trend Dokumentation zum Wirtschaftstag 2001

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Angela Merkel MdB, Vorsitzende der CDU Deutschlands

Für ein wettbewerbsfähiges und menschliches Deutschland im 21. Jahrhundert

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nspruch der Politik ist es, gesellschaftliches Leben für die Menschen zu gestalten. Besonders das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft, das Ludwig Erhard so erfolgreich in die Praxis umgesetzt hat, ist unter heutigen Bedingungen der Auftrag, im umfassenden Sinne Wohlstand und Teilhabe für alle zu ermöglichen. Ich gehöre zu denen, die nicht fatalistisch am Rande des Weges sitzen und sagen, im 21. Jahrhundert und unter den Bedingungen der Globalisierung hat nun die Ökonomie die Macht erobert und nun kann die Politik nur noch Reparaturpflaster verteilen. Ich glaube, wir, die Christlich Demokratische Union, die die Soziale

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Marktwirtschaft zum lebendigen Konzept gemacht hat, wir müssen in der Lage sein, den Rahmen für eine vernünftige Entwicklung selbst zu setzen. Wenn ich von einer neuen Sozialen Marktwirtschaft spreche, dann heißt das nicht, dass die Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft überholt sind. Im Gegenteil: Es geht um eine Wiederbelebung der bewährten Grundprinzipien der Sozialen Marktwirtschaft. Die Prinzipien eines freiheitlichen Menschenbildes bleiben bestehen mit der Akzeptanz, dass die Menschen verschieden sind und es uns gelingen muss, ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten in unserer ... III. Quartal 2001


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... Gesellschaft zu entfalten. Aber bei aller Wichtigkeit des sozialen Ausgleichs, der Frage der Gerechtigkeit und der Solidarität glaube ich, dass es in der Bundesrepublik Deutschland aus der Tatsache von 50 Jahren Freiheit eine Tendenz gibt, zu glauben, Freiheit sei etwas Selbstverständliches. Freiheit kann aber auch zerstört werden. Zum Beispiel durch zu viel Regulierung, durch das Verhindern von Wettbewerb. Wettbewerb ist aber ein Grundelement, um Freiheit zu ermöglichen. Daher kommt dem Wettbewerb in der Sozialen Marktwirtschaft eine ganz wesentliche Rolle zu. Denn die Freiheit jedes Einzelnen ist Ausgangs-, Dreh- und Angelpunkt des Konzepts der Sozialen Marktwirtschaft. Wenn aber im Rahmen einer Wettbewerbsordnung unter der Akzeptanz, dass die Menschen verschieden sind und man Freiräume ermöglichen muss, etwas erwirtschaftet wird, dann muss auch die Frage nach der sozialen Verteilung beantwortet werden. Diese Reihenfolge ist unglaublich wichtig. Man muss akzeptieren, dass es keine Schubladen gibt, wo die Einen für die Verteilung sitzen und die Anderen fürs Erwirtschaften. Es muss ein Gesamtverständnis vorhanden sein, gerade in Zeiten eines dramatischen Wandels. Herausforderungen an Politik und Gesellschaft Die Gesellschaft wandelt sich von der Industriezur Wissensgesellschaft. Das sind Begriffe, unter denen sich ein Großteil der deutschen Bevölkerung wenig vorstellen kann. Ich glaube, dass der Übergang von der Industrie- zur Wissensgesellschaft eine Wegmarke ist, wie es der Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft war. Dieser Umbruch bedeutet, dass sich nicht hier und dort mal ein Arbeitsgerät verändert, ein Produktionsmittel oder eine Produktionsform, sondern dass tiefgreifende Veränderungen im Gange sind. Eine der Auswirkungen der Wissensgesellschaft ist die zunehmende Geschwindigkeit der Veränderung. Sie werden beispielsweise bei einem Vergleich mit der Einführung der Elektrizität, des Telefons oder des Automobils feststellen, dass die Zeiten, in denen eine relevante Menge von Menschen über die Nutzung der neuen Technologie verfügt, immer kürzer werden. Dieser Beschleunigung müssen wir antworten. Eine Antwort ist es, flachere HierarIII. Quartal 2001

Die Gesellschaft wandelt sich von der Industrie- zur Wissensgesellschaft

chien zu bilden, das Prinzip der Subsidiarität konsequent anzuwenden, wo immer es möglich ist. Wir dürfen nicht weiter in Richtung zentralistische Strukturen gehen, sondern die kommunale Ebene, die Familie, die Rolle des Individuums ist zu stärken. Solidarität ist nur lebbar auf dem Grundsatz der Subsidiarität. Technologien haben sich massiv verändert. Informationen und damit auch die Rolle des Humankapitals werden zur Triebkraft der weiteren Entwicklung. Sicherlich hat in der Industriegesellschaft die Intelligenz auch eine Rolle gespielt. Aber automatisierbare Vorgänge werden heute im Wesentlichen von Maschinen erledigt. Das bedeutet eine komplett veränderte Arbeitswelt und einen signifikanten Wertewandel. Aber auch einen Wandel hin zu mehr Bildung und Ausbildung und Selbstbewusstsein der Menschen. Wer die Menschen heute im politischen System betrachtet, als wären sie die Menschen, die nach dem Krieg Deutschland wieder aufgebaut haben, der bevormundet sie und hat die Zeichen der Zeit nicht verstanden. Die Menschen sind heute in der Lage mit Bits und Bytes zu jonglieren. ... trend 7


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darin bestehen, nicht nur relative Gerechtigkeit bei den Erwerbseinkommen sicherzustellen, sondern auch bei der Frage des Kapitalbesitzes. Die politischen Aufgaben leiten sich automatisch ab: Teilhabe am Wissen, Teilhabe am Kapital, Teilhabe an den sozialen Sicherungssystemen, Teilhabe an der Arbeit. Für die aktuelle Politik der Bundesregierung ist festzustellen, dass deren Gestaltungsauftrag für die Bundesrepublik Deutschland nicht erfüllt ist, wenn wir 3,5 Prozent Inflationsrate haben und gleichzeitig Schlusslicht im Wirtschaftswachstum in Europa sind. Die Bundesrepublik Deutschland hat ein Potenzial an Menschen, die es ihr erlaubten an der Spitze des Wirtschaftswachstums in Europa zu liegen.

Weltweit geht der Trend hin zu flexiblen Beschäftigungsformen

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Die Industrieländer, die von der Industrie- zur Wissensgesellschaft übergehen, haben das Problem, dass wir eine schrumpfende und eine alternde Bevölkerung haben. Für den Einzelnen ist es schön, länger zu leben. Aber für die Gesamtbalance der Gesellschaft hat dies dramatische Auswirkungen. Die vielleicht größte Herausforderung besteht gar nicht mal in der Organisation der sozialen Sicherungssysteme. Sondern die größte Herausforderung besteht darin, unter den sich beschleunigenden Veränderungen immer wieder mit einer alternden Bevölkerung die Innovationskraft und Neugierde in der Gesellschaft aufrecht zu erhalten. Das lebenslange Lernen wird eine völlig neue kulturelle Erfahrung sein. Es wird dazu führen, dass man sich auch mit 40, 50 und 60 Jahren noch Leistungsvergleichen stellen muss. Wir haben das in den neuen Bundesländern erlebt, wenn man plötzlich im Alter von 45 vor 25-Jährigen Prüfungen ablegt. Um Neugierde, Triebkraft und Innovation zu erhalten, wird es wichtig sein, nicht nur die Teilhabe an der Arbeit und an der sozialen Sicherung sicherzustellen, sondern vor allen Dingen die dauerhafte Teilhabe am Wissen zu ermöglichen. Eine andere große Herausforderung in der Gesellschaft wird trend

Tragfähige Fundamente für die Wissensgesellschaft legen In Bildung, Wissenschaft und Forschung steht Deutschland zunehmend in einem internationalen Wettbewerb. Vergleichende Studien zeigen leider, dass die Absolventen deutscher Schulen gegenüber gleichaltrigen in anderen führenden Industrienationen deutlich weniger leistungsfähig sind. Die Ausbildungszeiten sind eindeutig zu lang. Die unionsgeführten Bundesländer Sachsen und Thüringen sind bezüglich kürzerer Ausbildungszeiten bis zum Abitur Vorreiter in Deutschland. Dies setzt sich inzwischen auch in allen unionsregierten Ländern durch. Kein einziges SPD-regiertes Land hält hier mit. Wenn Wirtschaftsminister Müller lediglich darüber spricht, kann dies das notwendige Handeln der von Kanzler Schröder geführten SPD nicht ersetzen. Der Wettbewerb im Bildungssystem muss zunehmen. Das deutsche Hochschulsystem wird nicht überleben im Vergleich mit anderen Staaten, wenn wir nicht mehr Wettbewerb zwischen den Hochschulen zulassen. Wettbewerb zwischen den Hochschulen erfordert, dass sich die Hochschulen ihre Studenten zum Teil selber aussuchen können, was über die ZVS nicht funktioniert. In Zukunft muss das Abitur weiterhin Voraussetzung für die Aufnahme eines Hochschulstudiums sein, es begründet aber keinen Rechtsanspruch mehr darauf. Bei der Organisation des Studiums an den Universitäten müssen verstärkt marktwirtschaftliche Elemente einbezogen ... III. Quartal 2001


... werden. Von generellen Studiengebühren spreche ich nicht. Aber die Zahlen sprechen für Studiengebühren für Langzeitstudenten. 40 Prozent der Langzeitstudenten verließen die Hochschulen, als Studiengebühren eingeführt wurden. Wenn dann noch sichergestellt ist, dass diese Gebühren reinvestiert werden in die Hochschulen, dann haben sie etwas geschafft, was die Eigeninitiative und die Motorik der Hochschulen anreizt. Die CDU hat in den vergangenen Monaten eine sehr umfassende Diskussion über die Frage von Zuwanderung und Integration geführt, um die Zukunftsfragen des Arbeitsmarktes zu beantworten. Aber genauso geht es um die Frage, wie Illegalität und Missbrauch der Zuwanderung bekämpft werden können. In unserem Zuwanderungskonzept ist es gelungen, auf die verschiedenen Tatbestände des Arbeitsmarktes wirklich Antworten zu finden, die zukunftsfähig sind und die uns offen machen. Offen im Wettbewerb um die besten Talente in der Wissensgesellschaft. Die Idee der Greencard ist gescheitert. 20.000 hätten kommen können und es sind noch keine 6.000 gekommen. Im internationalen Vergleich schauen sich die Menschen an, wie die Lebensbedingungen, wie die Steuersätze sind. Wenn man einem jungen talentierten Ehepaar als Erstes erklärt, der Mann – als Ingenieur im Informationsbereich – dürfe zwar kommen, aber seine Frau müsse zwei Jahre warten, bis sie eine Arbeitserlaubnis bekommt und nach fünf Jahren sollten sie dann beide wieder das Land verlassen, dann ist man international nicht wettbewerbsfähig. Dort, wo wir im internationalen Wettbewerb stehen, dort wo ein junger Chinese oder Inder sich entscheiden muss, wo gehe ich hin, dort heißt es wirklich wettbewerbsfähige Bedingungen anzubieten, unter denen sie tatsächlich zu uns kommen. Es ist unverzichtbar, die Bereitschaft der Bevölkerung zu fördern, neue Technologien auch zu akzeptieren. In den letzten zehn Jahren hat sich schon viel getan. Aber wir sind immer noch in einer Situation, in der wir massiv Volksvermögen, Wissen und Möglichkeiten verschenken, weil wir es nicht schaffen, neue Technologien umzusetzen. Beispiel Transrapid: Zu Zeiten von Ministerpräsident Albrecht in Nie- ... III. Quartal 2001


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... dersachsen wurde eine Teststrecke gebaut. Fast war es dann so weit, dass von Berlin nach Hamburg der Transrapid gefahren wäre. Herr Müntefering als Verkehrsminister stellte dann auf einspurig und später wurde gar nicht mehr gebaut. Derweil ist in China bereits der Grundstein gelegt und der Transrapid wird in vier Jahren von Shanghai nach Peking fahren. Wir können dann auf Besichtigungstour nach China fahren und staunen, was dort geschaffen wurde. Dies ist nur eines der vielen Beispiele, an denen sich zeigt, mit welcher Entschlusskraft, mit welcher Dynamik, mit welcher Härte und Entschlossenheit die Leute anderswo an ihre Aufgaben gehen. Und wir überlegen immer noch, während im wahrsten Sinne des Wortes der Zug schon abgefahren ist. Ein weiterer Punkt ist der Bereich der grünen Gentechnologie. Da werden Feldversuche, die schon genehmigt waren, mit Moratorien wieder zum Stillstand gebracht. Wir sind ein Volk, dass von den technischen, den ingenieurwissenschaftlichen und allen geistigen Möglichkeiten her die besten Fähigkeiten und Fertigkeiten hat, für die Welt wirklich etwas Sinnvolles zu tun. Wir sprechen von global denken und lokal handeln, aber tun lokal eben nicht das, was globales Denken verlangt. Wir haben die Pflicht, mit dem, was wir können, auch wirklich das zu schaffen, was nicht nur für unsere 80 Millionen Bürger, sondern was für die Menschheit insgesamt notwendig ist. Das ist die Aufforderung, die sich aus der Globalisierung ergibt. Es ist geradezu abwegig, wenn der Bundeskanzler bei der roten Gentechnologie propagiert, die ideologischen Scheuklappen abzulegen, aber bei der grünen Gentechnologie und im Bereich der Atomkraft ganz andere Maßstäbe ausgibt. Bei der Kernkraft haben wir die besten und sichersten Technologien, wir sind in der Lage, preiswert Energie zu erzeugen. Aber aus ideologischen Gründen steigen wir aus diesen Technologien aus und nehmen billigend in Kauf, dass noch 15 Reaktoren vom Typ Tschernobyl in Russland laufen und wir zum Schluss mangels Know-how nicht mehr helfen können. Das ist kein Handeln im Sinne der Globalisierung. Außer schönen Worten über die Wissensgesellschaft hat der Bundeskanzler nur wenig im For10 trend

schungs- und Technologiebereich getan. Ob die Vergabe der UMTS-Lizenzen das marktwirtschaftlich beste Denken waren zugunsten einer neuen Technologie im Mobilfunk ist zu bezweifeln. Beispielsweise in Finnland ist mit den Lizenzen anders verfahren worden. Ich bin überzeugt, dass sich die Einführung der UMTS-Technologie in diesen Ländern leichter gestalten und sich wiederum eine Distanz zu der Entwicklung in Deutschland ergeben wird. Wir sind im Bereich der Mobilfunktechnologie wirklich vorneweg in Europa. Das dürfen wir nicht aufs Spiel setzen. Wir sind deshalb an der Spitze, weil Christian Schwarz-Schilling Ende der 80er Jahre erkannt hat, was notwendig ist für die Einführung von mehr Wettbewerb im Telekommunikationsbereich. Die aus den UMTS-Lizenzen gewonnenen Gelder sind auch nicht der Finanzpolitik des Herrn Eichel zu verdanken, sondern der Tatsache, dass wir 1994 die Post privatisiert haben. Der rot-grünen Bundesregierung fehlt eine klare Strategie. Es zählt nicht kurzfristiges Handeln und die Sanierung des Bundeshaushaltes, sondern es zählt, was in zehn Jahren notwendig ist. Heute muss richtungweisend für morgen entschieden werden. Arbeit für alle ermöglichen Teilhabe an der Arbeit wird heute gemessen an der Frage, wie es mit der Beschäftigung in Deutschland aussieht. Wir haben uns daran gewöhnt, weniger als vier Millionen Arbeitslose bereits als Erfolg anzusehen. 3,8 Millionen Arbeitslose in Deutschland sind aber nicht naturgegeben. Eine Verbesserung ist bisher strukturell nicht erreicht. Deutschland braucht eine Offensive gegen Beschäftigungshemmnisse. Während weltweit der Trend längst hin zu flexiblen Beschäftigungsformen geht, erweist sich das starre deutsche Arbeits- und Tarifrecht als ein Instrument zur Verhinderung von Beschäftigung. Um Menschen wieder in Arbeit zu bringen, muss neben den normalen Kündigungsschutzregeln die Wahlmöglichkeit bestehen, mit der Regelung von Abfindungen eingestellt zu werden und im Gegenzug auf Kündigungsschutzklagen zu verzichten. Damit sinkt die Schwelle, insbesondere einen älteren Arbeitnehmer einzustellen. Weiter müssen befristete Beschäftigungsverhältnisse nicht nur für ein Jahr, sondern auf über drei ... III. Quartal 2001


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... Jahre ausdehnbar sein. Im Niedriglohnbereich müssen wir erreichen, dass derjenige, der arbeitet, zum Schluss mehr hat, als der, der nicht arbeitet. So kann das enorme Beschäftigungspotential im Bereich einfacher Tätigkeiten besser genutzt werden. Wir wissen alle, dass dies keine leichte Aufgabe ist. Ein großes Problem hierbei ist, dass unsere sozialen Sicherungssysteme von den Vätern der Sozialen Marktwirtschaft so organisiert wurden, dass Arbeitnehmer und Arbeitgeber paritätisch an den sozialen Sicherungssystemen mitwirken. Das verschafft uns systemimmanent – wir haben es in der Bauwirtschaft an der Entsenderichtlinie erlebt – höhere Kosten beim Arbeitgeber. Diese Kosten zwingen uns dazu, um etwa 20 Prozent effizienter zu sein, als dies in anderen Ländern mit anders organisierten Systemen notwendig ist. Diese 20 Prozent mehr Effizienz, die müssen erst einmal erwirtschaftet werden. Verlässliche Solidarsysteme gestalten Die Solidarsysteme, die die großen Lebensrisiken Krankheit und Alter absichern, sind gefährdet. Eine immer größer werdende Zahl Leistungsbezieher steht einer immer kleiner werdenden Zahl gegenüber, die in das Solidarsystem einzahlen. Der Einstieg in die private Vorsorge ist daher richtig, aber von der Bundesregierung falsch und bürokratisch umgesetzt. Der Anteil der privaten Finanzierung in der Rente wird sich weiter erhöhen und der gesetzliche Anteil wird noch stärker zurückgehen. Wenn man sich das Riestersche Szenario anschaut, mit welchen Annahmen dort für die nächsten 20 Jahre gerechnet wird, dann ist schon heute klar, dass die Rentenbeiträge im Jahre 2030 auf Annahmen beruhen, die sie in Deutschland niemals haben werden. Das Nachdenken über die Zukunft der Rente wird mit dieser Rentenreform nicht beendet sein. Noch problematischer ist der Bereich der Kranken- und der Pflegeversicherung. Wenn die Krankenkassenbeiträge unentwegt in die Höhe gehen, bedeutet das, dass die Bundesregierung ihr erklärtes Ziel von Lohnnebenkosten unter 40 Prozent nicht erreichen wird. Auch im Gesundheitswesen ist mehr Wettbewerb die einzig denkbare Antwort. Mehr Wettbewerb bedeutet Verantwortung auch des Einzelnen III. Quartal 2001

Wir haben die besten Fähigkeiten, für die Welt wirklich Sinnvolles zu tun

für überschaubare Risiken. Uns hat die Einführung der Selbstbeteiligung bei Medikamenten im letzten Wahlkampf massiv zu schaffen gemacht. Aber es wird kein Weg daran vorbeigehen, dass auch der Einzelne einen bestimmten Beitrag leistet. Die zweite Gesundheitsministerin in dieser Legislaturperiode hat versucht, die Probleme sozusagen an dauerhaften runden Tischen zu lösen. Es hat sich gezeigt, dass das nicht funktioniert. Aufgabe der Politik muss es sein, grundlegend neue Weichenstellungen vorzunehmen, um verlässliche Solidarsysteme – von den Sozialversicherungen über die Vermögensbildung bis hin zur Familienförderung – zu gestalten. Arbeitslosen- und Sozialhilfe müssen zusammengeführt werden und wir müssen dafür sorgen, dass Kinder nicht mehr in die Sozialhilfe geraten. Wir fordern daher als CDU in unserem Familienkonzept ein Familiengeld. Jeder bekommt für sein Kind mindestens soviel, wie er bekommen würde, wenn er Sozialhilfeempfänger wäre. Die Entscheidung für Kinder muss unterstützt werden durch die steuerliche Freistellung des Existenzminimums eines Kindes, so wie bei jedem Erwachsenen. Es gibt ... trend 11


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der in das Berufsleben hineinzugehen. Der Arbeitnehmer des 21. Jahrhunderts hat mobil, flexibel, nervenstark und kreativ zu sein. Dann kann ich mir nicht vorstellen, warum ein Mann, der 20 Jahre hinter dem gleichen Schreibtisch sitzt, so viel bessere Chancen hat wie eine Mutter, die drei Kinder erzogen hat.

Die Solidarsysteme für die großen Lebensrisiken sind gefährdet

... keinen Grund, zwischen Kindern und Erwachsenen zu unterscheiden. Aber bei denen, wo die Freistellung vom Existenzminimum keinerlei Wirkung bei der Steuer entfaltet, muss der Staat durch besondere Unterstützung zeigen, dass wir eine Gesellschaft für Kinder sind. Es ist klar, dass die Entscheidung für Kinder eine freiwillige Entscheidung bleibt und auch materiell nicht komplett ausgeglichen werden kann. Das gilt auch in der Frage der Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Die Unternehmen werden im nächsten Jahrzehnt massiv mehr Ideen in diese Frage stecken, weil sie die Frauen als gut ausgebildete Arbeitskräfte spätestens ab 2005 dringend brauchen. Interessanterweise sind die Länder, die das Thema Vereinbarkeit von Beruf und Familie am konsequentesten geregelt haben, auch Länder, in denen sich mehr Eltern für Kinder entscheiden. Wir können diese beiden Dinge zusammenbringen, ohne die Freiheit der Entscheidung für Kinder in Frage zu stellen. Wichtig ist die Frage, wie bekomme ich Eltern nach der Erziehungsphase wieder in das Berufsleben zurück. Wir haben heute eine Situation, in der Mütter mit 35 enorme Schwierigkeiten haben, nach zehn Jahren wie12 trend

Modernisierung des Steuersystems Deutschland braucht eine grundlegende Neuordnung des Steuerrechts. Die Besteuerung muss generell verständlicher und übersichtlicher erfolgen. Sie muss den Menschen die Freiheit zu ökonomisch vernünftigem Verhalten zurückgeben. Dreh- und Angelpunkt für die Wettbewerbsfähigkeit, aber auch für mehr Eigenverantwortung der Menschen ist, dass die Steuer- und Abgabenlast gesenkt wird. Sie werden in dieser Gesellschaft keine Möglichkeit und keine Bereitschaft zur Eigenverantwortung finden, wenn es nicht gelingt, insgesamt Steuern und Abgaben weiter zu senken. Als Erstes muss für alle, auch für die Personengesellschaften, die Steuerreform von 2005 auf 2003 vorgezogen werden. Dann muss die Benachteiligung mittelständischer Personenunternehmen beseitigt werden. Es ist allein schon systematisch ein Fehler, Personengesellschaften über mehrere Jahre deutlich schlechter zu stellen als Kapitalgesellschaften. Und im internationalen Vergleich sind die Steuersätze für natürliche Personen und damit auch für Personenunternehmen noch immer zu hoch. Soziale Partnerschaft zukunftsfähig machen Insgesamt hat sich die Mitbestimmung in Deutschland bewährt und manche Strukturveränderung überhaupt erst möglich gemacht. Sie ist eine unverzichtbare Grundlage unserer Wirtschafts- und Sozialordnung. Aber wir tun gut daran, die Mitbestimmung an die veränderten Erfordernisse des 21. Jahrhunderts anzupassen. Dann muss sie aber so anpasst werden, dass Entscheidungen flexibler werden, dass die Vielschichtigkeit in der Gesellschaft besser berücksichtigt werden kann. Dafür müssen Entscheidungsmöglichkeiten auf die betriebliche Ebene verlagert und nicht die Zentralen der Gewerkschaften gestärkt werden. Fazit: Eine Novelle an sich ist richtig, aber die Richtung, in der dies jetzt passierte, ist mittelstandsfeindlich, bürokra- ... III. Quartal 2001


... tisch und eine massive Verschlechterung für den Standort Deutschland. Wir brauchen in Deutschland kein bürokratisches Betriebsverfassungsgesetz, dass nur die Funktionäre stärkt, sondern mehr Flexibilität und Vertrauen in die betriebliche Zusammenarbeit vor Ort. Weichenstellung für Deutschlands Weg in die Zukunft Wir sind in einer der spannendsten Perioden der Christlich-Demokratischen Union – die Welt hat sich verändert, der Kalte Krieg ist vorbei, die Produktionsbedingungen und das Verhalten der Menschen haben sich verändert. In den Augen der Menschen sind die Wirtschaftskompetenz und das Herstellen von Gerechtigkeit von entscheidender Bedeutung. Im Wahljahr 2002 werden sich die Leute fragen, mit welcher Partei sie für ihr eigenes Leben die besten Chancen haben. Das ist auch eine riesige Chance für die CDU, weil die CDU die einzige Partei ist, die vom einzelnen Menschen her konsequent ihre Programmatik angelegt hat. Die CDU hat es immer in ihrer Geschichte geschafft, das Einzelwohl mit dem Gemeinwohl vernünftig zusammenzubringen. Das wird auch im 21. Jahrhundert der Fall sein. Und wenn wir Herrn Schröders Politik anschauen, dann fällt auf, dass er die Gesellschaft in Klassen und Gruppen aufteilt und dass er immer versucht, die verschiedenen Gruppen – mal heute die, mal morgen jene – zu bedienen. Damit werden die einzelnen Gruppen gegeneinander ausgespielt und so geht die gesellschaftliche Solidarität verloren. Wir als CDU haben ein Gesamtkonzept, dass das Einzelwohl mit dem Gemeinwohl verbindet. Es ist Zeit für eine entscheidende Weichenstellung für Deutschlands Weg in die Zukunft, bei der die politische und wirtschaftliche Ordnung so gestaltet werden muss, dass jeder Einzelne die Chance erhält, persönlichen Nutzen und neue Freiräume aus den Entwicklungen zu gewinnen. Wer wirklich Hilfe braucht, hat Anspruch auf Solidarität, muss aber gleichzeitig den ihm möglichen Beitrag für die Gemeinschaft erbringen. Das sind die zwei Seiten der Wir-Gesellschaft, die wir 앬 anstreben. Aus Rede Wirtschaftstag 2001

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Friedrich Merz MdB, Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion

Das langsame, böse Erwachen Der Kompass ist nicht richtig eingestellt

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ie Stimmung ist nicht schlagartig „gekippt“, und es kam aus den Unternehmen in Deutschland kein plötzlicher, lauter Aufschrei, weil etwa eine kompetente Regierung lange Zeit gut gearbeitet und sich erstmals bei einer Entscheidung geirrt hätte. Es setzt sich in diesen Wochen vielmehr die Erkenntnis durch, dass sich das sorgsam aufgebaute Medienimage eines „Wirtschafts-Kanzlers“ nicht auf Dauer aufrecht erhalten

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lässt, wenn er nicht weiß oder schlicht ignoriert, was steigende Kosten und Belastungen besonders für kleine Firmen wirklich bedeuten. Die Sommerwochen 2001 werden vermutlich einmal als Zeitpunkt eines grundlegenden Stimmungsumschwungs in der deutschen Wirtschaft benannt werden. In jedem Fall ist dies der Zeitpunkt, zu dem sich die makroökonomischen Rahmenbedingungen unseres Landes drastisch verschlechtern. Die

Inflationsrate ist nach Deutschland zurückgekehrt. Die Arbeitslosigkeit steigt saisonbereinigt im siebten Monat hintereinander. Die Steuerbelastung der Unternehmen, insbesondere der Unternehmen des Mittelstandes, sinkt nicht etwa, wie versprochen, sondern sie steigt. Die Diskussion über Lohnzusatzkosten in Deutschland ist von den drastisch steigenden Lohnzusatzkosten geprägt. Fast alle Krankenkassen haben angekündigt, in diesen Wochen ihre Beiträge erhöhen zu müssen. Aus der ersten Hälfte des Jahres 2001 wird eine deutliche Zunahme der Insolvenzanträge von Unternehmen gemeldet. Die überbordenden Kosten der Bürokratie und der Überregulierung werden überall in der Wirtschaft spürbar. Gleichzeitig ist in der Verantwortung der rot-grünen Bundesregierung die Re-Regulierung des Arbeitsmarktes in vollem Gang. Es ist wahr: Die Bundesrepublik steht mit ihrer Wirtschaft nicht allein auf der Welt. Sicherlich sind wir vom Export und von wirtschaftlichen Rahmenbedingungen abhängig – mehr als manch anderes Land in der Europäischen Union. Die konjunkturellen Schwierigkeiten in den USA, die Krise in Japan und das sich abschwächende Wachstum in ganz Europa bleiben nicht vor unserer Haustür stehen. Auch wenn Deutschland ein Teil der internationalen Wirtschaft ist und Auf- wie Abschwung auch uns betreffen: Tatsache ist, dass wir seit einigen Monaten die rote Laterne in Europa bei Wachstum und Beschäftigung in Europa in der Hand halten. Dies hat wenig mit internationaler Verflechtung und sehr viel mit dem Versagen nationaler Politik zu tun. Jetzt hat die Bundesregierung offensichtlich die Arbeit eingestellt und macht nur noch Wahlkampf. Sie verweigert sich allen Reformen, die sie selbst für notwendig erachtet: auf dem Arbeitsmarkt, bei der Sozialhilfe, in der Gesundheitspolitik, in der Steuerpolitik. Eine gewählte Regierung muss ihre Arbeit machen, auch noch Monate oder Wochen vor der nächsten Wahl. Es gibt kein Recht auf Faulheit – jedenfalls nicht für den deutschen Bundeskanzler! Die Gipfel-Erfolge sind ausgeblieben In einer globalisierten Welt – das betrifft die Ökonomie so sehr wie die PoliIII. Quartal 2001

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... tik – gibt es immer mehr Handlungsebenen: den Nationalstaat, die Europäische Union, den G 8 und große Organisationen wie die Welthandelsorganisation WTO. Die weltweite Arbeitsteilung, die Globalisierung, erfährt eine bisher nicht gekannte Beschleunigung. Dies wirft die Frage nach den Konsequenzen für den Arbeitsmarkt auf, für unseren Wohlstand und für die Zukunft unseres Landes überhaupt. Wer kann eigentlich noch verantwortlich handeln? Gibt es noch so etwas wie einen gesellschaftspolitischen Willen, der die Dinge steuern kann, oder sind wir den ökonomischen Gesetzmäßigkeiten ausgeliefert, ohne Einfluss nehmen zu können? Die Sorge vor einem übermächtigen Staat oder vor zu mächtigen Gruppen, die ihre Interessen durchsetzen, ist dank der Gewaltenteilung heute unbegründet. Sie war eine der zentralen politischen Innovationen des Zeitalters der Aufklärung vor gut 200 Jahren. Die Trennung der staatlichen Gewalten in Legislative, Exekutive und Judikative ist die Konsequenz aus der Erkenntnis, dass Machtausübung einer wirksamen Kontrolle bedarf und einem System aus „checkes an balances“ unterworfen werden muss. Heute diskutieren wir das Verhältnis von Staat und Bürger unter ganz anderen Vorzeichen: Unseren Unternehmen steht die Welt offen, auch die Bürger sind mobil. Deshalb wird staatliches Handeln einerseits so stark wie nie durch die Globalisierung beeinflusst, andererseits aber in seiner Reichweite begrenzt und einer ständigen vergleichenden Bewertung unterzogen. Zur vierten Gewalt, den Medien als veröffentlichter Meinung in Wort und Bild, ist längst eine fünfte getreten: die internationalen Märkte. Die Globalisierung aller Wirtschaftsbeziehungen konfrontiert uns also mit dem Problem, politische – auch gesellschaftspolitische – Zielsetzungen zu wahren, die eben nicht allein ökonomischen Maßstäben genügen, wie die Sozial- und die Umwelt-, die Außen- und die Sicherheitspolitik. Die Frage der politischen Handlungsfähigkeit stellt sich zurzeit nirgends so sehr, wie im Spannungsfeld der Europäischen Union und ihren Mitgliedsstaaten. Die Ablehnung des Vertrages von Nizza im irischen Referendum zeigt deutlich das Misstrauen und den Unmut, den viele Menschen gegenüber OrganisatioIII. Quartal 2001

Deutschland hält in Europa die rote Laterne bei Wachstum und Beschäftigung

nen empfinden, die sich nicht mehr aus sich selbst heraus erklären können. Dies ist auch eine Ohrfeige für die beteiligten Regierungen als Hauptverantwortliche in diesem Prozess. Dies liegt angesichts vieler ungelöster Fragen auch nahe: Die weitere Liberalisierung wichtiger Märkte kommt kaum voran, obwohl sie schon vor Jahren mit der Vollendung des EU-Binnenmarktes abgeschlossen sein sollte. Auch die Bereitschaft, sich auf internationaler Ebene für eine Politik des Freihandels einzusetzen, so gut sie auch zu begründen ist, lässt deutlich zu wünschen übrig. Die Gipfel von Nizza und Stockholm haben nicht den erhofften Erfolg gebracht. Die vollständige Liberalisierung wichtiger Bereiche wie Postwesen, Energie, ein einheitlicher Raum für Finanzprodukte, die einheitliche Besteuerung von Kapitalerträgen, ein binnenmarktkonformes Mehrwertsteuersystem – dies alles wird noch immer gehemmt durch die rein innenpolitisch motivierte Wahrung tatsächlicher oder vermeintlicher nationaler Interessen. Dabei ist es gerade jetzt an der Zeit, die ungeheuren Chancen, die in der weltweiten Arbeitsteilung stecken, herauszustellen. Auch besteht in der Öffnung der Märkte – nicht nur, aber auch in Europa – die einzige Chance, den Hunger in der Welt und die Ursachen von Bürgerkriegen zu beseitigen. Statt dessen vermissen wir auf dem Kontinent, der auch einen Beitrag zur Befriedung europäischer Konfliktherde – Stichwort Balkan – leisten

müßte, die notwendige politische Klarheit. Die Zeichen einer beginnenden Krise sind nicht zu übersehen: Auf dem Gipfel von Lissabon hatten sich die Staatsund Regierungschefs darauf verständigt, die bislang noch nicht geöffneten Märkte im Gleichschritt zu liberalisieren – von diesem Geist ist nichts mehr zu spüren. Frankreichs Energie-Markt weist nach wie vor eine rigide Struktur auf, im Gegenzug droht die Bundesregierung, keinen Strom aus Kernenergie abzunehmen. Statt die Osterweiterung voranzubringen, problematisiert die EU sie immer weiter. Die Deutschen betrachten die Ausdehnung des Modells von Freiheit, Marktwirtschaft und Demokratie richtigerweise unter dem Blickwinkel wirtschaftlicher und politischer Stabilität auch jenseits der Oder. Dagegen wächst in vielen südlichen Ländern der EU die Furcht vor den Konsequenzen für den Agrarmarkt und die Verteilung der Mittel im Rahmen der Struktur- und Sozialfonds. Und so begrüßt die gesamte Union die Osterweiterung unter der Prämisse, wie bisher aus dem Füllhorn der europäischen Fonds bedient zu werden. Was bleibt, ist der Eindruck, dass es den Regierungen und der Union selber an der notwendigen politischen Kraft fehlt, die Integration wirklich voranzubringen. Der Wert des Euro – Lackmus-Test für die Handlungsfähigkeit Die Zeiten, in denen die Deutschen auf Mark und Pfennig rechnen – und die meisten anderen EU-Bürger entsprechend

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Die Zahl der Insolvenzanträge nahm im ersten Halbjahr 2001 deutlich zu

... in ihren Währungen – sind in nicht einmal einem halben Jahr vorbei. Dann wird der Euro mit der Ausgabe von Scheinen und Münzen zu einer vollwertigen und für den Einzelnen umfassend verwendbaren Währung. Das Problem ist, dass uns in Europa einige Wochen vor dem wichtigen Ereignis klare politische Visionen für die Zukunft dieses Kontinents fehlen. Der Europäischen Union selbst fehlt eine kraftvolle Führung, und die deutschfranzösischen Beziehungen – immer der Motor auf dem Weg zur politischen Integration – haben ihre Antriebskraft verloren. So müssen wir etwa die Handlungsfähigkeit der EU mit Mehrheitsentscheidungen verbessern und die Abstimmungsverfahren im Rat vereinfachen – eben dies kommt nicht voran oder ist komplizierter als je zuvor. Dies sind keine guten Voraussetzungen, um eine Union, die eines Tages 20, 24 oder 27 Mitglieder zählt, zusammenzuhalten und erfolgreich zu machen. Aber gerade diese anstehende Erweiterung macht die Frage nach der politischen Gestalt so dringend. Wie müssen wir die Beschlüsse von Nizza weiterentwickeln, um Europa wieder handlungs- und entscheidungsfähig zu machen? Das Ziel muss in einer wirklich föderalen Ordnung der Europäischen Union bestehen, die sich an den Prinzipien der Subsidiarität orientiert. Diese Idee ist nicht neu, wir diskutieren darüber schon seit langer Zeit und verwenden da18 trend

zu den Begriff des Verfassungsvertrages, so wie ihn Wolfgang Schäuble vor Jahren in die Diskussion gebracht hat. Nur sind die Staats- und Regierungschefs in Nizza leider die Antwort auf die Frage schuldig geblieben, welchen Inhalt ein solcher europäischer Verfassungsvertrag haben soll. Damit ist bislang ungeklärt: Wozu brauchen wir Europa? Wieviel und welches Europa wollen wir? Und ist eine Union von möglicherweise 24 oder 29 Mitgliedern als homogener Staatenverbund mit gleichen Rechten und gleichen Pflichten für alle politisch und organisatorisch überhaupt zusammenzuhalten? Eben diese Zweifel muss der Europäische Verfassungsvertrag ausräumen, indem er die Kompetenzen festlegt und die Gemeinschaftsaufgaben ausgestaltet. Daneben brauchen wir eine Reform der Institutionen. Denn das Europäische Parlament ist heute noch kein vollwertiger Gesetzgeber, der Rat dagegen ist Gesetzgeber und Exekutive zugleich und auch die Kommission erfüllt legislative und exekutive Aufgaben. Die Strukturen der Europäischen Union werden den Prinzipien der demokratischen Gewaltenteilung nicht gerecht, und eben diesen Mangel müßte ein Verfassungsvertrag heilen. Kyoto – Name eines Dilemmas Außerhalb der Europäischen Union können wir nicht mit einem Instrument wie einem Verfassungsvertrag die politische Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit sicherstellen. Dort sind wir eher auf die Instrumente politischer Koopera-

tion – auch auf informelle Wege des Interessenausgleichs – angewiesen. Diese Erkenntnis wiegt um so schwerer, als wir auf internationaler Ebene vor einer doppelten Herausforderung stehen: einerseits die Voraussetzungen für eine weitere wirtschaftliche Integration zu schaffen und andererseits politische Zielsetzungen – etwa im Umweltschutz – zu verwirklichen. Dieses Dilemma ist vor kurzem mit der rigorosen Absage der amerikanischen Regierung an das sogenannte Kyoto-Protokoll sehr deutlich geworden. Dieses Nein ist ein schwerer Rückschlag für eine gemeinsame, weltweite Klima- und Umweltpolitik. Aber auch die deutsche Bundesregierung hat nach dem Ausstieg aus der friedlichen Nutzung der Kernenergie kein Konzept dafür, wie Klimaschutz national und international erfolgreich zu gestalten ist. Was die Handelspolitik betrifft, so ist die Liberalisierung längst keine ausschließliche Frage der Zolltarife mehr. Im Zuge einer immer dichteren wirtschaftlichen Verflechtung nehmen auch die Wechselwirkungen zwischen nationalen Ordnungen und Regulierungspraktiken und dem internationalen Ordnungsrahmen zu, etwa im Kartellrecht, aber auch im Gesundheitswesen oder im Verbraucherschutz. Mit der Ausdehnung der GAT-Prinzipien, der Nicht-Diskriminierung und der Meistbegünstigung auf den Handel mit Dienstleistungen im Zuge der UruguayRunde wurde erst richtig deutlich, dass die nationalen Dienstleistungsmärkte durch eine Vielzahl von Regulierungen, unterschiedliche Qualitätsanforderungen und vieles mehr voneinander abgeschottet sind. Aufgrund der engen Verknüpfung dieser Märkte mit vielen Politikbereichen kann eine Liberalisierung nur gelingen, wenn gleichzeitig Regeln auf komplementären Themenfeldern vereinbart werden. Dazu gehören der Investitionsschutz, öffentliches Auftragswesen, der Schutz geistigen Eigentums und die gegenseitge Anerkennung von Normen und Standards. Dies ist eine Gemeinschaftsaufgabe aller Staaten. Kein „closed shop“ der Großen Deutschland lag im zurückliegenden Jahr hinter den USA auf Platz 2 der größten Import- und Exportländer und hat folglich ein vitales Interesse an offenen Märkten und weiter wachsenden internaIII. Quartal 2001

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Senkung der Lohnnebenkosten bleibt ein bloßes Versprechen. Der politische Willen zu wirklichen Reformen in Deutschland fehlt. Und so darf sich niemand darüber wundern, wenn etwa der Vorsitzende der IG-Metall eine Betriebsvereinbarung bei VW, mit der 5.000 Arbeitsplätze entstehen sollen, von außen zerstört, weil er die Interessen seiner Gewerkschaftsorganisation beeinträchtigt sieht.

Die Kosten der Bürokratie und Überregulierung werden überall spürbar

... tionalen Wirtschaftsbeziehungen. Die EU und die Vereinigten Staaten müssen deshalb ihre bilateralen Wirtschaftsbeziehungen verbessern und sich gemeinsam für eine neue Welthandelsrunde einsetzen. Der bevorstehende Beitritt Chinas zur WTO ist ein großer Schritt und gibt Anlass zu neuen Hoffnungen. Gleichzeitig ist aber unverzichtbar, etwa die G7 oder G8-Runde weiterhin als politisches Forum für die wirtschaftliche Integration zu nutzen. Schließlich geht es bei diesen Gipfeltreffen längst nicht mehr um die ursprüngliche Absicht, die Konjunktur zwischen den wichtigsten Industrienationen zu stabilisieren. Der letzte Gipfel in Japan hat gezeigt, mit welch breiter Themenpalette sich die Teilnehmer beschäftigen müssen: sie umfasst die „Informationsgesellschaft“ ebenso wie die Bekämpfung des Drogenhandels und die Geldwäsche. Gerade deshalb ist es wichtig, dass in diesem Kreis mehr als bisher die Stimmen der Entwicklungs- und der Schwellenländer gehört und wahrgenommen werden. Was hindert eigentlich die Staats- und Regierungschefs der Industrienationen daran, zu solchen Gipfeltreffen weitere Staaten als Gäste einzuladen und mit ihnen globale Fragen zu diskutieren? Wer Themen wie den Schutz des Klimas und der natürlichen Lebensgrundlagen, die Sicherheit der Kernenergie und die Entschuldung mit einiger Aussicht auf Erfolg behandeln will, muss diese Länder stärker in diese Gespräche einbeziehen. Wem der Schutz des Regenwaldes am Herzen liegt, der muss darüber nicht mit Ruß20 trend

land und Frankreich, sondern mit den betroffenen Ländern Brasilien und Indonesien diskutieren. Damit wüchse dort gleichzeitig das Bewusstsein der eigenen Verantwortung für die gemeinsame Sache. Es kommt sehr darauf an, nicht nur die wirtschaftlichen, sondern auch die politischen Strukturen stärker miteinander zu vernetzen. So ließe sich verhindern, dass verschiedene politische Handlungsebenen einzelner Länder, Freihandelszonen und anderer regionaler Bündnisse gegeneinander ausgespielt werden. Bislang haben wir die Schwelle zu dieser notwendigen neuen weltwirtschaftlichen Ordnung noch nicht überschritten. Navigation bei Flaute All dies bedeutet jedoch nicht, dass keine nationale politische Verantwortung bestünde; den Regierungen bleibt auch künftig genügend Arbeit – die Ertragssteuersysteme etwa oder die Systeme der sozialen Sicherheit. Vieles wird auf absehbare Zeit in nationaler Verantwortung bleiben. Dieser Tatsache werden wir uns besonders schmerzlich in Anbetracht der Konjunkturschwäche und des Stillstandes auf dem deutschen Arbeitsmarkt bewusst. Noch immer gelingt es der Bundesregierung nicht, die Voraussetzungen für einen dauerhaften und sich selbst tragenden Aufschwung in Deutschland zu schaffen. Statt der seit langem und von vielen Seiten angemahnten Flexibilisierung des Arbeitsmarktes hat sie vielmehr dessen „RückRegulierung“ in Angriff genommen. Die

Genau dies wollten die Unionsparteien mit ihren Vorschlägen zur Modernisierung der Betriebsverfassung verhindern. Sie wollten eine Bresche für betriebliche Bündnisse für Arbeit schlagen, für mehr Beschäftigung und deren Sicherung. Es waren der Kanzler und seine rot-grüne Bundesregierung, die den mächtigen Gewerkschaftsfunktionären das Instrument in der Hand gelassen haben, eben dies zu verhindern. Die Frage, wie Politik national und international zu handeln hat, beantwortet Alfred Müller-Armack – neben Ludwig Erhard „Vater der Sozialen Marktwirtschaft“. Deren Sinn sei es, das Prinzip der Freiheit auf dem Markte mit dem des sozialen Ausgleichs zu verbinden. Und wenn zurzeit in Berlin die SPD mit den Grünen und der PDS die Achse der Republik endgültig nach links verschieben wollen, dann ist es nötig, diesem linken Bündnis eine klares Profil der Freiheit und der gemeinsamen Verantwortung für Deutschland entgegenzusetzen. In den Worten Müller-Armacks heißt das: „Der Einzelne, der sich dem Ganzen der klassenlosen Gesellschaft gegenüber in einer anonymen und hilflosen Rolle fühlt, muss angesprochen werden auf seine innersten Lebenstendenzen hin, um von der Gesellschaft her jene Antwort zu erhalten, die er unbewusst oder ausgesprochen an die Gesamtheit stellt. Ihm muss nicht nur die Möglichkeit gegeben werden, seinen Platz in der Gesellschaft, seine Ausbildung, seine Wirkungsmöglichkeiten zu finden. Es bedarf nicht minder, ihm seine berechtigte oder unberechtigte Furcht vor jenen Mechanismen einer freien Gesellschaft zu nehmen, denen er sich ausgeliefert fühlt.“ Diesen Auftrag haben wir zu erfüllen: die Wirtschaft, die nicht erfolgreich sein kann, wenn die Rahmenbedingungen nicht stimmen, und die Politik, die keinen Erfolg hat, wenn der Kompass der Freiheit in Deutschland nicht richtig eingestellt bleibt. 앬 Aus Rede Wirtschaftstag 2001

III. Quartal 2001


GLOBALISIERTE MÄRKTE

Dipl.-Ing. Dr. Jürgen Weber, Vorsitzender des Vorstandes der Deutschen Lufthansa-AG

Mehr Staatsinterventionismus oder internationale Marktwirtschaft Neue Ordnung für globalisierte Märkte

Der Erfolg der Wirtschaft wird draußen gemacht, auf den Märkten der Welt, in globaler Arbeitsteilung, der Erfolg der Politik für den Bürger hingegen immer noch zu Hause. Da tun sich manche Widersprüche auf. In der Luftfahrt sind neue Entwicklungen meist schon Realität, wenn anderswo noch über ihre möglichen Auswirkungen debattiert wird. Die Branche war eine der ersten, die sich mit dem Prozess der Globalisierung auseinanderzusetzen hatte. Konvergierende Kartellpolitik Die Welt braucht so viele Verbindungen, wie wir sie als Lufthansa beispielsweise allein gar nicht darstellen können. Das 21. Jahrhundert wird aber mehr und mehr zu einem Jahrhundert der Netze. Deshalb schließen sich Luftverkehrsunternehmen zu Allianzen zusammen, damit diese Netze optimiert werden können. Die Star Alliance ist ein typisches Produkt dieser Entwicklung. Das Erste, das man innovativen Entwicklungen in Europa entgegenbringt, ist allzu häufig Misstrauen. Während wir in den USA beispielsweise recht zügig eine kartellrechtliche Freistellung für die Allianz Lufthansa/United Airlines erhielten, ist auf dieser Seite des Atlantiks die Untersuchung auch fünf Jahre nach Beginn des Verfahrens noch nicht abgeschlossen. Manch ein Beobachter diskutiert zunehmend den vielleicht nicht mehr zeitgemäßen, den globalisierten Realitäten nicht mehr angepassten Marktbegriff so mancher Kartellbehörden. Es ist höchste Zeit, einen internationalen Rahmen herzustellen, in dem auch die Kartellbehörden schließlich zu einer konvergierenden Politik finden können.

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ehr Staatsinterventionismus oder internationale Marktwirtschaft – ist das überhaupt noch eine Alternative? Dass hier Staatsinterventionismus zu nichts führt, ist eine Weisheit, die ich sicher nicht vermitteln muss. Wollen wir Innovation, dann muss sich Innovation zuallererst auch einmal entfalten können. Es geht um Fragen echter Zuständigkeiten aber auch korrekter Trennschärfen: Der III. Quartal 2001

Staat soll tun, was des Staates ist, die Wirtschaft, was der Wirtschaft ist. Das ist mein Credo. Zu fragen ist also: Was sind die Grundlagen des Verhältnisses von Privatwirtschaft und Politik in der heutigen Zeit? Wie sieht es aus mit einer neuen Ordnung für globalisierte Märkte? Es ist ja mittlerweile unstrittig, dass die Globalisierung zu einer Veränderung der Beziehungen von Wirtschaft und Politik geführt hat.

Positive Entwicklung durch Privatisierung Lufthansa ist heute ein solides und prosperierendes Unternehmen mit starken internationalen Partnern – trotz einiger nicht so positiver Meldungen in jüngster Zeit. Gerüstet für den globalen Markt und mit guten Wachstumsaussichten ausgestattet, schaffen wir Arbeitsplätze.

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GLOBALISIERTE MÄRKTE

schärfsten Mitbewerber aufbringen mussten. So kann sich Staatsinterventionismus anderswo als Wettbewerbsblocker für vermeintlich Unbeteiligte auswirken. Auch lokale Politik hat globale Auswirkungen. Das Fallbeispiel Lufthansa belegt: Es lohnt sich, wenn Politik dem Markt und seinen Teilnehmern erlaubt, sich zu entwickeln. Sie muss einen Rahmen setzen, der Wettbewerb ermöglicht, der aber zugleich auch wettbewerbsfähig ist. Das Handeln ist die Aufgabe der Wirtschaft. Wenn Kreativität, Leistungsbereitschaft und unternehmerischer Geist sich frei entfalten können, dann werden Wohlstand und Arbeit geschaffen. Vieles geschieht aber leider noch zu zögerlich. Die Welt wartet nicht auf uns.

„Der Staat soll tun, was des Staates ist, die Wirtschaft, was der Wirtschaft ist“

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Ohne das Stimulans unserer vollständigen Privatisierung wäre diese positive Entwicklung nicht denkbar gewesen. Wobei die richtige Schrittfolge wichtig war: Erst Sanierung, dann Restrukturierung, dann Privatisierung, dann eine strategische Neupositionierung. Das gesundete Unternehmen bekam eine Passform, um auch bei Wachstum gesund bleiben zu können.

Jetzt bezahlt der Kunde den Arbeitsplatz, nicht der anonyme Steuerzahler. Aus Staatssicht ist die Lufthansa Privatisierung ein guter Deal gewesen: Keine Ausgaben für Beihilfen – und zusätzlich ein guter Verkaufserlös. Privatisierung heißt Abschied nehmen vom Staatsunternehmertum. Nicht jedem allerdings fällt das leicht. Es war ärgerlich mit anzusehen, wie in den letzten zehn Jahren die europäischen Steuerzahler mehr als 20 Milliarden DM für Beihilfen an einige unserer

Infrastrukturengpässe Richten wir unseren Blick über die Grenzen, so meine ich auch da, dass bei stabilen Voraussetzungen auf internationalen Märkten das gleiche Prinzip gelten sollte: Die Politik setzt den Rahmen, die Wirtschaft handelt. Es gibt Herausforderungen, die grenzüberschreitende Auswirkungen haben und ohne gestalterisches Wirken der Politik nicht gelöst werden können: Die Infrastrukturengpässe beispielsweise, die riesige Kosten verursachen, Millionen von Reisenden belasten und die Effizienz der Wirtschaft beeinträchtigen. Am Boden wirken sie sich in der Form unzureichender Flughafenkapazitäten aus. Hier sind Gesetzgeber aller Ebenen gefragt. Die Gesetzgeber müssen den beschleunigten Ausbau der Infrastruktur im Interesse der Mobilität der Menschen und der Wirtschaft vorantreiben, schon gar einer Volkswirtschaft wie der unsrigen, die zu den größten Exporteuren der Welt gehört. „Online“ bleiben, den Zugang sichern muss eine wichtige Aufgabe vorausschauender Wirtschaftspolitik sein. Der Transport gehört dazu, denn er ist ein Erfüllungsgehilfe der Wirtschaft.

„Globalisierung führt zu einer Veränderung der Beziehungen von Wirtschaft und Politik“

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Der Staat kann ja, wenn er will! So lösen Bayern und Sachsen Infrastrukturfragen völlig unkompliziert, die in Hessen, Nordrhein-Westfalen und Berlin aus den unterschiedlichsten Gründen Bauchschmerzen bereiten. III. Quartal 2001

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GLOBALISIERTE MÄRKTE

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Hier gilt: der Vorteil unseres föderalen Staatswesens kann sich in sein Gegenteil verkehren, wenn wir aufgrund der spezifischen Besonderheiten einzelner Regionen zu unterschiedlichen Tempi beim Infrastrukturausbau kommen. Ich hoffe, dass sich innerhalb der Bundesregierung die pragmatische Linie von Minister Bodewig gegenüber den Vorstellungen von Umweltminister Trittin in der Frage des Lärmschutzes durchsetzt, zumal Lufthansa zu den Trendsettern im Umweltschutz im Luftverkehr gehört. Transatlantischer offener Markt Infrastrukturengpässe haben wir aber auch in der Luft. Der oft beschworene gemeinsame Himmel über einem gemeinsamen Europa bleibt Fiktion. Es gibt eine Notwendigkeit zur grenzüberschreitenden

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Konsolidierung. Wir haben in Europa zu viele Airlines mit zu vielen kleinen, fragmentierten Märkten. Anders in den USA. Wir erleben zur Zeit – trotz der Größe der Airline-Industrie dort – eine zweite große Konsolidierungswelle. Am Ende werden drei oder vier große Airlines in Amerika übrig bleiben. Diese US-Airlines werden dann versuchen, im Weltmarkt das Sagen zu haben. In diese Diskussion ist die Frage einzubeziehen, ob die nationalen und europäischen Strukturen aus globaler Perspektive einen ausreichenden Rahmen bieten, der den Anbietern und Produzenten Europas eine reelle Wettbewerbschance eröffnet. Für den Verkehrsbereich bin ich mir ziemlich sicher, dass ein zerstückeltes Europa

kaum Gestaltungsspielräume für ein „level playing field“ im globalen Wettbewerb bietet. So denke ich, muss die EU mit den USA recht bald einen gemeinsamen nordatlantischen Luftverkehrsmarkt aushandeln, um der Weltmacht des Luftverkehrs in Augenhöhe gegenüber treten zu können. Der Open Sky hat erste Türen geöffnet. Wir wollen aber mehr als viele kleine Open Skies. Wir wollen einen transatlantischen offenen Markt. Und auch die heutige Bundesregierung befürwortet diese Idee. Lufthansa wünscht sich eine Stärkung der europäischen Wettbewerbsposition in allen Bereichen, vor allem aber natürlich auch in der weltweiten Zivilluftfahrt. Den Rahmen dazu setzt die Politik. 앬 Aus Rede Wirtschaftstag 2001

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BundesdelegiertenVersammlung 2001

Plädoyer für eine entschlossene Ordnungspolitik der Sozialen Marktwirtschaft Rückgang der wirtschaftlichen Gestaltungsfreiheit ist ein Alarmzeichen Kurt J. Lauk III. Quartal 2001

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ie internationalen Finanzmärkte haben die verfehlte Wirtschaftspolitik der Bundesregierung überraschend schnell abgestraft. Sieht man genauer hin, ist dies allerdings nicht mehr verwunderlich: Ein massiver Konjunktureinbruch wird begleitet von einer Inflationsrate, wie wir sie nur aus den siebziger Jahren gewohnt sind, zu den Zeiten der letzten SPD-Regierung. Seit Jahren macht erstmals wieder der Schreckensbegriff „Stagflation“ die Runde. Darum trauen die Finanzmärkte den USA inzwischen eine schnellere Erholung zu als der der Bundesrepublik – nichts zeigt deutlicher, wie schlecht es um die Wirtschaftspolitik der Regierung Schröder bestellt ist. Darum ist es heute wichtiger denn je, klare ordnungspolitische Schneisen in das Regulierungsdickicht der Bundesregierung zu schlagen.

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Generationen, weil sie das nunmehr untaugliche Umlagesystem finanzieren müssen. Damit keine Missverständnisse aufkommen: Die Solidarität in der Gesellschaft ist als Ausdruck der sozialen Mitverantwortung in unserer Wirtschaftsund Gesellschaftspolitik nach wie vor wichtig. Deshalb ist es auch wichtig, dass wir die Finanzierbarkeit im Auge behalten. Bei einem solchen Befund wagt man sich nicht zu weit vor, wenn man konstatiert, dass die Ausprägung der Sozialen Marktwirtschaft „Phase eins“ inzwischen unfair ist.

... Befund nach drei Jahren Zunächst aber der Befund nach drei Jahren rot-grüner Regierungsarbeit: Die Investitionsquote im Bundeshaushalt ist auf einem historischen Tiefpunkt angelangt. Lag sie vor gut zehn Jahren noch bei rund 16 Prozent der Ausgaben, ist sie heute auf unter zehn Prozent abgeschmolzen. Am Arbeitsmarkt wird wieder rückreguliert, die so genannte Modernisierung des Betriebsverfassungsgesetzes ist das beste Beispiel für die Regulierungswut. Die Klientelpolitik zu Gunsten der Gewerkschaften schränkt die unternehmerische Freiheit gefährlich ein und geht auf Kosten der Arbeitsplätze. Die Wirtschaft, die 1998 noch einem gut laufenden Benzinmotor glich, ist ins Stottern geraten. Mehr noch: Der selbst ernannte Autokanzler Gerhard Schröder hat den Motor fast zum Stillstand gebracht, weil er den rund laufenden Benziner ständig mit Dieselkraftstoff malträtiert. Der Rückgang der wirtschaftlichen Gestaltungsfreiheit ist ein Alarmzeichen – er drückt sich darin aus, dass wir in Europa inzwischen das Schlusslicht bei der konjunkturellen Entwicklung bilden. Gewiss, das weltwirtschaftliche Umfeld hat sich eingetrübt, der Wachstumseinbruch in den USA und die Stagnation in Japan drücken durch die zunehmende weltwirtschaftliche Verflechtung auch auf das Wachstum hier zu Lande. Aber das niedrigste Wachstum in Europa, das hat Deutschland nicht verdient. 68 trend

Rückbesinnung auf klare Ordnungspolitische Grundsätze Vor diesem Hintergrund ist eine Rückbesinnung auf klare ordnungspolitische Grundsätze wichtiger denn je. Das zeigt auch der Blick auf die umlagefinanzierten Sozialversicherungssysteme, die an die Grenzen ihrer Belastbarkeit angelangt sind. Die Systeme, von der gesetzlichen Krankenversicherung bis zur Rentenversicherung, sind in Zeiten hoher Wachstumsraten angelegt worden; sie sind entwickelt worden, als die gegenwärtige demographische Entwicklung noch nicht ausreichend erkannt war. Sie gehören gewissermaßen zur Phase eins der Sozialen Marktwirtschaft. Heute aber bedarf es eines Wirtschaftswachstums von mindestens drei Prozent, um die Finanzierbarkeit der Systeme in ihrer jetzigen Ausgestaltung zu erhalten. Anders ausgedrückt: Die Dynamik der Umlagesysteme ist deutlich höher als die Dynamik des Wirtschaftswachstums, was dazu führt, dass eine rein umlagefinanzierte Konzeption auf Dauer einfach nicht mehr bezahlbar ist. Das ist eine große Ungerechtigkeit gegenüber den künftigen Generationen. Hier sind Grenzen der Belastbarkeit erreicht worden, die Umsetzung der Sozialen Marktwirtschaft ist in diesem Sinne „unfair“ geworden. Unfair gegenüber denen, die heute von dem System abhängen, weil es nicht mehr das hält, was es verspricht. Und unfair gegenüber künftigen

Hin zu mehr Eigenverantwortung Der Wirtschaftsrat stellt der Regierung Schröder darum fünf Thesen entgegen, die uns zu einer neuen Phase der Sozialen Marktwirtschaft führen. Dazu müssen wir uns in der Ordnungspolitik weg bewegen vom staatlichen Dirigismus hin zu mehr Eigenverantwortung. Nur so kann die Gerechtigkeit auch für die kommende Generation gewahrt werden. 1. Mehr Zutrauen in die Mündigkeit des Bürgers Erstens: Die gegenwärtige Vorstellung der Bundesregierung vom aktivierenden Staat wird einem modernen freiheitlichen Staatsverständnis, das auch Freiheit für die einzelnen Individuen zulässt, nicht gerecht. Mehr Zutrauen in die Mündigkeit und die Entscheidungsfähigkeit der Bürger ist notwendig. Mehr Freiheit, mehr Selbstverantwortung und der Rückzug des Staates auf seine Kernkompetenzen sind zwingend. Noch in den sechziger Jahren lag die Staatsquote bei 37 Prozent. Heute liegt sie bei 47 Prozent, und man kann nicht behaupten, dass es uns heute besser geht, weil der Staat immer mehr Bereiche an sich gezogen hat. Der Blick auf andere Industrieländer zeigt, dass das nicht so sein muss. In Amerika etwa liegt die Staatsquote nur bei knapp unter 30 Prozent, in England bei 35 Prozent. 2. Eigenverantwortung möglich machen Damit komme ich zum zweiten Punkt: Wenn wir den Bürgern mehr Eigenverantwortung zurückgeben wollen, müssen wir ihnen diese überhaupt möglich machen. Weil es dringend notwendig ist, dass die Menschen ein gutes Stück ihrer sozialen Absicherung selbst übernehmen, muss die Politik zunächst die Vor- ... III. Quartal 2001


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... aussetzungen dafür schaffen. Wenn die Bürger mehr eigenes Kapital etwa zu ihrer Altersvorsorge beitragen sollen, heißt das, dass der Staat ihre Abgabenbelastung zuvor deutlich zurückschrauben muss. Steuersenkungen sind hier ein Rezept, die entsprechenden Vorschläge vom ehemaligen Verfassungsrichter Paul Kirchhoff und von Gunnar Uldall liegen auf dem Tisch. Der Spitzensteuersatz der Einkommensteuer müsste auf höchstens 35 Prozent gesenkt werden. Wenn der Umbau der sozialen Sicherungssysteme nicht auf den Sankt-Nimmerleinstag verschoben werden soll, dann müssen wir uns zügig an eine große Steuerreform heranwagen. Auch unter dem Gesichtspunkt einer raschen Entlastung ist die Steuerreform der Bundesregierung unzureichend. Wenn sie sich schon nicht traut, die Steuersätze beherzter zu senken, dann sollte sie zumindest die geplanten Entlastungen rascher in Kraft treten lassen, also die Steuerreformstufen 2003 und 2005 auf das Jahr 2002 vorziehen. Einer der wichtigsten Punkte für eine schnelle und groß angelegte Steuerreform ist der, dass die Bürger wieder mehr Kapital in die Hand bekommen. Denn dann sind sie auch in der Lage, mehr zur eigenen Absicherung beizutragen. Erst dann sind die Voraussetzungen für eine Reform der Umlagesysteme in Richtung mehr kapitalgedeckter Elemente geschaffen. Einige Beispiele machen dies deutlich: Warum geben wir den Bürgern nicht die Möglichkeit, auf die volle Lohnfortzahlung im Krankheitsfall zu verzichten, wenn sie dies wollen? Lohnfortzahlung von der ersten Stunde an ist völlig in Ordnung. Wenn ein Arbeitnehmer aber eine andere persönliche Risikostruktur hat, wenn es ihm reicht, erst ab dem dritten Krankheitstag oder erst nach zwei Wochen die volle Lohnfortzahlung zu erhalten, warum soll er dann nicht auch eine entsprechende Vereinbarung mit seinem Arbeitgeber treffen können? Dies als „sozial ungerecht“ zu bezeichnen, ist Unsinn. Die Arbeitnehmer schätzen ihre eigene Risikosituation unterschiedlich ein, und sie könnten sich bezüglich ihrer Lohnfortzahlung und Krankenversicherungen und Sozialhilfe ihr eigenes soziales Risikoportfolio je nach ihren individuellen Präferenzen zusammenstellen. III. Quartal 2001

Ein neues Strukturelement der sozialen Sicherung kommt durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Pflegeversicherung auf uns zu. Wer eine höhere Kostenbelastung durch Kinder auf sich nimmt, der sollte auch weniger einzahlen müssen in die Pflegeversicherung. Das gleiche gilt im Prinzip auch für die Rente und für das Gesundheitswesen. Hierzu haben die Verfassungsrichter in ihrem Urteil zumindest einen Prüfungsantrag erteilt. 3. Variable Bestandteile sichern Zukunftsfähigkeit Meine dritte These lautet: Nur wenn wir alle Sparten der sozialen Sicherungssysteme mit variablen Bestandteilen ausstatten, kann deren Zukunftsfähigkeit unter dem Gesichtspunkt der Fairness gesichert werden. Im Regelungsbereich der staatlich finanzierten Sozialhilfe müssen die Leistungsvoraussetzungen – wie in anderen Staaten – den geringeren Finanzierungsspielräumen angepasst werden. Um es noch einmal zu betonen: Schritt eins und zwei gehören zwingend zusammen, Steuersenkungen sind die unbedingte Voraussetzung für einen Kapitalumbau der Sozialkassen. 4. Arbeitsmarkt flexibilisieren Zu einer neuen Phase der Sozialen Marktwirtschaft gehört viertens eine Flexibilisierung des Arbeitsmarktes. Hier hat die Regierung nichts unternommen. Wenn man sich das abschreckende Beispiel Volkswagen ansieht, wird offensicht-

lich, dass es ohne ein Mehr an Flexibilität nicht mehr geht. Bei VW sollten 5.000 Arbeitsplätze geschaffen werden, 10.000 Menschen haben sich beworben, bis heute ist kein einziger Arbeitsplatz entstanden. Das vernünftige Projekt ist gescheitert am Machtanspruch der Gewerkschaften, weil diese um keinen Preis eine Ausnahme vom Flächentarifvertrag zulassen wollten. Zwar wollten sie einer Bezahlung unterhalb des Haustarifs zustimmen, aber zwingend oberhalb der Regelungen im Flächentarifvertrag bleiben. Dabei sind 5.000 Mark Bruttoentgelt im Monat gewiss kein Hungerlohn. Wer hier von „Sozialdumping“ redet, schert sich nicht um die Interessen der Arbeitslosen, die bereit gewesen wären, für diesen Lohn zu arbeiten. Die starren Regelungen des Flächentarifs verteidigen auch in diesem Fall nur die Interessen der Arbeitsplatzbesitzer. Solch starre Korsette kann sich unser Arbeitsmarkt in einer globalisierten Welt aber nicht mehr leisten. Wenn die Fahrzeuge sich hier nicht zu vertretbaren Kosten herstellen lassen, dann verlegt VW die Produktion eben ins Ausland. Das Beispiel zeigt: Auf der einen Seite haben wir das Phänomen, dass ausreichend Arbeit und auch Arbeitswillige da sind. Arbeitnehmer und Arbeitgeber werden durch den Flächentarif aber ganz offensichtlich daran gehindert, selbstverantwortlich für die Schaffung von Arbeitsplätzen zu sorgen. Das ist kein Zukunftsrezept. Hier muss Flexibilität in die Betriebe und hier ... trend 69


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Hochschule besuchen kann. Wer sich das aus finanziellen Gründen nicht leisten kann, soll dies auch weiter von der Gemeinschaft finanziert bekommen. Warum aber sollte er nicht nach Abschluss seines Studiums aus seinem Einkommen einen Kredit zurückzahlen, mit dem ihm die Gesellschaft die Ausbildung ermöglicht hat? Die Rückzahlungsraten und die Zinsen, die dafür in Rechnung gestellt werden, sind verhandelbar. Dieses Modell muss auch nicht zu unakzeptablen Belastungen beim Aufbau einer jungen Familie führen; auf die soziale Ausgewogenheit bei einem solchen Konzept kann man sehr genau achten.

... muss die Sicherung oder die Schaffung von Arbeitsplätzen wichtiger sein als das Festklammern am Flächentarifvertrag. Der Gesetzgeber kann viel beitragen zu mehr Flexibilität, etwa durch eine Neudefinition oder zumindest Klarstellung des Günstigkeitsprinzips. Warum soll es für den Arbeitnehmer nur günstiger sein, wenn er mehr Gehalt bekommt? Warum erkennt der Gesetzgeber es nicht als „günstig“ an, wenn Beschäftigte durch einen Verzicht auf einen Teil ihres Gehalts ihren Arbeitsplatz sichern? Wenn man hier im Vorhinein entsprechende Vereinbarungen trifft, erspart man sich nachher langwierige und teure Prozesse. Jeder weiß, auf was er sich einlässt – auch das ist ein Gebot der Fairness. 5. Mehr Wettbewerb bei Bildung, Ausbildung und Forschung Die fünfte Forderung des Wirtschaftsrates ist ganz entscheidend: Es geht um mehr Wettbewerb bei Bildung, Ausbildung und Forschung. Es kann nicht angehen, dass in einer freiheitlichen Gesellschaft die Studienplätze nach einem geradezu planwirtschaftlichen Verfahren vergeben werden. Darum brauchen wir mehr Wettbewerb, vor allem im Bereich der Hochschulen. Die Universitäten, oder genauer: die Professoren müssen das Recht haben, sich ihre Studenten selbst auszusuchen. Nur so können Kompetenzzentren mit hoher Qualität sowohl bei der Lehre als auch bei den Studierenden entstehen. Wenn sich Professoren ihre Studenten aussuchen können, werden sie die besten auswählen. Wenn sich die besten Studen70 trend

ten an einer Universität versammeln, werden auch die fähigsten Professoren angezogen. Das ist nicht sozial ungerecht, sondern sichert die Qualität von Ausbildung, Lehre und Forschung einer modernen Wissensgesellschaft und erschließt die notwendigen hohen Standards, für die die deutschen Universitäten weltweit anerkannt waren. Wir wollen nicht die Zahl der insgesamt verfügbaren Studienplätze reduzieren, das wäre genau der falsche Weg. Was wir aber brauchen, ist ein Umverteilen der Studienplätze nach Wettbewerbskriterien. Ebenso wichtig ist die Sicherung der Finanzierbarkeit der Hochschulausbildung, wenn nicht Einbußen an der Qualität hingenommen werden sollen. Mit einem generellen Verzicht auf Studiengebühren ist dies indes nicht zu machen. Eine Studie der OECD stellt fest, dass in 17 von 21 OECD-Ländern im Regelfall Studiengebühren erhoben werden. Deutschland gehört zu jenen vier Ländern, die mit dem Hinweis auf „soziale Gerechtigkeit“ auf dieses Finanzierungsinstrument gänzlich verzichten. Studiengebühren sind nicht, wie so oft behauptet, „sozial ungerecht“, das Gegenteil trifft zu. Warum sollten diejenigen, die nach dem Studium zu den Besserverdienenden einer Gesellschaft gehören, von den Bürgern mit einem niedrigeren Einkommen subventioniert werden? Warum sollten sie nicht einen fairen Beitrag zu ihrer Ausbildung leisten? Natürlich halten wir an dem Prinzip fest, dass jeder, der das möchte, eine

Studiengebühren hätten noch einen weiteren Vorteil: Sie würden den Studenten einen Anreiz geben, genauer darüber nachzudenken, welches Studium für sie sinnvoll ist. Niemandem darf vorgeschrieben werden, was er studieren soll. Aber wenn man sich etwa den Bedarf an Informatikern anschaut, wird deutlich, dass die Mischung der Fächer an den Universitäten weit an den Erfordernissen der Wirtschaft vorbei geht. Heute werden rund 20.000 Informatiker pro Jahr benötigt, ausgebildet werden dagegen nur 7.000. Auf der anderen Seite gibt es eine Schwemme an Studierenden, die sich für die Fächer Musik und Kunstgeschichte entscheiden. Ein so krasses Missverhältnis von Bedarf und Angebot an akademischer Ausbildung kann sich eine hochentwickelte Volkswirtschaft mit starker Exportorientierung nicht leisten. Die Fächermischung hat sich in den vergangenen Jahren deutlich verlagert. Zu wenige Abiturienten wollen heute Ingenieurwesen, Mathematik oder Maschinenbau studieren. In einer Wissensgesellschaft, wo es auch immer mehr auf Topleute aus den Bereichen Biologie, Gentechnik, Physik und Chemie ankommt, kann die eigentliche Innovationskraft einer Volkswirtschaft nur durch mehr Wettbewerb an den Hochschulen gesichert werden. Ein solches Umsteuern braucht Zeit, aber in fünf bis zehn Jahren könnte der Umbau der Hochschullandschaft gelingen. Wichtig ist, dass die Reformen rasch angegangen werden. Denn nur so kann auch an den Hochschulen ein Beitrag zu einer offenen, wettbewerbsfähigen und am Ende fairen Gesellschaft geleistet werden. 앬 III. Quartal 2001


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Sorge um weitere substanzielle Eingriffe in Eigentumsrechte ist begründet Reideologisierung richtet sich gegen die freie bürgerliche Gesellschaft Rüdiger von Voss

Nachrichten und dem verschärften Wettbewerb der Medien untereinander geprägt ist. Hinzu kommt ein auffälliger, dramatischer Akzent, der von einem aktuellen „Außerordentlichkeitsbedarf“ geleitet wird. Diese Erscheinung behindert notwendigerweise diejenigen, die auf ernsthafte sachpolitische Arbeit angelegt und angewiesen sind. Zunehmend tritt der „Tischredakteur“ an die Stelle des persönlich ansprechbaren Berichterstatters, der sich schwergewichtig aus dem Fernsehen bedient und die Agenturlage an die Stelle eigener Recherche setzt. Die „Talkshow Demokratie“ trägt dazu bei, dass die Moral der Unsachverständigen an die Stelle von Sachpolitik tritt. Das Spiel mit der Empörung dient den Medien; Sachfragen können dann nur noch auf Schlagworte reduziert werden. Das sachliche Anliegen ist damit auf der Verliererseite. Aus diesem Grunde müssen wir uns an neue Medienerfordernisse anpassen, um die Kommunikation innerhalb des wachsenden Mitgliederbestandes des Wirtschaftsrates ebenso gewährleisten zu können, wie die Platzierung in den Medien. Internet Eine erste notwendige Maßnahme war es daher, unseren Internetauftritt zu verbessern, was in der Zwischenzeit auch geschehen ist und der weiterhin ausgebaut werden soll. In Zukunft werden wir unsere sonstigen Informationsdienste evaluieren müssen, um die Qualität unserer wirtschaftspolitischen Arbeit deutlicher in Erscheinung treten lassen zu können.

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it dem Jahresbericht 2000 liegt nun der zweite Geschäftsbericht vor, der die Arbeit des Wirtschaftsrates nach dem Umzug darstellt. So wie die Fahnen auf dem Reichstag die meisten Tage des Jahres stramm im Winde stehen, so sind auch wir von den politischen Strömungen, dem gesteigerten Tempo der politischen Auseinandersetzungen und den Turbulenzen geprägt, die ein besonderes Kennzeichen des Berliner Klimas zu sein scheinen.

Vor neuen Herausforderungen Lange verwöhnt durch die Kalkulierbarkeit der auf uns zukommenden poliIII. Quartal 2001

tischen Themen in der langen Regierungszeit der Ära Kohl und den dichten Netzwerken des politischen Diskurses, stehen wir heute vor neuen Herausforderungen, um unseren wirtschaftspolitischen Anliegen und Interessen Gehör zu verschaffen und Aufmerksamkeit zu sichern. Anders als in Bonn stehen wir heute einer Medienlandschaft gegenüber, die sich, informationstechnisch bedingt, grundlegend verändert hat. An die Stelle gefestigter, lange geübter, vertrauensvoller persönlicher Kontakte zu den Vertretern der für uns wichtigen Medien tritt heute zunehmend eine Informationslandschaft auf, die von einer scharfen Konkurrenz der

trend Unsere Zeitschrift „trend“ ist im nunmehr 21. Jahrgang redaktionell und betriebswirtschaftlich erfolgreich gestaltet worden. An der Pressearbeit der letzten Wochen ist ablesbar, dass wir uns auf neue Aufgaben bereits eingestellt haben. Der Internet-Auftritt des „trend“ findet erfreuliches Interesse. Mit jetzt über 5.000 Seitenaufrufen pro Monat hat sich die Zugriffsquote gegenüber dem Vorjahr verdoppelt. Damit sind nach derzeitigem Stand jährlich 60.000 Zugriffe auf die Internet-Fassung des „trend“ ein durchaus respektables Ergebnis. ... trend 71


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schaftspolitischen Institutionen, Verbände und Organisationen. Da unsere Mitarbeiter der volkswirtschaftlichen Abteilung in die für uns wichtigen Arbeitsgruppen der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion als Gäste und Beobachter eingebunden sind, verfügen wir über ein Sachwissen, das uns jeweils in den Stand setzt, auf neue Lagen rechtzeitig zu reagieren.

... 9.000 Mitglieder Der aktuelle Brutto-Status zum 15. Juni dieses Jahres weist 9.137 Mitglieder aus. Damit sind die Ziele für 2001 noch nicht erfüllt. Bis zum Sommer 2002 wollen wir 9.000 Mitglieder im Netto erreichen. Besonders erfreulich ist die Arbeit der rund 900 Junioren. Für das Engagement danken wir den Vorständen unserer Juniorenkreise sehr herzlich. Mehr als 1.100 Veranstaltungen Wie im vergangenen Berichtszeitraum hat der Wirtschaftsrat mehr als 1.100 Veranstaltungen in unseren 163 Sektionen durchgeführt. Für diese wichtige informatorische Arbeit in den Landesverbänden danken wir unseren ehrenamtlichen Vorständen und unseren Landesgeschäftsführern sehr herzlich. Im Verlauf des Jahres 2000 sind insgesamt vier Bundestagungen durchgeführt worden. Die Hauptthemen waren:

왎 Mehr Eigenvorsorge zur Alterssicherung am 22. März 2000, 왎 die Zukunft der Erwerbsgesellschaft am 09. Mai 2000, 왎 die Reform des Betriebsverfassungsgesetzes am 13. November 2000 und 왎 die Bundestagung in Brüssel zur Osterweiterung der EU am 06. Dezember 2000. 72 trend

In elf Landesfachtagungen haben die Landesverbände des Wirtschaftsrates ihr landes- und regionalpolitisch wichtiges Profil geschärft und mit dazu beigetragen, die Ernsthaftigkeit unserer wirtschaftspolitischen Arbeit auch in den Landesverbänden zu verdeutlichen. Acht Bundesfachkommissionen Eine besondere Erwähnung verdienen bei der Berichterstattung unsere acht Bundesfachkommissionen, die in 38 Sitzungen im Jahre 2000 erneut eine vorzügliche Arbeit geleistet haben. Sie können im Jahresbericht nachvollziehen, dass diese Sachverständigenkommissionen nahezu alle wichtigen Themen der politischen Agenda begleitet haben. Da die Berichterstattungen zur Lage der Arbeit des Parlamentes von den jeweiligen Sprechern und Arbeitsgruppenvorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion besorgt werden, ist der unmittelbare Kontakt zu der Willens- und Entscheidungsbildung des Parlamentes gesichert. Damit ist es zugleich möglich, unsere Auffassungen und Positionen an das Parlament heranzutragen. Es sei noch einmal erwähnt, dass sämtliche Arbeitsergebnisse unserer Beratungen und Bundestagungen alle Parlamentarier der Fraktionen des Bundestages ebenso erreichen, wie die Bundesministerien und sonstigen für uns wichtigen wirt-

Wir danken den Vorsitzenden unserer Bundesfachkommissionen für die zu Teilen mühevolle und überaus engagierte Arbeit, die sich heute hoher Anerkennung erfreut. Einen besonderen Dank richten wir an Dr. Klaus Friedrich, den nunmehr ausscheidenden Vorsitzenden unserer Wirtschafts- und Währungspolitischen Kommission, an Dr. Horst Teltschik, den nunmehr ausscheidenden Vorsitzenden unserer Verkehrspolitischen Kommission und an Prof. Dr. Markus, der den Vorsitz in der Energiepolitischen Kommission an Herrn Bonse-Geuking übergeben hat. Auch in diesem Jahr haben diese Kommissionen bemerkenswerte Stellungnahmen und Positionspapiere erarbeitet, die in den Medien eine erfreuliche Resonanz gefunden haben und von den Sachverständigen in den für uns wichtigen wirtschaftspolitischen Bereichen ernsthaft berücksichtigt werden. Die Mitarbeiter der Abteilungen des Wirtschaftsrates verdienen eine besondere Anerkennung, da sie trotz des andauernden Personalwechsels die Kontinuität unserer Sacharbeit stabil halten konnten und unsere Organisation und die Finanzen sowie die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit sicherten. Arbeitsgruppen Die Arbeitsgruppe „Neue Bundesländer„ hat ihre wichtige Arbeit fortführen können. Egon Klopfleisch sei als dem CoVorsitzenden dieser mit mir gemeinsam geführten Kommission ein herzlicher Dank ausgesprochen. Die von mir im Auftrag des Präsidiums geleitete Arbeitsgruppe „Mitbestimmung“ hat rechtzeitig eine eigenständige Positionierung des Wirtschaftsrates erarbeitet. Diese Positionierung ist von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion ebenso ... III. Quartal 2001


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... berücksichtigt worden, wie von der Fraktion Bündnis90/Die Grünen. Trotz aller Proteste der Wirtschaft ist die Novelle des Betriebsverfassungsgesetzes am 22. Juni 2001 von der Koalitionsmehrheit verabschiedet worden. Die Regierung hat dem Standort Deutschland damit keinen guten Dienst erwiesen. Die von uns eingerichtete Arbeitsgruppe „Gesundheitspolitik“ unter dem Vorsitz von Dr. Roland Delbos wird noch in diesem Herbst eine eigenständige Position des Wirtschaftsrates erarbeitet haben. Dies ist eine wichtige Vorbereitung auf die zentrale Debatte um eine zukunftsgerichtete Gesundheitsreform in Deutschland. Wirtschaftsrat Brüssel Der Wirtschaftsrat Brüssel hat 23 Sitzungen bzw. Tagungen im Jahre 2000 durchgeführt. Dies ist eine für unsere europapolitische Arbeit unverzichtbare Anstrengung, für die wir uns bei Dr. Hanns R. Glatz und dem Vorstand in Brüssel herzlich bedanken. Verbunden mit diesen Bemühungen ist das von uns eingerichtete „Euro-InfoDinner“, das im Jahre 2000 zwei Mal stattgefunden hat. Diese, die jüngeren europapolitisch interessierten Abgeordneten erfassende Gesprächsrunde unter dem gemeinsamen Vorsitz von Dr. Friedbert Pflüger und Friedrich Merz, entwickelt sich in der Zwischenzeit zu einer europapolitisch konzeptionellen Arbeitsgruppe. Sie wird noch in diesem Jahr eine eigenständige Konzeption im Blick auf die weitere Entwicklung der europäischen Union und die Vorbereitung der EU-Osterweiterung erstellen. EU-Osterweiterung Wir haben die Absicht, eine Gesprächsrunde zur EU-Osterweiterung einzurichten, die uns helfen soll, diesen wichtigen politischen Prozess erkennbar begleiten zu können. Deutschland von außen Beabsichtigt ist eine neue Veranstaltungsserie mit begrenztem Teilnehmerkreis unter dem Titel „Deutschland von außen gesehen“. Die erste Tagung findet im Herbst dieses Jahres mit dem stellvertretenden Vorsitzenden der britischen III. Quartal 2001

Konservativen Herrn Michael Portillo unter der Leitung von Herrn Dr. Lauk statt. Schwerpunktthemen 2001 Was die vor uns liegende Planung anbelangt, darf ich nur die Schwerpunktthemen nennen, die uns in der Zeit von Sommer 2001 bis Sommer 2002 beschäftigen werden. Wir werden im September das Thema „Nachhaltige Energiepolitik, mehr Wettbewerb, weniger Staatseingriffe“ aufrufen. Wir werden im November das Thema „Kapitaldeckung in der Altersversorgung und im Gesundheitswesen – Chancen für einen Generationenvertrag“ behandeln. Im Februar/März 2002 wird das Thema „Revolution im Steuerrecht – das Karlsruher Modell für ein neues Steuergesetzbuch“ diskutiert. Im Mai 2002 – also vor dem nächsten Wirtschaftstag – wird das Thema „Arbeitsmarktpolitik mit Zukunft“ aufgegriffen. Wir werden eine Arbeitsgruppe zur Unterstützung der konzeptionellen Arbeit an der Steuerreform einrichten. Die Energie- sowie die Umweltkommission werden unter Beteiligung der Fraktionsführung der CDU/CSU und der maßgeblichen Vertreter der energiewirtschaftlichen Unternehmen in Deutschland eine zweitägige Klausurtagung in Berlin durchführen. Die Verkehrskommission sowie die Kommission „Innovation und Information“ werden ihre konzeptionelle Arbeit fortführen.

Auf der Höhe der Zeit Präsidium und Bundesvorstand haben sich im Jahre 2000 mit den Schwerpunktthemen wirtschafts- und gesellschaftspolitischer Zielvorstellungen, mit den programmatischen Arbeiten der Christlich Demokratischen Union, der Rentenreform, der Beschäftigungspolitik, der Gesundheitspolitik sowie der Einwanderungspolitik prononciert auseinandergesetzt. Beide Gremien sind in der konzeptionellen Führung des Wirtschaftsrates damit auf der Höhe der Zeit gewesen und wir bedanken uns für diese wichtige wirtschaftsordnungspolitische Rückendeckung. Grundlegende Veränderung Lassen Sie mich im zweiten Teil meines Berichtes auf eine staats- wie verfassungsrechtliche Entwicklung hinweisen, die uns zunehmend mit Sorge erfüllen muss. Eine signifikante Entwicklung des Politik- und Regierungsverständnisses der rot-grünen Koalition und insbesondere des Bundeskanzlers Schröder ist eine grundlegende Veränderung des Verhältnisses von Parlament und Regierung, der für die Bundesrepublik charakteristischen parteienstaatlichen Ordnung im Verhältnis zu den Gruppen der Gesellschaft und ihren Interessenvertretungen. Die Vermutung drängt sich immer mehr auf, dass sich der politische Auftrag des Parlamen- ... trend 73


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Anhörungen, legitime Beeinflussungen und daraus folgende politische Interessenvertretungen nehmen könnten. Mit großer Sorge muss man feststellen, dass es die Gewerkschaften bei der Reform des Betriebsverfassungsgesetzes geradezu apodiktisch ablehnten, über diese entscheidenden Fragen mit den Arbeitgebern auf dem Boden des Bündnisses für Arbeit zu sprechen, oder sich sogar einer wirtschaftsordnungspolitischen und gleichermaßen sozialpolitischen zukunftsorientierten Begründung ihrer deutlich ideologischen Forderungen stellen zu müssen.

... tes und der Willensbildungs- und Entscheidungsauftrag der wirtschaftlichen, sozialen und nunmehr auch wissenschaftlichen Gruppen wie zwei tektonische Platten gegenüberstehen, die sich zunehmend zu Lasten des Parlamentes und zu Gunsten der Regierung verschieben, so als wolle sie sich zunehmend aus den verfassungsrechtlichen Kompetenzen des Parlamentes lösen. Einschlägige Erfahrungen Hierzu gibt es für uns bereits politisch einschlägige Erfahrungen: Schon zu Zeiten der auf der Grundlage des Wachstums- und Stabilitätsgesetzes institutionell begründeten Konzertierten Aktion trugen maßgebliche Teile der deutschen Staats- und Verfassungsrechtswissenschaft Bedenken vor, die vor einer zunehmenden Entkernung der dem Parlament zugeordneten Entscheidungsrechte warnten. Mit der Mitbestimmungsklage der Arbeitgeber 1976 platzte die Konzertierte Aktion nicht nur wegen der Konfrontation zwischen den Arbeitgeberverbänden und den Gewerkschaften. Entscheidend trug hierzu bei, dass sich innerhalb der Gewerkschaften eine Frontstellung herausbildete, die dem Deutschen Gewerkschaftsbund eine weitergehende Verhandlung mit den Arbeitgebern mit dem Ziel einer sozialpartnerschaftlichen Verständigung unmöglich machte. 74 trend

Dies ist im übrigen heute dokumentarisch zu belegen und in den letzten Jahren erneut in Erinnerung gerufen worden, als der erste Versuch zu einem „Bündnis für Arbeit und Beschäftigung“ unter der Regierung Kohl scheiterte, weil die Gewerkschaften nicht bereit waren, über die Neutralität der Bundesanstalt und späterhin über eine Korrektur der Lohnfortzahlung auf einer derartigen Etage der Entscheidungsfindung unter dem Vorsitz der damaligen Regierung zu verhandeln. „Räte-Politik“ Seit Mai 1999 bis heute hat die Regierung Schröder acht Konsensrunden bzw. Räte für fast alle wichtigen Politikbereiche eingerichtet. Man spricht von weiteren insgesamt 100 wissenschaftlichen Beiräten, die die Ministerien bei ihrer Arbeit begleiten. Von einer „Räte-Politik“ ist hier die Rede. Heute gibt das „Bündnis für Arbeit“ und insbesondere der von Bundeskanzler Schröder ins Leben gerufene „Nationale Ethikrat“ allen Anlass dazu, diese substanzielle Verschiebung institutioneller Ebenen kritisch zu beleuchten. Für die vor uns liegende Zeit müssen wir einen festen Standort formulieren, der es ermöglicht, sich Entwicklungen in den Weg zu stellen, die in der Konsequenz das Parlament weiterhin schwächen und den organisierten Interessen und ihren Verbänden das Parlament als Anlaufstelle für

Mit dem „Nationalen Ethikrat“ hat eine Bundesregierung zum ersten Mal in der Geschichte dieses Landes Sachverständige ohne jegliche Konsultation mit dem Parlament berufen. Sie hat diesen Rat mit einem maßgeblichen politisch gezielten Auftrag versehen und sodann mit dem Anspruch eingesetzt, außerhalb des Parlamentes, ohne Rücksicht auf die schon seit langer Zeit eingesetzte Enquete-Kommission „Recht und Ethik der modernen Medizin“, eine in der Konsequenz auf die nationale Entscheidungsfindung wirkende Empfehlung zu erarbeiten. Damit wird ein „vorformulierter Konsens“ solcher Räte zu einem neuartigen politischen Kampfmittel. Leerlaufen der Verfassung Der Bundespräsident hat hierzu in seiner jüngsten Berliner Rede einen wichtigen Hinweis gegeben, der auf den verfassungsrelevanten institutionellen Kern zielt, der hier gemeint ist, wenn er sagte: „Wer die Entscheidungen über das, was gemacht werden soll, der Wissenschaft überlassen will, verwechselt die Aufgaben von Wissenschaft und Politik in einem demokratischen Rechtsstaat.“ Damit ist eine Entwicklung gemeint, wie sie hier beschrieben wird. Die Wirtschaft und ihre Verbände sind in gleicher Weise berührt wie die politischen Parteien und die von ihnen gewählten und ins Parlament entsandten Abgeordneten, ihre institutionellen Vorrechte und Entscheidungsverfahren. Denn das Parlament ist stets dann unmittelbar gefordert, wenn es darum geht nationale und damit alle Bürger berührende Entscheidungen wichtigster Art zu be- ... III. Quartal 2001


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... handeln, zur Debatte zu stellen und zur Entscheidung zu treiben. Also auch zur Abstimmung und damit zu einem erkennbaren Weg der Entscheidungsvorschläge, der uns erlaubt, zwischen Mehrheits- und Minderheitenpositionen unterscheiden zu können. Die Staatsrechtler Dieter Grimm und Paul Kirchhof befürchten eine Entwertung und zunehmendes Leerlaufen der von der Verfassung vorgesehenen Entscheidungsorgane und Entscheidungsverfahren. Es geht bei dieser grundsätzlichen Kritik nicht darum, einer Regierung den Zugang zu hochrangigem Sachverstand zu bestreiten. Es geht um die politischen und zugleich institutionellen Intentionen, die in Auftrag und Zielen von Gremien angelegt sind, die ausdrücklich auf ein „nationales“ Interesse ausgerichtet worden sind. Ganz deutlich wird die Gefahr eines institutionellen Konflikts, wenn Empfehlungen eines „nationalen Rates“ der Regierung von den sie tragenden Fraktionen Zustimmung und Gefolgschaft verweigert werden soll. Der sich sofort anbahnende Loyalitätskonflikt kann ohne eine Desavouierung des Rates und zugleich der Regierung nicht ausgetragen werden. Die politische Opportunität begünstigt die Regierung. Das ist die unerbittliche Folge. Gewaltenteilung stützt die Freiheit Der Philosoph Odo Marquard hat in seinem im letzten Jahr veröffentlichten Aufsatz „Apologie der Bürgerlichkeit“ warnend darauf hingewiesen, dass wir uns nicht aus der „Bewahrungskultur“ der geordneten Wahrnehmung von Freiheitsrechten entfernen dürfen, wenn wir nicht Gefahr laufen wollen, dass die Grundregeln der Gewaltenteilung aufgehoben werden oder schrittweise leer laufen. Es sind gerade die Rechtsverhältnisse und die Ordnung der Gewaltenteilung, die die Wahrnehmung von Freiheit schützen und uns vor Gleichschaltung gleich welcher Art bewahren. Sie schützen uns vor dem verfassungsrelevanten Aushebeln der Aufträge, die den politischen Parteien wie in Art. 21 GG, den freigebildeten Koalitionen und damit auch den Wirtschafts- und Arbeitgeberverbänden in Art. III. Quartal 2001

9 GG zugeordnet und zugleich verliehen worden sind. Freiheit gibt es nur dort, wo Distanz gewahrt werden kann, wo sich Interessen eben nicht dem Zugriff einer Methode ausgesetzt sehen, die im Vorhof des Parlamentes nationales bedeutsames Interesse derart vorformuliert, so dass das Parlament nur noch zum Notar von Entscheidungsvorlagen der Regierung wird oder Interessen derart als „unanständig“ und „national abträglich“ deklariert werden, dass sie schon vor der Entscheidungsfindung des Parlamentes in ihrer öffentlichen Akzeptanz ruiniert werden. Die heute vielfach beklagte „Beratungsresistenz„ der rot-grünen Koalition und ihrer Regierung hat in dem hier dargestellten Hintergrund dann sogar Methode. Der „Runde Tisch“ ist somit ein Herrschaftsinstrument, das auf Widerstand stoßen muss. Kritik an hochmütiger Vernachlässigung Der Soziologe S. N. Eisenstadt beschäftigt sich in seinem letztes Jahr veröffentlichten Buch „Die Vielfalt der Moderne“ mit einer in offenen Gesellschaften immer wieder auftretenden Spannung zwischen Interessenpluralität oder dem ihr scharf gegenüberstehenden ideologisch begründeten Primat des Kollektivs. Auf dieses ideologisch begründete Primat und daraus abgeleitete Gestaltungsansprüche bezogen sagt er: „Die Essenz dieser jakobinischen

Orientierung war der Glaube an die Möglichkeit, eine Gesellschaft durch totalistische politische Aktion umzugestalten.“ Wer also danach strebt, das Zentrum der Gesellschaft umzugestalten – und dies gilt in besonderem Maße für alle Fragen der Gentechnologie – verfolgt eine Politikmethode, die sich notwendigerweise gegen intermediäre Institutionen und Assoziationen, gegen die von uns bejahte Zivilgesellschaft und die für uns unverzichtbare Ordnung der Verbände richtet. Um es deutlich zu sagen: Wir wehren uns gegen einen jakobinischen Regierungsstil, der „Basta“ sagt und für „unanständig“ oder „moralisch“ zweifelhaft erklärt, wenn Vorschlägen und Vorhaben der Regierung mit deutlicher Kritik begegnet oder legitimer Widerstand angekündigt wird. Was hier beanstandet wird, ist der Trend zur „Alleinregie“. Es ist die Kritik an einer hochmütigen Vernachlässigung der Privilegien des Parlamentes. Die Fraktionen erkennen ihrerseits zunehmend, dass sie in politische Bedrängnis geraten und an Legitimation verlieren. Sorgen um Eingriffe in Eigentumsrechte Schließt man sich diesen Warnungen von Odo Marquard an, so verhandeln wir in Wahrheit über Kernbestandteile der bürgerlichen und, wie er sagt, wahrhaft ... trend 75


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... liberalen Gesellschaftsordnung, die besonders dadurch charakterisiert ist, dass sie sich jeglicher Spielart eines „Determinationsdruckes“ entziehen kann und soll, um ggf. bürgerliche Freiheiten auch im Widerstreit gegen einseitige politische Vorstellungen sichern und notfalls gegen eine ideologisch formulierte Staatspolitik neu erkämpfen zu können. Und diese Notwendigkeit wird dann umso dringlicher, wenn sich eine Regierung in einem Medienumfeld einzunisten beginnt, das sich zunehmend dramatisch an dem Bedarf nach Außerordentlichkeiten ausrichtet und einer wertorientierten Politik zunehmend gleichgültig und wertneutral gegenübersteht. Die Reform des Betriebsverfassungsgesetzes signalisierte uns, dass die Sorgen um weitere substanzielle Eingriffe in die Eigentumsrechte begründet sind. Wir bleiben sogar dabei, dass dieser Trend durch das jetzt vorliegende Gesetz keineswegs gebrochen ist. Jederzeit können wei-

tere Schritte ausgelöst werden, um dann endlich die „wirtschaftsdemokratischen“ Vorstellungen der Gewerkschaften zum Erfolg zu führen. Regulierungswut Die von uns längst beklagte Regulierungswut der gegenwärtigen Koalition im Arbeits- und Sozialrecht bekräftigt uns sogar in der Sorge, dass die Unfähigkeit bzw. der politische Unwille zu einer zukunftsorientierten Reform dieser Teilsysteme in der gleichen Substanz verankert ist, individuelle Freiheitsrechte im Sinne einer neuen kollektiven Solidarität auszukernen. Die von uns kritisierte fehlende Bereitschaft dieser Regierung auf neue ökonomische Lagen einer globalisierten Wirtschaft und der von dieser betroffenen Unternehmen zu reagieren, ist auf eine deutlich ideologisierte Folie zurückzuführen, die diese Regierung bei ihrem Handeln in der Energiepolitik, in der Verkehrspolitik, in der Subventionspolitik und anderen

Bereichen leitet. Sie ist von dem Mantel eines „aktivierenden Staates“ umhüllt. Eine neue Maskerade Wir sprechen insoweit von einer neuen Maskerade. Es ist die Reideologisierung von Politik, die sich fundamental gegen die ordnungspolitischen Vorstellungen einer freien bürgerlichen Gesellschaft und gegen die von dieser gewollten demokratischen Ordnung und der hieraus folgenden Sozialen Marktwirtschaft richtet. Ordnungspolitisch in der Pflicht Wenn dies alles richtig ist, was hier als Sorge formuliert wird, ist auch der Wirtschaftsrat verstärkt gefordert. Wir sind auf die Gewährleistung und Fortentwicklung der Sozialen Marktwirtschaft verpflichtet und damit auch ordnungspolitisch in der Pflicht, deutlich und unüberhörbar für unsere Vorstellungen von einer freiheitlichen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zu kämpfen. 앬

Ludwig-ErhardGedenkmedaille und Ehrenmitgliedschaft Hartwig Piepenbrock und Gerhard Stoltenberg ausgezeichnet Auf einstimmigen Beschluss des Präsidiums und des Bundesvorstandes würdigte der überzeugend mit großer Mehrheit wiedergewählte Präsident des Wirtschaftsrates, Dr. Kurt J. Lauk, zwei höchst verdiente Mitglieder durch die Verleihung der Ludwig-Erhard-Gedenkmedaille und der Ehrenmitgliedschaft: Hartwig Piepenbrock und Gerhard Stoltenberg.

schaftsbericht aus seinem Amt verabschiedet und seinem Nachfolger, Dr. Carl Hermann Schleifer, die Verantwortung übergeben. Wir haben allen Anlass, unserem Freund Hartwig Piepenbrock für seine 16-jährige Amtszeit herzlich zu danken und unseren Respekt für seinen Einsatz und seine so überaus erfolgreiche Tätigkeit für den Wirtschaftsrat zu bezeugen.

und weit darüber hinaus führte dazu, dass er in wenigen Jahren alle ehrenamtlichen Führungsämter durchlief: 1981 – Sektionssprecher in Osnabrück und Wahl in den Gesamtvorstand; 1983 – Landesvorsitzender des Wirtschaftsrates in Niedersachsen, dieses Amt übte er bis 1997 aus; 1983 – Wahl in das Präsidium; 1985 – Nachfolge von Dr. Dieter Murmann im Amt des Bundesschatzmeisters.

Der Präsident des Wirtschaftsrates in einer Laudatio: „Der Bundesschatzmeister des Wirtschaftsrates, Hartwig Piepenbrock, hat sich mit seinem Rechen-

Hartwig Piepenbrock ist im Jahre 1971 dem Wirtschaftsrat beigetreten. Sein unternehmerisches und gesellschaftliches Ansehen im Lande Niedersachsen

Berücksichtigt man seine vielfältigen anderen ehrenamtlichen Aktivitäten im Sport, in der Kunst, im Bereich der Branchenverbände, so spiegelt alles dies

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einen vorbildlichen und höchst verantwortlichen Einsatz für unser Gemeinwesen wieder. Zurecht ist er dafür mehrfach ausgezeichnet worden. Seine persönlichen Tugenden sollen heute hervorgehoben werden: Charakterstärke und Überzeugungskraft; Mut in schwierigen Lagen und ansteckender Optimismus bei der Bewältigung von Problemen; Dauerhafte Treue und Beständigkeit und die Begabung zu Vertrauen und Freundschaft. Seine für ihn kennzeichnende Beharrlichkeit und Detailgenauigkeit waren für uns ein besonders Geschenk. Hartwig Piepenbrock ist ein erfolgreicher Unternehmer, ein großmütiger Mäzen und Förderer der Künste und Wissenschaften, ein überzeugender Kämpfer für die freiheitliche Ordnung der Sozialen Marktwirtschaft.“ Bundesminister Dr. Gerhard Stoltenberg würdigte Dr. Lauk: „Wir bezeugen mit dieser Auszeichnung unseren hohen persönlichen Respekt und unseren herzlichen Dank für sein politisches Wirken, insbesondere in Anerkennung seiner Verdienste um die Erhaltung und Fortentwicklung der freiheitlichen Ordnung der Sozialen Marktwirtschaft. 1928 geboren gehört Minister Stoltenberg einer Generation an, die wie keine andere um ihre Jugend beraubt worden ist. Die große Ernsthaftigkeit und Standfestigkeit seines Wesens, sein beispielhafter Einsatz für unseren Staat ist von den historischen Ereignissen geprägt worden, die seinen persönlichen und beruflichen Lebensweg begleitet haben. Nach dem erfolgreichen Studium der Geschichte, der Sozialwissenschaften und der Philosophie, und der sich anschließenden Habilitation ist er schon sehr früh politisch tätig geworden. Die wichtigsten Stationen seines Lebens darf ich in Erinnerung rufen: Schon mit 25 Jahren wurde er zum Abgeordneten des schleswig-holsteinischen Landtages gewählt. 1955 bis 1961 war er Bundesvorsitzender der Jungen Union, von 1965 bis 1969 Bundesminister für Wissenschaft und Forschung unter der Kanzlerschaft von Ludwig Erhard, seit 1969 stellvertretender Bundesvorsitzender der CDU. Von 1971 bis 1982 erfüllte er in eindrucksvoller Weise das Amt des III. Quartal 2001

Ministerpräsidenten von Schleswig-Holstein. 1982 bis 1989 nahm er das Amt des Bundesministers der Finanzen unter der Kanzlerschaft von Helmut Kohl wahr und übernahm 1989 bis 1992 die schwere Aufgabe des Bundesministers der Verteidigung und leistete mit der Integration der Nationalen Volksarmee in die Bundeswehr einen bedeutsamen Beitrag zur Deutschen Wiedervereinigung. Dies ist eine patriotische Leistung von hohem Rang. Der Wirtschaftsrat hat besonderen Anlass, für langjährige Mitwirkung in seinen Führungsgremien von 1967 bis 1983 zu danken. In dieser Zeit war er insgesamt sieben Jahre Mitglied des Geschäftsführenden Vorstandes und insgesamt 16 Jahre Vorstandsmitglied. In den

Jahren 1972 und 1973 war er Stellvertretender Vorsitzender des Wirtschaftsrates und begleitete unseren heutigen Ehrenvorsitzenden, Philipp von Bismarck, bei dem zehnjährigen Jubiläum, das eine weit beachtete Aufmerksamkeit fand. Der damalige Wunsch von Ludwig Erhard und Alfred Müller-Armack hat nichts an Gültigkeit verloren, wenn sie sagten: ,Mögen auch die Mitglieder des Wirtschaftsrates ihre Rolle als sozial verpflichtete Unternehmer stärker als bisher akzeptieren, vorleben und sichtbar machen, damit sie überzeugende Garanten für die freiheitlichste aller Wirtschaftsund Gesellschaftsordnungen, unsere Soziale Marktwirtschaft sind.’ Wir geben diesen Auftrag auch unseren heutigen 8.500 Mitgliedern mit kraftvoller Überzeugung erneut weiter. In seinem Buch „Wendepunkte – Stationen Deutscher Politik von 1947 bis 1990“ hat er uns eine Botschaft mit auf den Weg gegeben: ,Nur in der Verbindung von ordnungspolitischer Orientierung, konsequentem Handeln und der Fähigkeit zur Meinungsführerschaft werden wir in Deutschland die Zukunftsprobleme unserer Generation meistern und unseren Beitrag für eine bessere Welt von morgen leisten können.’ Wir sollten dies als einen Auftrag annehmen, der auch unsere Arbeit in den vor uns liegenden Jahren leiten soll.“ trend 77


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Wirtschaftstag 2001

Streit der Ordnungssysteme – New Economy, Soziale Marktwirtschaft, Staatlicher Dirigismus

Orientierungspunkte Globalisierung, Demographie und strukturelle Reformschwächen in Deutschland erzwingen den Paradigmenwechsel zu einer neuen Phase der Sozialen Marktwirtschaft. Der Wirtschaftsrat tritt für eine faire Marktwirtschaft ein, die Unternehmergeist und Eigeninitiative stärkt, die Chancen zur eigenständigen Sicherung des Lebensunterhalts verbessert und die Solidarität der Gesellschaft auf die großen Lebensrisiken konzentriert, die der Einzelne nicht bewältigen kann. Wer die Hilfe anderer einfordert, muss zugleich 78 trend

Mitverantwortung übernehmen und den eigenen, ihm möglichen Beitrag für die Gemeinschaft leisten. Die Verwirklichung dieser freiheitlichen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung erfordert:

왎 ein neues Staatsverständnis von Mündigkeit und Freiheit durch Selbstverantwortung, 왎 die Ergänzung des traditionellen Generationenvertrages durch eine eigenverantwortliche Kapitalunterlegung,

왎 einen neuen Ansatz für eine große und nachhaltige Steuerreform, 왎 den Rückschnitt der WildwuchsRegulierung auf dem Arbeitsmarkt sowie 왎 den Wandel unseres Bildungssystems von der Behörden- zur Unternehmermentalität. Nicht orientierungslose Beliebigkeit, sondern nur ein klarer ordnungspolitischer Kurs wird Deutschland aus der europäischen Schlusslichtposition befreien. III. Quartal 2001


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I. Die Riester´sche Renten-Reform reicht für die Erneuerung des Generationenvertrages nicht aus – Schönrechnerei und zu schwache Kapitaldeckung verkürzen ihr Haltbarkeitsdatum Deutschland hat weltweit mit die niedrigste Geburtenrate und eine nach wie vor zunehmende Lebenserwartung. In dieser Situation sind weder das tradierte Umlageverfahren noch eine weitere Ausdehnung des steuerfinanzierten Rentenanteils zukunftsfähig. An einer stärker kapitalgedeckten Eigenvorsorge führt kein Weg vorbei. Die unter 20-Jährigen werden nach der rot-grünen Rentenreform nur noch eine Negativ-Rendite aus ihren gesetzlichen Rentenbeiträgen erzielen. Die Regierungsmathematik verdeckt darüber hinaus, dass der Rentenbeitrag 2030 bei Ausbleiben weiterer Reformen nicht 22, sondern eher 27 Beitragspunkte erreichen wird. Durch Bürokratie und Bevormundung wird der Anschluss an internationale Standards der Kapitalbildung verhindert. Der Wirtschaftsrat verlangt deshalb eine Nachbesserung der Rentenreform, die ausreichende Anreize gibt, um den Anteil der kapitalgedeckten Vorsorge auf mindestens 40 bis 50 Prozent ansteigen zu lassen. Notwendig sind: 왎 der Übergang zur nachgelagerten Besteuerung, 왎 die Zulassung von mehr Freiheit bei der Anlagenwahl sowie 왎 die Einführung international üblicher Pensionsfonds. II. In der Gesundheitspolitik hat die Bundesregierung noch keinerlei Antwort auf den „Umsturz der Alterspyramide“ gefunden Die bereits zum 1. Juli 2001 beschlossenen gravierenden Beitragsanhebungen der Krankenversicherungen sind nur die Spitze eines Eisbergs. Bis zum Jahr 2040 droht in der gesetzlichen Krankenversicherung unter Status-quo-Bedingungen ein Beitragsanstieg auf bis zu 30 Prozent. Dann entfielen drei Viertel des Beitragssatzes auf demographisch bedingte Mehrausgaben für Rentner. Der WirtIII. Quartal 2001

schaftsrat fordert deshalb zur Sicherung der Gesundheitsleistungen bei dauerhaft wettbewerbsfähigen Beiträgen:

왎 auch im Gesundheitswesen eine kapitalunterlegte Risikoabdeckung, 왎 die Aufgliederung zwischen solidarisch finanzierten Kern- und privat finanzierten Wahlleistungen sowie 왎 nicht weniger, sondern mehr Wettbewerb zwischen allen Leistungserbringern und Krankenkassen. Wer – wie die Bundesregierung – in die Staatsmedizin zurückfällt, verhindert die drohende Beitragsexplosion nicht. Er riskiert damit vielmehr entweder den Bankrott der gesetzlichen Krankenversicherung oder eine moralisch nicht vertretbare Rationierung von Gesundheitsleistungen. III. Deutschland braucht einen neuen Ansatz für eine große Steuerreform, die zugleich sicherstellt, dass die Bürger ihre eigene Steuererklärung verstehen Die rot-grüne Steuerreform bleibt für die Mehrheit der Bürger und den Mittelstand unzureichend, vernachlässigt die New Economy und hat unser Steuersystem weiter verkompliziert. Ihre Entlastungswirkung ist zu gering, um einen kräftigen Wachstums- und Beschäftigungsimpuls auszulösen. Nach den Plänen der Bundesregierung wird die Steuerlastquote in 2005 sogar höher liegen als im Ausgangsjahr der rot-grünen Steuerreform 1998.

왎 Die richtungweisenden Initiativen von Kirchhof und Uldall sollten als Grundlage für eine große Steuerreform mit nachhaltigen Entlastungen für alle Bürger und Unternehmen genutzt werden. 왎 Der Einkommensteuertarif ist nach dem Vorbild der US-amerikanischen Reform auf einen Spitzensatz von 35 Prozent zu senken. 왎 Die unternehmerische Sonderlast Gewerbesteuer sollte im Rahmen einer kommunalen Finanzreform verbunden mit einer adäquaten Ersatzlösung für die Gemeinden abgeschafft werden. Die Körperschaftsteuer sollte

wieder voll auf die Einkommensteuer angerechnet werden.

왎 Mehr Investitionen und Beschäftigung in der New Economy erfordern eine international wettbewerbsfähige Besteuerung von Aktienoptionen. Wertzuwächse sollten wie Wertsteigerungen von privatem Aktienbesitz behandelt werden. Ein Sofortprogramm zur Konjunkturstützung sollte die Steuerreformstufen 2003 und 2005 vorziehen und die nächsten Stufen der Ökosteuer streichen. IV. Die Globalisierung erfordert ein neues Staatsverständnis, dem die Bundesregierung mit ihrem Leitbild des „aktivierenden Staates“ nicht gerecht wird Der Wirtschaftsrat fordert mehr Zutrauen in die Mündigkeit der Bürger, mehr Freiheit durch Selbstverantwortung und den Rückzug des Staates auf Kernkompetenzen. Hierin liegt zugleich die Voraussetzung für die Konsolidierung der Staatsfinanzen und eine wettbewerbsfähige Abgabenlast, die die Bürger in den Stand setzt, die kapitalgedeckte Eigenvorsorge zu finanzieren. Die Konsolidierungsbemühungen der Bundesregierung bleiben dagegen unzureichend: Deutschland wird 2001 und 2002 in Europa die höchste Defizitquote des Staatshaushalts aufweisen. Während die Investitionsquote des Bundeshaushalts auf ein historisches Tief von unter zehn Prozent zusteuert, werden vor allem die konsumtiven Ausgaben weiter aufgestockt. Der Wirtschaftsrat fordert deshalb:

왎 Die Staatsquote muss von 48 Prozent wieder auf unter 40 Prozent zurückgeführt werden. Die USA und Irland haben heute schon Quoten von nur rd. 30 Prozent. 왎 Durch E-Government und Public Private Partnership sollten mehr Privatisierung bei der Infrastruktur und neue Experimentierfelder für private Anbieter ermöglicht werden. 왎 Die Ausweitung der wirtschaftlichen Betätigung von Ländern und Kom- ... trend 79


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Optionsmodell im Kündigungsschutz vermieden werden, wenn den Arbeitsparteien ein Wahlrecht zwischen Kündigungsschutz und Abfindung eingeräumt wird (Optionsmodell). Weder die Manipulation der Statistik noch die Aufblähung des zweiten Arbeitsmarktes werden die Arbeitslosenzahlen in Deutschland dauerhaft auf unter 3,5 Millionen drücken. Das Hauptziel der Bundesregierung für diese Legislaturperiode wäre damit gescheitert. VI. Mehr Wettbewerb, statt Behördenmentalität ist für die Modernisierung des Bildungssystems unverzichtbar. Leistungseliten müssen wieder motiviert und konsequent gefördert werden Der Wirtschaftsrat fordert:

...

munen ist umzukehren. Der Bund muss verlässliche und zeitnahe Ziele für den Verkauf seiner 375 Beteiligungen setzen. V. Auf dem Arbeitsmarkt ist vor allem ein Rückschnitt des Regulierungs-Wildwuchses erforderlich. Mehr Beschäftigung wird nicht ohne die Marktkräfte geschaffen, schon gar nicht gegen sie Erfahrungen in anderen Ländern zeigen, dass im Niedriglohnsektor kurzfristig neue Beschäftigung erzielt werden kann. Während die Zahl der Sozialhilfeempfänger in Deutschland bei 2,8 Mio. stagniert, ist sie in Wisconsin/USA in 4 Jahren um 75 Prozent zurückgegangen. Ein vergleichbarer Durchbruch wurde in Großbritannien erreicht. Der Wirtschaftsrat empfiehlt deshalb:

왎 Die Attraktivität von Niedriglohn-Arbeitsplätzen muss durch Kombi-Löhne und die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe erhöht werden. 왎 Wiedereingliederungshilfen und die Einschaltung privater Arbeitsvermittler sollten konsequenter genutzt wer80 trend

den. Die Arbeitsvermittlung ist stärker auf den ersten Arbeitsmarkt auszurichten. Der bisher übliche Erwerb eines neuen Leistungsanrechts bei Teilnahme an Arbeitsmarktmaßnahmen muss beseitigt werden.

왎 Wenn jemand arbeiten kann, aber nicht will, darf er in Zukunft generell keinen vollen Anspruch auf die Sozialhilfe haben. Neuer Auftrieb wird auf dem Arbeitsmarkt nur erreicht, wenn die Bundesregierung ihre Arbeitsmarktpolitik vom Kopf auf die Füße stellt und Einstellungsbarrieren abbaut:

왎 Betriebliche Bündnisse für Arbeit sollten durch eine beschäftigungsorientierte Auslegung des Günstigkeitsprinzips gestärkt werden. Die jüngste Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eröffnet die Chance für eine neue Initiative zur Reform der Tarifordnung. 왎 Die Verschärfung der Betriebsverfassung und das Recht auf Teilzeit müssen zurückgenommen werden. 왎 Ein Großteil der 300.000 Arbeitsgerichtsprozesse pro Jahr kann durch ein

왎 eigenständige Eignungsprüfungen der Hochschulen, 왎 eine Stärkung der naturwissenschaftlichen und wirtschaftsrelevanten Fächer, 왎 sozialverträgliche Studiengebühren sowie 왎 eine leistungsorientierte und zugleich hinreichend attraktive Bezahlung der Professoren, um Anreize für eine Hochschulkarriere zu setzen. Die Ausgründung von Unternehmen aus dem Universitätsbereich haben z. B. in den USA, Großbritannien und Spanien längst zu Spitzenpositionen bei der Umsetzung von Forschungsergebnissen in marktfähige Produkte geführt. Um diese Chancen auch in Deutschland zu nutzen,

왎 ist bereits beim Einstellungsverfahren zwischen Hochschule und Forscher zu regeln, wie die Rechte auf Patentanmeldung und Verwertungserlöse verteilt werden sollen, 왎 muss der Drittmittel-Wettbewerb in der Hochschulforschung gestärkt werden, damit der Austausch zwischen Forschung und Praxis intensiviert wird. Ausländische Studenten sollten nach ihrem Studienabschluss (insbesondere in den naturwissenschaftlichen Fächern) auf Wunsch ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht zur Arbeitsaufnahme in Deutschland erhalten. 앬 III. Quartal 2001


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Die Wissensgesellschaft – Revolutionäre Veränderungen und wirtschaftliche Erfordernisse

Podium I Den Einleitungsvortrag zum Podium I „Die Wissensgesellschaft – Revolutionäre Veränderungen und wirtschaftliche Erfordernisse“ hielt Dr. Kurt J. Lauk, Präsident des Wirtschaftsrates der CDU e.V.

RA Dr. Hans Christoph von Rohr Vorsitzender der Geschäftsführung der Industrial Investment Council GmbH

An der Podiumsdiskussion unter Leitung von Rainer Nahrendorf, Chefredakteur des Handelsblatts, nahmen teil: RA Dr. Hans Christoph von Rohr, Vorsitzender der Geschäftsführung der Industrial Investment Council GmbH, Prof. Dr. Dagmar Schipanski, Ministerin für Wissenschaft, Forschung und Kunst des Freistaates Thüringen, Dr. Ulrich Schumacher, Vorsitzender des Vorstands der Infineon Technologies AG, Jörg Tauss MdB, Bildungs- und forschungspolitischer Sprecher der SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag und Prof. Dr. Dennis Tsichritzis, Mitglied im Vorstand der Fraunhofer Gesellschaft. Im Plenum berichtete Prof. Thomas Heilmann, Internetsprecher der CDU Deutschlands und Executive Director Scholz & Friends Group, über die Ergebnisse der Diskussion. 82 trend

hochqualifizierte Mitarbeiter gibt. Dort, wo es zu Zusammenballungen von Wissen, Forschungsstätten, Universitäten, Unternehmern und Zulieferern kommt, kann Wissen erfolgreich umgesetzt werden. Positiv hervorzuheben sind hier einige Regionen in Sachsen. Fraglich ist, warum die Umsetzung der Forschungsergebnisse in marktfähige Produkte in Deutschland so lange dauert. Wir sind sehr gut im Wissen, im Erfinden, aber das Geschäft machen andere. Dafür gibt es zahlreiche Beispiele: Der Computer wurde von Zuzan erfunden, das große Geschäft hat IBM gemacht. Der Walkman wurde 1967 von Pawel entwickelt – heute gibt es kaum noch einen nichtjapanischen.

Wenn internationale Unternehmen weltweit neue Standorte suchen, entscheiden sie sich für Regionen, in denen es

Europa hat alle Chancen, die USA einzuholen. Dazu brauchen wir den Mut zur Elitenbildung in allen Bereichen, insbesondere in der Ausbildung und der Wissenschaft. Den westlichen Gesellschaften fehlt größtenteils der Mut zu einer bewussten Eliteförderung aus einem falsch verstandenen Nivellierungs- und Sozialdenken heraus. III. Quartal 2001


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Dr. Kurt J. Lauk Präsident des Wirtschaftsrates der CDU e.V. Die Entwicklung der vernetzten Computerwirtschaft ist ungebrochen, und sie wird auch in der Zukunft eine überragende Bedeutung haben. Informations- und Kommunikationstechnologien rufen einen rasanten Strukturwandel in Wirtschaft und Gesellschaft hervor. Immaterielle Komponenten und Werte sowie der Umgang mit Wissen nehmen einen immer größeren Anteil der Wertschöpfung ein. Die neue Wertschöpfung bewirkt auch in den klassischen Unternehmenszweigen innovative wirtschaftliche Veränderungen mit korrespondierenden Nutzungspotenzialen. Exponentielle Entwicklung des Internet Anfang der 90er Jahre bestand das Internet noch aus nur 20.000 registrierten Netzwerken mit etwa zwei Millionen Computern und 15 Millionen Internetnutzern. Seit Beginn des neuen Jahrtausends hat sich die Zahl der Anwender exponentiell vergrößert. Man geht heute davon aus, dass Ende 2000 490 Millionen PCs weltweit installiert waren und die Zahl der Internetnutzer auf über 370 Millionen angestiegen ist.

Während das Telefon erst nach 38 Jahren und das Fernsehen nach 17 Jahren 30 Prozent der US-Haushalte erreichte, gelang dies dem Internet schon nach nur sieben Jahren. Querschnittstechnologie Internet Als Querschnittstechnologien finden die neuen Technologien längst in der Gesellschaft Anwendung. In den Unternehmen haben sich neue Organisationsstrukturen entwickelt. Die weltweite Aufgliederung der Produktionsprozesse und eine Produktion rund um die Uhr werden immer mehr Realität. Heute ist es technisch möglich geworden, dass die gesamte Welt gleichzeitig eine Seite eines Buches liest und gleichzeitig auf dieser Seite schreibt. Durch die Digitalisierung sind Produkte, die früher nur durch einen Zeitungsjungen als Zeitung in den Vorgarten geworfen wurden, jetzt in Null-Eins-Codes über den Computer zu Hause abrufbar. Alle Informationen sind sofort, von jedermann und überall verfügbar. Zu Beginn der 80er Jahre konnte über Kupferdrähte in einer Sekunde etwa

eine DIN A4-Seite übertragen werden. Ende der 90er Jahre hat es die Technik ermöglicht, über Glasfaserkabel in einer Sekunde 90.000 Bände einer Enzyklopädie zu übermitteln. Hier sind neue Dimensionen aufgestoßen worden, die in ihrer Wirkung erst in den Anfängen sichtbar werden. Wirtschaftspolitische Implikationen Deutschland droht den Anschluss an internationale Spitzenreiter zu verlieren. Um die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen auf dem globalen Internetmarkt nicht zu gefährden, müssen entsprechende Rahmenbedingungen geschaffen werden. Die Telefongebühren im Ortsnetzbereich müssen sinken. Nur dann wird sich die Internetnutzung und -verbreitung hierzulande erhöhen. Notwendig sind aber auch gezielte Schulungsmaßnahmen, vor allem für Schüler und ältere Menschen, die Grundfertigkeiten im Umgang mit dem Internet vermitteln. Um das Vertrauen der Nutzer zu stärken, muss die Internet-Sicherheit bei Transaktionen und Zahlungen gewährleistet werden. Wichtig ist auch eine moderne Datenschutzgesetzgebung, die neben der Sicherung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung für eine größere Nutzerakzeptanz sorgen würde. Bildung ist nach wie vor der Schlüssel für individuelle Lebenschancen sowie Motor der Wissensgesellschaft und muss deshalb im Zentrum der politischen Aufmerksamkeit stehen. Mehr Wettbewerb, mehr Flexibilität und bessere Weiterbildungsangebote sind zur Modernisierung des Bildungssystems unverzichtbar. Die Bildungspolitik muss endlich zu einer gemeinsamen, widerspruchsfreien Strategie von Bund und Ländern werden. Alle Reformanstrengungen sollten sich darauf konzentrieren, stärker nach Leistungsfähigkeit und Begabung zu differenzieren.

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Die Chipindustrie ist international geprägt. Die Kompetenzzentren sind vermehrt ins Ausland verlagert worden, was den Konkurrenzdruck auf die Mitarbeiter am Standort Deutschland erheblich verstärkt hat. In Deutschland sind zwar 3.000 von 5.500 Entwicklungsmitarbeitern beschäftigt. In den letzten Jahren wurden aber 1.300 neue Stellen im Ausland geschaffen, im Inland hingegen nur 200.

Prof. Dr. Dagmar Schipanski Ministerin für Wissenschaft, Forschung und Kunst des Freistaates Thüringen

weit vorne. Mehr als 90 Prozent der Studenten beenden ihr Studium in der Regelstudienzeit. Man darf das deutsche Hochschulsystem nicht grundsätzlich schlecht reden. Die Reformuniversitäten in den neuen Bundesländern zeigen durch inhaltliche Schwerpunktsetzung, die Strukturierung des Studiums und die leistungsgerechten Prüfungsverfahren, dass sie den Anforderungen der Wirtschaft genau entsprechen und das sogar ohne Studiengebühren. In Deutschland begreifen wir den Wandel selten als Chance, sondern meist als Bedrohung. Dies zeigt insbesondere die Debatte zur Bio- und Gentechnologie: Bevor man überhaupt auf die Chancen eingeht, werden zunächst einmal alle Risiken in den Vordergrund gestellt. Dr. Ulrich Schumacher Vorsitzender des Vorstands der Infineon Technologies AG

Entscheidend auf dem Weg zur Wissensgesellschaft ist, dass jeder Bürger lernt, das für ihn Wichtige und Relevante aus der Flut der Informationen herauszufiltern und es zu eigenem Wissen zu verarbeiten. Die Politik muss Wege aufzeigen, wie dieses Wissen für unsere gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung in den nächsten Jahren nutzbar gemacht werden kann. Die Universitäten und Fachhochschulen liegen in den neuen Bundesländern bei der Bewertung durch die Studenten ganz 84 trend

In der Chip-Branche basieren ca. 60 Prozent der Wertschöpfung auf Wissen. Unser Produkt ist daher nichts anderes als in Sizilium gegossenes Wissen und Knowhow. In Deutschland krankt es aber an der Umsetzung und Nutzbarmachung dieses Know-hows. Das ist ein gesellschaftliches Problem. In den USA liegt die Verflechtung von Universität und Industrie auf einem viel höherem Niveau. Dies ist keine Frage der Qualität unseres Bildungssystems, sondern vielmehr der Schnelligkeit und Flexibilität des Wissenstransfers.

Jörg Tauss MdB Bildungs- und forschungspolitischer Sprecher der SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag Die USA hat den Fehler gemacht, nicht in ihr Bildungssystem zu investieren. Deshalb sind zurzeit 60 Prozent der Doktoranden in den USA Ausländer. Die deutsche Hochschule ist nicht per se schlecht. Die Absolventen werden im Moment in vielen Bereichen auch von der Wirtschaft stark nachgefragt. Nur durch einen Bewusstseinswandel können wir erreichen, dass im Bereich der Schulen und Universitäten mehr Freiheit, Autonomie und Selbstverantwortung durchgesetzt wird. Erste Reformschritte hat die Bundesregierung bereits in Angriff genommen: die Reform des Stiftungsrechts, die Änderung des Arbeitnehmererfindungsgesetzes in Sachen Hochschullehrerprivileg sowie ... die Dienstrechtsreform. III. Quartal 2001


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technologie. Deutschland hat ein Imageproblem in bezug auf die Bildungsqualität. Das Problem liegt darüber hinaus in der Umsetzungsgeschwindigkeit des Wissens in marktfähige Produkte. Forschungsergebnisse sind wie Tomaten: sie können nicht gelagert werden. Aufgrund des scharfen Wettbewerbs ist die Gefahr groß, dass man von anderen Forschern nach zwei bis drei Monaten überholt wird. Daher muss man sein Wissen relativ schnell auf den Markt bringen. Das „Time to market“ ist das große Problem der deutschen Industrie.

Einheitliche Meinung beim Thema Hochschule und Weiterentwicklung war, dass wir in einigen Bereichen der Bildung eher zu breit sind, Spezialisten in bestimmten Nischen fehlen und deshalb der Übergang in Spitzenbereiche fehlt. Auch bei der Umsetzung von Forschungsergebnissen hat Deutschland erheblichen Nachholbedarf. Wir brauchen nicht nur in den Hochschullandschaften und nicht nur bei der Forschung, sondern insgesamt eine Deregulierung. Deutschland droht ein Stillstand der Deregulierung, ja sogar eine Reregulierung.

Prof. Thomas Heilmann Internetsprecher der CDU Deutschlands und Executive Director Scholz & Friends Group

...

Wer betroffen ist beim Wandel, macht ein Riesengeschrei. Mutige Politik zeichnet sich allerdings dadurch aus, dass man manchmal Geschrei ignoriert. Prof. Dr. Dennis Tsichritzis Mitglied im Vorstand der Fraunhofer Gesellschaft Was die Forschung in Deutschland angeht, sind wir zwar nicht Spitze, aber wir sind fit. In Deutschland gibt es eine exzellente Forschung, nur leider nicht in den aktuellen Forschungsgebieten wie der Informations- und Kommunikations-

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Die Wirtschaftspolitik muss sich stark auf die Themen der Informations- und Kommunikationstechnologien konzentrieren, damit Deutschland die Chancen beim Übergang zur Wissensgesellschaft nicht verpasst. Wir sind in diesem Bereich nicht führend in der Welt, sondern haben bestenfalls einen Mittelfeldplatz. Die vernetzte Computerwelt ist keine Branche, sondern eine Art Infrastruktur, auf deren Basis alle Unternehmen und auch alle Verbraucher zukünftig verstärkt arbeiten werden. Diese Internetwirtschaft stellt letztlich auch eine Basisinnovation dar wie der Strom und das Telefon.

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Staat und Wirtschaft im 21. Jahrhundert

Podium II Als Einleitungsredner zu Podium II „Staat und Wirtschaft im 21. Jahrhundert“ konnte Richard Burt, IEP Advisors, LLP, Washington D.C., früher US-Botschafter in Deutschland, gewonnen werden. An der Podiumsdiskussion unter Leitung von Carl Graf Hohenthal, Stellvertretender Chefredakteur, Die Welt, nahmen teil: Dr. Günter Burghardt, Leiter der Delegation der Europäischen Kommission, Prof. Dr. Georg Milbradt MdL, Stellvertretender Vorsitzender der CDU Sachsen, Prof. Dr. M.J.M. Neumann, Institut für Internationale Wirtschaftspolitik, Universität Bonn, sowie Nikolaus Schweickart, Vorsitzender des Vorstands der Altana AG. Im Plenum berichtete Dr. Manfred Weber, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes deutscher Banken, über die Ergebnisse der Diskussion. 86 trend

Dr. Günter Burghardt Leiter der Delegation der Europäischen Kommission

Staatliche bzw. öffentliche Verantwortung muss heute auf mehreren Handlungsebenen organisiert werden. Viele Politikbereiche erfordern globale Lösungen, während gleichzeitig nationale und regionale Fragen zu klären sind. Die europäisch-atlantische Partnerschaft ist die unerlässliche Voraussetzung dafür, globale Probleme anzugehen. Nach den Statistiken der UNO verfügen die Europäische Union und die USA zusammen über 56 Prozent des Weltbruttosozialprodukts und 40 Prozent des Handels. Ähnliches gilt jedoch auch für die Probleme, die wir Europäer und Amerikaner in der Welt verursachen. So verbrauchen die EU und die USA zusammen 40 Prozent der Weltenergie und produzieren 40 Prozent der Emissionen. Gerade deshalb ist es so wichtig, gemeinsam an Lösungen zu arbeiten. Bei der Ost-Erweiterung der Europäischen Union geht es um mehr als um die ... III. Quartal 2001


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Richard Burt IEP Advisors, LLP, Washington D.C. In der Diskussion über Staat und Wirtschaft geht es letztendlich um die Frage, ob der Staat in Zukunft eine größere oder eine kleinere Rolle spielen sollte. In den letzen 50 Jahren hat sich weltweit die Einsicht durchgesetzt, dass jedes Handeln auf Anreizstrukturen beruht, die von den Regierungen geschaffen oder reguliert werden: Die Menschen verfolgen Eigeninteressen. Die Produktivität, die die bestimmende Größe für wirtschaftliche Effizienz bleibt, muss folglich im Einklang mit den Anreizstrukturen stehen, die der Staat setzt. Erfolgsmodell USA – Vorbild für Europa Die USA waren und bleiben das attraktivste Land für Investitionen. Grundvoraussetzungen dafür sind ein innovationsfreundliches Klima, eine wachsende Bevölkerung, eine deregulierte Wirtschaft, flexible Arbeitsmärkte und relativ niedrige Steuern. Der Erfolg der Vereinigten Staaten ist darauf zurückzuführen, dass sie seit den 80er Jahren Reformen in drei Bereichen vorangebracht haben:

왎 Einen Schwerpunkt legte die USamerikanische Regierung auf die Förderung innovativer Produktmärkte. Die USA waren Vorreiter bei der Informations- und Biotechnologie. Existenzgründungen und kleine Unternehmen werden durch staatliche Initiativen gefördert. Eine freizügige Zuwanderungspolitik erlaubt es hochqualifizierten und begabten Ausländern, in den USA zu studieren und zu arbeiten. Flexibilität des Arbeitsmarktes erhalten 왎 Darüber hinaus gelang es der Regierung, Überregulierungen des Arbeitsmarktes zu vermeiden. Entgegen den Befürchtungen, Amerika würde zu einer Nation der McDonalds-Jobs, haben Studien ergeben, dass die meisten Menschen durch diese Flexibilität bessere Arbeitsplätze finden als vorher.

왎 Drittens gelang es den USA, offene, liquide Kapitalmärkte zu schaffen. Pensionsfonds stellten genug Mittel zur Verfügung, um sowohl start-ups als auch Restrukturierungen bestehender Unternehmen zu finanzieren.

Nachholbedarf in Europa Europa hat sich im Gegensatz zu den USA zu wenig auf dem Gebiet der Informationstechnologie engagiert. Auch fehlt es in Europa am Willen, zusätzliche Beschäftigungspotenziale zu erschließen. Amerikas Erfolg ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass Frauen, Zuwanderer und Geringqualifizierte mobilisiert werden konnten. Das erfordert jedoch eine größere Flexibilität im Arbeitsrecht. Gerade hier scheint sich Deutschland aber in die falsche Richtung zu bewegen. Die vorgesehene Verschärfung der Regelungen zur betrieblichen Mitbestimmung wird gerade kleinen Unternehmen hohe Bürden auflasten. Verpasste Reformchancen Trotz der neuerlichen Konjunkturflaute in Amerika konnte die EU im Wachstum nicht aufholen. Die Kritik an der Europäischen Zentralbank geht am Kern des Problems vorbei. Europas strukturelle Defizite können nicht durch geldpolitische Maßnahmen aufgewogen werden. Mit dem Verzicht auf durchgreifende Reformen der Arbeits- und Kapitalmärkte ist Deutschland als drittgrößte Volkswirtschaft der Welt ein passiver Beobachter der Globalisierung geworden. Auch im Bildungssektor macht sich das bemerkbar. Deutsche Universitäten verlieren insbesondere in technologieund ingenieurwissenschaftlichen Fächern ihre Auslandsreputation. Ein Ausweg könnte eine verstärkte Privatisierung der Universitäten sein. Reformen mit Unterstützung der Bürger unausweichlich Das Argument, der Wohlfahrtstaat sei derzeit aufgrund der ungünstigen wirtschaftlichen Entwicklung nicht zu reformieren, greift nicht. Eine Verbesserung der konjunkturellen Bedingungen würde nur vorübergehend den Reformdruck abmildern. Jetzt gilt es, wie in den 80er Jahren in den USA und in Großbritannien, die Unterstützung der Öffentlichkeit für einen Reformkurs zu gewinnen, der die Wirtschaft wieder wettbewerbsfähig macht.

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... Schaffung einer Freihandelszone. Mit der Angleichung des Bruttosozialprodukts dieser Staaten wird ein enormer Wachstumsschub verbunden sein. Zusammen mit der transatlantischen Partnerschaft eröffnen sich dann noch mehr Chancen, für globale Probleme Lösungen zu finden. Prof. Dr. Georg Milbradt MdL Stellvertretender Vorsitzender der CDU Sachsen

staatlichen Tätigkeit erleben. Der Rückzug des Staates sollte zu einer umfassenden Dezentralisierung genutzt werden. Prof. Dr. M.J.M. Neumann Institut für Internationale Wirtschaftspolitik, Universität Bonn Globalisierung bedeutet im Grunde genommen eine Vergrößerung der Märkte und eine Verstärkung des Wettbewerbs. Im Prozess der Globalisierung setzt sich also das Prinzip Markt immer mehr durch. Grundsätze ändern sich jedoch nicht: Nur Markt und Wettbewerb führen zu Leistungssteigerungen, Innovationen und Effizienz. Entscheidend ist, dass der Markt offen ist und daher jeder die Möglichkeit hat, den Konsumenten Neues zu bieten. Gleichzeitig bedeutet Globalisierung aber auch, dass das Gegenprinzip Staat in den Hintergrund gedrängt wird. Staaten kommen selbst auf den Prüfstand des Wettbewerbs. Der Staat darf sich nicht als Obrigkeitsstaat verstehen, der vorschreibt und interveniert. Der Staat muss zum Service-Center für Bürger und Unternehmen ausgebaut werden.

Weltweit, besonders aber in Europa, werden wir in Zukunft einen Rückzug des Staates erleben. Zumindest die mobilen Teile der Bevölkerung und der Wirtschaft suchen sich die passende staatliche Struktur selbst aus. Durch diese „Abstimmung mit den Füßen“ und Standortverlagerungen stehen Staaten mehr denn je im Wettbewerb.

Eines der wichtigen Themen des 21. Jahrhunderts wird die Wettbewerbskontrolle sein. Wahrscheinlich wird es die Welthandelsorganisation (WTO) sein, die in Zukunft auf den Weltmärkten ein-

greift. Hier müssen bald geeignete Regelmechanismen gefunden werden. Nikolaus Schweickart Vorsitzender des Vorstands der Altana AG Der Staat organisiert seinen Rückzug nicht selbst, sondern wird zum Rückzug getrieben. Um in den internationalen Märkten wettbewerbsfähig zu bleiben, wird es einen Druck auf die Absenkung der Staatsquote geben. Spitzensteuersätze unter 40 Prozent sind heute eine absolute Notwendigkeit. Im Bereich der sozialen ...

Deutschland wird es sich nicht leisten können, den größten Teil seines sozialen Sicherungssystems über Lohnnebenkosten zu finanzieren. Der Versuch, durch mehr Staat oder eine nur geringfügige Anpassung der bisherigen Systeme diesen Prozess zu bewältigen, wird scheitern. Vielmehr muss die Politik dem Bürger die Ängste vor den bevorstehenden Veränderungen nehmen. Noch mehr Kompetenzen bei der Europäischen Union zu zentralisieren, kann nicht die Lösung sein. In Zukunft werden wir eine Renaissance der lokalen 88 trend

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... Sicherungssysteme ist der Einstieg in die Kapitaldeckung zu vollziehen. Die Ökonomisierung bisher staatlich beherrschter Lebensbereiche wird die entscheidende Antriebsfeder für die Entwicklung in den nächsten Jahren sein. Dabei geht es nicht nur um die Privatisierung von Staatsunternehmen in Bundes-, Länder- oder kommunalen Besitz. Genauso wichtig ist die Bildungspolitik. Will Deutschland im internationalen Wettbewerb mithalten, müssen wir unser

Universitätssystem radikal reformieren und privatisieren, um die Qualität und Schnelligkeit der Ausbildung zu erhöhen. Universitäten müssen wie Unternehmen geführt werden und Forschungsergebnisse in Form von Patenten und Unternehmensbeteiligungen an den Markt bringen können.

왎 Durch den Abbau von Regulierungen ist die Funktionsfähigkeit der Märkte, besonders des Arbeitsmarktes, zu stärken.

Dr. Manfred Weber Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes deutscher Banken

왎 Unumgänglich ist eine Reform des Föderalismus, die den gesunden Wettbewerb zwischen den Gebietskörperschaften fördert. Das gilt sowohl für Deutschland als auch für Europa.

왎 Bei der Umgestaltung der sozialen Sicherungssysteme brauchen wir mehr Eigenverantwortlichkeit und Transparenz.

Globalisierung erfordert grundlegende Änderungen in Staat und Wirtschaft. Durch die zunehmende Mobilität von Investitionen und qualifizierter Arbeit werden die Handlungsmöglichkeiten des Staates eingeschränkt. Politische Führung ist heute jedoch mehr gefragt denn je. Im internationalen Wettbewerb hinkt Deutschland – so der allgemeine Befund – hinterher. Geringes Wachstum und der schwache Euro sollten Alarmsignale sein: Die Perspektiven für die US-Wirtschaft werden auf mittlere Sicht günstiger eingeschätzt als für Europa. Einhelliges Fazit der Diskussion:

왎 Der Staat sollte sich auf Kernkompetenzen konzentrieren und für günstige Rahmenbedingungen für die Wirtschaft, auch im Interesse des Bürgers, sorgen.

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Liberaler Kapitalismus und Soziale Marktwirtschaft

Podium III Den Einleitungsvortrag zum Podium III „Liberaler Kapitalismus und Soziale Marktwirtschaft“ hielt Prof. Dr. Otmar Issing, Mitglied des Direktoriums der Europäischen Zentralbank. Es diskutierten: Dr. Jan B. Berentzen, Vorstandssprecher der BerentzenGruppe AG, Johannes Linn, Vizepräsident Europa und Zentralasien, Weltbank, Klaus-Peter Müller, Sprecher des Vorstands der Commerzbank AG, Dr. Wolfgang Schäuble MdB und Prof. Dr. Hans-Werner Sinn, Präsident des ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung. Die Moderation übernahm Dr. Peter Gillies, Journalist Berlin/Bonn. Hildegard Müller, Vorsitzende der Jungen Union und Mitglied im Präsidium der CDU Deutschlands, fasste vor dem Plenum die wichtigsten Ergebnisse zusammen. 90 trend

Dr. Jan B. Berentzen Vorstandssprecher der Berentzen-Gruppe AG

Die größte Kritik an der Sozialen Marktwirtschaft wird vor allem an den Bereichen wie dem Arbeitsmarkt, dem Bildungs- und Gesundheitswesen geübt, die nicht dem Markt überlassen werden. Aufgabe der Politik sollte es deshalb wieder sein, mit größtmöglicher Zurückhaltung bei der Gesetzgebung einen ordnungspolitischen Rahmen festzulegen, der freier Initiative und Selbstvorsorge Vorrang vor staatlichen Reglementierungen einräumt. Die Überregulierung am Arbeitsmarkt schützt allein die Beschäftigten und den Status quo. Zum Beispiel verhindern überzogene Kündigungsschutzgesetze die Einstellung von Arbeitnehmern. Alle Gesetze müssen dahingehend geprüft werden, ob sie bei der Schaffung von Arbeitsplätzen wirklich nützlich sind. Zukünftig sind verstärkt betriebsnahe Lösungen anzustreben. Sie dienen auch der Existenzsicherung des Mittel... stands. III. Quartal 2001


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Prof. Dr. Otmar Issing Mitglied des Direktoriums der Europäischen Zentralbank Die Soziale Marktwirtschaft verbindet die freie Initiative der Wettbewerbswirtschaft mit dem sozialen Fortschritt. Das „Soziale“ Element der Sozialen Marktwirtschaft ist jedoch immer wieder als Einfallstor für staatliche und kollektive Reglementierungen genutzt worden. Zum Schaden aller Bürger hat sich daher die Steuerungsfähigkeit und die Wohlstandsmehrung der deutschen Volkswirtschaft im Vergleich zum angloamerikanischen Modell wesentlich verschlechtert. Für Deutschland stellt sich die Frage, wie die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft unter den Bedingungen des neuen Jahrhunderts künftig gestaltet sein soll. Soziale Marktwirtschaft durch Staatseingriffe ständig bedroht Öffentliche Mittel werden für eine Ausweitung der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und der Schaffung direkter Arbeitsplätze durch den Staat verwendet. Die private Wirtschaft wird hierdurch stark belastet und durch die Ausweitung staatlich subventionierter Bereiche zudem behindert.

Diese Politik staatlicher ad-hoc-Eingriffe ist aber zum Scheitern verurteilt. Die Verknüpfung des Arbeitsmarktes mit dem Sozialsystem ist zudem misslungen, so dass die Anreize völlig falsch gesetzt sind.

Standards aller Art auf den Prüfstand ihrer Tauglichkeit und ihrer Überlebensfähigkeit gestellt. Der institutionelle Wettbewerb ist kein Selbstzweck. Er dient vielmehr der Suche nach den besten Lösungen für die Probleme der Bürger.

Die Arbeitsmarktpolitik degeneriert deshalb zum sozialen Auffangbecken und zur Abhängigkeitsfalle der betroffenen Bürger. Auch wird die Abwanderung in die Schattenwirtschaft gefördert. So hat sich der Anteil der Schattenwirtschaft am deutschen Bruttoinlandsprodukt in den letzten 25 Jahren von knapp 6 auf gut 16 Prozent fast verdreifacht.

Dieser Suchprozess und Test ist relativ einfach konstruiert. Regelungen wie die Mitbestimmung und die Betriebsverfassung würden beispielsweise nur dann die ihnen zugesprochenen Vorteile aufweisen, wenn sie auch in anderen Ländern Nachahmer fänden.

Aus ordnungspolitischer Sicht muss bei der Analyse offenkundiger Fehlsteuerungen angesetzt werden. Am Arbeitsmarkt sind daher Anreize zur Eigeninitiative mit Anpassungshilfen für vorübergehend Arbeitslose und Unterstützung für dauerhaft Benachteiligte sinnvoll miteinander zu verbinden. Globalisierung als Test nationaler Institutionen Im Zeitalter der Globalisierung werden Institutionen, Regulierungen und

Bedarf es dagegen zu ihrer Durchsetzung und Erhaltung des staatlichen Zwangs und der Abschottung gegenüber Alternativen im Ausland, dann kann es mit diesen vermeintlichen Vorteilen nicht weit her sein. Gute institutionelle Regelungen werden hingegen zu einem Standortvorteil im internationalen Wettbewerb. Sozialen Ausgleich marktwirtschaftlich ausrichten Gerade im Zeitalter der Globalisierung bedarf es eines sozialen Rahmens, um den Zusammenhalt der Gesellschaft zu festigen. Aber ebenso ist die Effizienz des Marktes notwendig, um überhaupt erst Wohlstand zu erhalten und zu mehren. Der wuchernde Wohlfahrtsstaat beeinträchtigt nicht nur die Leistungsfähigkeit einer Volkswirtschaft. Es bleibt zudem Schritt für Schritt auch ein Stück Freiheit auf der Strecke. Die Soziale Marktwirtschaft als ordnungspolitische Konzeption grenzt sich im Dienste einer freiheitlichen Gesellschaft und im Interesse ihrer ökonomischen Leistungsfähigkeit von diesem Wohlfahrtsstaat deutlich ab. Das „soziale“ Element in Deutschland muss sich wieder auf die moralische Verpflichtung gegenüber den Schwachen beziehen, ohne zum Missbrauch einzuladen und ohne den Anreiz zur eigenen Initiative zu schmälern.

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Die Ausgrenzung von Millionen Menschen vom Arbeitsmarkt ist die größte soziale Ungerechtigkeit. Das dogmatische Festhalten der Gewerkschaften an Mantel- und Tarifvertragsregeln – so jüngst bei der Verhinderung von 5000 neuen Arbeitsplätzen bei Volkswagen – ist symptomatisch. Die größte Errungenschaft der Sozialen Marktwirtschaft – ein hoher Beschäftigungsstand mit Chancen für alle – muss wieder zur Geltung kommen.

...

Die in Deutschland viel zu hohen Lohnzusatzkosten beruhen auf der Anbindung der Sozialversicherungen an das Arbeitsverhältnis. Diese Anbindung sollte gelockert werden. Die Solidarität gebietet, den einzelnen Bürger in die Lage zu versetzen, sich selber eigenständig zu versichern und nicht den Weg des Zwangs auszubauen. Johannes Linn Vizepräsident Europa und Zentralasien, Weltbank

ihnen eine Verbindung aus einem starken, effizienten Privatsektor und einem starken, effektiven Staat gelungen ist. Deutschland muss sich wieder stärker in diese Richtung bewegen. Um international konkurrenzfähig zu sein, sind Privatisierungen, Steuersenkungen und eine Flexibilisierung des Arbeitsmarktes erforderlich. Holland und Irland können als richtungsweisend angesehen werden. Sie sind auch das Vorbild der Transformationsstaaten. Dr. Wolfgang Schäuble MdB

Der Erfolg der marktwirtschaftlich orientierten Staaten beruht darauf, dass

Deutschland benötigt neben einer umfassenden Deregulierung des Arbeitsmarktes aber auch eine Entbürokratisierung bei der Unternehmensgründung. In den Vereinigten Staaten, Kanada und Australien braucht ein Unternehmen lediglich drei Tage zur Neugründung. Demgegenüber sind in Frankreich und Deutschland 45 Tage erforderlich. Klaus-Peter Müller Sprecher des Vorstands der Commerzbank AG Die hohen Arbeitnehmerschutzrechte in Deutschland gehen zu Lasten der Beschäftigung und der Entlohnung. Der beachtliche Erfolg der amerikanischen Wirtschaft bei der Schaffung von Arbeitsplätzen lässt sich auch hierzulande erreichen. Wir müssten nur bereit sein, Abstriche beispielsweise bei der Arbeitszeitverkürzung, dem Kündigungsschutz und der sozialen Sicherung zu akzeptieren.

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Soziale Marktwirtschaft heißt, dass das marktwirtschaftliche Prinzip benutzt wird, um sozialen Ausgleich herzustellen. Die Sozialhilfe muss beispielsweise so organisiert werden, dass sie Arbeit und nicht die Nichtarbeit belohnt. Die Hinzuverdienstgrenze muss großzügiger geregelt werden, so dass geringer bezahlte Arbeit mit Ergänzungsleistungen über die Sozialhilfeschwelle gehoben wird. Eine bedeutsame Herausforderung für die Soziale Marktwirtschaft stellt die Alterung der Bevölkerung dar. Sie führt in Deutschland zu einem explosionsartigen Anstieg der Ausgaben für das Gesundheitswesen. Grundlegende Eingriffe in das Gesundheitswesen sind erforderlich, um die Verantwortung der Beitragszahler und Patienten – und damit ihr Interesse an sparsamer Mittelverwendung – zu erhöhen. Geeignet ist die Ausweitung der Eigenbeteiligung in Verbindung mit der Einführung von Wahltarifen. III. Quartal 2001


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Prof. Dr. Hans-Werner Sinn Präsident des ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung Auch innerhalb der Sozialen Marktwirtschaft erweist sich zwar die zentrale Planung beziehungsweise die staatliche Korrektur des Marktes als verlockend, aber auch als schädlich. Daher muss die Staatsquote von nahezu 50 Prozent in Deutschland drastisch verringert werden. Die existierenden Lohnersatzleistungen sind schlichtweg Subventionen für die Untätigkeit. Dieser Sozialstaat treibt die

Menschen in eine Armutsfalle. Zukünftig ist es daher erforderlich, dass die Nichtarbeit weniger gut bezahlt wird als in der Vergangenheit. Die betroffenen Bürger sollten durch Subventionierung der Arbeit aus der Armutsfalle herausgeführt werden. In der Gesetzlichen Krankenversicherung besteht durch die Verdoppelung der Alten bis zum Jahr 2035 ein gravierendes Generationenproblem. Die Umverteilung von den Arbeitenden zu den Älteren wird bei Ausbleiben einer Reform weiter voranschreiten. Die Privatisierung der Krankenversicherung ist jedoch eine gangbare Lösung. Sie nutzt den Markt, um die von den Bürgern benötigten Schutzsysteme zu entdecken.

ten 30 Jahren der Beitragssatz auf mehr als 30 Prozent ansteigen. Eine Neuregelung ist unumgänglich, um nicht die kommenden Generationen über Gebühr zu belasten. Zudem wird die Kopplung der sozialen Sicherungssysteme an das Beschäftigungsverhältnis durch den Wandel der Arbeitswelt untauglich. Geschützt werden sollte aber nicht das Sozialversicherungssystem, sondern der Bedürftige. Eine Rückbesinnung auf die Grundprinzipien der Sozialen Marktwirtschaft – auf Freiheit und Verantwortung – ist daher mehr als jemals zuvor angebracht.

Hildegard Müller Vorsitzende der Jungen Union und Mitglied im Präsidium der CDU Deutschlands Als Ergebnis der Diskussion zeigte sich, dass die Kerngedanken der Sozialen Marktwirtschaft immer weiter ausgehöhlt werden. Die Politik macht sich selbst zunehmend für die Beschäftigung verantwortlich. Hingegen fühlen sich Unternehmen wie Gewerkschaften immer weniger zur Schaffung von Arbeitsplätzen aufgerufen. Der an Besitzständen ausgerichtete Sozialstaat trägt darüber hinaus zur weiteren Arbeitsplatzvernichtung bei. In der Gesundheitspolitik wird bei Fortführung des Status quo in den nächsIII. Quartal 2001

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