Beyond the Horizon

Page 1

MICHAEL NAJJAR



Katalog zur Ausstellung in der WITTENSTEIN Innovationsfabrik


4

Beyond the Horizon

7

Werke

55

Biografie

59

Ăœbersicht

64

Impressum


MICHAEL NAJJAR


Beyond the Horizon

Der andere, Michael Najjar, Fotograf, der zu einer künstlerischen Avantgarde gehört, die sich auf komplexe und kritische Weise mit den technologischen Entwicklungen auseinandersetzt, die das frühe 21. Jahrhundert bestimmen und drastisch verändern. Der Wissenschaft, Kunst und Technologie zu künstlerischen Visionen und Utopien zukünftiger Gesellschaftsordnungen verknüpft, die sich unter dem Einfluss neuer Technologien herausbilden. 50 Jahre nachdem mit Neil Armstrong der erste Mensch einen Fuß auf den Mond gesetzt hat, erobert ein deutscher Fotokünstler das Weltall: Michael Najjar, international renommierter Künstler, Abenteurer und zukünftiger Astronaut. Für seine neue Ausstellung „Beyond the Horizon“ hat sich der 53-Jährige ganz bewusst einen Ort ausgesucht, an dem sein künstlerischer Topos – nämlich technische Innovationen und ihre Auswirkungen auf die Zukunft der Menschheit – eine adäquate Heimat findet: die Innovationsfabrik des Mechatronikkonzerns WITTENSTEIN SE in Igersheim. Im Unternehmer und Kunstmäzen Dr. Manfred Wittenstein hat Michael Najjar so etwas wie sein Alter Ego gefunden. Beide eint die Begeisterung für Technik und Kunst. Der eine, Manfred Wittenstein, Ingenieur, ehemaliger VDMA Präsident und vielfach für seine Lebensleistung ausgezeichnet. Ein Pionier, der das eigene Familienunternehmen mutig und visionär zu einem Global Player für innovative Antriebstechnik gemacht hat. Einer, für den das nachhaltige Unternehmertum – der Gesellschaft verpflichtet – eine Selbstverständlichkeit ist.

Najjar ist in den abgelegensten Regionen der Welt unterwegs auf der Suche nach neuen Inspirationen. In Trainingslagern bereitet er sich akribisch auf den ersten Flug eines Künstlers ins Weltall vor, um als einer der „Virgin Galactic Pioneer Astronauts“ sein Kameraobjektiv aus der Weltraumrakete „SpaceShipTwo“ heraus auf das „Raumschiff Erde“ richten zu können. Rückschläge als Chance begreifen, heute Unvorstellbares vorausdenken: Bewegte Bilder und Imagination haben das Potenzial, ein öffentliches Bewusstsein, eine Sensibilisierung für neue Wertmaßstäbe und Handlungskriterien zu schaffen. Genau hier setzt Najjar an: Seine Werke bewegen sich exakt an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft, Forschung und Kunst. Seine Arbeiten sind immer konzeptionell und medienreflexiv angelegt. Realistische Elemente verknüpfen sich dabei mit virtuellen Welten und Fiktionen. Analoge Fotografie, digitale Bildbearbeitung und computergenierte Bildelemente verschmelzen zu einer neuen Ausdrucksform, der sogenannten Hybridfotografie, ein Terminus, den Najjar selbst Anfang der neunziger Jahre eingeführt hat.

4 | 5


Die Ausstellung in der WITTENSTEIN Innovationsfabrik kreist speziell um den technologischen Fortschritt in der Weltraumfahrt, der unsere Zukunft womöglich entscheidend verändern wird. Dabei sind die Grenzen von der utopischen zur dystopischen Welt nicht selten fließend und liegen womöglich ganz bewusst im Ermessen des Betrachters. Neben 20 großformatigen Fotoarbeiten umfasst die bislang umfassendste „outer space“-Einzelausstellung auch die Videoinstallation „terraforming“. Das rund zehnminütige Video kombiniert Filmaufnahmen des Künstlers mit Marslandschaften, aufgenommen durch den Rover „Curiosity“ auf dem roten Planeten. „terraforming“ thematisiert im visuellen Dialog das Paradoxon, den Mars in eine für Menschen bewohnbare Umgebung zu verwandeln, wobei der Heimatplanet Erde durch identische Technologien und deren Auswirkungen in einen zunehmend unbewohnbaren Ort verwandelt wird. Die Herangehensweise von Najjar ist so akribisch wie vielfältig: So fotografierte er beispielsweise auf dem ersten privaten Weltraumbahnhof Spaceport America in der neu-mexikanischen Wüste und an Europas Weltraumbahnhof bei Kourou in Französisch-Guayana. In China hatte er das Privileg, das größte astronomische Radioteleskop der Welt mit einem unglaublichen Durchmesser von 500 m zu erfassen; das einzigartige Instrument zur Suche fremden Lebens ist normalerweise für Fotografen nicht zugänglich.

In einem anderen Werk visualisierte er den Weltraumschrott, der die Erde mittlerweile umkreist, auf beängstigend ästhetische Weise. Seinem Selbstportrait beim Kosmonautentraining in einem sogenannten Hydrolab in Russland wiederum fügte er zur Raumperspektive des Betrachters digital die Erde hinzu: Der Blick auf die blaue Kugel durch ein Bullauge hinterfragt das Verhältnis zwischen Realität und Simulation. Auffälligstes Werk der Ausstellung ist das Triptychon „lunar explorers“, die jüngste Schöpfung Najjars: Eine Hommage an die erste Mondlandung vor 50 Jahren und an die 12 Mondwanderer, die zwischen 1969 und 1972 zu den wichtigsten Entdeckern des letzten Jahrhunderts geworden sind. Najjar gelangte an bislang unverarbeitetes NASA-Bildmaterial der sechs Apollo-Missionen und verarbeitete es im dreigeteilten Altarformat: „Die Faszination Mond schafft seit Jahrhunderten ein ideales Reich, in dem unsere Vorstellungen und Phantasien über die Ausdehnung der menschlichen Präsenz im Weltraum diesen frei durchstreifen können. Die Mondlandung war ein so unglaublich inspirierendes Ereignis, weil sie gezeigt hat, dass Menschen scheinbar unmögliche Unternehmungen vollbringen können, wenn sie gemeinsam an etwas arbeiten, das viel größer ist als sie selbst.“


6 | 7


Werke


space launcher 2016

Das Werk „space launcher“ zeigt eine Ariane-5-Rakete im Endmontagegebäude im Centre Spatial Guyanais (CSG), dem europäischen Weltraumbahnhof in Französisch-Guyana. Die Ariane 5 – eine Trägerrakete für schwere Nutzlasten – ist Teil der ArianeRaketenfamilie, einem Einwegraketensystem für die Beförderung von Nutzlasten in den geostationären Transferorbit (GTO) oder den erdnahen Orbit (LEO). Im 90 Meter hohen Montagegebäude erhält die Trägerrakete ihre Nutzlast, die durch einen Fahrkran zur Installation auf der Rakete herangefahren wird. In diesem Bild wird der Multi-Mission-Satellit Eutelsat 65 West A mit einer Masse von 6.500 kg montiert. Die obere Stufe der Rakete erhält ihre Treibstofffüllung im Endmontagegebäude. Im Anschluss an die Installation wird der mobile Starttisch mit der Rakete vom „Titan“-Truck in die Startzone transportiert. Am 9. März 2016 beförderte die Ariane 5 VA229 den Satelliten Eutelsat 65 West A in seinen geosynchronen Transferorbit.

Das Werk „space launcher“ gibt einen Eindruck von der enormen Komplexität der Montagekonstruktion, die für den Bau dieser relativ einfachen Form der Trägerrakete – im Prinzip nicht viel mehr als ein Rohr – erforderlich ist. Die Komposition dieses Werks bringt den mehrstufigen Montageprozess zum Ausdruck, der sich auf mehreren vertikalen und horizontalen Ebenen vollzieht. Die Originalfotografie wurde so bearbeitet, dass die technische und konstruktive Präzision und die Einheit von Montagestruktur und Rakete betont werden.

8 | 9



synlight 2017

Die weltweit größte künstliche Sonne strahlt seit dem Jahr 2017 im Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) in Jülich. Die Entwicklung neuer Produktionsprozesse für solare Treibstoffe steht im Mittelpunkt dieser weltweit einzigartigen SynlightSolarforschungsanlage. Sie besteht aus 149 leistungsstarken Xenon-Kurzbogenlampen, die von den Forschern auf eine Fläche von 20 x 20 cm fokussiert werden können. Trifft die Strahlung der Lampen mit einer Leistung von bis zu 350 Kilowatt auf dieser Fläche auf, erreicht sie die bis zu 10.000-fache Intensität der Solarstrahlung auf der Erdoberfläche. Die Temperaturen im Fokus der Lampen betragen bis zu 3.000 Grad Celsius; diese Temperaturen nutzen die Forscher, um Treibstoffe wie z.  B. Wasserstoff herzustellen. Wasserstoff gilt weithin als der Treibstoff der Zukunft, denn er verbrennt, ohne dabei Kohlendioxid freizusetzen. Bei der Herstellung von Wasserstoff wird der weltweit verfügbare Rohstoff Wasser in seine Bestandteile Wasserstoff und Sauerstoff aufgespalten.

Das Werk „synlight“ zeigt den futuristisch anmutenden Sonnensimulator im Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt. Wasserstoff ist als Rohstoff für die Raumfahrt von zentraler Bedeutung und findet als Treibstoff in Raketen, Raumschiffen und Satelliten Verwendung. Da Wasser im Weltraum in großen Mengen vorkommt – riesige Reserven finden sich beispielsweise auf Asteroiden – könnte die Sonnenenergie in Zukunft sogar direkt für die Treibstoffherstellung im Weltraum genutzt werden. Diese Anlage mit ihren 149 leistungsstarken Kurzbogenlampen wurde aus drei verschiedenen Blickwinkeln auf einer gemeinsamen linearen Achse fotografiert. In der an ein Triptychon erinnernden Bildkomposition überlagern sich die drei Perspektiven und verschmelzen miteinander – als Ausdruck des Grundprinzips, bei dem ein Wassermolekül in zwei Wasserstoffatome und ein Sauerstoffatom aufgespalten wird. Der Hintergrund betont den Charakter dieser Anlage für künstliches Sonnenlicht als Forschungsstandort für die Industrie und unterstreicht die beeindruckenden Dimensionen der Gesamtanlage. Die Entwicklung von solaren Treibstoffen ist nicht nur für die Raumfahrt von Bedeutung, sondern auch für unser Leben auf der Erde, denn in der Welt von Morgen bilden erneuerbare Energieträger das Rückgrat der weltweiten Energieversorgung.

10 | 11



space debris I 2012

„space debris I“ ist die bildliche Darstellung der Population unbrauchbar gewordener Objekte, die auf unterschiedlichen Umlaufbahnen um die Erde kreisen und alles von abgebrannten Raketenoberstufen über tote Satelliten bis zu Kernreaktoren umfassen. Heute umkreisen rund 600.000 Objekte mit einem Durchmesser von 1 bis 10 cm und ca. 21.000 Objekte mit mehr als 10 cm Durchmesser die Erde mit Geschwindigkeiten von rund 28.000 km/h. Sie alle bedeuten eine ernstzunehmende Gefahr für Satelliten, Raumstationen und operative Raumflüge. Die zunehmende Menge an Weltraumschrott ist obendrein ein ernstes Umweltverschmutzungsproblem, das unbedingt angegangen werden muss.

Das Werk zeigt, welche Mengen an Weltraumschrott im Jahr 2012 die Erde vom erdnahen Orbit bis zum geostationären Orbit umkreisten. Das Bild wurde anhand von Datenarchiven erstellt, wobei jeder Punkt auf dem Bild einem tatsächlich im Weltraum kreisenden Objekt entspricht. Die Visualisierung entstand in Zusammenarbeit mit dem Institut für Raumfahrtsysteme der TU Braunschweig, dem weltweit führenden Fachinstitut für die Verfolgung von Weltraumschrott.

12 | 13



liquid gravity 2013

„liquid gravity“ thematisiert die Verbindung zwischen Raum, Schwerkraft und dem menschlichen Körper. Ein Kosmonaut schwebt über dem Boden – in einem Raum, der auf den ersten Blick an ein Industriegebäude erinnert. Wir befinden uns hier aber im weltgrößten Hydro-Labor im Juri-Gagarin-Kosmonautentrainingszentrum in Swosdny Gorodok (Sternenstädtchen) außerhalb Moskaus. Das Prinzip des „neutralen Auftriebs“, bei dem die Schwerelosigkeit in einem riesigen Wassertank simuliert wird, wurde erstmals vom US-Astronauten Buzz Aldrin Anfang der 1960er Jahre im Rahmen des Gemini-Projekts entwickelt. Seither ist das Hydro-Labor zu einem zentralen Bestandteil der Schulungen aller Astronauten und Kosmonauten geworden.

Das Werk „liquid gravity“ geht auf einen Kosmonautenlehrgang zurück, an dem Michael Najjar im Dezember 2012 in Swosdny Gorodok teilnahm. Der Künstler verbrachte dabei zwei Stunden in einem originalen EVA-Raumanzug unter Wasser. Das Bild wurde in einer Tiefe von zwölf Metern aufgenommen und anschließend um ein Detail angereichert: die Erde. Mit dem Blick durch das Bullauge auf den Erdball erschließt sich dem Betrachter eine ganz neue Perspektive des Weltraums, aus der er den Zusammenhang zwischen der realen Welt und einer künstlichen Wirklichkeit hinterfragt.

14 | 15



lunar explorers 2019

Am 20. Juli 2019 jährt sich zum 50. Mal die Mondlandung von Apollo 11 im Meer der Stille, eines der kühnsten Abenteuer in der Geschichte der Menschheit. Im Verlauf von sechs NASA-Missionen zwischen 1969 und 1972 landeten insgesamt zwölf Männer auf dem Mond und bewegten sich dort zu Fuß und mit dem Mondfahrzeug fort und erledigten unterschiedliche Aufgaben: Neil Armstrong, Buzz Aldrin, Pete Conrad, Alan Bean, Alan Shepard, Edgar Mitchell, David Scott, James Irwin, John Young, Charles Duke, Harrison Schmitt und Eugene Cernan. Die Apollo-Crews, die nacheinander auf dem Mond landeten, führten mit einer Vielzahl wissenschaftlicher Geräte Hunderte von Experimenten auf der Mondoberfläche durch, die von der Erde aus über Funktelemetrie überwacht wurden und unsere Kenntnisse über diesen Himmelskörper und seine Beziehung zur Erde revolutioniert haben.

Die aber vielleicht wichtigsten greifbaren Objekte von den Mondlandungen und dem Apollo-Programm dürften diese Fotos sein, die zeigen, wie sich unsere Erde von der Mondoberfläche aus präsentiert. Der Blick nach Hause aus dieser gigantischen Distanz, aus der die Erde wie eine winzige, unberührte Oase des Lebens in den unendlichen Weiten des Weltraums anmutet, eröffnet dem Betrachter ein ganz neues Gespür dafür, was das Menschsein bedeutet. Mit dem Apollo-Programm vollzog sich ein grundlegender Wandel unseres anthropologischen Blickwinkels, denn zum ersten Mal sehen wir plötzlich, dass wir alle auf einem einzigen Planeten und einem eng verflochtenen Ökosystem leben.

16 | 17


Das Werk „lunar explorers“ ist eine Hommage an die erste Mondlandung vor 50 Jahren und an die 12 „Moonwalker“, die wichtigsten Forscher des letzten Jahrhunderts. Mit ihren Hasselblad-Kameras nahmen die Apollo-Astronauten Tausende von Fotos auf; diese unbearbeiteten Varianten der originalen NASA-Aufnahmen sind das Ausgangsmaterial für dieses Kunstwerk. Die Komposition der Mondlandschaft betont nicht nur die Leere des unberührten Geländes, sondern auch die ersten wissenschaftlichen Aktivitäten des Menschen auf einem anderen Himmelskörper. Das Werk zeigt die zwölf Astronauten, wie sie auf der Mondoberfläche spazieren, arbeiten und Experimente durchführen, Gesteinsproben nehmen, mit dem Lunar Roving Vehicle fahren und Fotos machen.

Das linke Bild des Triptychons zeigt die Mannschaft von Apollo 11, Neil Armstrong und Buzz Aldrin, und das rechte Bild die Crew von Apollo 17, Harrison Schmitt und Eugene Cernan, der bisher letzte Mann, der den Mond betreten hat. Der Mittelteil ist den anderen acht Astronauten und ihren verschiedenen Aktivitäten und technischen Installationen gewidmet. Die Grautöne der kargen Mondlandschaft stehen in scharfem Kontrast zum blauen Schimmer der Erde, die hier wie eine weit entferne Heimat anmutet. Die auf die Erde ausgerichtete Antenne des Lunar Roving Vehicle stellt dabei die Verbindung zwischen unserem Heimatplaneten und diesen extraterrestrischen Aktivitäten her. Seit Jahrhunderten ist die Faszination, die vom Mond ausgeht, ein idealer Tummelplatz der Fantasie, auf dem sich unsere Träume und unsere Vorstellungen von der Ausweitung der menschlichen Präsenz in den Weltraum entfalten können. Die Mondlandung war ein Ereignis von besonderer Inspirationskraft, denn sie verdeutlichte, dass die Menschen scheinbar unmögliche Unternehmungen meistern können, wenn sie sich zur Arbeit an etwas zusammentun, das weit größer als sie selbst ist. Von den 12 Apollo-Astronauten auf diesem Werk leben heute übrigens nur noch vier.




europa 2016

Der Jupitermond Europa ist einer der Orte, an dem die Wahrscheinlichkeit, Leben außerhalb der Erde zu finden, am höchsten ist. Der Mond Europa ist eine überwältigende Masse aus Eis; seine gesamte Oberfläche ist von einer mehrere Kilometer tiefen Eisdecke bedeckt. Mit dem Jet Propulsion Laboratory der NASA gelang inzwischen erstmals der schlüssige wissenschaftliche Nachweis, dass sich unter der Eishülle ein mehrere 100 Kilometer tiefer Salzwasserozean befindet. Man geht heute davon aus, dass dieser ferne Jupitersatellit mehr als das Doppelte der Wassermenge der Erde aufnimmt. Mit hoher Wahrscheinlichkeit bietet Europa auch passende Voraussetzungen für die Entwicklung von Leben. Diese Entdeckung machten Wissenschaftler in einer als „chaotisches Terrain“ bezeichneten Region. Dieses Gebiet ist mit riesigen Eisbergen überzogen, bei denen an einigen Stellen offenbar der unterirdische Ozean unter dem Eis den Weg an die Oberfläche fand. Da auf Europa keine Atmosphäre vorhanden ist, verwandelt sich das Wasser direkt in Eis und Dampf, sobald es auf das Vakuum an der Oberfläche trifft.

Das Werk „europa“ gibt den Blick auf die Oberfläche des Jupitermonds Europa frei. In der Bildkomposition – die ihre Inspiration besonders aus den Werken des Malers Caspar David Friedrich bezieht – verschmelzen Landschaftsaufnahmen aus einer Gletscherregion Islands mit Bildern der Oberfläche des Mondes Europa, die von der Galileo-Weltraumsonde im Vorbeiflug aufgezeichnet wurden. In diesem Werk kommt zudem der ununterdrückbare Drang des Menschen zum Ausdruck, neue Welten zu erkunden und mehr über die Ursprünge menschlichen Lebens zu erfahren.

20 | 21



sands of mars 2014

Im Mittelpunkt von „sands of mars“ steht der Gedanke einer möglichen zukünftigen Besiedelung des Planeten Mars. Was früher eine Fantasterei aus der Welt der Science Fiction war, ist heute Gegenstand ernsthafter Machbarkeitsstudien. Der rote Planet nimmt insofern eine Sonderstellung ein, als er die Ressourcen für die Lebensgrundlagen einer Population ausreichender Größe bietet, die einen neuen Ableger menschlicher Zivilisation aufbauen könnte. Voraussetzung für eine Besiedelung ist die Einrichtung dauerhafter Stützpunkte, die eigenständig erweitert werden können. Aufblasbare Wohnbereiche sind dabei eine mögliche Option für die Architektur auf der Marsoberfläche. Geodätische Kuppelbauten, wie sie vom US-Architekten und Konstrukteur Buckminster Fuller in den 1950er Jahren entwickelt wurden, bieten sich als ideales architektonisches Konzept für Lebensräume auf dem Mars an. Die Landschaftsaufnahme entstand an einem ganz besonderen Standort in der chilenischen Atacama-Wüste, die ein ähnliches Landschaftsbild wie der Mars zeigt und häufig als Erprobungsgelände für zukünftige Mars-Fahrzeuge genutzt wird.

Das Werk „sands of mars“ vermittelt eine bildliche Vorstellung vom Zukunftsszenario eines Habitats auf dem Mars, bei dem das Bild der unendlichen Weiten einer marsähnlichen Landschaft im Kontrast zu den drei geodätischen Kuppeln steht. Zugleich rückt damit die Verbindung zwischen Innen- und Außenräumen in den Mittelpunkt. In den Anfangstagen der Besiedelung des Mars steht der gesamte Planet als neue Fläche zur Verfügung, auf der der Mensch siedeln könnte, allerdings nur sehr wenig Raum, in dem er wohnen kann.

22 | 23



space garden 2013

Anhand von Fotos aus dem Eden Project, einem Komplex künstlicher Biome in Cornwall im Süden Englands, wird hier der Zukunftsgedanke von Gewächshäusern im Weltall ins Bild gesetzt. Das riesige Treibhaus mit seiner Kuppelformation geht auf die geodätischen Gebäude von Buckminster Fuller zurück und bildet die Heimstatt für mehr als 100.000 verschiedene Pflanzen aus aller Welt. Im „space garden“ wird der Gedanke weitergesponnen, wie mit den Forschungsarbeiten des Eden Project eines Tages ein Biom in einem Raumschiff oder auf einer Weltraumstation eingerichtet oder sogar ein autonomes Ökosystem geschaffen werden könnte – ein Habitat für Pflanzen auf dem Mond oder dem Mars. Damit stellt sich auch die Frage, wie sich Schwerelosigkeit oder Mikrogravitation auf das Pflanzenwachstum auswirken. Die Pflanzen können sogar wachsen, ohne im Boden verwurzelt zu sein. Sie wachsen stets in Richtung des Sonnenlichts.

Dieses Werk ist eine hochkomplexe Digitalmontage und Umgestaltung der unzähligen Fotos, die der Künstler im Eden Project aufnahm. Die Bilder sind so miteinander verwoben, dass die Pflanzen wirken, als ob sie in der Luft schweben und den beiden einander entgegengesetzten Lichtquellen entgegenwachsen. Die sechseckige geodätische Struktur hinter den Pflanzen unterstreicht den Aspekt, dass im Weltraum sämtliche Pflanzen in einer künstlichen Atmosphäre wachsen müssen.

24 | 25



liquid time 2017

Gletscher sind die größten Frischwasserreservoire der Erde und ein wichtiger Bestandteil des empfindlichen ökologischen Gleichgewichts unserer Biosphären. Als Folge des globalen Klimawandels schrumpfte in den letzten Jahrzehnten die Masse der meisten Gletscher jedoch in dramatischer Weise. Die weltweit steigenden Temperaturen und das damit einhergehende Schmelzen des Gletschereises sind dem immer stärkeren Treibhauseffekt zuzuschreiben. Diese Entwicklung bedeutet eine schwerwiegende Bedrohung für die heutige und zukünftige Bevölkerung der Welt, denn mit dem fortgesetzten Schrumpfen der Gletscher und Abschmelzen des Gletschereises steigt der globale Meeresspiegel, es kommt zu Überschwemmungen und dem Verlust an bewohnbaren Landflächen, und auch die Nahrungsmittelanbauflächen und Trinkwasservorkommen werden zunehmend knapp. Nach wissenschaftlichen Berechnungen steigt der Meeresspiegel bis zum Jahr 2100 um 8 bis 88 cm. Mit dem Abschmelzen der Eisdecke Grönlands im Laufe des 21. Jahrhunderts könnte der Meeresspiegel sogar um dramatische sieben Meter ansteigen. Das bereits heute unübersehbare Verschwinden von Gletschern kann nicht mehr natürlichen Ursachen zugeschrieben werden, sondern hat seine Ursachen in anthropogenen Einflüssen – den Auswirkungen, die der Mensch und seine Technologien auf das Klima der Erde verursachen.

Das Werk „liquid time“ betont die Zerbrechlichkeit unseres ökologischen Gleichgewichts und die Bedeutung, die dem Übergang des Aggregatzustands von Eis zu Wasser zukommt. Gletscher speichern Zeit; in jeder ihrer Schichten binden sie Luft, Wasser und Sauerstoff aus unzähligen Jahrtausenden. Das Bild entstand im Winter 2017 in einer Eishöhle unter dem Brei∂amerkurjökullGletscher in Island, der mittlerweile mit einer Geschwindigkeit von jährlich 80 bis 100 Metern schrumpft. Diese einzigartige Eishöhle bildete sich durch das Schmelzen des Gletschereises. Das Eis der „liquid time“ befindet sich bereits auf einer tausendjährigen Reise und ist in den Transformationsprozess eingetreten, in dem die ersten Wassertropfen als Zeichen des Übergangs vom festen in den flüssigen Zustand zu beobachten sind. Gletscher reagieren mit erheblicher Verzögerung auf Klimaänderungen; die Eiswelt von „liquid time“ ist nicht nur das Abbild der bisherigen Geschichte des Gletschers, sondern drückt durch ihre wellenförmige Erscheinung auch die Zukunft des Gletschers als Vorbote des Prozesses aus, bei dem das Meer das Eiswasser aufnimmt. Der Übergang von extrem kompaktem Gletschereis zu flüssigem Seewasser ist unumkehrbar; die unzähligen Risse und Brüche kündigen den bevorstehenden Umwandlungsprozess an.

26 | 27



serious anomaly 2015

Am 31. Oktober 2014 stürzte das suborbitale Raumflugzeug SpaceShipTwo von Virgin Galactic bei einem Erprobungsflug über der Mojave-Wüste in Kalifornien ab. Das Raumflugzeug war vom Mojave Air and Space Port aus gestartet und hatte sich nach Erreichen einer Flughöhe von 10.000 m vom Trägerflugzeug abgekoppelt. Elf Sekunden später zerbarst das Flugzeug mit einem lauten Knall. Copilot Michael Alsbury kam bei dem Absturz ums Leben, Pilot Peter Siebold wurde schwer verletzt. Das Werk „serious anomaly“ ist der bildliche Ausdruck des Erlebnisses des Scheiterns als Grundbestandteil der menschlichen Existenz. Die Komposition lässt sich als Neuinterpretation des legendären Gemäldes „Das Eismeer – Die gescheiterte Hoffnung“ von Caspar David Friedrich aus dem Jahr 1824 begreifen, das weithin als vollendete Inkarnation der Vorstellung vom menschlichen Scheitern gilt. Das Gemälde unterstreicht die Verbindung von Mensch und Natur, aber auch von Technik und Natur; das zwischen den Eisschollen gefangene Schiff ist in Wirklichkeit ein Expeditionsschiff auf der Erkundung neuer Handelsrouten.

Das Werk ist eine digitale Komposition aus einer großen Zahl von Fotografien, die von Fotoreportern am Absturzort in der Mojave-Wüste aufgenommen und in Anlehnung an die Bildkomposition von Caspar David Friedrich neu montiert wurden. Anstelle des Expeditionsschiffs im Gemälde von Caspar David Friedrich finden wir hier den Sitz des Piloten, der den Absturz überlebt hat. Das Werk wirft die Frage nach der Beziehung zwischen Mensch und Maschine und der Überwindung der Grenzen durch technische Innovationen auf.

28 | 29



symmetrical boosters 2019

Die legendäre russische Sojus-Rakete, deren Erststart im Jahr 1966 stattfand, gilt mit mehr als 1.800 Flügen heute als die weltweit meistverwendete Weltraum-Trägerrakete. Die Sojus-Trägerrakete erreicht in ihrer dreistufigen Bauform eine Gesamthöhe von 49,5 m und einen Hauptdurchmesser von 2,95 m sowie einen Maximaldurchmesser von 10,3 m. Die Startmasse beträgt ca. 305.000 kg. Die Kernstufe ist mit vier mit Flüssigtreibstoff gefüllten konischen Strap-on-Boostern bestückt, die in der Anfangsphase des Flugs für zusätzlichen Schub sorgen sollen. Jeder Booster verfügt über ein einzelnes Raketentriebwerk mit vier Brennkammern und einem Satz Turbopumpen. Vor dem Start werden alle vier Booster gezündet, um maximalen Schub aufzubauen und werden abgeworfen, sobald die Treibstofftanks leer sind. Kernstufe, Booster und dritte Stufe nutzen raffiniertes Kerosin und Flüssigsauerstoff als Treibstoff. Die Booster sind um die zentrale Kernstufe angeordnet und enthalten jeweils insgesamt 39.600 kg Treibstoff. Alle Booster zünden rund 20 Sekunden vor dem Start, sodass die Turbopumpen auf Fluggeschwindigkeit hochlaufen können, und brennen nach dem Start 118 Sekunden weiter, bevor sie von der Trägerrakete abgeworfen werden. Die Triebwerke entwickeln beim Start einen Schub von 792 Kilonewton (kN).

Das Werk „symmetrical boosters“ zeigt die Unterseite einer Sojus-Rakete auf der Startrampe, umschlossen von einem mobilen Schutzgerüst. Die Rakete wird mit einem Spezialzug vom Integrationsgebäude zur Startrampe transportiert und dort in senkrechter Stellung auf der Startrampe aufgerichtet und ruht hier in vier Tragarmen. Sobald die Sojus-Rakete senkrecht steht, fährt das Traggerüst heran und umschließt die Rakete für die Integration der zu transportierenden Nutzlast. Die Bildkomposition zeigt eine ungewöhnliche Perspektive, in der der Betrachter direkt von unten auf die Trägerrakete blickt. Aus diesem Winkel ist der symmetrische Triebwerksaufbau mit der Kernstufe und den vier seitlichen Boostern gut zu erkennen. Durch die Duotone-Farbkomposition treten die roten Brennkammerabdeckungen der fünf Triebwerke besonders hervor. Diese Schutzeinsätze werden an den Düsen befestigt, um beim Transport zur Startrampe Schmutz von den Brennkammern fernzuhalten, und werden kurz vor dem Start zusammen mit dem mobilen Schutzgerüst entfernt. Dieses Werk vermittelt dem Betrachter nicht nur eine vage Vorstellung, sondern einen nachhaltigen Eindruck von der immensen Leistung der fast 800 kN Schub, die die Triebwerke in der Startphase entwickeln und die Schwerlastrakete in den Weltraum katapultieren. „symmetrical boosters“ zeigt dieselbe Rakete, die auch im Werk „ignition“ in dem Moment zu sehen ist, da alle vier Triebwerke zünden und der Feuerschweif sich aus den Boostern den Weg ins Freie sucht.

30 | 31



supersymmetric particles 2019

Der Large Hadron Collider (LHC – Großer Hadronen-Speicherring) ist der leistungsstärkste Teilchenbeschleuniger der Welt und die größte je von Menschen gebaute Maschine. Er wurde vom Europäischen Kernforschungszentrum (CERN) gebaut und steht an der schweizerisch-französischen Grenze bei Genf. Der LHC besteht aus einem 27-Kilometer-Ringtunnel aus supraleitenden Magneten mit zusätzlichen Beschleunigerstrukturen, die die Energie der Protonenpartikel auf ihrem Weg verstärken. Im Beschleunigerinneren bewegen sich zwei Hochenergie-Partikelstrahlen mit annähernder Lichtgeschwindigkeit, bevor sie an vier Stellen, die den Positionen der Partikeldetektoren entsprechen, entlang des Beschleunigerrings zur Kollision gebracht werden. Die Forscher hoffen, dass der Large Hadron Collider dazu beiträgt, Antworten auf verschiedene grundlegende offene Fragen der Physik zu finden. Mithilfe der im CERN durchgeführten Experimente konnten die Bedingungen nachgebildet werden, die in den ersten Sekunden nach dem Urknall herrschten, und sie vermitteln uns damit bessere Einblicke in die Beschaffenheit des Universums. Im Jahr 2012 wurde mit dem LHC erstmals das Higgs-Boson nachgewiesen, das neue Erkenntnisse über die Struktur kosmischer Materie liefert. Im Zentrum der Forschungen am CERN steht die Grundsatzfrage von Johannes Keppler aus dem 16. Jahrhundert: Welche innere Struktur hält die Welt zusammen?

Das Werk „supersymmetric particles“ zeigt ATLAS, einen der vier Detektoren des LHC. Er ist 46 m lang, 25 m hoch und 25 m breit und ist mit einem Gewicht von 7.000 Tonnen der größte je gebaute Teilchendetektor. Dieses gigantische Objekt hinterlässt beim Betrachter einen überwältigenden Eindruck, denn hier wird ein hochkomplexer Messbereich von der realen Welt isoliert und eine eigene, abgeschottete Sphäre der Wirklichkeit geschaffen. ATLAS wird für Forschungsaufgaben in unterschiedlichsten Bereichen der Physik eingesetzt, von der Suche nach dem Higgs-Boson bis zu Partikeln, die dunkle Materie bilden könnten und der Suche nach supersymmetrischen Teilchen. Wasserstoffprotonenstrahlen kollidieren im Zentrum des ATLAS-Detektors und die dabei entstehenden Kollisionsrückstände werden vom Kollisionspunkt in alle Richtungen weggeschleudert. In mehreren Lagen um den Kollisionspunkt angeordnete Detektorsubsysteme zeichnen die Bahnen, den Bewegungsimpuls und die Energie der Partikel auf, sodass diese einzeln identifiziert werden können. Mithilfe komplexer Datenerfassungs- und Berechnungssysteme werden die aufgezeichneten Kollisionsereignisse analysiert, bei denen 600 Millionen Protonenkollisionen pro Sekunde 144.000 Terabyte Daten je Stunde erzeugen. Durch die ATLAS-Experimente soll auch die Existenz von Supersymmetrie nachgewiesen werden, die besagt, dass jedes Teilchen im Universum einen Partner mit unterschiedlichem Spin aufweist. Bei der Erklärung dunkler Materie, die einen großen, aber bisher noch völlig unbekannten Teil des Universums ausmacht, scheint das Standardmodell der Physik in mehrerlei Hinsicht unvollständig zu sein.

32 | 33



oscillating universe 2015

Das Werk „oscillating universe“ ist das Abbild der „Big Bounce“oder „Großer-Rückprall“-Theorie, eines hypothetischen wissenschaftlichen Modells der Geburt unseres Universums. Grundlage dieser Theorie ist die Vorstellung von einem zyklischen oder oszillierenden Universum, das beim Urknall durch den Kollaps eines Vorgängeruniversums entstand. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass der Urknall, der vor rund 13,7 Milliarden Jahren eintrat, der letzte Urknall eines Universums war, das vor unserem eigenen Universum existierte und dessen Masse unter der Wirkung der Schwerkraft kollabierte. Der Urknall ist also kein einmaliges Ereignis, sondern steht vielmehr am Anfang einer Expansionsphase, die an eine Kontraktionsphase anschließt. Wir könnten uns heute also an einem beliebigen Punkt einer unendlichen Sequenz von Universen befinden oder unser heutiges Universum könnte die erste Iteration einer solchen Sequenz sein.

Die Komposition des Werks „oscillating universe“ basiert auf einer Vielzahl von extrem hochauflösenden Datenvisualisierungen ferner Galaxien, die vom Hubble-Weltraumteleskop aufgenommen und digital zu einem neuen fiktiven Universum verknüpft wurden. Dieses neue Universum wurde umgekehrt (durch Umkehrung der Schwarz- und Weißwerte) und um ein Materie absorbierendes Schwarzes Loch ergänzt. Bei der Montage des endgültigen Werks wurden winzige Metallpartikel zugegeben, die sich willkürlich über die Bildfläche verteilten. Diese Partikel funkeln wie Sterne und verschwinden im nächsten Augenblick – je nach Beleuchtung und Blickwinkel des Betrachters. Wir können uns diese als Metapher für den Zyklus des Lebens vorstellen.

34 | 35



skyspace ONE 2019

Der Mensch muss die Bezugskoordinaten seiner Existenz von einem rein erdverbundenen Dasein unweigerlich zu neuen Dimensionen erweitern, die das gesamte Sonnensystem einschließen. In naher Zukunft werden wir im Weltraum leben und arbeiten, in den nächsten Jahrzehnten werden wir neue Lebensräume auf dem Mond und auf dem Mars errichten. Weltraumstationen werden zu einem zentralen Faktor bei der Erkundung der endlosen Weiten des Weltraums. Im Mittelpunkt dieser Entwicklung stehen der menschliche Körper und seine Fähigkeit, mit der Unwirtlichkeit und Leere des Weltraums sowie mit der überall herrschenden Mikrogravitation umzugehen. Bisher haben noch keine Kinder den Weltraum bereist, dies wird sich jedoch mit dem Fortschritt der Technologie ändern und auch Kinder werden in Raumschiffen die Reise ins All antreten können. Wie werden sie die Faszination der Weltraumreise, der Landung auf einem anderen Planeten und das Leben auf einer Weltraumstation erleben? Die Erfahrungen, die sie sammeln, werden die Vorstellungen kommender Generationen von Weltraumreisenden und –forschern beeinflussen und verändern.

Das Werk „skyspace ONE“ ist der zukünftigen Generation der Weltraumreisenden, unseren Kindern, gewidmet. Ein Junge schwebt scheinbar schwerelos in der Mikrogravitation und der Blick durch das Fenster verrät, dass er den Mars auf einer Raumstation umkreist. Die Deckenleuchten erinnern an ein Sonnensystem mit elliptischen Planetenumlaufbahnen, wie überhaupt der gesamte Lebensraum im Orbit nur aus Licht zu bestehen scheint und damit den elementaren Zusammenhang zwischen Licht und dem Kosmos zum Ausdruck bringt, in dem das Licht unser Universum Milliarden von Jahren lang durchwandert und dabei Vergangenheit und Gegenwart miteinander verbindet und die Zukunft hell erleuchtet. Der Fensterrahmen ist ein Möbiusband, eine nicht orientierbare Fläche, die – wie der Weltraum – kein Oben und kein Unten, kein Innen und Außen hat. Das Sechskantmuster auf der High-Tech-Brille des Jungen findet sich auch auf der gewölbten Wand, die ihn umgibt. In einer anderen Welt zu schweben, mutet für den Jungen wie eine intensive Erfahrung des Eintauchens an – eine Art wahrgenommener Realität. Die Komposition dieses Werks erinnert stark an die „Skyspaces“ des US-Amerikaners James Turell – Kammern, die sich durch eine Öffnung im Dach zum Himmel hin öffnen. Unverkennbar ist auch die Anspielung auf das 2013 entstandene Werk „liquid gravity“ von Michael Najjar, auf dem der Künstler in einem russischen Raumanzug in einem Hydro-Laborbecken für einen Weltraumspaziergang trainiert. Auf dem Werk „skyspace ONE“ ist der 7 Jahre alte Sohn des Künstlers zu sehen, denn für ihn und seine Generation wird die Möglichkeit, im Weltraum zu leben und zu arbeiten, in den vor uns liegenden Jahren zu einem zunehmend zentraleren Bestandteil ihrer Lebensgestaltung werden.

36 | 37



dark matter 2019

Dunkle Materie ist eine hypothetische Form der Materie, die rund 85 % der Materie im gesamten Universum ausmachen soll. Ihr Vorhandensein wird in verschiedenen astrophysischen Beobachtungen unterstellt, unter anderem bei Gravitationseffekten, die sich nur erklären lassen, wenn neben der sichtbaren Materie noch weitere Materie existiert. Deshalb gehen die meisten Fachleute davon aus, dass dunkle Materie im Universum allgegenwärtig ist und dessen Struktur und Entwicklung nachhaltig beeinflusst hat. Dunkle Materie wird als „dunkel“ bezeichnet, weil sie anscheinend nicht mit beobachtbarer elektromagnetischer Strahlung interagiert und deshalb über das gesamte elektromagnetische Spektrum unsichtbar bleibt und somit extrem schwer nachzuweisen ist. Da dunkle Materie noch nicht direkt beobachtet wurde, dürfte sie, wenn sie existiert, kaum mit normaler Materie interagieren – außer über die Gravitation. Die wahrscheinlichste Form dunkler Materie ist eine neue Form bisher noch unentdeckter Elementarteilchen. Mittlerweile laufen zahlreiche Experimente, mit denen dunkle Materie nachgewiesen und untersucht werden soll, sie waren bisher aber noch nicht erfolgreich. Unter dunkler Materie können wir uns jede Substanz vorstellen, die mit sichtbarer Materie vor allem über Gravitation in eine Wechselwirkung tritt.

Das Werk „dark matter“ greift das Rätsel des Unbekannten und das Mysterium des Unsichtbaren auf. In der Welt von heute, in der die Materialität im herkömmlichen Sinn einen immer schnelleren Auflösungs- und Transformationsprozess durchläuft, lässt sich dieses Werk als Allegorie der unsichtbaren fluiden Räume codierter Daten begreifen, die unser Leben definieren und Treibkräfte für das anhaltende Verschwinden von Raum und Zeit sind. Inspiriert durch das Schwarze Quadrat von Kasimir Malewitsch, die Farbfeldmalereien von Mark Rothko und den schwarzen Monolithen aus Stanley Kubricks „2001: A Space Odyssey“, hinterfragt das Werk den Wahrnehmungsprozess des Betrachters und enthebt ihn seiner Gewissheiten. Es basiert auf einer Fotografie des Nachthimmels, dessen sämtliche sichtbare Daten schwarz wegretuschiert wurden. Der Fotodruck enthält ein spezielles Gemisch schwarzer Pigmente, so dass eine vollkommen schwarze Oberfläche entsteht, und ist hinter einer matten Acrylscheibe aufgezogen. Nur Betrachter, die genau vor dem Werk stehen, erleben es in vollem Leben: reine schwarze Materie, die sich in geringfügig bewegliche Farbfelder verwandelt, die aus der Korrelation zwischen dem Werk, seiner Umgebung und den Betrachtern selbst entstehen. Man könnte sagen, dass das Gravitationsfeld des Werks mit der umgebenden sichtbaren Materie interagiert.

38 | 39



gravitation entanglement 2014

„gravitation entanglement“ zeigt die unausweichliche Kollision unserer eigenen Milchstraße mit unserem nächsten Nachbarn, der Andromeda-Galaxie (auch als M31 bekannt). Die Beobachtungen mit dem Hubble-Weltraumteleskop der NASA ergaben, dass die beiden Galaxien, die durch ihre gegenseitigen Anziehungskräfte zueinander hingezogen werden, in rund 4,5 Milliarden Jahren frontal zusammenprallen werden. Würden die beiden Galaxien einander nicht durch ihre Schwerkraft anziehen, würden sie aneinander vorbeifliegen. Dabei werden die beiden Spiralgalaxien zu einer neuen elliptischen Galaxie verschmelzen, bei der durch den bei diesem Crash entstehenden Sternenstaub neue Planeten und Sonnensysteme entstehen.

Das Werk „gravitation entanglement“ nimmt vorweg, was wir in rund 4,5 Milliarden Jahren beim Blick in den Nachthimmel sehen – sofern die Menschheit bis dahin noch existiert. Grundlage für die Visualisierung dieses Vorgangs sind hochauflösende Messdaten des Hubble-Weltraumteleskops aus der Milchstraße und der Andromeda-Galaxie, die Pixel für Pixel digital umgewandelt wurden und dieses galaktische Zusammentreffen simulieren sollen. Die Bergkette am unteren Bildrand wurde in der Atacama-Wüste in Chile aufgenommen. Dieses Werk kann als Metapher für den ewigen Kreislauf von Leben und Tod gelten.

40 | 41



golden eye II 2012

„golden eye II“ zeigt eines der goldenen Spiegelsegmente des James-Webb-Weltraumteleskops (JWST). Dieses Teleskop der nächsten Generation soll im Jahr 2021 mit einer Ariane-5-Rakete vom Weltraumbahnhof in Französisch-Guyana als Ersatz für das bekannte Hubble-Weltraumteleskop in den Weltraum gebracht werden. Das JWST bietet noch nie zuvor erreichte Auflösung und Empfindlichkeit vom sichtbaren Wellenbereich bis zum mittleren Infrarotbereich. Wichtigster wissenschaftlicher Einsatzzweck ist die Suche nach Licht der ersten im Universum nach dem Urknall entstandenen Sterne und Galaxien. Der Hauptspiegel des Teleskops besteht aus einem Berylliumreflektor mit 6,5 m Durchmesser und einer Lichtsammelfläche von 25 m2. Der Spiegel besteht aus achtzehn Sechsecksegmenten, die sich erst nach dem Start des Teleskops im Weltall entfalten. Die von diesem goldenen Spiegel in seiner Position im Orbit auf der Mondrückseite gesammelten Daten werden einen wichtigen Beitrag dazu leisten, was der Mensch über die Entstehung des Universums und die Ursprünge des Lebens weiß.

Das Werk „golden eye II“ zeigt einen der achtzehn goldenen Spiegel in der Fertigungsphase im Reinraum von Ball Aerospace in Boulder (USA). In der digitalen Rekomposition sind die vorderund rückseitigen Teile des Spiegels in einem einzigen Bild zusammengefasst.

42 | 43



mars cubes 2018

Am 5. Mai 2018 schickte die NASA einen stationären Lander namens InSight in Richtung Mars. Begleitet wurde InSight von zwei „CubeSats“: kleinen, kastenförmigen Satelliten von der Größe eines Handkoffers. Diese Sonden werden die ersten CubeSat-Satelliten sein, die zu einem anderen Planeten reisen, und könnten die Art und Weise verändern, wie wir das Sonnensystem erforschen. Bisher hat noch kein CubeSat eine „erdnahe Umlaufbahn“ in 160 km Abstand von der Erdoberfläche verlassen. Die beiden CubeSats müssen während ihrer sechseinhalb Monate dauernden Reise, die im November 2018 den Mars-Orbit erreichen soll, mehr als 200 Millionen Kilometer weit allein durch den Weltraum fliegen. Wenn die Mission erfolgreich ist, könnte sie die Geschwindigkeit und die Art und Weise der Kommunikation zwischen der Erde und anderen Planeten verändern. Die Erforschung des Sonnensystems verursacht absurde Kosten. Aber mit winzigen, „per Anhalter“ reisenden Satelliten wie den CubeSats gibt es vielleicht endlich eine Möglichkeit, andere Planeten für wenig Geld zu erkunden. Die NASA plant, ganze Schwärme von CubeSats auf die Reise zu schicken, die jeweils nur ein Messgerät befördern oder eine einzelne Aufgabe ausführen sollen. CubeSats könnten nach Eis auf dem Mond suchen, erforschen, wie gut Hefe Weltraumstrahlung verträgt, nach Asteroiden in Erdnähe Ausschau halten oder das Weltraumwetter messen. In Zukunft werden wir vielleicht CubeSats auf Missionen ohne Wiederkehr an die höllischsten Orte des Sonnensystems schicken, z. B. auf die Oberfläche der Venus, in die Dampffontänen Europas oder in die Vulkane des Io.

Das Werk „mars cubes“ stellt die beiden CubeSats auf ihrem Weg zum Mars dar. Anhand der technischen Originalzeichnungen sowie von Bildern, die während der Bauphase im JPL-Labor der NASA entstanden, wurde das Objekt mit 3D-Computersoftware virtuell nachkonstruiert. Der Bau eines modernen Satelliten wird in keiner Weise von ästhetischen Vorgaben hinsichtlich Farbe, Form und Aussehen beeinflusst – bei Satelliten spielen ausschließlich wissenschaftliche Notwendigkeiten eine Rolle. Die Effektivität ihrer utilitaristischen Perfektion wird jedoch sichtbar, wenn sie schwerelos im dunklen Weltraum schweben. Die Komposition ist stark von den Zeichnungen der russischen Konstruktivisten beeinflusst. Die Eroberung des Weltraums und der Bau von Satelliten waren als ästhetische Vision bereits in der konstruktivistischen Bewegung des frühen 20. Jahrhunderts in Erscheinung getreten. Kasimir Malewitsch und El Lissitzky schufen in den 1920er Jahren Visionen von suprematistischen Satelliten – Bilddarstellungen von neuen Objekten im Weltraum, die sich im Orbit bewegten und ihre eigenen Bahnen erschufen. Heute sind diese Visionen Wirklichkeit geworden. Das gewaltige Schwarz macht die komplexe Form des kleinen Satelliten erkennbar und dient selbst als Darstellung des Unendlichen. Gleichzeitig stellt das Werk die Frage nach dem Verhältnis zwischen Dynamik, Zerbrechlichkeit und Proportionen innerhalb dieser winzigen Maschine, die eine neue Ära der Erforschung unseres Planetensystems einleiten soll.

44 | 45



ignition 2019

Mit mehr als 1.800 Flügen seit ihrem Debüt im Jahr 1966 – weit mehr als jede andere Trägerrakete – ist die russische SojusRakete heute die meistverwendete Weltraum-Trägerrakete. Vor mehr als 60 Jahren läutete Sojus mit dem Start des Sputnik, dem ersten Satelliten in der Erdumlaufbahn, und anschließend mit dem ersten bemannten Weltraumflug das Rennen im Weltall ein. Die mehrstufige Sojus hat sich in bemannten und unbemannten Weltraummissionen durch ihre außerordentlich hohe Zuverlässigkeit bewährt. Im Laufe der Jahrzehnte durchlief diese Trägerrakete mehrere Entwicklungsstufen. Seit die US-Space Shuttles im Jahr 2011 außer Dienst gestellt wurden, ist die Sojus-Rakete mit ihrem Raumschiff die einzige Trägerrakete, mit der Astronauten und Kosmonauten zur Internationalen Raumstation transportiert werden können. Im Jahr 2005 erteilten die Europäische Weltraumorganisation ESA und die Weltraumorganisation der Russischen Föderation die abschließende Genehmigung für den Start von Sojus-Raketen vom Weltraumbahnhof Kourou in Französisch-Guyana. Der Bau der neuen Startanlage wurde im April 2011 abgeschlossen. Die Zündung der SojusRaketentriebwerke erfolgt durch elektrisch aktivierte pyrotechnische Ladungen, wenige Sekunden bevor die Treibstoffkomponenten in die Brennkammer eingespritzt werden. Während des Startvorgangs folgen die Ausleger der Bewegung der Rakete und geben den Weg für den Start frei. Rakete und Startvorrichtung bilden dabei ein gemeinsames dynamisches System.

Das Werk „ignition“ zeigt eine Sojus-Trägerrakete am 5. April 2019 beim Start vom Europäischen Weltraumbahnhof in Französisch-Guyana. Mit dieser Mission V22 wurden vier Kommunikationssatelliten in den Orbit befördert. Die Startrakete ist 46 Meter hoch und wiegt 300  Tonnen. Das Bild hält den Startvorgang genau in dem Augenblick fest, in dem die Trägerrakete von der Startrampe abhebt. Alle vier Booster werden vor dem Abheben gezündet, um maximalen Schub zu entwickeln. Um diesen einzigartigen Moment im Bild festzuhalten, wurde direkt auf dem Startturm eine schallgesteuerte Kamera installiert, die sich in der kritischen Phase, wenn die Rakete abhebt, in einem Abstand von nur 80 Metern von der Rakete befindet. Noch nie zuvor ist eine Kamera derart nahe an der Startrampe des Weltraumbahnhofs installiert worden. Die Bildkomposition unterstreicht das Zusammenspiel des dynamischen Gesamtsystems aus Startrampe, Auslegern und der Rakete während der ersten Sekunden des Zünd- und Abhebevorgangs. Die Ausleger haben soeben geöffnet und geben die Rakete frei, riesige Flammen tauchen die Ausleger in helles Licht und der durch den Flammenkanal entweichende Rauch hüllt die gleißend weiße Rakete ein. Aufgrund der Reaktion zwischen dem Flüssigsauerstoff und dem Raketentreibstoff, der die Rakete mit einer Eisschicht umhüllt, nimmt die eigentlich olivgrün lackierte Rakete beim Start eine weiße Färbung an. In diesem Werk kommen kraftvolle Beschleunigung und völlige Bewegungslosigkeit in gleichzeitiger und scheinbar widersprüchlicher Form zum Ausdruck: Der riesige Druck, die enorme Hitze und die ohrenbetäubende Schalldruckwelle sind geradezu greifbar und doch wirkt die Rakete wie eingefroren – in Zeit und Raum unbeweglich fixiert.

46 | 47



simulacrum 2018

Die Dialektik zwischen Simulation und Realität liegt jeder Art von Weltraumforschung zugrunde. Ohne Simulation auf der Erde gäbe es keine wirkliche menschliche Aktivität im Weltraum. Werkstoffe, Komponenten, Satelliten und Raumfahrzeuge, die für den Weltraum bestimmt sind, müssen auf der Erde intensive Prüfverfahren durchlaufen, um die schwierigen Bedingungen zu verkraften, denen sie dort ausgesetzt sind. Um die Temperaturund Vakuumtauglichkeit dieser Systeme vor dem Start sicherzustellen, müssen sie zunächst den extremen Vakuum- und Temperaturbedingungen des Weltraums ausgesetzt werden, um zu bestätigen, dass sie ihnen standhalten können und auch unter diesen Extrembedingungen einwandfrei funktionieren. Der äußerst niedrige Druck im Weltraum ist eine große Herausforderung für Raumfahrzeuge, Triebwerke, Sensoren und andere raumfahrttechnische Komponenten. Die Ausrüstung muss aber auch extreme Temperaturen verkraften: Die Basistemperatur im Weltraum liegt ohne Berücksichtigung der von der Sonne zugeführten Wärme bei etwa −270 °C (−455 °F), d. h. knapp über dem absoluten Nullpunkt. Ein Satellit wird auf der einen Seite von der Sonne beschienen und liegt auf der anderen Seite im Schatten. Diese Simulationsprüfkammern bilden die schnellen Temperaturunterschiede nach, denen Raumfahrzeuge auf ihrem Weg zwischen Sonnenlicht und Schatten ausgesetzt sind.

Das Werk „simulacrum“ zeigt den Large Space Simulator im Testzentrum ESTEC der ESA in Noordwijk, Niederlande. Die Kammer ist eine architektonisch äußerst komplexe Konstruktion aus einem vertikalen und einem horizontalen Zylinder. Die Hochleistungspumpen des Simulators erzeugen ein Vakuum, dessen Druck eine Milliarde Mal niedriger ist als unsere Standardatmosphäre auf Meereshöhe; gleichzeitig entspricht die Temperatur des flüssigen Stickstoffs, der um den Simulator zirkuliert, annähernd den kryogenen Temperaturen des Weltraums, und eine Reihe leistungsstarker Xenonlampen reproduziert das ungefilterte Sonnenlicht in der Erdumlaufbahn. Im Mittelpunkt dieser Arbeit steht das Verhältnis von Raum, Form und Struktur. Unser visuelles Verständnis des Bildes oszilliert zwischen dem realen Objekt und seiner übergeordneten Struktur. Die enge Perspektive der Komposition führt zur Abstraktion des Sichtbaren, wobei das Hauptelement der aus sechseckigen Elementen gebildete Spiegel in der Bildmitte ist. Dieser Spiegel fragmentiert unsere gesamte Raumwahrnehmung und lässt sowohl Hintergrund und Vordergrund als auch den nicht direkt sichtbaren Raum miteinander verschmelzen. Im Fluchtpunkt der Komposition schwebt eine Kugel, die ihrerseits die Umgebung widerspiegelt: Der Weltraumsimulator wird zu einer Simulation des Weltraums. Oder mit den Worten von Jean Baudrillard: „Nie ist es das Simulakrum, das die Wahrheit verbirgt – vielmehr ist es die Wahrheit, die verbirgt, dass es keine gibt. Das Simulakrum ist wahr.“

48 | 49



f.a.s.t. 2017

Die Arbeit zeigt das größte astronomische Radioteleskop der Welt. China hat diese gigantische Beobachtungsanlage mit dem Namen „Five hundred-meter Aperture Spherical Telescope“ (FAST) in der abgelegenen, schwer zugänglichen südlichen Bergregion des Landes errichtet. Das 2016 eingeweihte Teleskop wurde in eine natürliche Senke eingelassen, die von den eindrucksvollen Bergen des Pingtang-Tals umrahmt wird. Das Teleskop hat den gewaltigen Durchmesser von 500 m. Die Oberfläche besteht aus 4.450 dreieckigen Metallplatten, die eine geodätische Kuppel bilden. Die Anordnung ist computergesteuert schwenkbar, um unterschiedliche Bereiche des Universums anvisieren zu können. Radioteleskope nutzen eine große Parabolschüssel, um Funkwellen von entfernten Quellen wie Pulsaren, schwarzen Löchern und Gravitationswellen einzufangen. Eines der Hauptziele des Instruments ist jedoch die Erkennung interstellarer Kommunikationssignale – die Erfassung von Signalen außerirdischer Zivilisationen.

Die Komposition des Kunstwerks „f.a.s.t.“ konzentriert sich auf die Beziehung zwischen der natürlichen Umgebung und dem hochmodernen astronomischen Instrument, das beim Betrachter schon allein wegen seiner gewaltigen Größe und der enormen Proportionen im Verhältnis zu den umliegenden Bergen einen überwältigenden Eindruck hervorruft. Eine ähnliche Beziehung besteht auch zwischen der Position am Boden und den gewaltigen Entfernungen zu den Sternen am Himmel. Dem Künstler war die einzigartige Gelegenheit vergönnt, dieses außergewöhnliche und einzigartige astronomische Instrument zu porträtieren, das für Fotografen normalerweise nicht zugänglich ist. Mit der Suche nach außerirdischem Leben verbindet sich auch die Suche nach der Quelle des Lebens im Allgemeinen und eine fundamentale Frage der Menschheit: Woher kommen wir? Vielleicht treffen ja eines Tages die ersten außerirdischen Kommunikationssignale auf die sphärische Oberfläche dieses Teleskops. Die unvorstellbare Größe von „f.a.s.t“ ist auch eine Metapher für die Unermesslichkeit von Zeit und Raum, die sich von unserer eigenen Geburt bis hin zur Geburt des Universums selbst erstreckt.

50 | 51



terraforming 2017 HD Video, 09:10 min., Einkanal-Videoinstallation, Stereo

Das Videowerk „terraforming“ befasst sich mit der Transformation einer natürlichen Umgebung durch Energiezufuhr. Dem liegt die Vorstellung von der Änderung des Dreiphasensystems zugrunde. Es beginnt mit einem Gleichgewichtszustand, in dem sich ein System in einem gewissen Gleichgewicht befindet und sich überhaupt nicht verändert. In der nächsten Phase tritt ein in Entwicklung befindliches System in einen Bewegungs- und Änderungszustand ein, in dem es sich aus dem Gleichgewicht wegbewegt. Die dritte und letzte Phase ist die Transformationsphase, in der sich das ursprüngliche System in ein völlig anderes System verwandelt. Schlüsselelement dieses Transformationsprozesses ist die Sonne. Dieser Prozess wird als „Terraforming“ („Erdumbildung“) bezeichnet und beschreibt die Transformation einer lebensfeindlichen Umgebung, z.  B. eines Planeten, der zu kalt oder zu heiß ist oder keine für den Menschen geeignete Atmosphäre besitzt, zu einer für menschliches Leben geeigneten Umgebung. Ein derartiger Prozess ist nicht lediglich ein futuristisches Szenario, sondern beschreibt genau das, was sich auf der Erde derzeit infolge der atmosphärischen Änderungen abspielt, in deren Verlauf sich der Planet durch den Anstieg der CO2-Emissionen erwärmt und damit der Klimawandel beschleunigt wird.

In dem Video werden Aufnahmen von einer dreiwöchigen Wanderung durch Island Anfang Juli 2017 mit Aufnahmen von Marslandschaften kombiniert, die vom Curiosity Mars Rover-Fahrzeug der NASA aufgezeichnet wurden. Kalbende Gletscher, gleißend helle Eishöhlen und mächtige Wasserfälle treten hier in einen optischen Dialog mit den riesigen Wüstenlandschaften des Mars. Impliziter Bestandteil dieses optischen Dialogs ist das Paradoxon, dass wir den Mars möglicherweise genau deshalb in eine für menschliches Leben geeignete Umwelt umwandeln müssen, weil wir unseren Heimatplaneten zunehmend in einen unbewohnbaren Planeten verwandeln. Dieses Werk schlägt eine Brücke zwischen dem Werk des Fotografen und Dokumentarfilmers Alfred Ehrhardt, der 1938 eine zweimonatige Foto- und Filmexpedition durch Island unternahm. Diese Expedition führte ihn zu bisher unberührten Naturlandschaften, die durch Gletscher und Vulkane geformt wurden und in denen er neue Erkenntnisse über den Ursprung der Erde zu finden hoffte. Kennzeichnend für seine Arbeiten ist eine typologische Annäherung an die Landschaften durch ein abstraktes, avantgardistisches Bildvokabular. In Begleitung von Dieter Jaufmann filmte Michael Najjar an vielen der gleichen Orte, die Alfred Ehrhardt vor fast einem Jahrhundert aufgesucht hatte. Das Ziel von Ehrhardt, die Ursprünge der Erde zu erforschen, paart sich hier mit der existenziellsten Frage des 21. Jahrhunderts: die Bewahrung der Zukunft der Erde.

52 | 53



54 | 55


Biografie


Michael Najjar des Bildes, indem er es einer konstanten Rekonstruktion von Zeit und Raum unterzieht. Hierbei verwendet er ein umfassendes Instrumentarium unterschiedlicher Techniken zur Bildkreation. Najjars Bildsprache führt dabei den Betrachter in eine komplexe, formale und inhaltliche Konstruktion simulierter Realität, die sich aus der Montage unterschiedlicher inhaltlicher Elemente und Bildquellen generiert. Er führt das photographische Bild aus historischen Wahrnehmungskonventionen in eine grundsätzliche Neubestimmung.

Michael Najjar gehört zu einer künstlerischen Avantgarde, die sich auf komplexe und kritische Weise mit den technologischen Entwicklungen auseinandersetzt, die das frühe 21. Jahrhundert bestimmen und drastisch verändern. Seine Foto- und Videoarbeiten entwickelt Najjar aus einem interdisziplinären Kunstverständnis heraus. Er verknüpft Wissenschaft, Kunst und Technologie zu künstlerischen Visionen und Utopien zukünftiger Gesellschaftsordnungen, die sich unter dem Einfluss neuer Technologien herausbilden. Geboren 1966 in Landau, Deutschland, studierte Najjar von 1988–1993 an der Berliner bildo Akademie für Medienkunst. Najjar hinterfragt in seinem Oeuvre immer wieder das Verhältnis von Realität und Repräsentation durch das technische Bild. Er erweitert mit seiner konzeptuellen Arbeitsweise das Potenzial

Najjars Werke sind thematisch in Serien zusammengefasst. Inhaltlich reichen sie von der Veränderung der weltweiten Megacities durch die Verdichtung der Informationsnetzwerke („netropolis“, 2003 – 2006), über die Transformation des menschlichen Körpers mittels biogenetischer Eingriffe („bionic angel“, 2006  –  2008), die Virtualisierung der Finanzmärkte anhand intelligenter Algorithmen („high altitude“, 2008–2010) bis hin zur Zukunft der menschlichen Spezies durch die Weltraumerforschung („outer space“, seit 2011). Seit dem Beginn seiner aktuellen Serie „outer space“ ist der performative Aspekt von Najjars Arbeit deutlich stärker in den Vordergrund getreten. Kletterte der Künstler für seine früheren Serien auf Wolkenkratzer und bestieg in einer mehrwöchigen Expedition erfolgreich einen der höchsten Berge der Welt, wird Najjar in naher Zukunft mit einem Raumgleiter selbst in den Weltraum fliegen. Der Künstler setzt sich einmal mehr extremen Erfahrungen aus und testet seine mentalen und physischen Grenzen im Kontext hochkomplexer, technischer Umfelder. Aus diesen Erfahrungen schafft er einzigartige Foto- und Videoarbeiten. Najjar nutzt seinen eigenen Körper als Medium der Performance – der Künstler wird zum Weltraum(er)fahrer.

56 | 57


Michael Najjars Werke waren in zahlreichen Museumsausstellungen und Biennalen zu sehen. 2004 zeigte Harald Szeemann seine Arbeit in „The Beauty of Failure / The Failure of Beauty“ in der Joan Miró Foundation in Barcelona. 2006 wurde er zur 10. Venedig Architekturbiennale eingeladen, zeigte im selben Jahr seine Arbeiten auf der 9. Biennale in Havanna und stellte 2007 im Rahmen der Convergence Biennale in Peking aus. Im Jahr 2008 widmete ihm das Museum für zeitgenössichen Kunst GEM in Den Haag seine erste umfassende Werkschau. 2011 nahm er an der wegweisenden Ausstellung „Atlas – How to carry the world on one´s back“ teil, die im Museo Reina Sofía in Madrid, im ZKM | Museum für Neue Kunst in Karlsruhe und in den Hamburger Deichtorhallen / Phönixhallen zu sehen war. 2015 wurde seine Serie „outer space“ von Peter Weibel in der revolutionären Ausstellung „Exo-Evolution“ im ZKM Karlsruhe gezeigt. 2017 wurde er von Yuko Hasegawa zur Teilnahme an der 7. Internationalen Moscow Biennale eingeladen, die zahlreiche Werke aus der „outer space“ Serie präsentierte. Aktuell sind seine Werke in der Wanderausstellung „Civilization“ zu sehen, mit Stationen in Seoul, Beijing, Melbourne und Auckland.

Weiterhin hat Najjar in folgenden nationalen und internationalen Museen, Institutionen und Galerien ausgestellt: Akademie der Künste, Berlin; Museum Ludwig, Köln; Kunsthalle Hamburg / Galerie der Gegenwart, Hamburg; Deichtorhallen – Internationales Haus der Photographie, Hamburg; Marta Museum, Herford; Edith Russ Haus für Medienkunst, Oldenburg; Museum of Art, Tucson; Science Museum, London; Museum of Contemporary Art, Birmingham; New Media Art Institute, Amsterdam; FORMA International Centre for Photography, Mailand; Centre pour l´image contemporaine, Genf; Museo DA2 (Domus Artium 2002), Salamanca; Centro de Arte Contemporaneo, Málaga; Museo Es Baluard, Palma de Mallorca; National Museum of Science, Taipeh; Central Academy of Fine Arts, Peking; National Museum of Contemporary Art, Seoul; UCCA, Peking; National Gallery of Victoria, Melbourne. Michael Najjars Werke befinden sich weltweit in Museums- und Firmensammlungen sowie in Privatkollektionen: u. a. ZKM | Museum für Neue Kunst, Karlsruhe; Museum Ludwig, Köln; Museum Deichtorhallen, Hamburg; Gemeente Museum, Den Haag; Art Stations Foundation, Poznan; Centro de Arte Contemporáneo, Málaga; Museo Es Baluard, Palma de Mallorca; Smithonian Air and Space Museum, Washington. Zahlreiche internationale Publikationen widmen sich den Arbeiten Michael Najjars.


58 | 59


Ăœbersicht


Übersicht Alle Werke aus der Serie „outer space“ (2011 - heute) Fotoarbeiten: Archival pigment prints, Diasec Aluminiumrahmen

space launcher

synlight

space debris I

liquid gravity

lunar explorers

2016

2017

2012

2013

2019

182 x 280 cm

182 x 280 cm

182 x 280 cm

182 x 280 cm

182 x 544 cm

Unikat

Unikat

Unikat

Unikat

Unikat

Seite 8 | 9

Seite 10 | 11

Seite 12 | 13

Seite 14 | 15

Seite 16 | 17

60 | 61


europa

sands of mars

space garden

liquid time

serious anomaly

symmetrical boosters

2016

2014

2013

2017

2015

2019

132 x 202 cm

132 x 202 cm

132 x 202 cm

132 x 202 cm

132 x 202 cm

132 x 202 cm

Auflage: 6

Auflage: 6

Auflage: 6

Auflage: 6

Auflage: 6

Auflage: 6

Seite 20 | 21

Seite 22 | 23

Seite 24 | 25

Seite 26 | 27

Seite 28 | 29

Seite 30 | 31


supersymmetric particles

oscillating universe

skyspace ONE

dark matter

gravitation entanglement

golden eye II

2019

2015

2019

2019

2014

2012

132 x 202 cm

202 x 132 cm

132 x 202 cm

202 x 132 cm

132 x 202 cm

132 x 202 cm

Auflage: 6

Auflage: 6

Auflage: 6

Auflage: 6

Auflage: 6

Auflage: 6

Seite 32 | 33

Seite 34 | 35

Seite 36 | 37

Seite 38 | 39

Seite 40 | 41

Seite 42 | 43

62 | 63


mars cubes

ignition

simulacrum

f.a.s.t.

terraforming

2018

2019

2018

2017

2017

280 x 182 cm

280 x 182 cm

132 x 202 cm

202 x 132 cm

HD Video 16:9, 09:10 min.

Unikat

Unikat

Auflage: 6

Auflage: 6

Einkanal-Videoinstallation, Stereo

Seite 44 | 45

Seite 46 | 47

Seite 48 | 49

Seite 50 | 51

Auflage: 6 Seite 52 | 53


Impressum

Diese Publikation erscheint anlässlich der Ausstellung Beyond the Horizon: Michael Najjar in der WITTENSTEIN Innovationsfabrik, Igersheim Redaktion Maria Hinrichs Texte Studio Michael Najjar, Sabine Maier, Thomas Holstein Gestaltung Rat und Tat Werbeagentur, Düsseldorf Produktion Die Qualitaner, Düsseldorf © 2019 WITTENSTEIN SE, Igersheim © 2019 für die abgebildeten Werke liegen beim Künstler und dessen Rechtsnachfolgern © 2019 für die Fotografie Seite 56 Thomas Rusch Printed in Germany

Zur Vereinbarung von Führungen nehmen Sie bitte Kontakt auf unter: T: +49 7931 10642 event@wittenstein.de WITTENSTEIN SE Walter-Wittenstein-Str. 1 D 97999 Igersheim T: +49 7931 493-0 www.wittenstein.de info@wittenstein.de



Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.