Situation in diesem Land trotz signifikanter Meilensteine sehr viel bescheidener als viele es gewärtigen. Wenn es vor 40 Jahren für unsere Vorväter gute Gründe gab den Wirtschaftsrat zu gründen, dann gilt dies heute umso mehr. 92 trend

Der Wirtschaftsrat hat in vierzig Jahren viel bewegt und jeder der heute hier steht, steht in Verantwortung dieser Tradition, zu der ich mich klar bekenne. „Weiter so“ funktioniert nicht mehr Jede Zeit hatte ihre Herausforderungen und die heutige ihre ganz spezifischen. Wir erkennen, dass ein „weiter so“ endgültig nicht mehr funktioniert. Welche Meilensteine der Wirtschaftsrat mit dem vorgelegten Masterplan in der nächsten Legislaturperiode von einer hoffentlich unionsgeführten Regierung erwartet, zeigt, dass unser Berufsverband mittendrin steht, wie er aufgestellt ist und wofür er steht. Inmitten einer Republik, die sich nicht nur von den Rahmenbedingungen,

Ordnungspolitisches Profil schärfen Wir müssen als Wirtschaftsrat der CDU, der sich dem freiheitlichen, sozialverpflichteten Unternehmertum im Sinne der Sozialen Marktwirtschaft verpflichtet weiß, dies jede Woche, jeden Monat, jeden Tag neu leben und vermitteln. Wir müssen uns im Grunde ständig neu erfinden. Neu erfinden, als dass ordnungspolitische Gewissen ganz eigener Art, neu erfinden als ein ordnungspolitisches Kompetenzzentrum in der Nähe der Union, zugleich aber unabhängig von der Union, so wie es in unserer Satzung steht. Ständig neu erfinden als eine Verknüpfung aus unternehmerischen, wirtschaftlichen und politischem Netzwerk und ständig neu erfinden als politische Einflussnehmer. Und wenn wir ganz besonders anspruchsvoll sein wollen, als politische Mitgestalter. Deshalb stehe ich als Generalsekretär vor Ihnen, um zu erklären und mich zu verpflichten, dass mein Hauptaugenmerk III. Quartal 2005

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... und nicht nur meines, denn wenn ich von mir rede, dann rede ich von der ganzen hauptamtlichen Mannschaft, darauf zu richten, dass wir noch stärker unser ordnungspolitisches Profil mit dem Ehrenamt mit den Verantwortungsträgern, den organschaftlichen Verantwortungsträgern, schärfen wollen. Junge Generation fördern Der Wirtschaftsrat muss aber auch nachhaltig darauf achten, seine Auftritte und damit verbunden seine medienpolitische Wahrnehmung, in Konkurrenz zu anderen Verbänden noch weiter zu verbessern. Wir müssen vor allen Dingen das Fundament, die Existenzsicherung unserer Organisation, dass sind Sie, das sind die Frauen und Männer in der Organisation draußen in den Landesverbänden und in der Breite in den Sektionen, nicht nur erhalten, sondern zukunftsfähig weiterentwickeln. Da gilt unser besonderes Augenmerk und sicherlich auch Ihres, der Förderung des Nachwuchses der jungen Generationen. Denn wie wollen wir die Zukunft meistern, in einer älter werdenden Gesellschaft mit ausgezehrten öffentlichen Finanzen, mit staatlichen Umlagesystemen die in ihrer Leistungsfähigkeit ständig schwächer werden. In einer alternden Gesellschaft mit voraussehbar nicht mehr beliebig vermehrbaren Wachstumsmargen und -raten, müssen wir alle Anstrengungen, alle möglichen Investitionen in die nächste Generation legen und diese nach Kräften fördern. Der Wirtschaftsrat hat hier eine ganz besonders hehre und vorrangige Aufgabe wahrzunehmen.

gerecht werden. Die Breite der Republik, das sind die 14 Landesverbände und mehr als 160 Sektionen. Diese als ein integriertes, modernes und zukunftsfähiges Lebewesen, als einen gemeinsamen Organismus zu begreifen, das ist eine ganz wichtige Aufgabe und Herausforderung. Vor diesem Hintergrund versuchen wir unser Geschäft zu betreiben, haben es meine Vorgänger mit allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in engem, vertrauensvollem Zusammenwirken mit dem Ehrenamt begriffen und gelebt. Wandel des Staates zu effizientem Dienstleister ist Muss Deutschland leidet unter dem Zustand seines öffentlichen Systems und

dem schwindenden Vertrauen in die politischen Akteure. Dies ist ablesbar am Niedergang der Umlagesysteme und der öffentlichen Finanzen. Wir haben es nicht geschafft, in guten Zeiten, Vorsorge zu treffen wie es jeder kompetente Unternehmer und jeder Familienvater für seine Angehörigen tut. Das öffentliche System hat dies nicht geschafft. Das ist im Grunde eine der fundamentalsten Verwerfungen und ich füge eine zweite hinzu, weil ich dieses System unserer Gesellschaft, sowohl im öffentlichen wie im privatwirtschaftlichen Bereich durchlebt und mitgetragen habe. Wenn es uns nicht gelingt die öffentlichen Apparate von den Kommunen – die dabei noch am besten abschneiden – bis auf die Bundesebene in

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Diese Aufgabe und Verantwortung geht noch weiter, denn nach Sinn und Zweck unserer Satzung und dem Auftrag des Wirtschaftsrates, ist er ja eine zukunftsorientierte optimistische Organisation. Wer sich selbstverantwortlich unternehmerisch wirtschaftlich bestätigt, ist von Haus aus Optimist. Unternehmer haben dem Grunde nach Vertrauen in die Zukunft. Und das ist, was uns am allermeisten fehlt in dieser Gesellschaft. Insofern sind wir im Wirtschaftsrat eigentlich die geborenen Initiatoren, die geborenen Motoren und die geborenen Treiber. Wir wollen in der Verknüpfung von Hauptund Ehrenamt – aber nicht nur auf der Bundesebene in Berlin – sondern in der Breite der Republik diesem Anspruch III. Quartal 2005

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formen und Herausforderungen mit allen notwendigen Bausteinen versorgt ist, die dann anschließend vor Ort aktiv gelebt, kommuniziert und vielleicht auch in der Wirkung des Umfeldes des Wirtschaftsrates verstärkt und intensiviert werden kann.

... einen leistungsgerechten und effizienten Dienstleistungssektor zu modernisieren, so dass mit knappsten Ressourcen in den Kernbereichen optimierte Wirkungsgrade erreicht werden, ist Deutschland nicht zukunftsfähig. Ich prophezeie Ihnen jedoch, dass vieles von dem was wir fordern und vieles von dem, das hoffentlich Eingang in ein Regierungsprogramm findet, hehre Worte bleiben werden. Denn zu Einsicht und Ehrlichkeit gehört ein sehr langer Atem. Neuauflage der Veranstaltung Leadership in Innovation Der Wirtschaftsrat ist ein Kompetenzzentrum eigener Prägung und wir wollen das ordnungspolitische Gewissen sein. Dafür haben wir die notwendige Ausstattung. Wir haben Ihnen den Wechsel im Ehrenamt an der Spitze unserer Bundesfachkommissionen im einzelnen dargelegt. Diese Bundesfachkommissionen sind die Herzkammern für die kompetente sach- und fachpolitische Aufstellung, in der Verknüpfung zwischen Haupt- und Ehrenamt, zwischen Wirtschaft, Politik und Wissenschaft. In diesem Bereich haben wir einiges geleistet und uns viel vorgenommen: Mit dem neuen Vorsitzenden der Kommission Wachstum und Innovation, Professor Edward Krubasik aus dem Hause Siemens, haben wir besprochen, dass im Herbst das Bundessymposion – wie vom Präsidium ins Auge gefasst – in Fortsetzung dessen, was der Wirtschaftsrat bereits im Jahr 2003 unter der Überschrift 94 trend

„Leadership in Innovation“ initiiert hat, neu und zukunftsorientiert aufgestellt wird. Die Förderung von Innovation ist eine zentrale Herausforderung für die Genesung Deutschlands. Mit dem neuen Vorsitzenden der Kommission Energiepolitik, Kurt Döhmel, wollen wir uns – ebenfalls im Herbst – der Frage „Energieund Umweltpolitik – vom nationalen Kostentreiber zum weltweiten Innovationsmotor?“ zuwenden. Außerdem wird sich der Wirtschaftsrat den Reformen und ihren Zielsetzungen um Kranken- und Pflegeversicherung mit eigens dafür einberufenen Arbeitsgruppen widmen. Bundesgeschäftsstelle liefert Bausteine zu zentralen Themen Grundlage dieser Themen wird der Masterplan 2005 bis 2009 mit seinen zentralen Zielsetzungen sein. Wenn aus meiner Sicht der Wirtschaftsrat als Gesamtorganisation nachhaltigen Verbesserungsbedarf in der Breite und Tiefe der bundesweiten Organisation hat, dann in der schärferen Profilierung und Konturierung. Deshalb wollen und werden wir, von Berlin aus, in Abstimmung mit den Landesvorsitzenden, in Abstimmung mit den obersten Organen – auch mit den Sektionssprechern – alles tun, um die so genannte Aktions- und Kampagnefähigkeit des Wirtschaftsrates zu stärken. Das heißt, wir wollen im Grunde jede Sektion von Berlin aus so auszustatten, dass sie zu den wichtigsten Themen, Re-

Interne Wettbewerbssituation in der Mitgliederwerbung Mit diesen Kampagnen hängt das Vertriebs- und Marketingsystem des Wirtschaftsrates untrennbar zusammen. Sie haben sicherlich noch in Erinnerung, dass dieses Thema in den letzten Jahren ein zentrales war. Im Moment ist es dies mit Sicherheit nicht, denn nach meinem Dafürhalten sind wir im Jahr 2005 sehr zukunftsorientiert aufgestellt. Das heißt, wir fahren in der Mitgliederwerbung mehrgleisig: In zehn Landesverbänden bedient sich der Wirtschaftsrat der bisherigen Vertriebsform, der WR-Marketing GmbH. Darüber hinaus praktizieren wir seit dem 1. Januar in vier Landesverbänden den so genannten Eigenvertrieb. Das heißt, wir akquirieren in Eigenverantwortung und Eigenregie neue Mitglieder und setzen auch in diesem Bereich auf ihr ehrenamtliches Engagement. So haben wir eine interne Wettbewerbssituation geschaffen: Die Bundesgeschäftsführung wird sich sehr genau anschauen, wie sich diese beiden Systeme in den nächsten ein- bis anderthalb Jahren entwickeln, um dann, gemeinsam mit Ihnen, weitergehende Meinungsbildung und Entscheidungsgrundlagen zu gegenwärtigen. Insgesamt braucht es uns um den Wirtschaftsrat nicht bange zu sein. Wir können es schaffen als unternehmergeprägte Organisation unverwechselbar im überschaubaren Maßstab, das zu leben und zu vermitteln, was wir als Anspruch an die Gesellschaft insgesamt richten. Von den hauptamtlichen Mitarbeitern unserer Organisation dürfen Sie entgegennehmen, das wir uns als Dienstleister in einem Unternehmen für Unternehmer begreifen. Wenn es uns gelingt, die Mitgliederzahlen nicht nur stabil, sondern hoffentlich auf Wachstumskurs zu halten und so für die notwendige, finanzielle Stabilität mit ihren Spielräumen sorgen, dann ist der Wirtschaftsrat bestens aufgestellt. 앬 III. Quartal 2005


Asien macht Tempo – Wo bleibt Europa?

Podium I In das Thema „Asien macht Tempo – Wo bleibt Europa“ führten ein: Prof. Dr. Edward Krubasik, Präsident des ZVEI, Zentralverband Elektrotechnikund Elektroindustrie e.V., Mitglied des Zentralvorstandes Siemens AG sowie Washington SyCip, Gründer der SGVGruppe, Manila. Unter der Moderation von Henning Krumrey, Leiter Parlamentsredaktion Focus, Berlin diskutierten: Dr. Michael Fuchs, Ehrenpräsident Bundesverband des Deutschen Groß- und Außenhandels e.V.; Dr. Werner Langen MdEP, Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU/CSU-Gruppe im Europäischen Parlament; Prof. Dr.-Ing. Eckhard Rohkamm, Vorsitzender des Präsidiums Ostasiatischer Verein e.V., Mitglied des Vorstandes ThyssenKrupp a.D.; Dr. Joachim Schneider, Mitglied des Vorstandes ABB AG. III. Quartal 2005

Dr. Michael Fuchs Ehrenpräsident Bundesverband des Deutschen Groß- und Außenhandels e.V. Michael Fuchs verwies auf den Wachstumsunterschied zwischen der Eurozone und Asien. Während das Wachstum im Euroraum im Jahr 2004 nur 1,8 Prozent betragen habe, sei der asiatische Kontinent – ohne Japan – mit 7,8 Prozent gewachsen. Fuchs zog eine positive Bilanz der EU-Erweiterung sowohl für die 15 alten EU-Länder als auch für die zehn neuen Mitglieder. „Sie nützte vor allem der Eurozone, weil der Export in die neuen EU-Staaten bedeutend angestiegen ist während der Import aus den Beitrittsländern zurückgegangen ist“, betonte Fuchs. Der Ehrenpräsident des BGA verwies darauf, dass die neuen Mitgliedsländer kleine, offene Volkswirtschaften seien, weshalb das schwache Wachstum der Eurozone die Beitrittsländer stark belaste. Fuchs benannte als wichtigste Probleme der EU den Vertrauensverlust der Bürger

in die Politik, die rasche Erweiterung und die fortwährende Verletzung des Europäischen Stabilitätspakts. „Der Eurozone mangelt es an Anpassungsfähigkeit gegen externe Schocks“, sagte Fuchs. Ferner ver-

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Prof. Dr. Edward Krubasik Präsident des ZVEI, Zentralverband Elektrotechnik- und Elektroindustrie e.V., Mitglied des Zentralvorstandes Siemens AG

Edward Krubasik erklärte, dass es falsch sei, wegen der Verzögerungen in der Umsetzung der Lissabon-Strategie das Ziel aufzugeben, Europa zur weltweit dynamischsten und wettbewerbsfähigsten Wirtschaft zu machen. „Dies gestattet uns der globale Wettbewerb nicht“, mahnte der ZVEI-Präsident. „Die beiden anderen großen Wirtschaftsregionen Asien und Amerika verfolgen dieses Ziel ohne zu zögern.“ Europa müsse sich dem Wettbewerb stellen und die Lissabon-Agenda konsequenter umsetzen. Auch internationale Unternehmen setzten auf den weltweit größten homogenen Markt mit 450 Millionen Verbrauchern. „Wir sollten diese Wirtschaftskraft nutzen“, forderte Krubasik. Die Währungsunion sei ein Erfolg, der die Integration des Marktes verstärke. „Deutschland und Europa gewinnen aus der Mobilisierung dieses Marktes.“ Angesichts der globalen Herausforderungen für Deutschland und Europa sei der Handlungsbedarf indes auch unübersehbar: Es gebe klare Signale, dass sich die Fertigungsindustrie in Europa an das starke Wachstum in Asien, in den USA und in Osteuropa und an das langsamere Wachstum im übrigen Europa anpasse. Dies habe auch entsprechende Auswirkungen auf die Beschäfti96 trend

gung, die sich in die Wachstumsregionen verschiebe. Diese Veränderungen seien in der vergangenen Dekade allerdings auch durch den Umstand beschleunigt worden, dass die Länder, die sich erst vor 15 Jahren der Marktwirtschaft geöffnet hätten, wegen ihres großen Entwicklungsbedarfs enorme Investitionen anzögen. „Eine erfolgreiche Teilnahme an diesen Wachstumsmärkten ist auch für deutsche Unternehmen und Arbeitsplätze wichtig“, betonte Krubasik. Weil Wachstumsländer wie China, Russland und die Staaten Osteuropas ihre Infrastrukturen und Industrien aufbauen müssten, ergäben sich auch große Chancen für die deutsche Industrie, unterstrich der ZVEIPräsident. „Das sind Chancen, die unsere Industrie nutzen muss.“ Die Folgen der Globalisierung lägen auf der Hand: „Wertschöpfung wandert zum Wachstum. Dass andere Länder und Regionen sich schneller und besser entwickeln, sollte uns nur anspornen, in Deutschland und Europa die Attraktivität von Investitionen zu steigern.“ Krubasik forderte, dass sich europäische Politiker und Unternehmen den Herausforderungen stellen müssten, „um abwandernde Wertschöpfung zu erneuern“. Deutsche und europäische Unternehmen haben sich nach den Worten des ZVEI-Präsidenten auch in der Vergangenheit immer am Aufbau wachsender Weltregionen beteiligt und reife Technologien durch die Verlagerung in LowCost-Länder wettbewerbsfähig gehalten. „Wir haben die verlorene Wertschöpfung aber regelmäßig ersetzen können, in dem wir neues Wachstum schufen durch Einsatz neuer Technologien“, erinnerte Krubasik. Neues Wachstum und Wohlstand könnten nur durch Innovationen generiert werden. Das Motto Deutschlands in einem schärfer werdenden Wettbewerb müsse darum sein, Leitmärkte für neue Technologien zu schaffen. Denn Export von Produkten und Dienstleistungen werde nur möglich sein, wenn diese ihren Leitmarkt in Deutschland hätten. „Wir werden weder vom Export reifer Produkte leben können noch vom Export von Technologien, die im Wesentlichen

im Ausland angewandt werden können“, stellte Krubasik klar. Der erste Bau einer Magnetschwebebahn in China sei ein Beispiel: Dies könne als beachtlicher Erfolg der Deutschen betrachtet werden, indes würden Arbeitsplätze, Forschung und Entwicklung nach China verlagert. Krubasik betonte, dass in Europa eine signifikante Steigerung der Produktivität und gleichzeitige Senkung der Arbeitskosten notwendig seien. Dies werde dennoch nur zu einem Teil die internationale Wettbewerbsfähigkeit wiederherstellen können. Zugleich müssten innovative Talente und risikofreudige Unternehmer abgezogen werden. Nach Auffassung des ZVEI-Präsidenten besteht der schnellste und kostengünstigste Weg zu mehr Wachstum darin, attraktive Bedingungen für Investitionen zu schaffen. „Wir brauchen ein einfacheres und besseres regulatorisches Umfeld für unsere Industrie“, forderte Krubasik mit Blick auf die EU und den nationalen Gesetzgeber. „Mehr Markt, weniger Staat, weniger Ideologie und DetailDirektiven, klare Priorität für Unternehmertum und Marktmechanismen.“ Eine weitere, bislang nicht ausgeschöpfte Wachstumsquelle liege in der Modernisierung der europäischen Infrastrukturen. Die Anwendung neuer Technologien könne gerade hier in Europa wieder neue Leitmärkte schaffen. Viele solcher Infrastrukturprojekte würden die ganze Wertschöpfungskette mobilisieren – vom kleinen Zulieferer bis zum Generalunternehmer. Ferner müssten die öffentlichen Aufgaben überdacht werden. Weniger Konsum, mehr Investitionen, sei ein Stichwort. Für die Modernisierung der Infrastruktur seien private Investoren zu mobilisieren, attraktive Investitionsbedingungen für Public-Private-Partnership-Modelle seien erfolgsentscheidend. Der Staat bleibe als innovativer Regulierer gefragt. Auf mittlere Sicht geht es nach den Worten Krubasiks vor allem darum, durch eine möglichst enge Kooperation von Wissenschaft und Industrie schneller anwendungsnahe Technologiemärkte entwickeln zu können. III. Quartal 2005


Washington SyCip Gründer der SGV-Gruppe, Manila gewachsen seien und Wirtschaftsleistungen vergleichbar der der europäischen Kernländer erreicht hätten. „In ihrer Befreiung aus der Armut hatten diese vier Staaten keine westliche Demokratie in dem Sinne, dass jeder Bürger die Freiheit zu wählen hat und dass unabhängige Medien existieren“, sagte SyCip. „Sie folgten dem asiatischen Modell mit einer ziemlich autoritären politischen Führung bei gleichzeitiger wirtschaftlicher Freiheit und sehr großer Disziplin.“

Washington SyCip machte deutlich, dass Europa trotz der bemerkenswerten Fortschritte der asiatischen Volkswirtschaften gemessen am Bruttosozialprodukt pro Kopf und gemessen am Bruttosozialprodukt pro Beschäftigten ökonomisch nach wie vor weit vor den asiatischen Volkswirtschaften liege. „Es gibt natürlich Ausnahmen wie Japan, die schon vor dem Zweiten Weltkrieg wirtschaftlich selbst stärker waren als die Vereinigten Staaten von Amerika – dennoch ist Japan in der vergangenen Dekade sogar noch langsamer gewachsen als Europa.“ SyCip betonte, dass die abschlägigen EU-Verfassungsvoten der französischen und niederländischen Bevölkerung seiner Auffassung nach allenfalls ein temporärer Rückschlag für die Europäische Integration seien. „Die gemeinsame Währung und die Beseitigung der Handelsbeschränkungen veranlassen die jungen Generationen, sich als Europäer zu fühlen.“ Die Beseitigung der religiösen Grenzen hingegen könnte länger dauern, sagte SyCip. Der Gründer der SGV-Gruppe erinnerte daran, dass kleine politische Einheiten wie Singapur, Hong Kong, Taiwan und Süd Korea in den vergangenen 20 Jahren wirtschaftlich sehr schnell III. Quartal 2005

Dies habe die Regierungen dieser Länder dazu befähigt, sehr langfristige Strategien zur Entwicklung der Infrastruktur, Armutsbekämpfung und Bildungsreformen umzusetzen. „Nach Erreichen der Ziele in diesen Bereichen kam eine nachhaltige demokratische Staatsform schrittweise und ganz natürlich“, so SyCip. SyCip betonte, dass der frühere chinesische Staatschef Mao Tse-Tung zwar das Riesenreich der Mitte politisch erfolgreich geeinigt habe. Die Wirtschaftspolitik Maos habe jedoch nicht bewirken können, den Lebensstandard der Chinesen zu heben. „China begann seinen ökonomischen Aufstieg mit Deng Xiao Ping, der den Menschen ökonomische Freiheiten gab und das Motto ,Geldverdienen ist großartig’ in China einführte.“ Die Chinesen seien durch die ökonomischen Reformen ermuntert worden, härter zu arbeiten, weil sie Unternehmer sein durften und die Früchte ihrer Anstrengungen behalten durften, betonte SyCip. Der Gründer der SGV-Gruppe sagte, dass Westeuropa und die USA besorgt seien über das schnelle Wachstum des Riesenreiches mit 1,3 Milliarden Menschen. Dabei habe sich auch Indien mit seiner westlich geprägten Demokratie aufgemacht, hohe Wachstumsraten zu erreichen. Dies werde auf dem asiatischen Subkontinent auch erreicht, weil die Regierung bürokratische Regulierungen abgebaut habe

und der Staat weniger stark in den Privatsektor eingreife. SyCip verwies allerdings darauf, dass Indien nach seiner Auffassung im Gegensatz zu China nach wie vor unter einer schwachen Infrastruktur, einer geringeren Bildungs- und Alphabetisierungsrate sowie unter einer hohen Armutsrate leide. „Während die hochentwickelten Industriestaaten des Westens bislang in China und Indien vor allem Märkte für den Absatz ihrer hochwertigen Industrie- und Markenprodukte sahen, haben sie jetzt Angst, dass gut ausgebildete Asiaten die gleichen Arbeiten verrichten können wie gut ausgebildete Arbeiter und Entwickler aus dem Westen – zu weit geringeren Kosten.“ Die meisten Asiaten seien, anders als die Europäer, nicht durch exorbitant hohe Zahlungen ihrer Wohlfahrtsstaaten korrumpiert worden. „Verglichen mit dem europäischen Durchschnitt müssen Asiaten weitaus länger arbeiten und außerdem ist den meisten ihr Job weitaus wichtiger.“ SyCip machte deutlich, dass Europäer und Amerikaner nicht in einer aktiven Politik zur Verlangsamung des asiatischen Wachstums die Antwort auf den Aufstieg Asiens suchen sollten. Nach Auffassung des SGV-Gründers werden die Asiaten mit weiter steigendem Einkommen auch einen ähnlichen Luxus einfordern, wie ihn Europäer und Amerikaner längst hätten. „Die asiatischen Regierungen werden dem Beispiel Singapurs und Hong Kongs folgen müssen – sie müssen bessere Wohnungen, eine bessere Verkehrsinfrastruktur und sogar Sozialleistungen anbieten.“ SyCip zeigte sich überzeugt, dass die asiatischen Wachstumsraten künftig nicht mehr so hoch ausfallen werden wie heute. „Wenn Europa Bürokratie abbaut, die Mobilität seiner Arbeitskräfte steigt und die Effizienz seiner Serviceindustrie steigt, wird die Lücke zwischen den asiatischen und europäischen Wachstumsraten wieder sinken“, prophezeite SyCip. trend 97


sagte Langen. Voraussetzung sei allerdings, dass es keine einheitliche europäische Sozialpolitik, sondern einen Wettbewerb der Systeme und Staaten auch in Zukunft innerhalb der Europäischen Union geben müsse. „Europa braucht ein klares ordnungspolitisches Leitbild – die Diskussionen um den Verfassungsvertrag und Forderungen nach einem ,sozialen Europa’ gehen in die falsche Richtung.“ Prof. Dr.-Ing. Eckhard Rohkamm Vorsitzender des Präsidiums Ostasiatischer Verein e.V., Mitglied des Vorstandes ThyssenKrupp a.D.

... wies der BGA-Ehrenpräsident auf die hohen Ölpreise und die starke Aufwertung des Euro sowie die Wachstumsdelle im Welthandel. „Hinter den Ereignissen verbergen sich strukturelle Probleme der EU-Volkswirtschaften.“ Allerdings machte Fuchs deutlich, dass auch Asien keine Region ohne Probleme sei. „Die Wirtschaft der Region ist weiterhin stark von Fremdkapital abhängig. Korruption und Armut sind große politische und gesellschaftliche Probleme. Und im Außenhandel sind protektionistische Tendenzen zu beobachten.“ Dr. Werner Langen MdEP Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU/CSU-Gruppe im Europäischen Parlament

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„Die europäische Antwort auf den sich verschärfenden internationalen Wettbewerb und die imposanten Wachstumsraten der asiatischen Tigerstaaten und Schwellenländer ist der weitere Ausbau des europäischen Binnenmarktes, die Lissabon-Strategie und die Osterweiterung“, sagte Werner Langen. Allerdings sei der Versuch, mit dem Europäischen Verfassungsvertrag eine kontinuierliche Fortentwicklung der Europäischen Verträge zu ermöglichen, nach den abschlägigen Referenden in Frankreich und in den Niederlanden vorläufig zum Stopp gekommen. „Entscheidend für die negativen Referenden waren die Diskussionen über die Grenzen der Europäischen Union in geographischer, politischer und wirtschaftlicher Hinsicht“, sagte Langen. Europa stehe heute am Scheideweg zwischen Wettbewerb und Abschottung, merkte der Parlamentarische Geschäftsführer der CDU/CSU-Gruppe im Europäischen Parlament an. Europa könne mit den Billiglöhnen und den niedrigen Sozial- und Umweltstandards in Asien zwar nicht konkurrieren. „Aber es festigt sich der Eindruck, dass Kerneuropa zu satt für den internationalen Wettbewerb geworden ist und stattdessen auf subtile Formen der Abschottung setzt und damit auf die Vorteile der globalen Arbeitsteilung verzichtet“, sagte Langen. Der Europapolitiker betonte, dass die Soziale Marktwirtschaft Erhardscher Prägung seit langem das wirtschaftspolitische Leitbild der EU sei. „Dieses Modell ist auch für den Wettbewerb mit Asien nach wie vor geeignet“,

„Die Beobachtung, dass die Wachstumsdynamik in Asien deutlich höher ist als in Europa, ist richtig“, sagte Eckhard Rohkamm. „Dennoch muss man sie in ihrer Tragweite relativieren: Die asiatischen Schwellenländer haben im Vergleich zu den europäischen Industriestaa-

ten eine andere Ausgangsposition.“ Das niedrige Wohlstandsniveau in Asien ermögliche die beeindruckenden Wachstumsraten von bis zu zehn Prozent. Zur gleichen Zeit benötigten die asiatischen Volkswirtschaften ein Wachstum dieser Größenordnung zur Armutsbekämpfung und zur Integration der rasch wachsenden Bevölkerung in den Arbeitsmarkt“, sagte Rohkamm. „Die beiden hoch entwickelten Volkswirtschaften der Region, Japan und Korea, sehen sich dagegen zum Teil ähnlichen strukturellen Problemen gegenüber wie die europäischen Länder und verzeichnen ein wesentlich geringeres Wirtschaftswachstum.“ Rohkamm betonIII. Quartal 2005

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... te, dass das Charakteristikum und der wirtschaftliche Motor der asiatischen Länder das Streben nach individuellem Wohlstand sei – und damit eine Leistungsbereitschaft, wie sie in Deutschland nur aus der Nachkriegszeit bekannt sei. Noch dominanter und für die Zukunft wichtiger sind nach den Worten Rohkamms der Wunsch der Menschen nach einer Besserstellung der eigenen Kinder. „Entsprechend groß ist die Bereitschaft, in deren Ausbildung zu investieren.“ Schon heute lebe in Indien und China ein Drittel der Weltbevölkerung. Nach den Worten Rohkamms werde die Bedeutung Asiens darum nicht nur als Produktionsstandort wachsen, sondern bei steigendem Wohlstand zumindest von Teilen der Bevölkerung auch als Absatzmarkt. „Dies muss Europa erkennen und darauf hinarbeiten, zum einen an der Entwicklung der Märkte zu partizipieren und zum anderen die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Märkte zu erhalten“, sagte Rohkamm. Dr. Joachim Schneider Mitglied des Vorstandes ABB AG „Deutschland und Europa können als Wirtschaftsstandorte nicht billiger sein als Asien, aber besser“, sagte ABB-Vorstand Joachim Schneider. Als Schlüsselbegriffe für eine solche Strategie nannte Schneider mehr Privatisierung und den Ausbau so genannter Public-Private-PartnershipModelle. Notwendig seien zudem weniger Genehmigungsverfahren, niedrigere Steuersätze, ein besserer Zugang zu Venture

Capital, eine Vereinfachung des Arbeitsrechts und eine Differenzierung im Tarifrecht. „Fortschritt in Europa lässt sich nur aufrechterhalten durch neue Technologien, Innovationen und Verbesserungen“, sagte Schneider. Dabei komme der Stärkung von Forschung und Entwicklung eine hervorragende Bedeutung zu, betonte der ABB-Manager. Künftig sollten gezielt Projekte statt Institutionen gefördert werden und statt alter Wirtschaftszweige sollten neue Technologien staatlich gefördert werden. Zudem müsse die HightechInfrastruktur ausgebaut werden und Exzellenz in der Bildung geschaffen werden. „Im Wettbewerb mit Asien muss sich Europa als ein Standort begreifen“, for-

derte Schneider. „Wir brauchen dafür einen europäischen Konzentrationsprozess.“ Innovations- und Investitionsschutz müssten durch europaweit einheitliche, einfache Patente und Urheberrechtsregeln verbessert werden. Die Liberalisierung der Strommärkte müsse weiter vorangetrieben werden. Ferner erforderlich sei ein europäischer Binnenmarkt für Finanzdienstleistungen und eine europäische Konsolidierung im Industriesektor, um im internationalen Wettbewerb Skaleneffekte besser nutzen zu können. „Die Verteuerung von Rohstoffen durch den hohen Bedarf in Asien erfordert Flexibilität von den Unternehmen“, betonte Schneider. „Aufgrund von Skaleneffekten liegen hier Chancen für internationale Unternehmen, sich zu behaupten.“ III. Quartal 2005

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Kompetenzzentrum Deutschland – Neue Chancen für Industrie und Export

Podium II In das Thema „Kompetenzzentrum Deutschland – Neue Chancen für Industrie und Export“ führten ein: Dr. Werner Marnette, Vorstandsvorsitzender Norddeutsche Affinerie AG sowie Prof. Dr. Eicke R. Weber, University of California, Berkeley, Präsident German Scholars Organization. Unter der Moderation von Carl Graf Hohenthal, stellv. Chefredakteur Die Welt diskutierten: Hermann-Josef Lamberti, Mitglied des Vorstandes Deutsche Bank AG; Dr. Alfred Oberholz, Mitglied des Vorstandes Degussa AG; Prof. Dr. Norbert Winkeljohann, Mitglied des Vorstandes PricewaterhouseCoopers. 100 trend

Hermann-Josef Lamberti Mitglied des Vorstandes Deutsche Bank AG Hermann-Josef Lamberti hob hervor, dass ein Kompetenzzentrum nicht allein Exzellenz in Forschung und Entwicklung voraussetze, sondern auch eine zeitnahe Umsetzung von Forschungsergebnissen in neue Produkte und Dienstleistungen. „Um Deutschland dauerhaft als Kompetenzzentrum zu positionieren und neue Kompetenzen für die Industrien der Zukunft und den Export aufzubauen, sollte die technologische Spezialisierung Deutschlands als Wettbewerbsvorteil genutzt werden und mehr Dienstleistungen im Bereich Forschung und Entwicklung angeboten werden“, schlug der Vorstand der Deutschen Bank vor. Vor-

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Dr. Werner Marnette Vorstandsvorsitzender Norddeutsche Affinerie AG

Werner Marnette verwies darauf, dass die deutsche Industrie jede Chance und Möglichkeit des Exports nutze. Vom Boom der Weltwirtschaft habe die deutsche Volkswirtschaft als Exportweltmeister profitiert wie keine andere. „Unsere Produkte und Dienstleistungen sind in aller Welt gefragt – auf diese Leistung können die Unternehmen und ihre Beschäftigten stolz sein“, sagte Marnette. Auch im laufenden Jahr sei mit einem robusten Exportwachstum von rund fünf Prozent zu rechnen. Jedoch seien die Exporte inzwischen der einzige Garant für wirtschaftliches Wachstum in Deutschland. „Die Binnenkonjunktur tritt auf der Stelle, von ihr sind keine Impulse zu erwarten. Die Unternehmen halten sich aufgrund einer bislang nie da gewesenen Verunsicherung am Standort Deutschland mit ihren Investitionen zurück“, kritisierte der Vorstandsvorsitzende der Norddeutsche Affinerie AG. Ganz vorn stehe die Verunsicherung durch die Politik. „Die Bundesregierung und alle politisch Verantwortlichen müssen endlich wieder Vertrauen schaffen, damit die Unternehmen langfristig planen und investieren können“, forderte Marnette. Es sei Gift für jede Investitionsplanung, wenn eine Regierung jede Woche mit einer neuen Ankündigung zu Steuern und Abgaben oder Verordnungen Unternehmen und Bürger überrasche. Auch die Verbraucher hätten kaum noch Vertrauen. „Noch III. Quartal 2005

viel weniger haben sie Geld“, konstatierte Marnette. Denn seit Jahren stagnierten die Nettolöhne, weil Steuern und Abgaben weiter stiegen. „Wir haben kein Lohnproblem, sondern ein Abgabenproblem. Höhere Lohnabschlüsse helfen da nicht weiter“, sagte Marnette. Der Titel Exportweltmeister sage zwar viel aus über die Nachfrage nach und die Qualität von deutschen Produkten – jedoch sage er nichts aus über die Qualität des Standorts. „Wir müssen genauer hinsehen: In unseren Exporten steckt ein immer bedeutenderer Anteil ausländischer Wertschöpfung. Produkte ,Made in Germany’ sind zu einem immer größeren Teil ,Made in Eastern Europe’ oder ,Made in Asia’.“ In der Industrie sei die Entwicklung hin zu einer „Basarökonomie“ besonders deutlich abzulesen, erläuterte Marnette. Zwischen 1995 und 2003 sei die Industrieproduktion in Deutschland um 18 Prozent gestiegen. Zu diesem Zuwachs indes habe die deutsche Industrie nur zu rund einem Zehntel durch eigene Wertschöpfung beigetragen. 40 Prozent hingegen seien aus dem Bereich der industrienahen Dienstleister gekommen und rund die Hälfte der zusätzlichen Wertleistung als Vorleistung aus dem Ausland. „Das Ausland produziert also fleißig mit.“ Aus dieser Beobachtung könne man nur eine Lehre ziehen, betonte der Vorstandsvorsitzender der Norddeutsche Affinerie AG: „Industrie und Dienstleistungen gehören zusammen. Gerade die enge Verknüpfung beim Export zeigt, dass wir nicht auf dem Weg in die so genannte Dienstleistungsgesellschaft sind – die Industrie ist und bleibt der Motor, der über den Export die Dienstleistungen in Schwung bringt.“ Die Verdrängung inländischer Produktion wird sich nach den Worten Marnettes in den kommenden Jahren noch massiver und schmerzlicher fortsetzen als die Politik sich das bislang vorstelle. Jeden Tag gingen 600 Arbeitsplätze in der Produktion verloren. Von den rund acht Millionen Industriearbeitsplätzen in Deutschland würden nach Schätzung der Boston Consulting Group bis 2010 fast zwei Millionen wegfallen. „Hierauf muss die Politik gemeinsam mit der deutschen Industrie eine Antwort finden“, forderte Marnette. Der globale Wettbewerb, die Kostenstruktur der Unternehmen und die Verlagerungsfähigkeit

der Arbeitsplätze bestimmten, wie stark einzelne Industriezweige unter Abwanderungsdruck gerieten. „Die deutschen Unternehmen stellen sich diesen Herausforderungen der Globalisierung und optimieren ihre Kostenstrukturen. Somit sichern sie auch am Standort Deutschland wettbewerbsfähige Arbeitsplätze.“ Marnette forderte die Bundesregierung und die EU-Kommission auf, für faire Wettbewerbsbedingungen im globalen Wettbewerb zu sorgen. Politiker müssten ernsthaft in die Pflicht genommen werden, um im Rahmen der WTO-Gespräche jede Form von Handelshemmnissen und Wettbewerbsverzerrungen abzubauen. „Wir wollen Wettbewerb, dazu steht die deutsche Industrie“, sagte Marnette. Der Vorstandsvorsitzende der Norddeutsche Affinerie AG forderte die Bundesregierung ferner auf, für einen Patentschutz gegen chinesische und andere asiatische Nachahmer zu sorgen. „Das ist sicher unbequem. Aber wenn die Bundesregierung sich nicht dafür einsetzt, werden wir in Asien nicht mehr ernst genommen.“ Marnette unterstrich, dass die Bundesrepublik nicht mit den Arbeitskosten Osteuropas und Chinas konkurrieren könne. „Mit unserem industriellen Wissen und unserer industriellen Kompetenz aber können wir es sehr wohl.“ Spezialisierungsvorteile, neue Produkte und Verfahren müssten gestärkt und ausgebaut werden. Innovationen seien der Motor für Wachstum und Beschäftigung. „Dafür brauchen wir mehr Investitionen in Forschung und Entwicklung“, forderte Marnette. Allerdings sei Geld in dieser Hinsicht nicht alles. Deutschland brauche einen Mentalitätswechsel: „Risikobewusstsein ist wichtig, aber überzogene Technikfeindlichkeit und Skepsis bringen uns nicht weiter.“ Die Standortpolitik der vergangenen Jahre sei in dieser Hinsicht viel zu defensiv ausgerichtet gewesen, weil sie zu stark an den Standortschwächen Arbeitsmarkt und Sozialpolitik ausgerichtet gewesen sei. „So wichtig diese Bereiche sind: Der Forschungs-, Technologie- und Bildungspolitik muss künftig ein viel, viel höherer Stellenwert als bisher eingeräumt werden.“ Ludwig Erhard sei in Vergessenheit geraten, kritisierte Marnette. „Fassen wir Mut, damit Deutschland nicht länger der kranke Mann Europas bleibt.“ trend 101


Prof. Dr. Eicke R. Weber University of California, Berkeley, Präsident German Scholars Organization

Professor Eicke Weber erinnerte an die historische Situation Deutschlands zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts. „Deutschland war überall bestens platziert: Wir hatten die besten Wissenschaftler, risikobereite Unternehmer, hart arbeitende Arbeiter und Angestellte und eine gesunde Aufteilung der Produktion in einheimischen Konsum und Export.“ Zwei von den Deutschen im Wesentlichen verschuldete Weltkriege und die Gräuel des Holocausts hätten – auch durch die Vertreibung und Vernichtung jüdischer Mitbürger – der weltweit beneideten Ausnahmestellung ein Ende bereitet. Aber selbst nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges hätten die beiden Teile Deutschlands in Ost und West eine ausgezeichnete Stellung in ihrem jeweiligen Lager wiedererlangen können. Das wirtschaftliche Wachstum habe es dann erlaubt, einen wohl abgesicherten Wohlfahrtsstaat auszubauen. Ein innovatives Unternehmertum habe dazu geführt, dass Deutschland eine weltweite Spitzenstellung etwa im Maschinenbau erreicht habe. „Heute sieht sich Deutschland einem zunehmend härteren globalen Wettbewerb ausgesetzt, dem es mit den zusätzlichen Lasten der deutschen Einheit zu begegnen hat“, sagte Weber. Beim Wettbe102 trend

werb um die besten Köpfe finde er es erstaunlich, dass die Bundesrepublik in den vergangenen Jahren erhebliche Mittel zum Beispiel mit Stipendienprogrammen dafür aufgewendet habe, junge Nachwuchswissenschaftler auszusenden. Das sei für sich genommen zwar sehr begrüßenswert – jedoch sei nicht einzusehen, warum nichts dafür getan worden sei, den Kontakt mit diesen Eliten im Ausland aufrecht zu erhalten. Ebenso unverständlich sei, dass ausländischen Studenten und Wissenschaftlern keine dauerhafte Perspektive für einen Aufenthalt in Deutschland gegeben werde. „Ein erster Ansatz in die richtige Richtung wurde leider in der letzten Legislaturperiode nicht realisiert – die USA dagegen waren in den vergangenen 200 Jahren das attraktivste Einwanderungsland für Eliten aus aller Welt, was sicher zu ihrer jetzigen Spitzenstellung ganz wesentlich beitrug.“ Die veränderte Behandlung von Ausländern nach den Terroranschlägen am 11. September 2001 habe zwar in dieser Hinsicht eine unerwartete Chance für andere Länder eröffnet. Die Bundesrepublik aber habe nicht die Chance wahrgenommen, das Einwanderungsrecht zu ändern. Andere Länder wie Kanada hingegen hätten sich die für die USA kontraproduktive Entwicklung zunutze gemacht. „Um Deutschland für ausländische Eliten attraktiv zu machen, ist schließlich auch eine Bewusstseinsveränderung in der Politik, in den Medien und in der Bevölkerung im Hinblick auf Ausländer erforderlich“, betonte Weber. „Man kann nicht erwarten, dass sich ausländische Spitzenwissenschaftler in einem Land wohl fühlen, das im Ausland durch Ausländerfeindlichkeit von sich Reden macht.“ Weber betonte, dass aus seiner Sicht insbesondere die Zusammenarbeit zwischen Hochschulen, Forschungsinstituten und Industrieunternehmen gestärkt werden müsse, um Innovationen in Produkte und letztlich auch in Arbeitsplätze zu verwandeln. Weber erläuterte weiter, dass Deutschland im weltweiten

Innovationswettbewerb auch neue Stärken entwickelt habe. „Ich denke dabei besonders auch an den Bereich der Erneuerbaren Energien einschließlich der Photovoltaik, die in den letzten Jahren mit Steigerungsraten von 20 bis 40 Prozent zu einer weltweiten Spitzenstellung der deutschen und japanischen Industrie geführt hat.“ Auf der anderen Seite aber würden andere, innovative und ebenfalls sehr schnell wachsende Forschungseinrichtungen behindert – besonders im Bereich der Biotechnologie einschließlich der Gentechnologie und der Stammzellenforschung. „Ein Umdenken ist in diesen Bereichen unerlässlich“, sagte Weber. „Das setzt allerdings auch eine Bewusstseinsveränderung in der Bevölkerung voraus. Hier gibt es noch viel Informations- und Diskussionsbedarf.“ Nach Auffassung des Wissenschaftlers bedarf die Umsetzung von Innovationen in Produkte auch einer besseren Förderung. Es müssten Instrumente entwickelt werden, die es für Wissenschaftler attraktiver mache, ohne Berührungsängste mit der Industrie zusammenzuarbeiten. Auch müsse das Arbeitsrecht künftig dazu beitragen, dass die Schaffung neuer Arbeitsplätze in innovativen Unternehmen nicht weiter gehemmt werde. Weber regte an, den Kündigungsschutz zu lockern. Beispiele in der EU wie Dänemark und Irland zeigten, dass dies „wahre Jobwunder“ zur Folge haben könne. Der Wissenschaftler schlug zudem eine volle Steuerabzugsfähigkeit von Spenden an gemeinnützige Einrichtungen vor. Auch eine steuerliche Abzugsfähigkeit von Hypothekenzinsen ist aus seiner Sicht geeignet, den Standort wirtschaftlich nach vorne zu bringen, weil sie in hohem Maße zur Bildung von Wohneigentum und damit auch zur Sicherung der Altersvorsorge beitrüge. Im Gegenzug solle das gesamte Einkommen einer Mindeststeuer von 15 bis 20 Prozent unterworfen werden, um die beiden Vorschläge zu finanzieren. III. Quartal 2005


tionen in Aus- und Weiterbildung bedürfe. „Deutschland muss daher intelligent in die Bildung investieren und Spitzenuniversitäten entwickeln, weil dadurch die Grundlage für eine wissensbasierte Dienstleistungsgesellschaft geschaffen wird.“ Dr. Alfred Oberholz Mitglied des Vorstandes Degussa AG „Chancen ergeben sich leider meist nicht zufällig, sondern müssen hart erarbeitet werden“, sagte Alfred Oberholz, Vorstandsmitglied der Degussa AG. Dabei reiche es heute meist nicht mehr aus, technisch anspruchsvolle oder besonders wissensbasierte Produkte anzubieten. „Das technische Know-how in Ländern wie China und Indien steigt

... aussetzung sei, dass mehr Geld in Menschen und in Bildung investiert werde, bürokratische Hemmnisse abgebaut würden und Führungsmärkte etwa im Gesundheitsbereich geschaffen würden. Lamberti machte deutlich, dass Deutschlands Kompetenzen in der Welt weiterhin gefragt seien. „Die technologische Basis ist gut, aber noch nicht Spitze“, konstatierte der Bankmanager. Von der Globalisierung profitieren könne die Bundesrepublik stärker, wenn sie sich auf Dienstleistungen fokussiere. „Für die stetig wachsenden Ballungsräume in den emerging markets können deutsche Unternehmen die notwendigen Infrastruktur- und Mobilitätstechnologien sowie komplexe und wis-

sensintensive Dienstleistungen bereit stellen.“ Lamberti forderte, zukünftige Kompetenzträger stärker zu fördern. Deutschlands Nachholbedarf bei der Bildung müsse umgehend angegangen werden. „Die Umsetzung von Technologien und die Absorption der neuen technischen Möglichkeiten kann nur gelingen, wenn Unternehmen qualifizierte Beschäftigte haben“, mahnte Lamberti. Diese Absorption sei indes in Deutschland in Gefahr, weil der Anteil der Beschäftigten mit höherem Bildungsabschluss zuletzt leicht gefallen sei, während er in anderen Staaten gestiegen sei. Mit Blick auf die Anforderungen an Politik und Wirtschaft sagte Lamberti, dass es erheblich mehr Investi-

schnell und ist mittlerweile auf vielen Gebieten nahe an unser Niveau herangekommen“, sagte Oberholz. Dort, wo die Produktionsanlagen nicht hochkomplex seien, hätten die Deutschen im Wettbewerb immer häufiger das Nachsehen. „Wenn wir im Produkt selbst nur noch geringe Wettbewerbsvorteile haben, wo dann? Die Antwort lautet: Dort, wo wir nicht nur Produkte verkaufen, sondern für den Kunden komplette Systemlösungen erstellen.“ Im Zeitalter zusammenwachsender Märkte müsse Deutschland seine Chancen weltweit wahrnehmen und seine Position global und permanent ausbauen. „Das gelingt natürlich am besten in wachsenden Märkten wie China oder Osteuropa“, sagte Oberholz. Nur allein durch III. Quartal 2005

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komme die soziale und politische Stabilität sowie ein immer noch hohes Ausbildungs- und Qualifikationsniveau. Die Probleme Deutschlands beruhen nach den Worten Winkeljohanns auf „tiefgreifenden strukturellen Defiziten“. Trotz der vielen positiven Merkmale liege die Arbeitslosigkeit auf Rekordniveau. Ein ineffizientes Steuer- und Abgabensystem, Überregulierungen sowie dauerhafte Subventionen verhinderten mehr Wachstum und Arbeitsplätze. Winkeljohann betonte, Innovationen seien die Voraussetzung zur Überwindung der wirtschaftlichen Probleme. „Eine hohe Innovationsdynamik fördert die internationale Wettbewerbsfähigkeit und garantiert ein kontinuierliches wirtschaftliches Wachstum.“ Insbesondere kleinere

... Exporte könne Deutschland seine Marktpositionen in diesen Regionen aber nicht sichern, betonte der Degussa-Manager. „Um hier in Europa bestehen zu können, müssen wir auch neue Produktionsanlagen in den Wachstumsregionen vor Ort errichten.“ Das Erfolgsgeheimnis dabei sei, die Stärken und Schwächen der einzelnen Regionen sorgfältig zu analysieren. „Die Stärken von Deutschland liegen immer noch in einer guten Infrastruktur, einem dichten Netz von hochklassigen wissenschaftlichen Institutionen und hochqualifizierten, motivierten Arbeitskräften“, sagte Oberholz. „Produkte und Technologien, die diese Standortvorteile in besonderem Maße benötigen und in

Markterfolge umsetzen können, werden auch zukünftig ihren Platz in Deutschland haben.“ Prof. Dr. Norbert Winkeljohann Mitglied des Vorstandes PricewaterhouseCoopers Norbert Winkeljohann sagte, Deutschland gehöre weltweit zu den attraktivsten Produktionsstandorten. „Deutschland kann nicht nur durch seine gute Infrastruktur überzeugen. Auch die Einbindung in den Europäischen Binnenmarkt und die zentraleuropäische Lage sind nachhaltige Vorteile für die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands.“ Hinzu

und mittlere Unternehmen benötigten jedoch Unterstützung bei der Umsetzung ihrer Ideen. Das Bildungssystem müsse zudem reformiert werden, forderte Winkeljohann. „Primärer Faktor der Innovation ist Bildung.“ Attraktive Rahmenbedingungen im Steuerrecht, eine Modernisierung des Arbeitsrechts sind nach Auffassung Winkeljohanns die weiteren notwendigen Voraussetzungen für eine wirtschaftliche Genesung der Bundesrepublik. Jedoch dürfe der Ausbau des Dienstleistungssektors nicht auf Kosten der Industrie gehen. „Für das Wachstum des Dienstleistungssektors ist nach wie vor eine wettbewerbsfähige, technologische und innovative Kompetenz der Industrie die Basis.“ 104 trend

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Neue Wirtschafts- und Sozialpolitik – Deutschlands Zukunft sichern

Podium III In das Thema „Neue Wirtschaftsund Sozialpolitik – Deutschlands Zukunft sichern“ führten ein:. Prof. Dr. Thomas Straubhaar, Leiter HWWI Hamburg sowie Friedrich Merz MdB. Unter der Moderation von Bernd Ziesemer, Chefredakteur Handelsblatt diskutierten: Dr. Michael Albert, Vorsitzender des Vorstandes Bayerische Versicherungsbank AG; Philipp Mißfelder, Bundesvorsitzender der Jungen Union Deutschlands; Rainer Tögel, Mitglied des Vorstandes D.A.S. RechtsschutzVersicherung AG; Cornelia Yzer, Hauptgeschäftsführerin Verband Forschender Arzneimittelhersteller e.V. III. Quartal 2005

Dr. Michael Albert Vorsitzender des Vorstandes Bayerische Versicherungsbank AG Michael Albert sagte, Deutschland habe mehr denn je wirtschafts-, arbeitsmarkt- und sozialpolitische Herausforderungen zu bewältigen. „Mit fast fünf Millionen arbeitslosen Menschen und einem dauerhaft schwachen Wirtschaftswachstum werden mutige Reformen immer dringender“, mahnte Albert. Basis für ein Reformprogramm bleibe die Soziale Marktwirtschaft, die den Marktmechanismus mit wirtschaftlicher Freiheit, ungehindertem Wettbewerb und offenen Märkten im Fokus habe sowie die Grundwerte der Humanität und Menschenwürde umfasse. Gleichzeitig sei der Staat

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Prof. Dr. Thomas Straubhaar Leiter HWWI Hamburg System der Marktwirtschaft optimale Ergebnisse zu erzielen. „Wir müssen erst einmal schauen, welches Sozialprodukt wir mit dem Marktmechanismus erstellen können“, sagte Straubhaar. In einem zweiten Schritt erst könne die Sozialpolitik Marktergebnisse korrigieren, die eine Gesellschaft aus normativer Sicht nicht als fair oder gerecht erachtet. „Wenn wir soweit sind, wird klar, dass wir solche Eingriffe sehr direkt vornehmen müssen und nicht auf indirekte Weise durch Eingriffe in Marktprozesse.“

Thomas Straubhaar machte deutlich, dass es beim Konzept der Sozialen Marktwirtschaft im Prinzip darum gehe, Wirtschafts- und Sozialpolitik zu trennen. „Die Wirtschaftspolitik ist zunächst dafür da, die Voraussetzungen zu schaffen, etwas zu produzieren, was dann in einem zweiten Schritt verteilt werden kann.“ Die Wirtschaftspolitik muss sich nach den Worten Straubhaars Effizienz und Dynamik zum Ziel setzen, wohingegen sich die Sozialpolitik Verteilung und Gerechtigkeit zum Ziel setzen müsse. Wohlstand für alle und Wettbewerb gehörten untrennbar zusammen. Dies bedeute, dass der Markt und der Wettbewerb überhaupt erst die Voraussetzungen böten, um Sozialpolitik betreiben zu können. Der Wettbewerb sei, anders formuliert, das geeignete Instrument, um den Kuchen, der in einer Marktwirtschaft erwirtschaftet werden kann, möglichst groß zu machen. „Marktergebnisse müssen zunächst akzeptiert werden“, sagte der Leiter des Hamburger Forschungsinstituts. „Wir sollten nicht versuchen, durch Eingriffe in Marktprozesse sozialpolitische Ziele zu erreichen.“ Preise und Mengen, Löhne und Lohnspreizungen müssten zunächst in Kauf genommen werden, um mit dem 106 trend

Wenn man Wirtschaftspolitik und Sozialpolitik vermische, komme es, wie in Deutschland, zu Ineffizienzen, geringer Treffsicherheit der Transfers und viel Bürokratie. „Wir verteilen Geld nicht von den Reichen zu den Armen um, der größte Teil der Umverteilung findet statt von der linken in die rechte Tasche der großen bürgerlichen Mittelschicht“, kritisierte Straubhaar. „Das kann nicht sinnvoll sein. So wird nicht nur ein riesiger Apparat beschäftigt, sondern auch die Signalfunktion der Preise im Marktmechanismus empfindlich gestört.“ Mit Blick auf das Steuersystem sagte der Schweizer Wissenschaftler, dass die direkten Steuersätze gesenkt werden müssten. Direkte Steuern sollten nur noch dazu dienen, öffentliche Güter und Dienstleistungen zu finanzieren, die nicht durch Gebühren oder verursachergerechte Preise bezahlt werden könnten. „Mit direkten Steuern müssen im Grunde nur die Kernkompetenzen des Staates finanziert werden: Innere Sicherheit, äußere Sicherheit und das Justizsystem beispielsweise.“ Die indirekten Steuern wie die Mehrwertsteuer müssten im Gegenzug hochgefahren werden. Bei den Sozialleistungen müsse das Prinzip der Steuererhebung umgedreht werden. Statt indirekter Hilfen, die mit der Gießkanne wenig treffsicher über alle Bürger verteilt werden, müssten mehr direkte zielgenaue Hilfen ausgezahlt werden. Hinsichtlich des Arbeitsmarktes sagte Straubhaar, dieser sei kein effizientes

Instrument der Sozialpolitik. Sozialpolitik und Verteilungspolitik sollte nicht über den Arbeitsmarkt betrieben werden. Es sei nicht die Globalisierung, die den Arbeitsmarkt in der Bundesrepublik unter Druck gesetzt habe, sondern die Überfrachtung des Faktors Arbeit mit Sozialkosten. Straubhaar forderte, Niedriglöhne müssten akzeptiert werden und Eingriffe in die Lohnbildung seien zu unterlassen. Für den Bereich der Sozialversicherungen regte der Wissenschaftler an, für eine klare analytische Trennung von sozialpolitischen Zielen und dem Versicherungsgedanken zu sorgen. „Wenn Sie mit einer Flinte auf zwei bewegliche Ziele schießen, werden Sie keines treffen“, sagte Straubhaar. „Deswegen müssen Sie die Sozialversicherung aufteilen.“ Bürger, die sich die Versicherungsbeiträge nicht leisten könnten, sollten durch direkte staatliche Transfers unterstützt werden, die aus der Steuerkasse finanziert werden müssten und nicht aus den Sozialabgaben. Straubhaar begründete seinen in den Wirtschaftswissenschaften gängigen Vorschlag mit dem Argument, dass der soziale Ausgleich nicht allein Sache der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten sei, sondern als staatspolitische Aufgabe von allen Steuerzahlern zu leisten sei. Straubhaar zeigte sich zuversichtlich, dass grundlegende marktwirtschaftliche Reformen der angesprochenen Art eine gute Chance zur Realisierung hätten. Je drängender die Probleme würden, desto mehr werde auch der Öffentlichkeit klar, wie teuer das ineffiziente wirtschafts- und sozialpolitische System der Gegenwart sei. Straubhaar verwies auf die Regierungen Reagan und Thatcher sowie die Beispiele Neuseeland und Niederlande. Dort hätten Reformregierungen unmittelbar nach der Regierungsübernahme für nachhaltige marktwirtschaftliche Reformen gesorgt, weil sie sich darüber im Klaren gewesen seien, dass sie ihre Wiederwahlchancen für die nächste Legislaturperiode erhöhten. III. Quartal 2005


Friedrich Merz MdB

Friedrich Merz verwies auf die enormen wirtschaftlichen Probleme der Bundesrepublik. Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten nehme dramatisch ab, die Zahl der Insolvenzen steige und fast fünf Millionen Menschen seien offiziell arbeitslos registriert. „Aus der strukturellen Wachstums- und Beschäftigungskrise werden wir nur dann herauskommen, wenn die Arbeitsmarktverfassung grundlegend geändert wird und so neue Beschäftigungsanreize gesetzt werden“, sagte Merz. Zusätzlich sei eine Korrektur der Lohnfindungssysteme unter Einschluss der übrigen Arbeitsbedingungen notwendig, etwa der Arbeits- und Urlaubszeiten. Die Flächentarife und Verbandstarife auf der betrieblichen Ebene müssten wesentlich flexibler ausgestaltet werden, mahnte Merz. „Es ist dringend notwendig, künftig betriebliche Bündnisse für Arbeit zuzulassen, die es ermöglichen, von Tarifverträgen abzuweichen, wenn dies dem Erhalt bestehender oder der Schaffung neuer Arbeitsplätze dient.“ Der CDU-Politiker betonte ferner, dass das Kündigungsschutzgesetz reformiert werden müsse. „In der derzeitigen Ausgestaltung verhindert es, dass neue Beschäftigung entsteht, und – das zeigt die hohe Arbeitslosigkeit – kann die Arbeitnehmer vor Entlassung nicht schützen.“ Als bedeutsam für die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen identifizierte Merz III. Quartal 2005

eine radikale Vereinfachung des Steuersystems. „Dann können wir über Investitions- und Leistungsanreize einen wichtigen Beitrag zur Überwindung der Wachstums- und Beschäftigungsmisere leisten“, sagte Merz. Das deutsche Steuersystem werde von den Bürgern nicht mehr verstanden. „Es ist deshalb ein klares ordnungspolitisch fundiertes Sanierungskonzept notwendig, das die marktwirtschaftlichen Kräfte der Volkswirtschaft erneuert.“ Eine grundlegende Reform des Einkommenssteuerrechts müsse dabei neben der Vereinfachung des Systems vor allem dafür sorgen, dass die Bürger über ein ausreichendes Einkommen verfügten, um für sich selbst und ihre Familien zu sorgen. „Der Staat darf nicht besteuern, was die Menschen für die Sicherung ihres existenznotwendigen Bedarfs selbst benötigen“, forderte der Bundestagsabgeordnete. Als zweite zentrale Reformbaustelle identifizierte Merz die sozialen Sicherungssysteme. Die Wachstums- und Beschäftigungsmisere werde verschärft durch den demographischen Wandel. „Es werden immer weniger Menschen geboren und die Älteren werden immer älter. Während der Bevölkerungsanteil der unter 20-Jährigen von 1991 bis 2020 weiter von 22 auf 17 Prozent zurückgehen soll, dürfte sich jener der über 60-Jährigen von gut 20 auf knapp 29 Prozent vergrößern“, erläuterte Merz. Weniger junge Menschen bedeuteten ebenso wie mehr ältere Menschen auch weniger Steuer- und Beitragszahlungen. Die demographische Entwicklung belaste die gesetzliche Krankenversicherung darum gleich zweifach: Zum einen stehe heute ein über 65-Jähriger vier Personen im Alter zwischen 20 und 64 gegenüber, während es bis zum Jahr 2050 über zwei 65-Jährige sein würden. Hinzu komme, dass die Gesundheitskosten im Alter überproportional anstiegen, so dass ein 50-Jähriger das Doppelte und ein 70-Jähriger das Fünffache eines 25-Jährigen benötigten. „Im Ergebnis droht der Beitragssatz der gesetzlichen Krankenversicherung auf bis zu 25 Prozent im Jahr 2030 anzusteigen“, warnte der Parlamentarier. Der Anteil der Pflegebedürftigen, die von Verwandten versorgt würden, werde sich bis 2020 von heute 70 auf dann 35 Pro-

zent halbieren. „Wenn die deutsche Politik den Stillstand fortsetzt, führen die beschriebenen Entwicklungen in Zukunft zu dramatisch steigenden Ausgaben im Gesundheitsbereich. Gleichzeitig wird die Einnahmebasis durch die demographische Verschiebung und den massiven Verlust von Arbeitsplätzen schwinden, wobei der Arbeitsplatzabbau wiederum durch steigende Krankenversicherungsbeiträge mit verursacht wird“, warnte Merz. Die von der CDU/CSUFraktion vorgeschlagene Entkoppelung der Gesundheitskosten von den Arbeitskosten sei daher der einzig gangbare Weg. Mit Blick auf Innovationen und Technologie erklärte Merz, Deutschland müsse durch diese beiden Komponenten wieder führend werden im Wettbewerb. Der Ausstieg aus der Kernenergie und eine Verweigerung großer Chancen, die sich aus der Biotechnologie für die Züchtung neuer Pflanzen ebenso wie für die Medizin ergäben, würden langfristig zu gravierenden Folgen führen. „Natürlich müssen auch die Risiken untersucht und abgewogen werden – aber wir müssen auch nach den Chancen fragen und sollten zumindest ein wenig an die Technikbegeisterung und den Unternehmergeist im Zeitalter der Industrialisierung anknüpfen, der Deutschland einst so stark gemacht hat“, sagte Merz. Der Einstieg müsse in den Schulen beginnen und sich in Hochschulen und Forschungseinrichtungen fortsetzen. Bildung, Ausbildung, Wissenschaft und Forschung bildeten das Fundament für Wachstum und Wohlstand in einer globalisierten Welt. Weil Deutschland als Export orientierte Nation in besonderem Maße auf Ideen und Innovationen angewiesen sei, müsse mehr Freiheit für die Hochschulen eingefordert werden. Merz betonte ferner die Bedeutung solider Staatsfinanzen. „Ökonomisch sind die Rückführung der staatlichen Neuverschuldung und die Reduktion der Gesamtverschuldung für die gegenwärtige Generation umso leichter zu tragen, je höher das wirtschaftliche Wachstum der Volkswirtschaft ist“, betonte Merz. „Es gilt deshalb, alle Reformmaßnahmen darauf zu fokussieren, die Dynamik der Wirtschaftsprozesse in Deutschland zu beschleunigen.“ trend 107


... gefordert, sinnvolle Rahmenbedingungen zu schaffen, um eine optimale Versorgung der Menschen mit Gütern und Dienstleistungen sowie eine Basis an sozialer Sicherheit für die Bevölkerung zu gewährleisten. „Den Menschen kommt gleichzeitig die Aufgabe zu, Eigenverantwortung zu übernehmen“, sagte Albert. Deutschland stehe vor dem Dilemma, aufgrund der demographischen Entwicklung und einer Überregulierung sowie der in den zurück liegenden Jahrzehnten massiven Eingriffe des Staates in die Soziale Marktwirtschaft, Beschäftigte und Arbeitgeber die explodierenden Sozialkosten nicht mehr tragen könnten. „Der Staat muss sich wieder auf seine originäre Aufgabe beschränken und die Bevölkerung ist gefordert, Eigenvorsorge zu betreiben und Verantwortung für ihr Wohlergehen zu übernehmen“, sagte Albert. In einem „Fahrplan für mehr Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung“ forderte der Vorstandschef der Bayerischen Versicherungsbank eine Steuerentlastung für Unternehmen, ein flexibleres Arbeitsrecht, bessere Ausbildungsbedingungen, Beschäftigungschancen für einfache Arbeiten, eine Reform der Arbeitslosenversicherung, eine Gesundheitsprämie, eine Reform der gesetzlichen Rentenkasse sowie der Pflegeversicherung, eine Reform der Unfallversicherung und eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Philipp Mißfelder Bundesvorsitzender der Jungen Union Deutschlands Philipp Mißfelder sprach mit Blick auf die rot-grüne Bundesregierung von einer „beispiellosen Selbstaufgabe“. Diese zeige zweierlei: „Zum einen, dass die Ideen und Konzepte, die 1998 unsystematisch zum rot-grünen Projekt zusammengezimmert wurden, von Anfang an völlig verfehlt, der Lage unangemessen und schlicht unzeitgemäß waren. Zum anderen wird klar, dass die Lage des Landes ernst ist und die Union die letzte Chance zum Umsteuern nutzen muss.“ Die Bilanz der vergangenen sieben Jahre sei „fürchterlich“: Mißfelder erläuterte, dass die Arbeitsmarktreformen Hartz I bis IV, das Jump-Gesetz, die Ökosteuer und der fortgesetzte Verkauf von Vermögensbeständen zur Haushaltssanierung nach seiner Auffassung fünf Millionen Arbeitslose, 25 Prozent Jugendarbeitslosigkeit, 42 Pro108 trend

zent Sozialversicherungsbeiträge und vier Jahre in Folge Verletzung des Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt nach sich gezogen hätten. Auf dem Arbeitsmarkt gelte es folglich, durch entschlossene Deregulierung wieder Bewegung zu erzeugen und die Verwaltung der Arbeitslosigkeit so schlank wie möglich zu organisieren. Zu einem wirksamen Maßnahmebündel gehöre auch eine Reform des Arbeitsrechts, der Tarifbindung und des Lohntransfersystems. Für das deutsche Steuersystem forderte Mißfelder eine Generalüberholung. Absenkung des Einkommenssteuertarifs bei gleichzeitiger Abschaffung vorhandener Ausnahmetatbestände und Subventionen. Unter dem Stichwort Bürokratieabbau schlug Mißfelder vor, jedes Jahr zehn Prozent aller

bestehenden Gesetze zu prüfen – mit dem Ziel, sie ersatzlos zu streichen. Der Vorsitzende der Jungen Union machte sich zudem für eine Reform der Sozialen Sicherungssysteme stark. „Rot-grünes Stückwerk hat wirkliche Reformen nur aufgehoben und erschwert“, kritisierte Mißfelder. Rainer Tögel Mitglied des Vorstandes D.A.S. Rechtsschutz-Versicherung AG „Freiheit und Wettbewerb bilden die Basis für bessere Lebenschancen der Menschen und für den Erfolg von Unternehmen“, sagte D.A.S.-Vorstand Rainer Tögel. „Hierzu muss sich unser Land wieder klar an der Sozialen Marktwirtschaft Ludwig Erhards orientieren.“ Priorität habe die Entfesselung der Eigeninitiative und die Stärkung der Eigenverantwortung. „Die Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft verlangt vor allem, dass die Politik den Bürgern und Unternehmen wieder die Freiheit zurückgibt, für sich selber zu entscheiden, statt sie mit Bevormundung und überhöhten Steuern und Sozialabgaben zu belasten“, sagte Tögel. Gleichzeitig müsse sichergestellt werden, dass sich die Solidarität bei der sozialen Sicherung auf die wirklich Bedürftigen konzentriere, nämlich die Einkommensschwachen und auf Familien mit Kindern. Tögel kritisierte, dass die Beschäftigten vom ersten Euro an mehr als 40 Prozent Sozialabgaben zahlen müssen. „Wenn wir so weitermachen, wird die Strafsteuer auf III. Quartal 2005

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... Arbeitsplätze in den kommenden Jahren auf weit über 50 Prozent ansteigen“, warnte der D.A.S.-Vorstand. Mit Blick auf das Gesundheitswesen kritisierte Tögel, dass alle bisherigen Reformen in dem Versuch stecken geblieben seien, eine nachhaltige Finanzierung des Gesundheitswesens zu erreichen. „Wir sind es aber den jungen Generationen schuldig, mit einer höheren Kapitaldeckung und mehr Eigenverantwortung die Sozialversicherung vom Kopf auf die Füße zu stellen. Dann wird auch Arbeit in Deutschland wieder bezahlbar.“ Das Umlageverfahren in der gesetzCornelia Yzer Hauptgeschäftsführerin Verband Forschender Arzneimittelhersteller e.V.

lichen Krankenversicherung sei jedoch nicht mehr in der Lage, die Herausforderungen einer älter werdenden Gesellschaft und steigender Gesundheitskosten zu bewältigen. „Die Bürgerversicherung ist der falsche Weg. Dagegen wird mit der Einführung einer sozial flankierten und kapitalunterlegten Gesundheitsprämie die beschäftigungsfeindliche Koppelung der Krankenversicherung an den Arbeitsplatz beseitigt.“

Cornelia Yzer sagte, dass sich die Gewerkschaften nach ihrer Auffassung womöglich gegen notwendige Sozialreformen stellen könnten. „Das wichtigste für die Unternehmen aber ist, dass sie auf ihre Mitarbeiter hören“, sagte Yzer. Wenn zwei Drittel der Deutschen der Auffassung seien, dass insbesondere in der Krankenund Pflegeversicherung tief greifende Reformen notwendig sind, dann seien dies auch die Mitarbeiter in den Unternehmen, die diese Forderung stellen. „Es ist wichtig, die Karten offen auf den Tisch zu legen.“ Die Hauptgeschäftsführerin des Verbandes der Forschenden Arzneimittelhersteller sprach sich dafür aus, die Gesundheitskosten von den Lohnkosten zu trennen und eine sozial flankierte Gesundheitspauschale einzuführen. „Wenn wir in der Krankenversicherung einen konsequenten Weg gehen wollen, dann ist eine grundlegende Steuerreform hierfür eine zentrale Voraussetzung“, sagte Yzer mit Blick auf die Reihenfolge durchzuführender Reformen. Dies begründete Yzer auch damit, dass eine Gesundheitspauschale aus Steuermitteln sozial abgefedert

werden solle. Arbeitsmarkt-, Steuer- und Sozialreformen müssten deshalb zusammen angegangen werden. Yzer erklärte, dass bei durchgreifenden Sozialreformen zwar mit massiven Widerständen von Interessengruppen zu rechnen sei – diese müssten aber überwunden werden, um die Herausforderungen zu bewältigen.

Yzer beklagte, dass die Versicherten durch planwirtschaftliche Steuerungselemente in der Gesundheitspolitik seit Jahren Rationierungen von Leistungen hinzunehmen hätten. „Keiner weiß mehr, was er im Ernstfall an Leistungen erwarten kann“, kritisierte die Hauptgeschäftsführerin des Verbandes der Forschenden Arzneimittelhersteller. „Auch für die Leistungserbringer gilt, dass sie im gegenwärtigen System kaum noch etwas zu verlieren haben.“ Darum sei es dringend notwendig, ein wettbewerblich organisiertes Gesundheitswesen zu schaffen. 앬 Berichterstattung Wirtschaftstag 2005 Erwin Lamberts und Peter Hahne

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