pre-view Sammelband Slawisch-deutsche Kontakte in Literatur Festschrift Babic Obad ShakerVerlag2018

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Osijeker Studien zu slawisch-deutschen Kontakten in Geschichte, Sprache, Literatur und Kultur

Herausgegeben von ŽELJKO UVANOVIĆ

Band 3 2018



Slawisch-deutsche Kontakte in Literatur Erster Teil Festschrift für Professor Josip Babić und Professor Vlado Obad

Herausgegeben von

Željko Uvanović

Shaker Verlag Aachen 2018


Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Diese Publikation wurde durch die freundliche Hilfe der Philosophischen Fakultät der Universität Mostar (Bosnien-Herzegowina, http://ff.sum.ba) mitfinanziert. Dem damaligen Fakultätsdekan und jetzigen Rektor Prof. Dr. Zoran Tomić ganz herzlichen Dank!

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INHALTSVERZEICHNIS Stephanie Jug LAUDATIO FÜR PROFESSOR JOSIP BABIĆ 1-3 Sonja Novak LAUDATIO FÜR PROFESSOR VLADO OBAD 5-7 Željko Uvanović ZWEI LITERATURVERFILMUNGEN FÜR ZWEI LITERATURPROFESSOREN – MIT FRIEDRICH DÜRRENMATTS DRAMA ROMULUS DER GROSSE (1949) ALS AUSLÖSER DER KREATIVITÄT 9-16 Željko Uvanović EIN (ALLZU) LANGER WEG ZUM ZIEL Einführung 17-27

I. KAPITEL: Die gute alte Zeit Miodrag Loma JOSIP BABIĆS WIEDERENTDECKUNG DES ZURÜCKGEDRÄNGTEN UND VERGESSENEN HERDERSCHEN IDEENERBES Eine Würdigung 31-47 Rada Stanarević ÜBER ZWEI DISTICHEN VON NOVALIS 48-57

II. KAPITEL: Österreich und seine Provinzen Mira Miladinović Zalaznik »ICH […] ERSUCHE, DASS SIE, HERR PROFESSOR MICH NUN MÖGLICHST BALD MIT EINIGEN BEITRÄGEN ERFREUEN WOLLEN« Leopold Kordesch in Briefen an Rudolf Gustav Puff 61-78 v


Marijan Bobinac ZWISCHEN KUNSTANSPRUCH UND PUBLIKUMSGESCHMACK Kotzebue und der kroatische Vormärz 79-104 Tihomir Živić AN ANTECEDENT TO VIENNA Osijek German Stage from 1866 to 1907 105-120 Irena Samide FRANZ GRILLPARZER IM SLOWENISCHEN ETHNISCHEN GEBIET DER HABSBURGERZEIT Vorspiel in der Schule 121-139 Iva Drozdek SLAWONIEN PRÄGT DEN CHARAKTER Slawonische Leute und Land in Roda Rodas Werken 140-158 Amira Žmirić DAS BILD BOSNIENS IN KÖNIGSBRUN-SCHAUPS SENSATIONS- UND ABENTEUERROMAN DIE BOGUMILEN. EIN BOSNISCHER ROMAN 159-172

III. KAPITEL: (Ungefähr) zwischen den zwei Weltkriegen Sven Hanuschek EINEM RUSSISCHEN SUBALTERNOFFIZIER MAGISCH VERFALLEN Zur Frage der Alterität in Leo Perutz’s Roman Wohin rollst du, Äpfelchen… (1928) 175-187 Marijana Erstić UNTER DEM STERN VON NIEDERGANG UND KATASTROPHE Die Glembays als die kroatischen Buddenbrooks 188-206

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Marica Liović THE RECEPTION OF THE THEATRE PRODUCTIONS OF GERHART HAUPTMANN’S DRAMAS ON THE STAGE OF THE OSIJEK CROATIAN NATIONAL THEATRE IN OSIJEK’S PRESS IN THE FIRST HALF OF THE 20TH CENTURY 207-222 Aleksandra Bednarowska ZWEI DICHTERINNEN, ZWEI STÄDTE Berlin und Lwów in Gedichten von Mascha Kaléko (1907-1975) und Anda Eker (1912-1936) 223-238 Tihomir Engler DER METAPHYSISCHE HORIZONT DES GESCHICHTLICHEN IN MANNS JOSEPH-TETRALOGIE UND IN KRLEŽAS BALLADEN DES PETRICA KEREMPUH IM SPIEGEL DER NIETSCHE-REZEPTION 239-298 Jan Čapek CAMILL HOFFMANN, EIN JUDE ZWISCHEN TSCHECHEN UND DEUTSCHEN, UND SEIN NACHLASS IM LITERATURARCHIV MARBACH AM NECKAR 299-315

IV. KAPITEL: (Mit einem Fuß noch immer) im 20. Jahrhundert Daniela Čančar INTERKULTURALITÄT IM WERK VON STEN NADOLNY, SAŠA STANIŠIĆ UND FATIH AKIN 319-338 Dina Džindo Jašarević IM DIENSTE DER ERINNERUNG Bernhard Schlinks Der Vorleser und Nicol Ljubićs Meeresstille im Vergleich 339-356 Stephanie Jug DIE WIEDERAUFNAHME VON PETER WEISS’ DRAMATISIERUNG DER REVOLUTION IN IVANA SAJKOS EUROPA 357-375

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Renate Hansen-Kokoruš KRIEGSALLTAG IN LITERARISCHER DARSTELLUNG BEI ZORAN FERIĆ UND BORIS DEŽULOVIĆ 376-389

V. KAPITEL: (Mehr oder weniger) postmoderner Karneval des 21. Jahrhunderts Sonja Novak DAS BILD DER DEUTSCHEN ESSEKER IN IVANA ŠOJAT-KUČIS UNTERSTADT UND LYDIA SCHEUERMANN HODAKS HEUTE LIEST NIEMAND MEHR DIE GOTISCHE SCHRIFT 393-413 Ivica Petrović THOMAS GLAVINICS UNTERWEGS IM NAMEN DES HERRN ALS PARODISTISCHER ZUSAMMENSTOSS ZWISCHEN ÖSTERREICHISCHEM ATHEISMUS UND HERZEGOWINISCHKROATISCHER RELIGIOSITÄT IN MEĐUGORJE 414-428 Željko Uvanović THE ‘RUSSIANS’ ARE COMING TO GERMANY Ironic criticism of everything in Wladimir Kaminer’s Russendisko in comparison with Oliver Ziegenbalg’s humorous film adaptation 429-459 ALPHABETISCHE LISTE DER AUTOR(INN)EN DER BEITRÄGE MIT JEWEILIGEN TITELN, ZUSAMMENFASSUNGEN UND STICHWÖRTERN 460-470 ALPHABETHICAL LIST OF AUTHORS OF CONTRIBUTIONS WITH TITLES, SUMMARIES AND KEYWORDS 471-480 BISHERIGE AUSGABEN IN DER REIHE Osijeker Studien zu slawisch-deutschen Kontakten in Geschichte, Sprache, Literatur und Kultur beim Shaker Verlag Aachen 481

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Laudatio für Professor Josip Babić

Im Jahr 2013 verabschiedeten die Mitglieder der Osijeker Germanistikabteilung einen beliebten Kollegen und Professoren, der die Entwicklung des Germanistikstudiums in Osijek dreizehn Jahre lang aktiv mitgestaltete, in den Ruhestand. Josip Babić gilt in den wissenschaftlichen Kreisen als ein Experte für deutsche Literatur der Goethezeit, Herders Leben und Wirkung und die deutschsprachige Prosa des 20. Jahrhunderts. Einen beachtenswerten wissenschaftlichen Beitrag leistete er zudem in den Bereichen der literaturwissenschaftlichen Methodologie und dem 1


Erforschen der deutsch-jugoslawischen literarischen und kulturellen Kontakte. Geboren am 24. Juli 1948 in Podravski Podgajci, Kroatien, begann er im Jahr 1967 sein Studium der deutschen Sprache und Literatur an der Philologischen Fakultät der Universität Belgrad. Dass ihn seine Fähigkeiten und Interessen schon früh zu einem herausragenden Studierenden machten, beweist die Tatsache, dass er zwei Semester seines Studiums an der Humboldt-Universität zu Berlin verbrachte. Nach dem Diplom im Jahr 1971 wurde er zum Assistenten an der Philologischen Fakultät der Universität Belgrad und begann sein Magisterstudium, das er im Jahr 1973 an derselben Fakultät erfolgreich abschloss. Seine berufliche Laufbahn ist reich und spannend, da er von 1976 bis 1979 als Lektor für die kroatische Sprache an der Justus-Liebig-Universität in Gießen, Deutschland, tätig war, wonach er seine Stelle als Assistent an der Germanistikabteilung in Belgrad wieder aufnahm. Im Jahr 1984 erlangte er die Doktorwürde an der Universität Belgrad mit seiner Arbeit unter dem Titel Goethes „An den Mond“ in der deutschen Literaturwissenschaft. Ab 1985 war er Dozent und danach Außerordentlicher Professor für deutsche Literatur an der Philologischen Fakultät Belgrad, um im Jahr 2000 seine wissenschaftliche Laufbahn an der Filozofski fakultet Osijek (http://www.ffos.unios.hr), d.h. an der Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften Osijek (früher Pädagogische Fakultät genannt) zuerst als Außerordentlicher Professor und ab 2010 als Ordentlicher Professor fortzusetzen. Seine internationale Karriere erweiterte er durch mehrere Studienaufenthalte in Deutschland, sowie durch seine Mitgliedschaft in der Internationalen Vereinigung für Germanistik (IVG) und der GoetheGesellschaft in Weimar. All seine Erfahrung und das gesammelte Wissen trugen zur Qualität seiner Lehrveranstaltungen bei, die sich von der Sturmund-Drang-Epoche über Goethes Klassik, die deutsche Romantik und Autoren der deutschsprachigen Prosa des 20. Jahrhunderts bis zur Geschichte der literaturwissenschaftlichen Methodologie und der Einführung in die Technik der wissenschaftlichen Arbeiten erstreckten. Als

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angesehener Fachmann und qualifizierte Lehrkraft wurde er oft zu Gastvorträgen an der Philosophischen Fakultät Tuzla, an der Philosophischen Fakultät Mostar und der Philosophischen Fakultät Zenica, Bosnien-und-Herzegowina, eingeladen. Aus dem Reichtum seiner gedruckten Beiträge werden hier nur seine Monographien erwähnt, die eine Krönung seiner beruflichen Laufbahn darstellen: Einführung in die literaturwissenschaftliche Methodologie der deutschen Germanistik, Goethes „An den Mond“ in der deutschen Literaturwissenschaft und Johann Gottfried Herder und seine Ideen im jugoslawischen literarischen und kulturpolitischen Kontext. Zudem sind noch zwei seiner Übersetzungen aus dem Deutschen hervorzuheben: Evropska književnost i latinski srednji vek (Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter) von Ernst Robert Curtius und O sreći, ljubavi, filozofiji i umetnosti (Über Glück, Liebe, Philosophie und Kunst) von Arthur Schopenhauer. Josip Babić vertrat die Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften Osijek im öffentlichen Leben nicht nur als fleißiger Wissenschaftler und zuverlässige Lehrkraft, sondern auch als ein hilfsbereiter Mentor und wissenschaftlicher Betreuer. Seine organisatorischen und diplomatischen Fähigkeiten traten in den Vordergrund in der Zeit, in der er als Abteilungsleiter aktiv war und vor allem als er die Funktion des Vizedekans von 2002 bis 2008 ausübte. Hinsichtlich all dieser Informationen, ist es durchaus nachvollziehbar, wenn seine Kollegen und seine ehemaligen Studenten mit Stolz über die Bekanntschaft mit Professor Josip Babić sprechen, oder, wie hier, schreiben. Mit dieser Publikation möchten wir uns bei ihm bedanken für alle bisherigen fruchtbringenden Gespräche, anregenden Vorlesungen und eine gelungene Mitarbeit. Stephanie Jug

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Laudatio für Professor Vlado Obad

Herrn Vlado Obad kennt man vor allem als Professor deutschsprachiger Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft an der heutigen Filozofski fakultet Osijek (http://www.ffos.unios.hr), der zudem als beneidenswert begeisternder Redner und sorgfältiger Forscher gilt. Geboren 1949 in Valpovo, Kroatien, studierte er Germanistik und vergleichende Literaturwissenschaft in Belgrad und Köln (1968-1974). Sein Postgraduiertenstudium schloss er an der Philosophischen Fakultät der Universität Zagreb ab, wo er unter Betreuung von Prof. Dr. Viktor Žmegač 1983 den Doktorgrad erwarb. Zwischen 1975 und 2014 arbeitete er kontinuierlich an der ehemaligen Pädagogischen und der heutigen (neuerdings ins Deutsche übersetzten als) Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften in Osijek und gilt auch als Begründer des Lehrgangs der deutschen Literatur in Osijek. Seit 1998 war er ordentlicher Professor und einige von uns hatten auch die Gelegenheit und das Vergnügen, ihn als Mitarbeiter und Mentor kennen zu lernen, da er etwa 150 Diplomarbeiten und fünf Dissertationen betreute. Während dieser Zeit hielt er sich aus Forschungszwecken in Berlin, Wien und Augsburg auf und wurde oft ins Ausland als Gastprofessor eingeladen. Seine Forschungsschwerpunkte liegen beim deutschen Drama des 20. Jahrhunderts, bei der deutschen Literatur in Slawonien, Regional- und Trivialliteratur. Ihn interessierte das moderne deutsche Drama: das Drama der Jahrhundertwende und des Expressionismus und dessen Vertreter Frank Wedekind und Carl Sternheim. Darüberhinaus beschäftigte er sich mit Bertolt Brecht und seinem epischen Theater. Mit Friedrich Dürrenmatt und seiner Auffassung von Tragikomödie promovierte er. Als erster stellte Obad Heiner Müller, das postdramatische Theater und zeitgenössische deutsche Autoren dem kroatischen Publikum vor. Er nahm mehrmals an den „Berliner Theatertreffen“ teil und übersetzte Müllers wichtigste Stücke ins Kroatische. Das Phänomen der deutschen Wandertruppen hat bei ihm auch Forschungsinteresse geweckt. Darüberhinaus beschäftigt er sich systematisch seit 1987 mit dem slawonischen deutschsprachigen Literatur-

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und Kulturerbe, insbesondere mit dem Esseker Schriftstellerkreis. In Form von mehr als zehn Publikationen brachte er die vergessenen deutschen Texte wieder ans Licht, die er durch seine meisterhaften kroatischen Übersetzungen ergänzte und dem Publikum zugänglich machte. Dabei handelt es sich um Werke von Roda Roda, Victor von Reisner, Wilma von Vukelich, Ilka Maria Ungar und Edmund Blum, die er der Vergessenheit entriss und für die er bei den Studierenden, aber auch Mitarbeitern und dem interessierten Publikum wieder Interesse erweckte. Unter den beide Forschungsgegenstände betreffenden Werken sind die folgenden Publikationen zu erwähnen: Heiner Müller (Zagreb, 1985), Slavonska književnost na njemačkom jeziku (Osijek, 1989), Wilma von Vukelich. Spuren der Vergangenheit. Osijek um die Jahrhundertwende (München, 1992), Vilma Vukelić. Tragovi prošlosti. Memoari (Zagreb, 1994; 2003), Roda Roda und die deutschsprachige Literatur aus Slawonien (Wien, 1996), Roda Roda (Zagreb, 1996), Vilma Vukelić. U stiješnjenim granicama. Kronika Slobodnog kraljevskog grada Osijeka (Osijek, 1997), Roda Roda. Pripovijesti iz Slavonije (Zagreb, 1998), Roda Roda. Geschichten aus Slawonien (München, 1999), Victor von Reisner. Sjećanje na Slavoniju (Osijek, 2002), Regionalpresse Österreich-Ungarns und die urbane Kultur (Wien, 2007) und sein neustes Werk Njemačko novinstvo Osijeka u promicanju građanske kulture (Osijek, 2014). In seiner beruflichen und persönlichen Tätigkeiten arbeitete er auch ständig mit Kulturträgern des deutschsprachigen Gebiets in Osijek, er war 19932015 Betreuer und wissenschaftlicher Mitarbeiter der ÖsterreichBibliothek in Osijek und er pflegte u.a. Kontakte mit dem Österreichischen Kulturforum in Zagreb, sowie mit den deutschsprachigen Gemeinschaften in Osijek. Darüberhinaus war er 1998-2000 Mitglied des Nationalrates für Wissenschaft und Hochschulbildung in Zagreb und leitete 2009-2013 das Postgraduiertenstudium „Literatur und kulturelle Identität“ in Osijek. Für seine Verdienste erhielt er 1999 die Goldplakette „Wappen der Stadt Osijek“ und 2002 das Österreichische Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst. Seine zahlreichen Reisen in ganz Europa, nach Indien, Nepal, Lateinamerika und in den Nahen Osten (Israel, Afghanistan und Ägypten),

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nicht nur als Literaturwissenschaftler und Professor, sondern auch als passionierter Bergsteiger, machen ihn zu einem interessanten Gesprächspartner in gesellschaftlichen Gelegenheiten aller Art. Wir möchten ihm alle für sein selbstloses Einsetzen in seinem beruflichen und gesellschaftlichen Leben, das viele von uns bestmöglich beeinflusst hat, unseren tiefsten Dank mit dem vorliegenden Sammelband aussprechen und ihm auch weiterhin noch viele gesunde, produktive und glückliche Jahre wünschen. Sonja Novak

Am 3. November 2015. vor dem Kloster der Heiligen Catalina (eigentlich Katharina von Siena) in der peruanischen Stadt Arequipa

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ZWEI LITERATURVERFILMUNGEN FÜR ZWEI LITERATURPROFESSOREN – MIT FRIEDRICH DÜRRENMATTS DRAMA ROMULUS DER GROSSE (1949) ALS AUSLÖSER DER KREATIVITÄT

Professor Romulus geht in die Rente (Regie: Dr. Željko Uvanović) (Denn Pension und Beamtenstatus wurden im Jahr 2070, wenn nicht früher, abgeschafft, d.h. werden abgeschafft werden! Uni-Professoren wurden / werden dadurch eben durchschnittliche Sterbliche.)

https://www.youtube.com/watch?v=hkWwTtcCxrI Die visuelle Filmgeschichte mit Vorspann und Abspann präsentiert mit screenshots (stills) aus dem Film:

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Ein Happy Ending mit Pferdezüchten! Statt mit Hühnerzüchten.

*** Pech mit dem dritten Ei (Regie: Filip Pažin, MA) (Eine Anspielung an politische Spekulationen über die dritte „Entität“ in Bosnien-und-Herzegowina)

https://www.youtube.com/watch?v=jUL2sGBn_Cg&t=219s Die visuelle Filmgeschichte mit Vorspann präsentiert mit screenshots (stills) aus dem Film:

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Ja, da die Schweiz sowieso keine drei nationalen Entitäten hat, sondern nur sezessionsfähige Kantone und eine lockere Konföderation, sollte doch wohl auch Bosnien-und-Herzegowina ohne Entitäten auskommen. Es gibt allerdings die sog. Romandie in der Schweiz (vgl. https://en.wikipedia.org/wiki/Romandy) aber nur inoffiziell, geographisch, also sowieso etwas wie der einigen so beliebte inoffizielle geographische Begriff Herceg-Bosna. Romandie und Herceg-Bosna als unpolitische Begriffe? Warum nicht? Zur Entspannung hört man am Filmende und beim Abspann eine Klavier-Variante von An der schönen blauen Donau.

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Ein Teil des Osijeker Professor-Romulus-Filmteams (denn das Treffen war zu früh am Morgen, ohne ECTS-Gewinn usw.) Unten das Link zum demselben:

https://www.youtube.com/watch?v=KZ93ouVmtdw&feature= youtu.be

Željko Uvanović

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EIN (ALLZU) LANGER WEG ZUM ZIEL EINFÜHRUNG Es ist für mich eine ganz besondere Freude, verraten zu dürfen, dass mein Call for Papers für diese Festschrift – im Anschluss an Calls for Papers für schon zwei vorher publizierte Bände in dieser Reihe des Shaker Verlages, publiziert im April und dann im Dezember 2014 – ein lebhaftes Echo aus sechs Ländern (Deutschland, Österreich, Slowenien, Bosnien-undHerzegowina, Serbien und Kroatien) fand, so dass wir nun die folgenden 21 Beiträge präsentieren können. Ja, ein allzu langer Weg bis August 2018. Dabei muss man aber vor Augen halten, dass der Herausgeber (d.h. ich) im Jahr 2015 zwei Literaturverfilmungen veröffentlichte: Professor Romulus geht in die Rente (40 Minuten) und Pech mit dem dritten Ei (10 Minuten). In der Zeitspanne 2016-2017 musste ich eben eine editorische liber(o)filmische Publikationspause einlegen, insbesondere wegen Leitung eines wissenschaftlichen Projektes (UNIOS INGI 2015-11).1 Nun wohl, von allen eingereichten Arbeiten sind nur zwei Beiträge aktualisierte und erweiterte, allerdings sehr wertvolle Zweitpublikationen (Beiträge von Tihomir Živić und Marijana Erstić). Alle anderen Beiträge sind also erstmals publizierte Beiträge (fachliche Beiträge, wissenschaftliche Originalbeiträge, vorläufige Mitteilungen und komparatistische Studien), die in einigen Fällen sogar drei externe double blind Gutachten und eine letzte Meinung und Korrekturen des Herausgebers verlangten. Die Fülle der gesammelten Beiträge – nach unzähligen E-Mails, Klicks, Verbesserungen und Umformatierungen – ist nun in fünf Kapitel gegliedert worden: I. Die gute alte Zeit, II. Österreich und seine Provinzen, III. (Ungefähr) zwischen den zwei Weltkriegen, IV. (Mit einem Fuß noch immer) im 20. Jahrhundert und V. (Mehr oder weniger) postmoderner Karneval des 21. Jahrhunderts.

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Vgl. Ljubica Matek / Željko Uvanović (Hg.): Adaptation: Theory, Criticism and Pedagogy. Selected papers, student projects, and the film adaptation Osijek Sweet Osijek. Aachen: Shaker Verlag 2018.

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I. Nur zwei Beiträge behandeln die „gute alte Zeit“. Aber dafür erscheinen sie gewissermaßen doppelt romantisch. Miodrag Loma (Universität Belgrad) bespricht die Publikationen Herders und deren Interpretationen aus der Feder von Professor Josip Babić, und beleuchtet diese Vergleiche mit seinen eigenen weiterführenden Synthesen. Doppelt reflektiert werden somit Herders Internationalität, Theorien der nationalen Kulturen (deutsche und südslawische Kulturidentitäten), seine Bemühungen um Erforschung vielschichtiger deutsch-slawischer Berührungen, seine enormen Kenntnisse der Weltgeschichte, der Theologie, der Anthropologie und der Philosophie. Nochmals hat sich vor unseren Augen die gute alte Zeit der Teleologie, Humanität und des Glaubens an Übergang in die Ewigkeit Gottes offenbart. Rada Stanarević (Universität Belgrad) stellt des Weiteren in ihrem Artikel zwei Distichen von Novalis vor, indem das Erste eine Definition der neuen romantischen Kunst, die nicht die Natur nachahmt, sondern eine Frucht der Offenbarung des Geistes ist, und das zweite Distichon untermauert praktisch den ersten als Offenbarung des schöpferischen Geistes in einem poetischen Werk. Personifiziert wird dies durch die zeitlosen mythischen und fabelhaften Bilder der Göttin Isis sowie einen jungen Mann, der auf der Suche nach sich selbst den Schleier der Göttin nehmen wird. Neben der Wechselbeziehung der analysierten Distichen beleuchtet die Arbeit auch ihre vielschichtigen Bedeutungen im Kontext der theoretischen und insbesondere der Romanwerke von Novalis. Selbstverständlich werden auch der großartige Rhythmus des Hexameters und dessen Bedeutung für das esoterische Erlebnis der Romantik gepriesen wie auch eine Parallele zu Übersetzungen Novalis’ ins Serbische gezogen. II. Das zweite Kapitel wird eröffnet durch den Beitrag von Mira Miladinović Zalaznik (Universität Ljubljana), die die Arbeitsgemeinschaft und Freundschaftskorrespondenz zwischen dem Slowenen Leopold Kordesch (1808-1879) und dem polyglotten Deutschen Rudolf Gustav Puff (18081865) sowie deren patriotische Bemühungen (bei Kordesch auch die

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Bemühung um die Gründung einer Universität in Ljubljana, was allerdings erst 1919 verwirklicht werden konnte) komparativ biographisch, unter akribischer Lektüre der Zeitschriften aus jener Zeit (Carniola, Laibacher Zeitung, Illyrisches Blatt, Agramer Zeitung, Der Magnet, Triglav, Historischer Verein für Krain) und im politisch-geschichtlichen Kontext erforscht hat. Die folgende Arbeit von Marijan Bobinac (Universität Zagreb) schließt eine Lücke in der kroatischen Theaterforschung und -geschichte, die lange eine elitistische Ästhetik bevorzugte und den durchaus wichtigen Anteil der trivial-unterhaltenden Publikumsdramaturgie in der Theatergeschichte bei Seite ließ. Der Beitragt beleuchtet Kotzebues pragmatische Rezeption innerhalb des kroatischen Repertoires im Entstehungsprozess des kroatischen Nationaltheaters in zwei Phasen: erstens in der zweisprachigen deutschen und kroatischen Periode 1840-1860 und zweitens in der ausschließlich kroatischen Phase 1860-1877. Kotzebue, einer der einst populärsten Dramatiker des kroatischen Theaters im 19. Jahrhundert, wurde seit 1877 nicht mehr im kroatischen Nationaltheater aufgeführt, obwohl er, als Anhänger der konservativen Restauration seit 1815, paradoxerweise unter anderen Autoren die Gründe für ein nationales kroatisches Geschichtsdrama vorbereitete, und obwohl das Wiener Burgtheater sich bis Ende des 19. Jahrhunderts des Kotzebue in seinem Repertoire nicht schämte. Der dritte Beitrag in diesem Kapitel stammt von Tihomir Živić (J.-J.Strossmayer-Universität Osijek). Sein Aufsatz beschäftigt sich vorwiegend mit Anzengrubers, Hauptmanns und Schillers Dramatik auf der deutschsprachigen Bühne des Osijeker Oberstadttheaters von 1866 bis 1907. Der Beitrag berichtet auch über Aufführungen der bekannten Tragödien Hamlet, Othello und Rikard III. auf der Osijeker deutschsprachigen Bühne, sowie eine allgemeine Rezeption der Werke von William Shakespeare in Osijek im Jahre 1897. Shakespeare gelangte an die kroatischen Leser und Zuschauer des 19. Jahrhunderts eben durch die deutschen Übersetzungen. Dadurch zählte die Stadt zum derzeitigen europäischen Kontext mit ihrer Bühne als die „zweite kroatische Bühne“, die gerühmt werden konnte als eine urbs metropolis Slavoniæ, in die die

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Künstler im Laufe der sechs Theatermonate wie in eine Art Vor-Station zu Wien eingetroffen waren. Irena Samide (Universität Ljubljana) präsentiert uns im vierten Beitrag dieses Kapitels die Rezeption der Werke Franz Grillparzers im gymnasialen Lektürekanon wie auch im Lehrplan (Aufsätze zum Thema Grillparzer und seine Werke im Vergleich mit anderen Autoren und Werken) im slowenischen ethnischen Gebiet der Wiener Monarchie. Skizziert wird der Weg des Dramatikers vom Status eines zensurierten und polizeilich verfolgten Schriftstellers zum Prototyp eines Österreichers, Habsburgers und Wieners mit parallelem Aufstieg der Statistik von Grillparzers Werke auf quantitativen und Ranglisten im Lehrplan bzw. Lektürekanon vor dem Hintergrund der gleichzeitigen Rezeption in deutsch- und slowenischsprachigen Theaterhäusern von 1890 bis 1918. Sehr interessant sind die Befunde, dass in der Periode 1900-1918 Grillparzer den dritten Platz einnimmt, nach Schiller und Goethe und vor Lessing und Kleist, und dass slowenischer Deutschunterricht seine Dramen Sappho, Ahnfrau und König Ottokars Glück und Ende am populärsten fand. Der nächste Artikel stammt von Iva Drozdek und behandelt die nach 1894 entstandenen slawonischen Geschichten von Roda Roda (d. h. Alexander Friedrich Ladislaus Roda Roda, 1872-1945). In der Auswahl von 42 Kurzgeschichten, die die Verbundenheit zu Slawonien gemeinsam haben, werden die zwischenmenschlichen Beziehungen verschiedener Nationen auf diesem Gebiet aufgezeigt, sowie ihr Einfluss auf das Land und der Einfluss des Landes auf die Menschen. Das Verbinden und miteinander Teilen von Familie und Land hatte sicherlich eine immense Bedeutung für Roda Roda, denn dieses Thema scheint der Leitfaden durch die meisten Erzählungen zu sein. Immer wieder wird in seinen Geschichten die Harmonie eines multikulturellen Zusammenlebens betont. Der letzte Beitrag ist von Amira Žmirić (Universität Banja Luka), die im Roman Die Bogumilen. Ein bosnischer Roman (1895) den österreichischen kolonialen Blick auf die 1878-1908 stufenweise annektierten Territorien

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entlarvt, das auch Sandžak im heutigen Serbien umfasste.2 Die Verfasserin kommt zur Schlussfolgerung, dass die geschilderte Welt Bosniens in einem starken Kontrast zur westeuropäischen Zivilisation steht, aber nur bis zum Augenblick, in dem der Leser begreift, dass sich die Tat der Entführung im Roman zweimal ereignet, und zwar einmal begangen von einem Einheimischen, einem Barbaren, und einmal von einem österreichischen Grafen und einem ungarischen Baron, also von den zivilisierten Europäern. Fast satirisch wirft der Autor damit die Frage auf, ob die ÖsterreichischUngarische Monarchie zu einer Kulturmission (wie das im Roman betont wird) auf dem Balkan fähig sei. Der Autor lässt Zweifel an der Autorität Österreich-Ungarns und seiner starken Hand aufkommen, wenn sich seine Offiziere und Diplomaten wie echte Barbaren benehmen. III. Vom österreichischen kolonialistischen Blick auf Bosnien wenden wir uns im dritten Kapitel zum deutschen Blick auf Russen im Jahre 1928. Sven Hanuschek (Ludwig-Maximilians-Universität München) fragt sich, ob die Projektionsfläche des Anderen nicht dient als Artikulationsebene der eigenen Mängel (und möglicherweise des eigenen Barbarentums). Leo Perutz’ gattungsmäßig hybrider Ullstein-Roman erweist sich gleichsam als ein fiktives Dokument des Antislawismus und Russophobie in der Zeit zwischen den zwei Weltkriegen. Zeittypische Nationalitätenklischees kommen allein in distanziert-humoristischer Brechung vor, zum Teil – zu Beginn und am Ende des Romans – an exponierter Position. Dass das bedrohliche, befremdliche Andere das Eigene ist, und dass man über dieses Eigene viel eher erschrecken sollte, hat Perutz besonders am Ende seines Romans gezeigt. 2

In diesem Sinne wären die Grenzen des sog. Unabhängigen Staates Kroatien 19411945 eher als eine provisorische militärische großösterreichische Okkupationslösung auf dem Westbalkan anzusehen, inszeniert mit Hilfe der Quislinge, und nicht als wahre Grenzen des kroatischen historischen Territoriums, das eher Banovina Hrvatska im Königreich Jugoslawien historisch-politisch mehr oder weniger richtig umfasste bzw. die heutige Republik Kroatien. Bekanntlich haben der Vatikan sowie westliche Alliierten die exilierte Regierung des okkupierten Königreichs Jugoslawien (mit Sonderstellung der Regierung von Banovina Hrvatska mit Banus Ivan Šubašić an der Spitze) weiterhin legal anerkannt im Einklang mit dem internationalen Recht.

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Im zweiten Beitrag in diesem Kapitel vergleicht Marijana Erstić (Universität Siegen) dekadenten Künstlertum in Thomas Manns Buddenbrooks und in Krležas Glembay-Zyklus mit Schwerpunkt im Drama Die Glembays (1928). Krležas Werk ist dabei doppelköpfig: Einerseits spielt das Drama am Vorabend des Untergangs der Habsburger Monarchie 1913, andererseits enthält der Glembay-Zyklus eine postmodern-verspielte Vielfalt der Gattungen mit boulevardesken Elementen und mit möglicher stilistischer Re-Positionierung in einem Neo-Manierismus des 20. Jahrhunderts, der Krležas Werk nochmals mit Manns Werk verbindet. Feine sprachliche Ironiespiele Manns im Vergleich mit Krležas Avantgardismus und vehementer (Auto)destruktion schlechthin mit tertium comparations Figur des dekadenten Künstlersohns / der dekadenten Künstlersöhne aus dunklem, verbrecherischem, großbürgerlichem Milieu. Marica Liović (J. J. Strossmayer-Universität Osijek) untersucht in ihrem Beitrag die Spuren der Osijeker Theaterinszenierungen von sechs Dramen Gerhart Hauptmanns in der städtischen Presse im Zeitraum 1910-1942. Der schlesische Nobelpreisträger hat seine Rezeption nach dem Zweiten Weltkrieg selbst erschwert durch politisch problematische Entgleisungen in seinen bisher schon komplett publizierten Tagebüchern. Entgegen der heutigen Situation hat Osijeks Theaterpublikum in den Jahren 1910 bis 1942 sechs von Hauptmanns Werken gesehen. Diese Arbeit hat herausgefunden durch das Lesen von Osijeks Presse in der erwähnten Zeit, was die Erwartungen von Osijeks Theaterpublikum waren, wie die Presse über die Aktivitäten von Osijeks Theater berichtete und welche Reaktionen das Publikum auf das Repertoire des kroatischen Nationaltheaters in Osijek hatte. Im nächsten Beitrag zeigt Aleksandra Bednarowska (Pädagogische Universität Krakow) Parallelbiographien von Mascha Kaléko und Anda Eker sowie Parallelbilder der Städte Berlin und Lemberg in ambivalenten Perspektiven, mit soziologischen Elementen und mit stilistischer Analyse der untersuchten Gedichte. Das Judentum der Dichterinnen im Zwischenmedium der polnisch-deutschen Kontakte wird ebenfalls

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behandelt wie auch das Neuromantisch-Neusachliche der Stadterlebnisse in der Zwischenkriegszeit. Tihomir Engler (J.-J.-Strossmayer-Universität Osijek) verfasste eine umfangreiche, komplexe komparatistische Studie, in der Thomas Manns Joseph-Tetralogie (1926-1943) mit Miroslav Krležas Balladen des Petrica Kerempuh (1936) im Reflex der Nietzsche-Rezeption beider Autoren und mit persönlichen Kommentaren des Verfassers selbst. Das große Thema heißt: die Geschichte und der Mensch in ihrem Schlamm und in ihrem Teufelskreis. Wie soll der Nihilismus überwunden werden? Der Überwindungsversuch gestaltet sich bei Mann optimistisch in Form eines künstlerischen Humanitas-Mythos, deren Kerngedanke die Vermittlung zwischen dem Tellurischen und dem Geistigen ist, während sich beim Pessimisten Krleža ein solcher Versuch immer wieder an der Verwurzelung des Menschen in seiner „diluvialen“ Herkunft stößt. Der letzte Beitrag in diesem Kapitel ist thematisch gewidmet Camill Hoffmann (1878-1944), dem Lyriker, Übersetzer, Diplomat und Vermittler zwischen der deutschsprachigen und tschechischen Kultur. Jan Čapek (Universität Pardubice) präsentiert in dieser Arbeit Ergebnisse seiner Forschung im Marbacher Literaturarchiv anhand von dort zugänglichen Manuskripten, vor dem Hintergrund einer langen Geschichte der Juden in Europa und mit noch einem Beweis des Holocausts – in der Lebensgeschichte Hoffmanns. IV. Das vierte Kapitel beginnt mit einem Beitrag von Daniela Čančar, die zwei literarische und einen filmischen Text miteinander vergleicht im Medium türkisch-deutscher und bosnisch-deutscher Migrantenproblematik. Deutschlernen, Begegnung mit deutschen Muttersprachlern, Anpassung, Identitätskrisen, Reisen in die Heimatländer, Spurensuche im interkulturellen Niemandsland des Nirgendwo-Zugehörens – das sind die Themen in Sten Nadolnys Selim oder die Gabe der Rede, in Saša Stanišićs Wie der Soldat das Grammofon repariert und in Fatih Akins Auf der anderen Seite.

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Dina Džindo Jašarević vergleicht des Weiteren zwei männliche Konfrontationen mit der Vergangenheit ihrer Partnerinnen bzw. mit der Vergangenheit ihrer Eltern im Zweiten Weltkrieg bzw. im Bosnischen Unabhängigkeitskrieg 1992-1995. Einerseits begegnen wir der deutschen Schuld an aktiver Teilnahme am kaltblutigen Massenvernichtungsmechanismus bei Hanna Schmitz und andererseits der serbischen Schuld an Ermordung der 42 bosnischen Muslime beim Vater der Partnerin der Hauptfigur. Wie kann man eine mit (direkter oder indirekter) Schuld beladene Person lieben? Džindo Jašarević entdeckt interessante Ähnlichkeiten und Unterschiede in diesen zwei unangenehmen Konfrontationsprozessen und analysiert die präsenten Phänomene im Raster der Theorien von Aleida Assmann, Reinhart Koselleck, Michael Kohlstruck und Ernestine Schlant. Stephanie Jug (J.-J.-Strossmayer-Universität Osijek) verfolgt im dritten Beitrag des Kapitels die Spuren von Peter Weiss’ Marat/ Sade (1964) in Dramenmonolog Europa (2004) von Ivana Sajko. Als das Schlüsselmoment in Marat/Sade stellt sich der Akt des Zweifelns heraus. Das vollkommene Fehlen dieses Momentes, unterstützt durch andere dramaturgische Mittel, führt zu einem ähnlichen Resultat in Europa: der Absage an dem Einseitigen der Ideologie und dem Appell an die Gesellschaft, eine mentale fortschrittliche Revolution auszuüben. Damit auch das aktuelle europäische Unionsprojekt (neuerdings mit kommerziellpostmodernen Machtelementen geprägt) nicht (nochmals zyklisch) scheitert, sollte es von der Geschichte lernen, Mündigkeit und Verantwortung des Volkes fördern, und jegliche ideologische Manipulationen bekämpfen. Die letzte Arbeit in diesem Kapitel ist von Renate Hansen-Kokoruš (KarlFranzens-Universität Graz). Die Verfasserin versucht mit ihrem Beitrag einen objektiven, alltagsnahen, mehr individuellen Zugang aus dem deutschsprachigen Raum zum blutigen kroatisch-serbischen Krieg vor dem Hintergrund des Zerfalls des ehemaligen Jugoslawiens und zum absurden kroatisch-moslemischen Konflikt 1992-1995 literaturwissenschaftlich zu konstruieren aufgrund der Lektüre von Zoran Ferić’s Engel im Abseits

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(2000)3 und Boris Dežulović’s Jebo sad hiljadu dinara (2007)4. Erinnernde Konfrontierung mit vergangenen Kriegen könnte also literarisch auch durch eine private, individuell-existentielle Betrachtungsweise (ohne offizielle Pathetik, politische Programmatik und stereotypisierte vulgäre halboffizielle Bezeichnungen der Anderen) der in den Krieg geschickten Soldaten (einige mit der Aufgabe der Aggression, einige mit der Aufgabe der Verteidigung, einige mit der Aufgabe der Verwirrrung, in allen Fällen mit sog. einkalkulierbaren kollateralen Schäden) erfolgen. Und immer wieder beginnt die fatale Massenkettenreaktion mit jeweiligen individuellen Fehlverhalten, die sich vervielfältigen. Die Verfasserin interpretiert die literarischen Texte im Anschluss an bisherige relevante Forschungsliteratur zum Thema. V. Das fünfte Kapitel wird eröffnet mit der Arbeit von Sonja Novak (J.-J.Strossmayer-Universität Osijek), die in Ivana Šojat-Kučis Unterstadt (2009) und in Lydia Scheuermann Hodaks Heute liest niemand mehr die gotische Schrift (2007) nach Bildern der deutschsprachigen Minderheiten im ehemaligen Jugoslawien und im heutigen Kroatien sucht im Medium des kroatisch-serbischen Konfliktkontakts. Dabei zeigen die Begriffe wie Opfer / Täter, Schuld / Unschuld und Eigenes / Fremdes eine postmodernistisch anmutende semiotische Beweglichkeit und Fähigkeit zur Verkehrung und zur Absurdität. Die Verfasserin thematisiert in ihrer Imagologie auch Etikettierungen von Anderen, Impulse nach Selbstsuche, Anklage der kollektiven Schuld – und Verdrängung der brutalen Gewalterlebnisse in die gotische Schrift. Ivica Petrović (Universität Mostar) interpretierte in seinem Beitrag Thomas Glavinics Unterwegs im Namen des Herrn (2011), wo eine sich postmodern anmutende, unnachgiebige Mutter Gottes Maria in ihren (pünktlich angekündigten und unangekündigten) Erscheinungen weder von konservativen Kirchenfürsten noch von strengen marianischen Theologen – die behaupten, eine oder zwei Erscheinungen würden gesunden Gläubigen 3 4

Goodreads-Bewertung: 3,6/5 – 377 Stimmen. Goodreads-Bewertung: 4,3/5 – 498 Stimmen.

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schon genügen – noch von (neo-/post-marxistischen) Atheisten verscheuchen lässt und noch immer auf allen metaphysischen Kanälen und göttlichen Internetfrequenzen Međugorje alltäglich besucht. Der an Gebete nicht angewohnte Thomas Glavinic beweist, dass diese Art Reise mit Gläubigen im Nachtbus nicht gerade passend ist für ihn. Unglücklicherweise erweist sich aber auch der Aufenthalt im mediterranen Split als Hölle. Negatives Bild Glavinics wird im Beitrag mit negativem Bild von Julie Zeh verglichen, womit das blasphemische deutschsprachige literarische Erlebnis der marianischen Religiosität in diesem mehrheitlich mit kroatischen Katholiken besiedelten Teil Herzegowinas zusätzlich gesteigert wird. Endlich ein neues Buch (gleichsam österreichische satanische Verse?) für Feinde der Katholiken (und Kroaten)? Selbstverständlich soll man für Meinungsfreiheit plädieren. Aber vielleicht geht es bei Glavinic auch um klischeehafte Balkanbilder, die nicht selten bei den westlichen Autoren zu beobachten sind, wenn sie über Balkan schreiben. Sicher ist es aber, dass die Kroatendarstellung bei Glavinic die Elemente des Stereotyps enthält, das als „Stereotyp der langen Dauer“ aufgefasst werden kann. Tatsächlich: kein Werbungstext für Pilgern nach Međugorje bzw. für Reisen nach Split; keine Danksagung in literarischem Gewand für irgendwelche Gnaden, wie etwa in großartiger Weise in Franz Werfels Das Lied von Bernadette (1941). Und der dritte Beitrag in diesem Kapitel stammt aus der Feder des Herausgebers (J.-J.-Strossmayer-Universität Osijek), der Wladimir Kaminers Russendisko (2000) mit Oliver Ziegenbalgs Verfilmung Russendisko (2012) verglichen hat. Der Vergleich zwischen der literarischen Quelle und der Verfilmung basiert auf den folgenden Elementen: dem Bild der Sowjetunion und dem neuen kapitalistischen Russland, dem Bild der russischen Frauen in Deutschland, dem Bild der russischen Männer in Russland, dem Bild von Berlin und Deutschland, das Bild der Deutschen und das Bild von Einwanderern und Einwanderern in Deutschland. Kaminer verhält sich wie ein popkultureller, immigrierter Postmodernist in der multikulturell bereicherten Metropole Berlin.

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Allen Kolleginnen und Kollegen, die sich mit ihren sehr geschätzten, mit großer Begeisterung geschriebenen Arbeiten an der vorliegenden Festschrift für pensionierte Professoren Josip Babić und Vlado Obad beteiligt haben, sei an dieser Stelle mein ganz herzlicher Dank ausgesprochen. Wir alle zusammen haben mit unseren Beiträgen versucht, die wissenschaftlichen Meriten der Ordinarien außer Dienst Josip Babić und Vlado Obad im internationalen Rahmen aber auch im Medium ganz naher zwischenmenschlicher Kommunikation zu würdigen. Ihre Verdienste für die Gründung und Entwicklung des Studiums der deutschen Literatur an der Universität Osijek sind schon in den Laudatio-Vorworten betont worden. Wir danken ihnen aufrichtig dafür! Und deshalb wünschen wir ihnen ebenfalls weiterhin nur eiserne Gesundheit, Arbeitselan und Lebensfreude!

Osijek, im August 2018 Željko Uvanović https://sites.google.com/site/zeljkouvanovic http://bib.irb.hr/lista-radova?autor=211164&lang=EN

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I. KAPITEL: Die gute alte Zeit



JOSIP BABIĆS WIEDERENTDECKUNG DES ZURÜCKGEDRÄNGTEN UND VERGESSENEN HERDERISCHEN IDEENERBES. EINE WÜRDIGUNG Miodrag Loma Universität Belgrad (mloma@fil.bg.ac.rs) Zusammenfassung In der Besprechung wird das dem Herderschen Ideenerbe gewidmete Buch von Josip Babić vorgestellt, indem erstens die Gedanken über die Herstellung der sprachlichen, literarischen und denkerischen Identität sowie jene über die geschichtliche Erfahrung der Menschlichkeit ausgesondert werden, um auf ihre Bedeutung für die Bildung des modernen literarischen und humanistischen Bewusstseins aufmerksam zu machen. Schlüsselwörter: sprachlich, dichterisch, denken, Identität, individuell, national, Volk, Menschlichkeit, geschichtlich.

Bewusstsein,

In seiner Monographie über Herder und dessen Ideen in südslawischer Wiedergeburt im 19. Jahrhundert1 (Babić 2008) beabsichtigt Josip Babić, den Umfang aufzuzeigen, in welchem diese der Gründung der nationalen sprachlichen, literarischen und kulturellen Identität überhaupt, zuerst bei den Deutschen und dann bei den Südslawen, beigetragen haben. Da die Herderschen kultur- und literaturtheoretischen und literaturgeschichtlichen Konzepte, sowohl in den philologischen und philosophischen Disziplinen als auch in der allgemeinen Bildung schon gleich nach dem Tod ihres Autors zum Allgemeingut wurden, musste Babić sie in ihrer zeitlichen Abfolge und ihrem geschichtlichen Kontext von Neuem beschreiben, bestimmen und erläutern. Nur auf einer solchen Grundlage war es möglich, Herders Leitgedanken in ihrer überwiegend anonymen nationalen Bildungsrezeption und in dem gemeinsamen methodologischen Organon der humanistischen Wissenschaften zu erkennen, auszusondern und als Herdersches Erbe erneut zu autorisieren.

1

Johann Gottfried Herder i njegove ideje u južnoslavenskome književnom i kulturno-političkom kontekstu 19. stoljeća: Johann Gottfried Herder und seine Ideen im südslawischen Literatur- und kulturpolitischen Kontext des 19. Jahrhunderts. Osijek, 2008.

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Der erste Teil der Arbeit von Babić ist den bedeutendsten und epochemachenden Werken Herders gewidmet, in denen er seine Hauptideen ausdrückte, auf die die moderne Philologie, die daraus hervorgehenden Geisteswissenschaften und die Stellungnahmen des modernen nationalen Selbstbewusstseins großenteils gegründet worden sind. Der zweite Teil beschäftigt sich mit der Aufnahme des Gedankenguts bei den Deutschen und bei den Südslawen. Damit bekommt der Leser eine ganzheitliche geschichtliche Darstellung der Entwicklung des Herderschen Gedankenerbes und auch eine partielle, jedoch beispielhafte Übersicht über die Rezeption der Herderschen sprach-, literatur- und kulturkritischen Begriffe, bzw. über ihre Definitionen und terminologischen Ausdrücke, die schon zwei Jahrhunderte lang die europäischen nationalen sprachlichen, literarischen und kulturellen Identitäten prägen, überwiegend ohne dass ihr Autor dabei namentlich erwähnt wird. Vor dem Hintergrund einer so gezeichneten ideologischen Entfaltung wird es klar, wie unser modernes humanistisches Wissen, Gewissen und Besinnen durch die Leitgedanken Herders, oder durch die Hauptzüge seines intellektuellen Porträts tief und dauerhaft geprägt sind. Um dies argumentiert hervorzuheben, ist es auch in meiner Darstellung vor allem nötig, Babićs Rekonstruktion des Herderschen Ideenkreises nur in ihren Hauptstufen zu beschreiben. Die erste davon wird durch gewisse soziologisch-psychologische Tatsachen bestimmt, wobei Herders psychischer Struktur eine zarte Überempfindlichkeit zugeschrieben wird, aus der seine Offenheit für die Aufnahme höherer sentimentalintellektueller Gehalte hervorging, die aber durch die provinziellen familiären und gesellschaftlichen Verhältnisse in der ostpreußischen Kleinstadt Mohrungen behindert wurde, wo Herder geboren war und wo er seine ersten Schulkenntnisse erwarb. Die Grundstrebung von Herders geistigem Wesen überwinde nach der gefühlsmäßigen Gedankenerhabenheit jede psychische und soziale Determination und finde – durch einen glücklichen Zufall – die erste ideale Verwirklichungsmöglichkeit im Studium der Theologie an der Königsberger Universität, wo Immanuel Kant, als einer seiner dortigen Lehrer, die intellektuelle Initiation des jungen Herder durchführte, und Hamann die ersten Anregungen für sein theosophisches Profil gab.

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Das erste literarische Zeugnis seiner Selbstbestätigung stellten die Fragmente über die neuere deutsche Literatur (Riga 1766–67) dar, wo Herder seine Grundideen bereits ausformuliert habe, darunter auch jene der genialen Volksführung, die sich sowohl durch das dichterische Schaffen als auch durch seine literaturkritische und – geschichtliche Wiedergabe vollziehe, da die eine sowie die andere geistige Tätigkeit das Genie der Muttersprache begeistere, das allmählich und vor allem sprachlich einen gemeinsamen Volksgeist ausbilde. In demselben Werk erkennt Babić auch Herders Gedanken über die immer originelle organische Entwicklung einer Sprache und eines Volkes, bzw. seines Geistes. Die jugendliche, poetische Phase dieses Prozesses sei die schöpferisch fruchtbarste, weil darin die höchste Einheit des sinnlichen Ausdrucks und der Reflexion erreicht und damit die sensuell-spirituale Ganzheit des Volkslebens vollständig ausgedrückt werde. Den slawischen Rückstand in der fortschrittlichen Zivilisationsrichtung zu dem abstrakten Denken und zu seiner prosaischen Artikulation betrachte Herder vom dichterisch-schöpferischen Standpunkt aus als Vorteil. Die Slawen bewahrten ihre ursprüngliche Volksdichtung und Volksmythologie unter dem dafür günstigen Einfluss des Patriarchats von Konstantinopel. Darunter verstand Herder, dass die Ostkirche die Glaubenslehre, den Gottesdienst und die Heilige Schrift den von ihr getauften Völkern in deren Muttersprachen übergab. Die Deutschen seien aber durch die westkirchliche lateinische Christianisierung so sehr latinisiert worden, dass die Kontinuität ihrer sprachlichen und volksgeistigen Tradition unterbrochen worden sei. Babić bemerkt, dass Herder in seinem nächsten monographischen Werk, den Kritischen Wäldern (Oder Betrachtungen, die Wissenschaft und Kunst des Schönen betreffend, Riga 1769) seine grundlegende Auffassung der geschichtlichen Wandlungen auf die Unterscheidung des antiken mythopoietischen und künstlerischen Modells von jenem ihm gegenwärtigen und modernen gründe: Ersteres sei sinnlich und leidenschaftlich, Letzteres – abstrakt und verstandesmäßig. Die funktionelle Verbindung zwischen Kunst und Gesellschaft variiere im

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historischen Verlauf von einer nationalen Kultur zur anderen. Das Verhältnis sei seiner Richtung nach wechselseitig, seiner Intensität nach veränderlich und seiner Qualität nach verschiedenartig, weil es nicht nur physische und psychische, sondern auch politische und andere kulturelle Wirkungen umfasse. Die geschichtlichen Variablen, wie Klima, Landschaft und gesellschaftliche Ordnung, die das Leben eines Volkes bestimmten, riefen eine qualitative Änderung der interaktiven Funktion der verschiedenen menschlichen Tätigkeiten hervor. Jedes Übernehmen aus einer Nationalkultur in die andere schließe insofern die Anpassung des Übernommenen an die funktionellen Relationen im Leben des aufnehmenden Volkes ein. So könne man diachronisch stufenweise zur Einsicht in die Kette der gegenseitigen kulturellen Entlehnungen und Modifikationen unter verschiedenen Volksgeistern gelangen. Damit werde der geistesgeschichtliche Zugang zur Welthistorie geöffnet, der zur Erkenntnis der Geschichte aller Völker und Kulturen führe, um die Entdeckung allgemeiner Gesetzte der Menschen- und Menschlichkeitsentwicklung zu ermöglichen. Herders Behauptung, dass jede menschliche Vollkommenheit zugleich national und individuell sei, weist gerade auf jene Kette der genial individuellen und originellen Übernahmen und Veränderungen hin, die volks- und zeitgeistig repräsentativ sind. Herder fasst das persönliche Genie als ursprüngliches und eigentümliches Medium auf, in dem ein schöpferisches Individualtalent, der Geist seiner Zeit und das ganze geistige Erbe seines Volkes zusammentreffen, um darin ihre innerste Gegenseitigkeit vollkommen und unwiederholbar auszudrücken. Babić weist darauf hin, dass Herder nach den ältesten Dichtungen suche, nach denen aus der jugendlichen, poetischen Phase der Entwicklung der Menschlichkeit, weil er glaube, dass diese immer von einer genialen Individualität und Originalität erzeugt würden, in denen der Geist jedes Volkes mit seiner Denk- und Gefühlsweise und allem, was für seine Besonderheit wesentlich sei, seinen vollständigsten Ausdruck finde. Babić hebt die Abhandlung über den Ursprung der Sprache (Berlin 1772) als die erste umfänglichere philosophische Arbeit Herders hervor, in der er seine Haupterkenntnisse zusammenfasse, die sich auf die Formierung des

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Menschen, seiner Gesellschaft und seiner Geschichte, auf die Beziehungen zwischen dem Sprech-, Denk- und Dichtvorgang und auf das Verhältnis des Göttlichen zum Menschlichen bezögen. Hier betrachte Herder den Menschen als Teil der materiellen Natur, der ihr seine affektiven und intensiven Emotionen durch unartikulierte Stimmen, die sich in Form eines Schreis offenbarten, mitteile. Dies sei eine rein physische, animalische Sprache, die als Sprache der Natur zu verstehen ist. Seine eigene, menschliche Sprache, die er im Sinne eines tierischen Triebs nicht erben könne, müsse der Mensch sich sowohl als Einzelner als auch als Gattung selbst erschaffen. Dazu verfüge er über die Gesamtheit seiner seelisch-geistigen Kräfte, in der alle Momente seines Seelenlebens (des Sinnes-, Erkenntnis- und Willensvermögens) unzertrennlich und zweckmäßig vereinigt seien, um ihn zur Bewusstmachung der Außenwelt und seiner selbst zu bringen. So erscheine er als einziges irdisches selbstbewusstes Geschöpf, als Wesen der Besonnenheit oder des Verstandes. Die teleologische Orientierung zum Allund Selbstbewusstsein sei der menschlichen Gattung gottgegeben und darauf beruhe die theologische Dimension der Herderschen Sprachphilosophie. Die geistige Kraft, die den Menschen zur Sprachschöpfung führe, sei die Artikulation, die als innere Notwendigkeit der menschlichen Zweckmäßigkeit nur sprachlich erfüllbar sei. Der Prozess beginne mit der onomatopoetischen Wiedergabe und dem verstandesmäßigen Unterscheiden der charakteristischen Merkmale tönender Handlungen, wobei die ersten Verben gebildet würden. Die Entstehung des menschenbildenden Bewusstseins, d. h. der Besonnenheit oder des Denkens, sei so ein mit der Bildung der menschlichen Sprache einhergehender Vorgang, während die Sprache selbst von Anfang an durch ihr Ansprechpotential dialogisch ausgerichtet sei. Die fortdauernde Identität des Denkens und des Sprechens erfülle sich durch die anfängliche Einheit der Mythologie und Poesie auf die vollkommenste Weise. Die dichterische mythopoietische Einbildungskraft bekomme daher die Funktion der sprachschaffenden Hauptfähigkeit, die die zerstreuten sinnlichen Eindrücke zum ganzheitlich und tief

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empfundenen Erlebnis der Handlung so miteinander verbinde, dass in der einheitlichen Empfindung die verschiedenen Sensationen ineinander übergingen, wobei das immer originelle synästhetische Übergehen durch die Mitarbeit des reflektierenden, vergleichenden, unterscheidenden und bewusst machenden Verstandes in Gedanken oder Wörter gefasst werde. Babić betont hier den fundamentalen Sensualismus Herders, der die ganze Gefühls- und Gedankenwelt des Menschen auf dessen Sinnen gründe. Aus dem zweiten Teil der Abhandlung über den Ursprung der Sprache sondert Babić die anthropologischen Hauptergebnisse Herders sprachlichhistorischer Untersuchungen aus, die den Menschen nicht nur als Geschöpf der Sprache, sondern aufgrund der kommunikativen Sprachfunktion auch als Geschöpf der Gesellschaft bestimmen, und zwar vor allem als Wesen eines nationalen Kollektivs, das im muttersprachlichen Verkehr verwurzelt und gebildet werde, und nicht zuletzt auch als Wesen der universalen Gemeinschaft aller Menschen, zu der die besondere Spracherfahrung jedes Volkes jederzeit eigentümlich beitrage. Babić stellt fest, dass die Ideen der künstlerischen Individualität und der nationalen Eigentümlichkeit in zwei Beiträgen Herders (Auszug aus einem Briefwechsel über Ossian und die Lieder alter Völker und Shakespeare), die sich in dem Sammelwerk Von deutscher Art und Kunst, Einige fliegende Blätter befinden, erneut zum Ausdruck kämen. Die Poesie sei für Herder ein verbal-ästhetischer Ausdruck der sinnlichen Erlebnisse, die besonders intensiv empfunden würden, wenn sie auf der Frühstufe der Kulturentwicklung erschienen. Ossians Werke würden, ohne jeglichen Zweifel an deren Ursprünglichkeit, von Herder als repräsentatives Beispiel einer solchen Phase betrachtet. Damit sei eine neue, moderne Bestimmung der Lyrik als Gattung verbunden, in der das musikalisch-melodische, bzw. das sensuell-emotive Element vorherrsche. Deshalb erscheine Herder die Dichtung aufgrund ihrer ursprünglichen lyrischen Potenz als sprachliche Gestaltung der individuellen und kollektiven, vornehmlich sinnlichen, aber auch aller anderen Erfahrungen. So entstehe Herders enthusiastischer Zugang sowohl zu den alten Gedichten als auch zu jenen verhältnismäßig jüngeren von Shakespeare – nämlich durch den Versuch, sich in die Zeit und die Umstände, in die Empfindungs- und Denkweise des Dichters

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einzuleben und einzufühlen, was gleichzeitig auch der einzig mögliche Zugang zur sensuellen und geschichtlichen Grundlegung der Poesie sei, der sich der klassizistischen Analyse der Anwendung schon festgelegter poetischer Grundsätze entgegensetze. Babić erklärt, dass die anfängliche dichterische Schöpfung einerseits und die Entstehung der Sprache andererseits bei Herder eng verbunden seien, weil sich diese beiden Formen des ausschließlich menschlichen Schaffens auf sinnliche und emotive Zusammenhänge gründeten. So sei für ihn jedes Gedicht, in dem er die Spuren des unmittelbaren, sensuell-affektiven Erlebnisses finden konnte ein Volkslied, unabhängig davon, ob der Verfasser bekannt oder anonym sei, was durch seine Theorie über die original leidenschaftliche Poesie als ursprüngliche Identität des Fühlens und Denkens, des Sprechens und Dichtens zu erklären ist. Sie sei insofern volkstümlich, als ein Volksgeist darin ganz unmittelbar, d.h. dichterisch konkret – sinnlich und gefühlsmäßig – zum Ausdruck komme. Der Geist einer Nation betreffe die national spezifische Weise der sensuellen Perzeption, der emotiven Rezeption des Wahrgenommenen und der intellektuellen und willentlichen Reaktion darauf, die eigentümliche Art des auf das sinnliche Erfahren gegründeten Denkens, Vergeistigens und Verwirklichens des geistig Erworbenen, sowie die originelle Form des einem Volk entsprechenden und deswegen dafür bedeutungsvollsten poetisch-sensitiven Sprachausdrucks. Eben diese spezifische Weise sei diejenige, die die Besonderheit einer nationalen Denkart, Sprache und Dichtung zugleich bilde. Die Dichter bekämen so in der sprachlich vereinigten Gesellschaft eine führende, sprach- und geistesbildende Rolle und würden somit zu den hervorragendsten Vertretern der universellen menschlichen Gemeinschaft, die ausschließlich aus Völkern bestehe. Durch die individuellen und originellen Dichterwerke erscheine auf die eindrucksvollste und klarste Weise ein Volksgeist, der die Gesamtheit der nationalen Eigenschaften darstelle und die religiösen und mythischen Vorstellungen, sowie die kulturellen, zivilisatorischen und psychophysischen Charakteristiken umfasse. Die volkstümlichen Besonderheiten seien in der sinnlichen Erfahrung so sehr verwurzelt, dass sie durch die irdische Lebensumgebung

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des Volkes mit ihren geoklimatischen Merkmalen, durch seine Geschichte und durch die konkreten Leistungen der hervorragendsten Einzelnen bestimmt würden. Insofern werde der geschichtliche Eigenwert, seine Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit, mit dem ihm adäquaten Kunstausdruck verbunden, weil die Menschlichkeit sich unter den wesentlich unwiederholbaren Raum- und Zeitumständen immer originell und ausschließlich historisch verwirkliche und ausdrücke. So werde Shakespeare zu dem einmaligen Individualgenie seines unwiederholbaren volksgeschichtlichen Augenblicks. Er habe die Aufgabe, diesen Moment geistig und künstlerisch auf die ihm einzig entsprechende, für sein Wesen vollkommen transparente Weise auszudrücken, die sich aufgrund ihrer ungeteilten Originalität nicht nachahmen lasse. Im Unterschied zu Lessing und Gerstenberg sehe Herder am Beispiel Shakespeares noch eine Dimension der dichterischen Schöpfung ein: ihre Individualität und Singularität, Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit. In seiner Abhandlung unter dem Titel Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774) behaupte Herder, dass Gott ausschließlich vermittels der Natur planmäßig auf die menschliche Geschichte wirke. In seinen Beiträgen zum Sammelwerk Von deutscher Art und Kunst schreibe er den künstlerischen Genies, vorzugsweise den Dichtern, wie Homer, Sophokles, Ossian und Shakespeare, die Fähigkeit zu, die Elemente des göttlichen Plans durch begeisterte Ahnungen zu entdecken und in ihren künstlerischen Schöpfungen zu offenbaren.

Die Tatsache, dass Herder sich intensiv mit dem Sammeln von Volksliedern beschäftigte, stehe, laut Babić, im engen Zusammenhang mit dem Grundzweck seiner literaturkritischen Arbeit, welcher darin bestehe, am Beispiel der poetischen Ursprünglichkeit der Gedichte eine Wiedergeburt der deutschen Literatur anzuregen. Dabei betrachte Herder die Volkspoesie als universelle Literatur, zu der jedes Volk durch die Originalität seiner Geschichte und deren sprachkünstlerischen Ausdrucks seinen besonderen Beitrag leiste. Eine solche literaturgeschichtliche

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Konzeption, deren Zweck es sei, eine erneute Belebung der deutschen nationalen Literatur zu bewirken, werde in seiner Sammlung unter dem einfachen Titel Volkslieder (2 Bde., 1778/1779) gewissermaßen verwirklicht. Dabei setze Herder das Neuwort „Volkslied“ zusammen. Das Kriterium der anthologischen Auswahl sei der unmittelbare, emotivdynamische Ausdruck der Grundsituationen menschlicher Existenz, durch den die Besonderheit eines Volksgeistes zur Erscheinung käme, der sich vor allem in den einander entsprechenden Empfindungs- und Denkweisen der gegenwärtigen ländlichen Bevölkerung, aber auch in der Vergangenheit bzw. dem Ursprung des jeweiligen Volkes widerspiegle, im Gegensatz zu dem künstlichen und starren Geist der aktuellen höheren Stände, der sich durch höfisch-feudale und aufklärerisch-bürgerliche Kulturformen äußerte. Seit der zweiten (1807), posthumen Ausgabe trägt die Anthologie den Titel Stimmen der Völker in Liedern. Damit wird ihr internationaler Charakter hervorgehoben, obwohl sie nur die aus verschiedenen Sprachen ins Deutsche übertragenen lyrischen Gedichte sowohl anonymer als auch namentlich bekannter Verfasser enthalte. Eine breitere Anerkennung bei der deutschen Leserschaft finde die Auflage jedoch erst nach mehrmaliger Veröffentlichung, weil die Deutschen während der napoleonischen Invasion und der Befreiungskriege erstmals ein verstärktes Nationalbewusstsein und Interesse an der heimischen und fremden Volkstümlichkeit entwickelt hätten. Babić bewertet das anonym veröffentlichte Werk Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit als den Höhepunkt der philosophischen Synthesis Herders frühen Denkens. Von der biblischen Urgeschichte ausgehend weise der junge Denker auf die menschliche Urgesellschaft als patriarchale Gemeinschaft hin, in der der Mensch – als Vater, Mann, Priester und Herrscher – ein noch ganzheitliches, ungeteiltes Individuum sei. Der gottgewollte, ursprüngliche Gesellschaftszustand bestehe aus natürlichen familiären Bindungen und Gefühlen, die aufgrund dieser Bindungen entstanden sind, aber auch aus dem personellen Selbstgefühl, aufgrund dessen der Mensch seine, ihm durch Gottes Plan zugeteilte, irdische Hauptrolle übernehme. Das theologische Besinnen der menschlichen Urposition stelle in der Zeit ihrer Verwirklichung sowohl

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eine Philosophie als auch das Grundprinzip der Herrschaft dar. Die Selbstbesinnung gehe von den Grundtrieben der menschlichen Natur aus: von der Ver- und Bewunderung, die zur Erkenntnis der Wahrheit und der Schönheit führten, sowie von der Treue und Gehorsamkeit, die den Weg zur Einsicht in das Gute bahnten. An den von Babić angeführten Grundinstinkten der Menschlichkeit, ist es nicht schwer, die elementare Empfindlichkeit für die sowohl familiäre und soziale, als auch für die metaphysische patriarchale Hierarchie zu erkennen. Die Sensibilität ist bei Herder im Zusammenhang mit seinem generellen Sensualismus zu erfassen, während der gegenwärtige orientalische Despotismus nur als Überrest des ursprünglichen Zustands nach seinem Zerfall bezeichnet werde. Babić hebt Herders kritisches Bewusstsein über die Notwendigkeit des Urteilens vom Standpunkt der eigenen Zeit hervor, d.h. über die Existenz des literarischen und kulturellen Rahmens, unter dessen Einfluss der Kritiker seine Grundgedanken entwickelt habe, und der im gegebenen Fall von der rationalistischen Aufklärung geprägt sei. Herder ginge sehr vorsichtig mit den Deformationen um, die eine auf diesem Prinzip aufgebaute Position bei der objektiven Anschauung der Gegenstände fremder oder älterer Dichtungen und Kulturen hervorrufe. Deshalb bestrebe er, ein Literatur- und Kulturphänomen vor allem durch den immanenten Zugang zu beschreiben. Das Verfahren bestimme er als Einfühlung: zuerst in eine literarische und kulturelle Gestalt und dann auch in deren Umstände, d. h. in die ganze Besonderheit der raumzeitlichen Interaktion der eine gewisse Literatur und Kultur immer tragenden Bevölkerung und des spezifischen Klimas, in dem das jeweilige Volk lebe. Hier erscheinen zum ersten Mal in ihrem eindeutigen Ausdruck auch die Gedanken über die geophysischen, gesellschaftlichen und kulturellen Zusammenhänge der Literatur, auf denen sich die Leitideen der nationalen Literaturgeschichtsschreibung im neuzehnten Jahrhundert, besonders im Werk von Hippolyte Taine, gründeten, woraus sich die Hauptdisziplin der humanistischen Wissenschaften jener Zeit ergab. Indem er Herders Darstellung der organischen Menschheitsentwicklung von ihrer Kindesstufe im alten Orient, über die Knabenstufe im Leben des

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alten Ägypten und Phönizien bis hin zum Jugendstadium des antiken Griechenlands auslegt, weist Babić darauf hin, wie sich die organologische Analogie in der geschichtlichen Interpretation als Deutungsgrundsatz anbietet, der sich dem aufklärerischen Mechanizismus und Universalismus entgegensetzt. So würden das Klima und die menschliche Gesellschaft mit ihren Überlebens- und Kulturformen durch eine deutlich bestimmbare Symbiose auch organisch verbunden. Die griechische, kreative Rezeption des orientalischen, ägyptischen und phönizischen Kulturerbes schaffe originelle und neue Werte, sie ermögliche aber auch kulturelle Kontinuitäten, die über die organische Geschlossenheit einer Kultur, über ihre vitale Begrenztheit und Sterblichkeit weit hinausgingen. Das Mannesalter in der Entfaltung der menschlichen Kräfte vertrete die römische Zivilisation mit ihrer imperialen Militärmaschinerie als Hauptbeweggrund des Staats- und Wirtschaftswachstums, in dem verschiedene Völker durch den Synkretismus aller vererbten Traditionen assimiliert und in ihren nationalen Identitäten aufgehoben würden. Herder meinte, dass ohne die volkstümliche Identifikation keine wahrhaft vitale, schöpferische, innovative und originelle Tätigkeit, keine menschliche Höchstleistung möglich sei, weil diese immer auf eine national und individuell bestimmte Weise entstehe. So stelle der römische Weg – sowie die Richtungen ähnlicher absolutistischer, großer despotisch-übernationaler Staatsschöpfungen – eine Bahn dar, die zur Dekadenz und zum Verschwinden leite. In einer solchen Darstellung der Verfallsstadien sind die Ansätze der Grundgedanken der umfangreichen geistesgeschichtlichen Erforschungen des zwanzigsten Jahrhunderts, wie jene von Spengler und Toinbee es waren, und die sich mit der Entstehung und dem Untergang der Zivilisationen befassen, leicht zu erkennen. Die neueuropäischen großen Völker entständen durch die ihnen in jedem besonderen Fall eigentümliche Aneignung der Reste römischer Leistungen. Babić kommt zu dem Schluss, dass Herders Ideen der geschichtlichen Entwicklung der Nationen besonders auf die kleinen slawischen Völker in der Habsburgermonarchie als legitimem Erbe des Weströmischen Reichs im Sinne der sprachlichen, kulturellen, ökonomischen und politischen Emanzipation anregend wirkten, aber auch auf die neuen bürgerlichen nationalen Eliten der Herderschen Zeit und des folgenden neunzehnten

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Jahrhunderts überhaupt. Auf den Gedanken von Herder seien alle emanzipatorischen Programme und Tätigkeiten dieser Klasse aufgebaut. Die fundamentale anthropologische Frage des menschlichen Glücks werde zum Zentralproblem, das die Herderschen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (Teile I–IV: 17841791; Teil V, 1820, skizzenhaft, posthum) als einen durch die göttliche Vorsehung beabsichtigten und in geschichtlicher Hinsicht unterschiedlich verwirklichten Zweck des menschlichen Daseins thematisierten, und zwar aufgrund der Überzeugung Herders, dass zu den gottgegebenen humanen Veranlagungen neben der Besonnenheit und Sprache auch der Trieb zum Glück und zur Güte gehöre. Ausgehend von Voltaires Begriff der Geschichtsphilosophie („Philosophie de l’ histoire“, 1765 als Einleitung in sein Werk: Essai sur les mœurs et l'esprit des nations, 11756) versuche Herder, wie Babić es hier erläutert, die philosophischen Schlüsse ausschließlich aus den Tatsachen der Weltgeschichte abzuleiten. Dabei wandte er sich aber von der Voltaire’schen Konzeption der allgemeinen Menschlichkeit und deren stetigen Fortschritts ab, weil die Humanität sich in jedem Volk und in jeder Zeit auf eine individuelle und unwiederholbare Weise durch eine organische Entwicklung verwirkliche, die ihren vitalen Auf- und Abstieg habe, sodass die Gesamtheit der Entwicklungslinien die Verwirklichung des göttlichen Plans darstelle. Babić erklärt, dass das materielle All nach Überzeugung Herders mit der menschlichen Geschichte eine untrennbare, von Gott gegründete, Ganzheit bilde, indem die göttlichen allerschaffenden, allerhaltenden und allvereinenden Kräfte unaufhörlich in beiden Bereichen wirkten. Aufgrund der allumfassenden schöpferischen und existentiellen Einheit entwickle sich die menschenbildende Besinnungs- oder Vernunftfähigkeit des Menschen selbst dadurch, dass sie imstande sei, Analogien vom Menschlichen zum Irdisch-Natürlichen herzustellen. Am Anfang der Menschlichkeit sei diese Fähigkeit nur eine gottgegebene Veranlagung als göttliche Ermächtigung der menschlichen Seele zum sprachlich und dichterisch besinnenden Genie, welches somit die ebenbürtigen Tätigkeiten der göttlichen Kräfte in der Immanenz als analogisch zu jenen in sich selbst erkenne.

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Daraus lässt sich der Schluss ziehen, dass die im Menschen das Ebenbild Gottes bildende Energie die einzige Kraft darstellt, in der Welt jene Kräfte widerzuspiegeln, die ihrer eigenen Beschaffenheit entsprechen, was durch die Gestaltung der inneren menschlichen Anlage erfolge. Damit ist der göttliche Keim der menschlichen Erkenntnis-, d.h. seiner Denk- und Sprachkraft gebildet. Jene Widerspiegelung aber durch die sprachliche Artikulation ins humane Bewusstsein zu führen, ist die Aufgabe der freien Menschenwerdung. Das menschliche Abbild des Göttlichen wird zum höchsten Maßstab in der Diesseitigkeit, indem der Mensch zum Selbstbewusstsein gelangt. Von ihrer gottgegebenen Veranlagung ausgehend, setzt Babić fort, sei die Humanität eine Aufgabe der dadurch ermöglichten Freiheit der Selbstvollendung und Selbstverwirklichung und somit ein Entwicklungsprozess, bei dem durch die sprachlich-gedankliche Vervollkommnung die sinnliche und triebhafte Natur des Menschen gemildert und veredelt werde und er zu einem geselligen, für den Verkehr sowohl mit dieser als auch mit jener göttlichen Welt immer offenen Wesen gemacht werde. Insofern sei die Menschlichkeit religiös und theologisch endlich bestimmbar. Aus dem Verharren aller schöpfenden und erhaltenden Gotteskräfte in der irdischen Natur schließe Herder auf die Unverlierbarkeit der menschenschaffenden Energien und auf die Unsterblichkeit der darauf gegründeten und daraus gebildeten menschlichen Seele. So bedeute das Sterben nur einen Übergang auf eine höhere synergistische Ebene der Existenz mit Gott. In der Erfüllung des inneren Zwecks der Humanität sehe Herder den Sinn der gesamten Menschheitsgeschichte. Im zweiten Teil seiner Ideen befasse sich Herder mit dem Einfluss des Klimas auf die Völker, auf die Bildung der Eigenart ihrer Sinne und dadurch auf die Formung ihrer Vorstellungskraft, die dabei auch von der Tradition bedingt sei. Die Phantasie besetze in der Herderschen Ordnung der menschlichen geistig-seelischen Kräfte die Zentralstelle, weil sie als Knotenpunkt, in dem all diese Kräfte zusammenträfen, den physischen Aspekt der menschlichen Natur mit dem geistigen verbinde. Die Träume und Mythen, die den Hauptstoff für die Dichtung böten, würden durch diese Verbindung hergestellt, aufgrund deren sie einerseits mit den klimatischen Bedingungen und anderseits mit der Überlieferung der Sitten zusammenhingen. Eine einzigartige, für ein Volk kennzeichnende

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Einbildungskraft sei diejenige, die eine eigentümliche nationale Dichtung schaffe. Die ursprünglichen Volksgedichte erteilten die meisten Auskünfte über den Volksgeist und die Volksgeschichte, sowie über die geschichtlichen Empfindungs- und Denkformen in der Volksphantasie, denn der Mensch offenbare, Herders Auffassungen nach, seine wahrliche Natur in höchstem Maße in den Träumen, woraus die Dichtungen gebildet würden, aber auch im Phantasiespiel, dem das Poetisch-Ästhetische innewohne. Das erinnert uns an den ein Jahrzehnt später erscheinenden ludischen Humanismus Schillers aus seinem 15. Brief Über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795), aber auch an die Freud’sche Auffassung der Träume in der individuellen Tiefenpsychologie (Die Traumdeutung, 1900). Wie im genannten Werk Schillers auf der Ebene der individuellen Entwicklung, würde in Herders Ideen auch das Bedürfnis nach der Bildung der Humanität als geschichtlicher Prozess bezeichnet, und zwar auf dem kollektiven Niveau der Menschheit. Da das Hauptmittel eines solchen Vorgangs die Sprache in ihrer ursprünglichen und wesentlichen Identität mit dem Denken sei, gliedere sich der Verlauf in seine nationalen und sprachlichen Zweige, von denen jeder für sich allein seine eigene Physiognomie entwickle, sie jedoch alle gemeinsam die gesamtmenschliche Gestalt bildeten. Damit werde die Teleologie des göttlichen Plans erfüllt, wobei jede Form der individuellen und gesellschaftlichen Unvollkommenheit eine Folge der menschlichen Freiheit gleichermaßen für das Gute und für das Böse, für das Glück und für das Unglück sei. In dem dritten Teil der Ideen (1787) würden die ältesten orientalischen und europäischen Völker in ihrer geschichtlichen Entwicklung durch die Interaktion mit dem heimatlichen Klima geschildert. Daraus schlussfolgere Herder, dass die Anwesenheit Gottes in der irdischen Natur und Geschichte keinesfalls der gottgegebenen Freiheit des Menschen für seine Selbstverwirklichung, für die Humanität und für das Glück entgegenstehe, sondern ihr dafür die notwendigen Mittel biete, wie es die Sinne und Triebe, die Sprach- und Denkfähigkeit und somit auch das Potenzial zur Kunst und Religion seien. Dabei reihe er unter den Begriff der Humanität

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all das ein, was der Entwicklung, dem Wohle und dem Glück des Menschen, d. h. all den Leistungen der Menschlichkeit, die sich auf einer bestimmten Stufe als autonome humane Veranlagungen des Einzelnen realisierten, beitrage. Unter Berücksichtigung der Teleologie der göttlich planmäßigen Vervollkommnung der Menschheit bis zu ihrer höchsten Stufe, d. h. ihrem Übergang in die Ewigkeit Gottes, werde alles, was menschenbildend, vernünftig und richtig sei, als Hauptmaßstab der Geschichtsphilosophie gesetzt, als geschichtlich sinnvoll und als menschliches Gut bestimmt, wogegen die Zerstörung des Menschen und seiner Welt als unvernünftige, sinnlose und böse Tätigkeit, als bloße Folge des menschlichen Missbrauchs seiner eigenen Freiheit bezeichnet werde. Sowohl die Bildung des einzelnen Menschen, als auch die einer Nationalkultur erlangen ihre Vollendung in der sich selbst eigentümlichen Güte, Schönheit und Wahrheit. Sie bezeichneten das Höchstmaß an Tätigkeit, Gleichgewicht und Übereinstimmung, die die individuell oder kollektiv spezifische Disposition der humanen Kräfte in ihrer Interaktion mit den örtlichen und zeitlichen Wirkungen leistete. Nach einem zeitweiligen Entfernen von dem Höhepunkt ihrer Existenz strebe die Kultur jedes Volkes auf eine zeitgemäße Weise ihrem schon erlebten existenziellen Kern zu, in dem ihr besonderes Dasein in seiner stärkst möglichen Fülle immer wieder realisierbar sei. Insofern solle man die bedeutendsten Kulturerrungenschaften der verschiedenen Völker in unterschiedlichen Zeiten als originelle Höhepunkte einer Volksexistenz, als humane Vollendung eines unwiederholbaren geschichtlichen Daseins, an und für sich ausschließlich mit ihren inneren Maßstäben messen. Demgemäß, schließt Babić, trage jede Epoche der Nationalkultur der gesamten Menschheitsentwicklung auf eine besondere Weise bei, und sie alle zusammen verwirklichten den Plan Gottes für die Entfaltung der menschlichen Gattung. Dem geschichtlichen Relativismus weiche Herder durch die Anwendung des universellen humanistischen Kriteriums aus, das den Vorrang des Human-Konstruktiven, der Vernunft und Gerechtigkeit, vor dem HumanDestruktiven in jedem einzelnen und kollektiven Fall des menschlichen Daseins berücksichtige. Es ist zu bemerken, dass es hier nicht mehr um den

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engen, eindimensionalen Rationalismus der Aufklärung und die darauf aufgebaute Sittlichkeit geht, sondern um die komplexe biblische Betrachtung des Menschen als eines einheitlichen und ganzheitlichen, zugleich sinnlichen und empfindlichen, vorstellungsfähigen und gefühlvollen, denkenden und wollenden Wesens, in dem gerade der Verstand, bzw. die Besinnung oder die Vernunft die vereinigende Seelenund Geisteskraft für das Aufbauen einer selbstbewussten persönlichen Menschentotalität darstellt, die einzig imstande ist, eine sich selbst gemäße Moralpraxis zu schaffen. Nach der chronologisch-genetischen Auslegung der Herderschen Leitgedanken, erreicht Babić das bestrebte Ziel seines Befassens mit Herder in der Darstellung der südslawischen Aufnahme seiner Gedankenwelt. Dabei gewinnen die vor allem auf die Sprache, Literatur und Kultur bezogenen Ideen an Bedeutung. Die Rezeption erfolgt viele Jahre nach dem Tod ihres Autors, oft mit einer Verspätung von einigen Jahrzehnten, und zwar durch mehrere Vermittler. Dies waren meist an deutschen Hochschulen gebildete slawische Schriftsteller und Intellektuelle, Slowaken, Tschechen und Polen, deren Beweggrund stets das persönliche Interesse am Aufbau der eigenen nationalen Identität war. Josip Babić hat uns gewissenhaft durch die Herderschen theologischen, philosophischen und literaturwissenschaftlichen Grundideen geleitet und uns genau gezeigt, in welchem Umfang sie für die Bildung der nationalen Identitätsformen bei den Deutschen und den Südslawen fruchtbar sind, ein Thema, das bis zu dieser Erforschung nur teilweise und bei Weitem weniger systematisch als hier behandelt wurde. Aufgrund der ideengeschichtlichen Darstellung Babićs haben wir eine klare Vorstellung von der Herderschen Gründung der deutschen und südslawischen Kulturidentitäten im 19. Jahrhundert bekommen, aber auch von dem Potenzial der Gedanken Herders in ihrer Weiterentwicklung, vor allem unter Berücksichtigung der autonomen und immer national spezifischen sprachschaffenden Kräfte des menschlichen Wesens, durch deren Leistungen das eigene geistige Reichtum jedes Volks erst erscheinen soll, um in seiner Besonderheit als Kleinod unter anderen humanen Kleinodien

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in die allgemeinmenschliche Schatzkammer aufgenommen und dort für immer aufbewahrt zu werden. Literatur Babić (Josip) 2008: Johann Gottfried Herder i njegove ideje u južnoslavenskome književnom i kulturno-političkom kontekstu 19. Stoleća, Sveučilište Josipa Jurja Strossmayera u Osijeku, Filozofski fakultet, Matica hrvatska, Ogranak Osijek, Osijek.

Miodrag Loma Josip Babić’s rediscovery of the repressed and forgotten Herder’s intellectual heritage. An acknowledgement Summary In the present paper, Josip Babić’s book dealing with Herder’s intellectual legacy is analysed with a focus on his reflections about shaping the linguistic, literary and intellectual identity, as well as about the historical experience of humanity, in order to show its importance for the formation of the modern literary and humanistic consciousness. Keywords: linguistic, poetic, think, identity, consciousness, individual, national, humanity, historically.

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ÜBER ZWEI DISTICHEN VON NOVALIS Rada Stanarević Universität Belgrad (scnet.skotic@eunet.rs) Zusammenfassung In einem seiner Fragmente spricht Novalis höchst poetisch von den Großartigkeiten des Hexameters. Er findet, im großen Rhythmus des Hexameters treten das Weltall, die Kunst, der Geist und die Seele zusammen. In der vorliegenden Arbeit wird versucht, anhand von zwei Distichen die hohen Schwingungen des Hexameters, aber auch anderer Gestaltungen von Novalis’ literarischem Werk darzustellen. Stichwörter: Distich, Hexameter, Geist und Herz, Hypostase, Synchronizität, Magie.

Novalis hat bekanntlich zugleich lyrisch und episch und dazu auch dialogisch geschrieben. Die literarischen Gattungen waren für diesen Dichter untrennbar. Ja, der Begriff „Gattung“ bedeutet bei ihm nicht die Getrenntheit, sondern eher das Gegenteil. Bereits in den frühen theoretischen Äußerungen von Novalis (im Jahre 1795)1, wird der Begriff zur Bezeichnung des absolut Synthetischen, des Allem-zum-GrundeLiegenden angewandt (vgl. „Fichte-Studien“, Bd. 2, S. 15f). Die Dichtung Novalis’ ist im Einzelnen fragmentär und unvollendet, sie ist aber im Wesentlichen nach dem Prinzip der magischen Verbindung und der mystischen Harmonie der Gegensätze gebildet. Verschiedene Ausgaben der Werke von Novalis, die älteren (Friedemann) wie auch die neueren (Mähl), entdecken immer wieder diese wunderbare Eigenschaft seines Schaffens, in dem sich die Motive, die Themen verflechten, verwandeln, wiederhohlen, ohne daß es in dem phantastischen Gewebe möglich wäre, irgendwo einen Anfang oder ein Ende festzustellen.

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Vgl. Mähl (Hg.), Novalis, Band 3, S. 285. Im weiteren Text werden wir diese Ausgabe von Novalis’ Werken benutzen, und Angaben über Band und Seite in Klammern anführen.

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Auch seine „Distichen“ haben dieselbe vielfache Beschaffenheit. Sie sind zwar bei Friedemann und bei Mähl unter diesem Titel in den „Vermischten Gedichten“ (1794–1801) zu finden, acht Distichen insgesamt, aber sie erscheinen in beiden (Gesamt)-Ausgaben mehrmals auch an anderen Stellen, einzeln oder als Teile größerer und verschiedener Texteinheiten. Da diese Stellen, wie auch die Reihenfolge der größeren Texte, in denen sie erscheinen, nicht mehr die gleichen sind, kommen je nach Ausgabe den einzelnen und denselben Distichen unterschiedliche Bedeutungen zu. Auch mit dem 2. und dem 4. Distichon ist dies der Fall. Wir wollen nun diese bei Mähl so nummerierten Verse aus ihrer achtgliedrigen Distichonkette herausnehmen, um sie näher und im Zusammenhang mit anderen, d. h. theoretischen und erzählerischen Arbeiten des Autors zu beleuchten. Beide Distichen haben für sich mehrere Fassungen. Dem 2. Distichon aus den „Vermischten Gedichten“ begegnet man in geänderter Form in Novalis’ Fragmenten, in den „Vermischten Bemerkungen“ und danach in der 1798 in der Zeitschrift „Athenäum“ veröffentlichten Fragmentensammlung „Blütenstaub“: 1. „Vermischte Gedichte“: Welten bauen genügt nicht dem tiefer dringenden Sinne, Aber ein liebendes Herz sättigt den strebenden Geist.

2. „Vermischte Bemerkungen“, Fragment Nr. 90: Welten bauen genügt nicht dem tiefer langenden Sinne, Aber ein liebendes Herz sättigt den strebenden Geist.

3. „Blütenstaub“, Fragment Nr. 91: Welten bauen genügt dem tiefer dringenden Sinn nicht: Aber ein liebendes Herz sättigt den strebenden Geist.

Die erste Zeile aus dem „Blütenstaub“ sieht im metrischen Schema so aus:

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Welten bauen genügt dem tiefer dringenden Sinn nicht x' x | x' x x | x' x | x' x | x' x x | x' x

Der erste Vers ist also in der alten, berühmten antiken Form des Hexameters verfaßt. Mit dem zweiten Pentametervers das Distichon bildend, gibt er eine Definition der neuen, unbekannten, vom Autor und seinen Freunden im Jenaer Kreise mit dem Namen Romantik getauften Dichtung. Über die auf diese Art von Novalis gegebene Definition der romantischen Poesie können wir als erstes feststellen: es liegt ein formal-inhaltlicher Widerspruch vor, eine Verfremdung ist im Spiel. Und als zweites: auch im Einzelnen, in seinem Inhalt nämlich, ist gerade der erste Langzeiler, der gezielt vom Dichter umkomponierte Hexameter, widersprüchlich und verfremdend. Liegt der Grund für diese in Form und Inhalt geäußerte Unausgeglichenheit in der immer noch unklaren poetischen Sicht des Autors? Nein, ganz umgekehrt! Auf diese Weise, durch gebundene Form, durch nicht nur formale, sondern auch visuell bemerkbare Knappheit, unterscheidet sich das Distichon vom umgebenden Text und erhöht sich über ihn. Ein vom Autor bewußt durchgeführtes Verfahren also. Die Entstehung der romantischen Poesie und Poetik stellt Novalis – in Distichonform – als Ergebnis einer besonderen Tätigkeit des Geistes (des Sinns) unter unentbehrlicher Mitwirkung des Herzens dar. Diese Verbindung der gegensätzlichen Teile des Ichs oder des Selbst bringt neue Früchte. Wenn wir eine Weile die harmonische, aber auch verwundernde Mitwirkung des Geistes und des Herzens beiseite legen, so wird es offensichtlich, daß, im Unterschied zu der ersten und zweiten Fassung, der Hexameter in seiner endgültigen Form (durch verbesserte Position der Worte und geänderte Interpunktion) die Tätigkeit des Geistes selbst – viel einprägsamer definiert. Auch das bewußt, denn das, was der Geist tut, indem er es nicht mehr wie üblich tut, das soll verblüffend erscheinen, damit die überaus wichtige

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Operation desselben zur Hervorhebung gebracht wird: „Welten bauen ... nicht“. Der Anfang des Verses, „Welten“, und der scharfe einsilbige Ausgang „nicht“ weisen klar darauf hin: ein neues künstlerisches Programm steht vor uns. In den Fragmenten des „Blütenstaubs“, wo Novalis sein Distichon einbaut, entdecken sich mehrmals die ungewöhnlichen Bereiche, in denen sich der schaffende Geist bewegt, was wir unsererseits nicht anderes erleben, als Meditationsausflüchte, Erfahrungen und Produkte des schaffenden Geistes des Dichters selbst. So ist, zum Beispiel, im 22. Fragment (Bd. 2, S. 235 u. 237) zu lesen: Das willkürlichste Vorurtheil ist, daß dem Menschen das Vermögen außer sich zu seyn, mit Bewußtsein jenseits der Sinne zu seyn, versagt sey. Der Mensch vermag in jedem Augenblicke ein übersinnliches Wesen zu seyn. Ohne dies wäre er nicht Weltbürger, er wäre ein Thier. Freylich ist die Besonnenheit, Selbstfindung, in diesem Zustande sehr schwer, da er so unaufhörlich, so nothwendig mit dem Wechsel unsrer übrigen Zustände verbunden ist. Je mehr wir uns aber dieses Zustandes bewußt zu seyn vermögen, desto lebendiger, mächtiger, genügender ist die Überzeugung, die daraus entsteht; der Glaube an ächte Offenbarungen des Geistes. Es ist kein Schauen, Hören, Fühlen; es ist aus allen dreyen zusammengesetzt, mehr als alles Dreyes: eine Empfindung unmittelbarer Gewißheit, eine Ansicht meines wahrhaftesten, eigensten Lebens. Die Gedanken verwandeln sich in Gesetze, die Wünsche in Erfüllungen. (...) Gewiße Stimmungen sind vorzüglich solchen Offenbarungen günstig. Die meisten sind augenblicklich, wenige verweilend, die wenigsten bleibend. Hier ist viel Unterschid zwischen den Menschen. Einer hat mehr Offenbarungsfähigkeit, als der andere. Einer hat mehr Sinn, der andere mehr Verstand für dieselbe. Der letzte wird immer in ihrem sanften Lichte bleiben, wenn der erste nur abwechselnde Erleuchtungen, aber hellere und mannigfaltigere hat.

„Welten bauen ... nicht“. Stattdessen: Offenbarungen des Geistes. Von Anfang an, in der ersten veröffentlichten Fragmentensammlung von Novalis, entwickelt und behauptet sich eine recht revolutionäre Idee (und Praxis), welche die ganze künstlerische Tradition der Nachahmung in Frage stellt. Zum Problem der Nachahmung, gestärkt wohl durch persönliche Erfahrungen als Romancier, kehrt Novalis in späteren Fragmenten immer wieder kritisch zurück. Im Brief an seinen Bruder Karl ist er ganz entschlossen: „keine Nachahmung der Natur. Die Poesie ist durchaus das Gegentheil. Höchstens kann die Nachahmung der Natur, der Wirklichkeit nur allegorisch, oder im Gegensatz, oder des tragischen und lustigen 51


Effects wegen hin und wieder gebraucht werden“ (Bd. 1, S. 737). Sogar über Shakespeare, der für die Jenaer Romantiker, die Brüder Schlegel und Tieck, ein echtes Vorbild war, hat Novalis kritisierend zu bemerken: „Shakespeare ist mir dunkler, als Griechenland. Den Spaß des Aristophanes versteh ich – aber den Shakespeares noch lange nicht. Shakespeare verstehe ich überhaupt noch sehr unvollkommen.“ Und weiter: „Wenn der Spaß poetisch seyn soll, so muß er durchaus unnatürlich (unterstrichen von R. S.) und Maske seyn“ (Bd. 2, S. 845). Besonders negativ aber sieht Novalis die gegenwärtige Schauspielkunst: „Auch auf dem Theater tyranisiert der Grundsatz der Nachahmung der Natur. Darnach wird der Werth des Schauspiels gemessen. Die Alten verstanden auch das besser. Bey ihnen war alles poetischer“ (Bd. 2, S. 846). Die Übersetzung des Distichons, in welchem das neue Konzept der amimetischen Kunst und Dichtung formuliert ist, bedarf selbstverständlich guter Kenner des Werkes F. v. Hardenbergs, und noch mehr als das. Der Übersetzer selbst muß dichterischer Könner sein, ein „Dichter des Dichters“, wie es Novalis im 68. Fragment des „Blütenstaubs“ verlangt (Bd. 2, S. 255). Glücklicherweise, und zu unserem Stolz, erfüllt Branimir Živojinović in seiner Übertragung der Werke Novalis’ ins Serbische die Forderungen und erwünschten Eigenschaften solch einer „verändernden“ (so Novalis im erwähnten 68. Fragment), wahren, höchstpoetischen Übersetzung. Das heißt, es sind in der Übersetzung des betreffenden Distichons sowohl die metrische Form des Originals, als auch dessen rechter Sinn getroffen. Zugleich kommen Spielkraft und verführerische Fruchtbarkeit des Übersetzers zum Ausdruck, indem er aus einem – ein Doppeldistichon erzeugt. Die als grundsätzlich gestellte magische Formel der romantischen Poesie des deutschen Distichons lautet in der serbischen Fassung folgendermaßen: Nije onome duhu koji prodire dublje dovoljno samo to: za svetom da stvara svet; ali će ono srce u kom ljubavi ima zadovoljiti duh što stremi dalje sve.

In der Übersetzung von Branimir Živojinović sind die ausgewählten Werke Novalis’ 1964 und wiederholt 2010 veröffentlicht. Die Grundlage der

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Übersetzung war H. Friedemanns zweibändige Ausgabe, in welcher die Fragmente nicht chronologisch, sondern thematisch geordnet sind.2 Novalis’ Fragmente erfüllen fast den ganzen zweiten Band dieser deutschen Ausgabe. Als letztes von insgesamt 1790 Fragmenten, und zwar in der Gruppe der „Magischen Fragmente“, befindet sich nun das programmatische, ursprünglich 1798 innerhalb der „Blütenstaub“Sammlung veröffentlichte Distichon. In den serbischen Ausgaben enden die Fragmente, bzw. das ganze Buch der ausgewählten Werke von Novalis gerade mit ihm. Aus diesem ungewöhnlichen Umstand könnte man schließen, das letzte Fragment sei Höhepunkt von Novalis´ theoretischem Werk. Dem ist es aber nicht so, denn beim dichterischen Magus Novalis ist alles verzaubert. Und wenn man schon Höhepunkte sucht, so sind es seine Romane, „Die Lehrlinge zu Sais“ und „Heinrich von Ofterdingen“. In beiden Werken kommt es zu praktischer Ausführung, zu durchgehender Personifizierung3 des Theoretischen. Es erscheinen in beiden Romanen die Figuren der philosophischen und dichterischen Zauberer und Lehrer des jungen Helden, der in einer Welt, die verwandelt ist ins Märchenhafte und Mythische, den Weg zu sich selbst sucht. Auf der anderen Seite kann das Distichon oder Epigramm, eingesetzt in ein umfangreicheres episches Werk, Erzählung oder Roman, in kürzester Form die Handlung des Ganzen darstellen, oder die im Ganzen breit und weit entwickelten Charaktere und Beziehungen von Hauptpersonen aufs engste besingen. Beispielhaft für die wegweisende Rolle des Epigramms im größeren epischen Gefüge ist Kellers Erzählsammlung „Das Sinngedicht“.

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Ein Vergleich der beiden Ausgaben findet sich in unserem Nachwort („Pogovor“), S. 467–473, in: Novalis, Izabrana dela, Beograd 2010. 3 In den 1798/99 geschriebenen Fragmenten („Das allgemeine Brouillon“) macht Novalis eine wichtige Bemerkung hinsichtlich des Fichteschen Denkens: „Die Hypostase versteht Fichte nicht – und darum fehlt ihm die andre Hälfte des schaffenden Geistes“ (Fr. 1067, Bd. 2, S. 707). Im Gegensatz zu Fichte ist bei Novalis, besonders in seinen Romanen, die Hypostase, oder Vergegenständlichung von Gedanken, allumfassend.

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Dahingegen ist im Falle Novalis das Distichon vom Geheimnis zu Sais nicht in den Roman über die Lehrlinge zu Sais eingebaut, weder am Anfang noch am Ende, und doch könnte man den Versen, dessen ungeachtet, beide Rollen, sowohl die Eingangs- als auch die Abschlußrolle, zuschreiben. Novalis kannte nämlich die Synchronizität4, das Gesetz akausaler Zusammenhänge: der Lehrlings-Roman und das Lehrlings-Distichon existieren wundersamerweise synchronistisch.5 Das nämliche Distichon aus dem Jahre 1798 lautet folgendermaßen: Einem gelang es – er hob den Schleyer der Göttin zu Sais – Aber was sah er? Er sah – Wunder des Wunders – Sich Selbst.

In der Übersetzung von Branimir Živojinović sieht es so aus: Jedan uspe da skloni saiske boginje veo, – ali šta vide? – O čuda! – ugleda sopstven lik.

Wie das vorherige, erscheint auch dieses Distichon mehrmals an verschieden Stellen in den Werken des Novalis. In Mähls Ausgabe finden wir es in „Vermischten Gedichten“, in „Materialien zu ’Die Lehrlinge zu Sais’“ (Bd. 1, S. 234), und nochmals in unveränderter Form in „Vorarbeiten zu verschiedenen Fragmentsammlungen“ (Bd. 2, S. 324). Da endet aber die Geschichte nicht. Zusammen mit der Entstehung des Romans „Die Lehrlinge zu Sais“ (1798) erlebt das Distichon echte Metamorphosen. Erweitert, sich in eine Art von Kurzgeschichte verwandelnd, und als solches vonseiten der Herausgeber als erster Entwurf 4

Eben so heißt die Schrift Carl Gustav Jungs aus dem Jahre 1950: „Synchronizität als ein Prinzip akausaler Zusammenhänge“. In der serbischen Übersetzung (von Desa und Pavle Milekić), heißt sie „Sinhronicitet kao princip akauzalnih veza“ (in: Duh i život, Novi Sad 1984). In der kroatischen Ausgabe (übersetzt von Ingeborg Schmidt) trägt die Schrift den Titel „Sinhronicitet: načelo neuzročnog povezivanja“ (in: Tumačenje prirode i psihe. Zagreb 1989). Wie das Gesetz der Synchronizität im Gedicht „Santa Maria della Salute“ von Laza Kostić funktioniert, vgl. unseren Artikel „Laza Kostić danas ili fenomen osmog stiha“, Beograd, MSC 2010 (39/2), S. 265–270. Dasselbe noch einmal in: Хијазам и хипостаза. Нови Сад 2014. 5 Die Bezeichnung „synchronistisch“ verwendet Novalis in einem Fragment über Shakespeares historische Dramen und über die romantische Poetik und Poesie, vgl. Bd. 2, S. 839.

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des Romans verstanden, ist es als das 17. Fragment (vgl. Band 2, S. 407) innerhalb der sogenannten „Teplitzer Fragmente“ (1798) zu finden. Der neue Text kann ungeachtet des Distichons für sich allein stehen. Er ist von überaus großer Schönheit: Ein Günstling des Glücks sehnte sich die unaussprechliche Natur zu umfassen. Er suchte den geheimnisvollen Aufenthalt der Isis. Sein Vaterland und seine Geliebten verließ er und achtete im Drange seiner Leidenschaft auf den Kummer seiner Braut nicht. Lange währte seine Reise. Die Mühseligkeiten waren groß. Endlich begegnete er einem Quell und Blumen, die einen Weg für eine Geisterfamilie bereiteten. Sie verriethen ihm den Weg zu dem Heiligthume. Entzückt von Freude kam er an die Thüre. Er trat ein und sah – seine Braut, die ihn mit Lächeln empfieng. Wie er sich umsah, fand er sich in seiner Schlafkammer – und eine liebliche Nachtmusik tönte unter seinen Fenstern zu der süßen Auflösung des Geheimnisses.

Indes bewahrt dieser vollkommen schöne Entwurf jenes wesentliche Detail des Distichons nicht: den Schleier der Göttin zu Sais, wie auch das zauberhafte Distichon seinerseits den Namen der Göttin zu Sais vermißt. Erst im Roman wird alles zur gegenseitigen Vervollkommnung gebracht. Alles fließt ineinander, und umgekehrt, das eine springt aus dem anderen hervor. Aus dem Entwurf entpuppt sich das Märchen von Hyazinth und Rosenblütchen. Für sich genommen ist das Märchen abgerundet.6 Dieser selbständige Teil ist nun so kunstvoll in den Roman hineingebracht, daß beide Teile, ja alle Teile zusammenwirken. Das Märchen und die Handlung, die das Märchen umrahmt, verbinden und vereinigen sich durch den gleichen Handlungsort, die mythische Stadt Sais. 7 Mit der Verbindung des Ortes verwirklicht sich im Ganzen das Unmögliche. Die Zeit, das heißt die Sterblichkeit, – ist aufgehoben.

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Als selbständiges Werk ist das Märchen bei uns in der Anthologie Nemački romantičari I unter dem Titel „Priča o Hijacintu i Rozenbliti“ (Übersetzung Branko Stražičić) veröffentlicht. Stattdessen heißen die zwei Liebenden bei Branimir Živojinović – Zumbul und Ružica. Eine ähnlich poetische Übertragung der Personennamen ins Serbische (von Stanislav Vinaver) finden wir auch in unserer Ausgabe der Tausend und einer Nacht, wo das liebende Paar recht romantische Namen hat: carević Jasmin und kneginjica Bademka. 7 Die Struktur des Romans berühren wir kurz in unserem Nachwort zu Hölderlins ausgewählten Werken, („Orfej. Novo formiranje“, Beograd 2009), vgl. S. 308f.

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Dieses Verfahren des unendlichen Ineinanderfließens und der verkreuzten Metamorphosen der Einzelteile verwendet Novalis auch bei der Personengestaltung. Der autobiographisch scheinende Lehrling in der umrahmenden Ich-Geschichte des Romans und der romantisierte Hyazinth als Held der in den Roman eingebauten Er-Erzählung, gehen zusammen denselben mythischen Weg. Beide wollen den Schleier heben. Es läßt sich am Ende schließen, daß auch zwei Distichen miteinander in Verbindung stehen.Die vollkommenste Anwendung des programmatischen Distichons über Geist und liebendes Herz findet man zwar im LehrlingRoman, aber die Verwirklichung der Theorie beginnt bereits mit dem Lehrling-Distichon: Erst in der Offenbarung – entfernt wird der Schleier.

Und ganz am Ende: Erst wenn die Prinzipien des Geistes und des liebenden Herzens magisch „belebt“ sind8, wenn sie in Hyazinth und Rosenblütchen ihre Verkörperung finden, erst dann wird vielleicht der Leser in der Lage sein, sich ein Bild von der sonderbaren dichterischen Kunst Friedrich von Hardenbergs zu verschaffen.

BIBLIOGRAPHIE Primärliteratur NOVALIS (FRIDRIH HARDENBERG), “Priča o Hijacintu i Rozenbliti”. In: Nemački romantičari I. Izbor Vasko Popa. Beograd: Nolit 1959. NOVALIS’ WERKE in vier Teilen. Herausgegeben mit Einleitungen und Anmerkungen versehen von Hermann Friedemann. Berlin – Leipzig – Wien – Stuttgart: Deutsches Verlagshaus Bong & Co. s. a. NOVALIS. Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs. Herausgegeben von Hans-Joachim Mähl und Richard Samuel. München Wien: Carl Hanser Verlag, 2. Auflage, Band 1 (Das dichterische Werk, Tagebücher und Briefe) 2004, Band 2 (Das philosophisch theoretische Werk) 2005, Band 3 (Kommentar) 2002. NOVALIS, Izabrana dela. Izbor izvršio Zoran Gluščević. Preveo i prepevao Branimir Živojinović. Beograd: Nolit 1964. 8

In der Magie geht es um Beleben, sagt Novalis. Vgl. Bd. 2, S. 343 und 531. Ähnliches lesen wir auch bei Böhme, vgl. Vom lebendigen Glauben, S. 201.

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NOVALIS, Izabrana dela. Drugo prerađeno i dopunjeno izdanje priredila Rada Stanarević. Beograd: Nolit 2010.

Sekundärliteratur BÖHME, JAKOB, „Gelassenheit in Gott“. In: Vom lebendigen Glauben. Herausgegeben, übertragen und eingeleitet von Gerhard Stenzel, Sigbert Mohn Verlag, (ohne weitere Angaben), S. 197–208. BURDORF, DIETER, Einführung in die Gedichtanalyse. Stuttgart: Metzler, 1995. GUTZEN, DIETER, Einführung in die neuere deutsche Literatur. Berlin: Erich Schmidt Verlag, 1984. JEßING, BENEDIKT und KÖHNEN, RALPH, Einführung in die Neuere deutsche Literaturwissenschaft. Stuttgart: Metzler 2007. JUNG, K. G., Duh i život. Novi Sad: Matica srpska 1984. СТАНАРЕВИЋ, РАДА, Хијазам и хипостаза. Нови Сад: Академска књига, 2014. СТАНАРЕВИЋ, РАДА „Лаза Костић данас или феномен осмог стиха.“ In: Научни састанак слависта у Вукове дане, 39/2, Београд: МСЦ 2010, S. 265–270. STANAREVIĆ, RADA, „Orfej. Novo formiranje.“ In: Fridrih Helderlin, Odabrana dela. Priredila Rada Stanarević. Beograd: Nolit 2009, S. 303–312. STANAREVIĆ, RADA, “Pogovor”. In: Novalis, Izabrana dela, Beograd: Nolit 2010, S. 467–473.

Rada Stanarević On Two Distiches by Novalis Summary In the first of two distiches presented in this paper, Novalis gives a definition of new Romantic art that does not imitate nature, but is a fruit of the revelation of spirit, while the second distich practically substantiates the first one, as revelations of the creative spirit in a poetical work are personified by the timeless mythical and fabulous images of goddess Isis, and the young man who in the quest for himself will take the goddess' veil. Besides the interrelatedness of the analysed distiches, the paper also sheds light on their multiple meanings in the context of the theoretical and in particular novelistic work of Friedrich von Hardenberg. Key words: distich, hexameter, the spirit and the heart, hypostasis, synchronicity, magic

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II. KAPITEL: Österreich und seine Provinzen



»ICH […] ERSUCHE, DASS SIE, HERR PROFESSOR MICH NUN MÖGLICHST BALD MIT EINIGEN BEITRÄGEN ERFREUEN WOLLEN«.1 LEOPOLD KORDESCH IN BRIEFEN AN RUDOLF GUSTAV PUFF

Mira Miladinović Zalaznik Universität Ljubljana (mmz@ff.uni-lj.si)

Für Josip Babić in alter Kollegialität Zusammenfassung Der Autor, Redakteur und Publizist Leopold Kordesch und der Gymnasiallehrer, Autor und Theaterleiter Rudolf Gustav Puff waren Regionalliteraten aus der Habsburger Monarchie. Sie lebten und wirkten in ihrem südlichsten Teil, der mehrsprachig und multikulturell geprägt war. Während sich Kordesch als Redakteur in Ljubljana und Graz betätigte und in dieser Eigenschaft sogar nach Mexiko wollte, um dort eine deutsche Zeitung herauszugeben, war Puff als Lehrer, Sammler von Volkssagen, Erkunder von fremden Landstrichen, vor allem Bädern, Verfasser von Reisetexten und als Autor literarischer Schriften tätig. Die Briefe Kordeschs an Puff zeugen von einer langen Arbeitsgemeinschaft und Freundschaft der beiden Männer, die sich über nationale Grenzen hinweg (Kordesch war slowenischer, Puff deutscher Herkunft) verbunden, unterstützt, geschätzt und freundschaftlichen Umgang mit einander gepflegt haben. Mit Hilfe dieser Briefe lässt sich die Arbeit eines Zeitschriften-Redakteurs, bis zu einem gewissen Grad, rekonstruieren. Als aktive Mitglieder Historischer Vereine waren Kordesch und Puff bemüht, Slowenisch- und Deutsch-Vaterländisches zu sammeln und zu fördern, um es an spätere Generationen weiter zu geben. Stichwörter: Carniolia, Laibacher Zeitung, Illyrisches Blatt, Agramer Zeitung, Der Magnet, Triglav, Historischer Verein für Krain, slowenisches Theater, slowenische Universität, Vaterländisches

Leopold Kordesch, ein Oberkrainer aus Kamna Gorica bei Radovljica (Steinbühel bei Radmannsdorf), und Rudolf Gustav Puff, ein Steirer aus Holzbaueregg bei Großflorian sind zwei Regionalgrößen aus der Habsburger Monarchie. Beide wurden sie 1808 geboren, beide sind sie 1

KORDESCH, 18. 4. 1838.

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Autoren geworden, beide hatten sie ein Faible für Militär und Theater. Sie beide bemühten sich um vaterländische Anliegen und stellten Beziehungen ins kroatische Teil der Monarchie her bzw. versuchten es, sie herzustellen. Sie beide lebten wechselweise in der Provinz und Residenz, wurden in ihrem Schaffen sowohl von der deutschen als auch von der slowenischen Kultur geprägt und waren Mitglieder diverser historischer Vereine. Sie waren verheiratet, hatten Kinder und sind im Laufe der Zeit zu DuzFreunden geworden. Sie verkehrten mit den gleichen Persönlichkeiten slowenischer und deutscher Herkunft: Adolf Bäuerle, Anastasius Grün (MILADINOVIĆ ZALAZNIK/GRANDA, SCHARMITZER1, SCHARMITZER2), Franz Hermann von Hermannsthal, Josef Emanuel Hilscher (MAVER, S. 201– 211), Karl Adam Kaltenbrunner (ŽIGON4, S. 157–168), France Prešeren, Peter von Radics (ŽIGON3), Johann Gabriel Seidl etc. Sie beide verfassten eigene Lebensläufe, die sich bis zum heutigen Tag erhalten haben. Kordesch hatte es als unehelicher Zwillingssohn von Anton Gogala Edlem von Leesthal2, einem Richter des Wechselgerichtes in Triest (PREINFALK, S. 411–417), und einer Eisenhammerwerkarbeiter-Tochter vermutlich etwas schwerer als Puff, dessen Vater ebenfalls Jurist war. Während Puff studieren und reisen konnte, obwohl verwaist, trat der halbverwaiste Kordesch ins österreichische Heer. Als Uniformierter begann er, Erzählungen, Novellen, Gedichte und dramatische Versuche zu verfassen. 1837 nahm er, wie er es in seinem handgeschriebenen Lebenslauf, der vermutlich um 1850 entstanden ist, festhielt, seinen Abschied.3 Er kam nach Ljubljana mit dem Vorsatz, „[...] in seiner Vaterstadt eine schöngeistige Zeitschrift zu begründen. [...] Von dem damaligen Landesgouverneur, dem äußerst gebildeten und humanen J. C. Freiherrn 2

Das geht eindeutig aus dem Schreiben von Leopold Kordesch an Anastasius Grün vom 14. 10. 1864 hervor, wo er seinen Vater mit vollem Namen und Berufsbezeichnung erwähnt (MILADINOVIĆ ZALAZNIK 20083, S. 136).

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Der slowenische Dichter France Prešeren (1800–1849), der Kordesch und seine näheren Umstände kannte, bezeichnete ihn in seinem deutschen Brief vom 19. 7. 1839 an den in Zagreb lebenden Freund, den kroatischen Dichter und feurigen Vertreter des Illyrismus Stanko Vraz (1810–1851) als „[...] ein[en] wegen dreifacher Desertion entlassen[en] Feldwebel“. (PREŠEREN, S. 345.)

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von Schmidburg4 unterstützt und ermuntert, gründete Leopold Kordesch [...] eine vaterländische Zeitschrift unter dem Titel ‚Carniolia‘ [...]“ (MILADINOVIĆ ZALAZNIK2, S. 13–81; MILADINOVIĆ ZALAZNIK4, S. 167– 181). Ihre Redaktion überließ er 1840 dem Wiener Autor Franz Hermann von Hermannsthal (1799–1875), der in Ljubljana mit der Anwaltstochter, Malerin Amalija Oblak (1813–1860) verheiratet war und zum PrešerenKreis gehörte. Im Jahr 1844 nahm er sich der Zeitschrift wieder an. Dazu in seiner Autobiographie: Im letzten Jahrgange ließ Kordesch allmonatlich ein zu Wien in Kupfer gestochenes, kolorirtes Doppel-Costumebild slowenischer Landestrachten in Großquart als Gratisbeilage erscheinen, was [...] seine finanziellen Kräfte so erschöpfte, daß er 1844 das Blatt eingehen ließ: Vom Oktober des Jahres 1845 bis Ende April 1849, also durch die ganze Umsturzperiode, redigirte Kordesch die deutsche Landeszeitung in Laibach, so wie das ‚Illyrische Blatt‘ [...]

Abschließend fügte Kordesch hinzu: „Es war zu jener Zeit wirklich keine Kleinigkeit, ein Landesblatt, zwischen zwei feindlichen Nationalitäten, der deutschen und slowenischen stehend, zu redigiren“ (MILADINOVIĆ ZALAZNIK3, S. 110–113, hier S. 112). Die Zeiten waren aber nicht nur spannend, sondern auch folgenschwer, wie wir später noch sehen werden. Was Kordesch in seinem Lebenslauf nicht erwähnte, waren seine Anstrengungen um die Gründung einer Universität in Ljubljana. Er veröffentlichte zu diesem Thema in der Laibacher Zeitung vom 19. 9. 1848 einen längeren Artikel mit dem Titel Die Universitätsfrage in Krain (KORDESCH, 19. 9. 1848), in dem er allgemeine Gründe anführte, warum die Universität der südslawischen Provinzen in Ljubljana stehen müsste. Wie wir wissen, konnte er mit diesem Vorschlag keinen Erfolg erzielen. Ähnlich erging es in den 1890er Jahren, d. h. gute vierzig Jahre später, Ivan Hribar (1851–1941), einem Geschäftsmann, Diplomaten und um Kultur

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Joseph Camillo Freiherr von Schmidburg (1779–1846), in den Jahren 1822–1840 Landesgouverneur in Ljubljana, kunstsinnig und slowenischen Bemühungen wohlgesonnen, verdient um die Austrocknung des Laibacher Moors, wo man in seiner Zeit 37 km Straßen und 25 Brücken baute wie auch 250 km Graben anlegte. Er war einer der Befürworter der Gründung des Laibacher Museums 1821 und pflegte Kontakte zum Kreis um France Prešeren. (Vgl. http://nl.ijs.si:8080/fedora/get/sbl:2809/VIEW/, 18. 4. 2013).

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sich abmühenden Bürgermeister von Ljubljana (1896–1910)5, der 1941, 90jährig, aus Scham wegen der Okkupation Ljubljanas und des erniedrigenden Angebots der Italiener, ihn als Bürgermeister zu etablieren, eingewickelt in die slowenische Fahne, in die Laibach ging. Hribar wollte Ende des 19. Jahrhunderts in Ljubljana eine Zweigstelle der KarlsUniversität in Prag gründen. Gegen dieses Vorhaben stellten sich mit beträchtlicher Vehemenz seine eigenen Landsleute: Im slowenischen katholischen Lager war der tschechische Teil der Universität Prag als freigeistig derart verschrien, dass Hribars Plan scheitern musste (GRDINA2, S. 49).6 Puff war wissbegierig und sprachbegabt, lernte Französisch, Italienisch, Englisch, Spanisch, Neugriechisch und Slowenisch, interessierte sich für Architektur, Bildhauerei, Landschaften und unternahm ausgedehnte Reisen zu Fuß, auch in fremde Länder. Im Jahr 1830 schloss er seine juristischen Studien ab, erlangte den Dr. phil., heiratete, begann in Maribor (Marburg/Drau) als Gymnasialprofessor zu arbeiten (SAMIDE, S. 96–97, 108, 110) und zu dichten. Er (Ps. Rudolf Bacherer) wurde zum Beiträger der Carinthia (Klagenfurt), der Wiener Modezeitung, des Bürgerblattes und des Aufmerksamen (beide Graz). Im Jahre 1835 übernahm er die Leitung des 1785 gegründeten Marburger Dilettantentheaters, die er bis zu seinem Tode innehatte, und bestand seine Prüfung in Slowenisch. Er verfasste, neben den Texten für Jahresberichte des Gymnasiums Maribor (SAMIDE, S. 245), Prosa (BIRK, S. 28–52) und Lyrik, veröffentlichte Bücher – Erinnerungen, Landschaftsschilderungen und Wegweiser, in die er Ethnologisches, Historisches und Kulturelles einfließen ließ, welches er auf seinen Reisen wahrgenommen hatte. So gab er in Graz und Leipzig 1837– 1841 seine Sammlung mit dem Titel Steirische Volkssagen, oder Heiteres und Ernstes, von der Mur und der Drau (KRAMBERGER, S. 28, 142) heraus, 5

Im Frühling 2013 begann man „seine“ seit 120 Jahren im Zentrum der Stadt Ljubljana existierende Wasserleitung mit einer neuen zu ersetzen.

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Die slowenische Universität wurde erst 1919, ein knappes Jahr nach dem Zerfall der Donaumonarchie und nach der Etablierung des südslawischen Königreichs SHS, gegründet. Unter den Gründervätern war der Ex-Hofbibliothekar und Literaturhistoriker Dr. Ivan Prijatelj (1875–1937), der einer der ersten Forscher war, die sich mit Leopold Kordesch wissenschaftlich auseinandersetzten.

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was bedeutet, dass er die Texte auch auf dem slowenischen ethnischen Gebiet gesammelt hatte. Die Zeitgenossen honorierten seine Leistungen durch die Verleihung des Ehrenbürgerrechts (Maribor 1846) und die Aufnahme Puffs in verschiedene Vereine, auch in das von Ivan Kukuljević Sakcinski 1850 gegründete Družtvo za povestnicu jugoslavensku (http://hr.wikipedia.org/ wiki/Dru%C5% BEtvo _za_ povestnicu_ jugoslavensku, 4. 4. 2013). Im Jahr 1864, da war Puff seit zwei Jahren pensioniert, trug sich Kordesch, der als einer der ersten Krainer Freiberufler sein Leben fristete, erneut mit redaktionellen Plänen. Er wollte sich, wie aus seinem Brief vom 14. 10. 1864 an Anton Alexander Graf Auersperg (1806–1876), der sich in Literaturkreisen als Vormärz-Dichter Anastasius Grün einen Namen machte, hervorgeht, als Redakteur nach Mexiko begeben: „Ich that in Wien das Äußerste [...] ich ging zum mexikanischen Consul [...] und trug mich an, nach Mexiko zu reisen und dort unter der Protektion der Regierung für die immer zuströmenden Deutschen ein deutsches Journal zu gründen“ (KORDESCH, 14. 10. 1864; Hervorhebungen im Original). Eben um diese Zeit schickte sich Maximilian I. (1832–1867), der jüngere Bruder des Kaisers Franz Joseph I. (1830–1916), an, von einigen mittelamerikanischen Konservativen dazu aufgefordert und von Franzosen in seinem Vorhaben unterstützt, Mexiko zu erobern (LUGHOFER, S. 75–95), auch mit Hilfe von 433 slowenischen Freiwilligen unter den 6000 aus der ganzen Monarchie (GRDINA1, S. 70–72; STUDEN, S. 72). Doch hielt Kordesch auch anderweitig nach geeigneter Arbeit Ausschau. So wandte er sich in einem Schreiben vom 3. 12. 1864 an den Historiker und Publizisten Peter von Radics (1836–1912): Er habe gehört, sein Kollege überlege es sich, nach Ljubljana zu kommen, um dort die Redaktion der Zeitschrift Triglav (ŽIGON1, 2004) zu übernehmen. Daher erwäge er es, den durch dessen Abgang vakant gewordenen Posten des Redakteurs der Agramer Zeitung anzutreten. Kordesch war sogar bereit, Radics das Überlassen der Redaktion zu honorieren: „[...] 50 fl. gebe ich Ihnen mit Tausend Freuden vom ersten Bezuge meiner Besoldung und stelle Ihnen diesen Betrag in jeder Weise sicher, dabei aber werde ich mich doch noch stets als Ihren ewigen Schuldner betrachten“ (MILADINOVIĆ

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ZALAZNIK3, S. 125). Wie von Tanja Žigon berichtet, schlug auch dieser Plan fehl (ŽIGON1; ŽIGON3, S. 75–77). Im Juni 1865 starb Puff in Maribor, wo er bestattet wurde. Sein Freund Kordesch überlebte ihn um 14 Jahre. Er, der er sein Leben lang in großen finanziellen Schwierigkeiten lebte, musste bis zu seinem Tod arbeiten, der ihn 1879 in Wien ereilte, wo er auch beigesetzt wurde. Im Nachlass Rudolf Puff, der im Steiermärkischen Landesarchiv (Graz) aufbewahrt wird, wurden 22 Briefe Kordeschs an Puff gefunden. Der erste ist mit 18. 4. 1838, der letzte mit 21. 6. 1853 datiert. Leider besitzen wir die Antworten Puffs nicht, genauso wenig übrigens wie einen Nachlass von Kordesch. Da sich aber Kordesch in seinen Briefen nicht selten auf die Entgegnungen Puffs bezieht, befinden wir uns mitunter in der günstigen Lage, glaubwürdig vermuten zu dürfen, was in einigen Antworten Puffs unter anderem geschrieben stand. In seinem ersten Brief an den steirischen Kollegen vom 18. 4. 1838 informierte Kordesch ihn, den er zu diesem Zeitpunkt entweder bereits persönlich gekannt und/oder mit ihm schon korrespondiert haben muss, darüber, dass er bei der Laibacher Buchhandlung Paternolli eine Anzeige dessen Schriften in Auftrag gegeben und sie aus der eigenen Tasche bezahlt habe. Seinem Schreiben legte er das Probeblatt Carniolias bei, das sich leider nicht erhalten hat. Diese Praxis, ein Probeblatt herauszubringen, die damals auch von etablierten Zeitungen gepflegt wurde, kann man als frühes Beispiel direkten Marketings deuten. Andere Krainer Zeitungen und Zeitschriften wie etwa die offizielle Laibacher Zeitung, deren KulturBeilage Illyrisches Blatt oder die slowenische Landwirtschaftszeitung Kmetijske in rokodelske novice warben ebenfalls um neue Abonnenten, u. z. mittels Anzeigen in der Laibacher Zeitung.7 Des Weiteren forderte Kordesch seinen Kollegen aus Maribor bereits in seinem ersten Schreiben auf, an der Carniolia mitzuwirken, vornehmlich „mit Sachen, die meinem Vaterland verwandt sind“ (KORDESCH, 18. 4. 7

Dem Intelligenz-Blatt vom 10. 4. 1838 wurde ein Probeblatt der Carniolia beigelegt, wo wohl angezeigt wurde, dass das zu erscheinende Blatt vorbestellt werden könne und wo, aber auch wer sein Redakteur sei. Nicht einmal dieses Probeblatt hat sich erhalten.

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1838). Puff willigte in die Mitwirkung wohl ein, denn bald mahnte ihn der Redakteur, ihm die versprochenen Beiträge doch noch rechtzeitig zuzuschicken. „Euer Wohlgeboren“, klagte er wenig später bitterlich, „haben sich […] als meinen Mitarbeiter an der Zeitschrift Carniolia erklärt und versprochen, Ihre Beiträge bis gegen Mitte Aprils anher gelangen zu machen“ (KORDESCH, 25. 4. 1838).8 Die 1. Nummer der Carniolia war am 1. Mai 1838 ohne einen Beitrag von Dr. Puff erschienen. Seine Novellette Der dankbare Krieger, um die ihn Kordesch so nachdrücklich ersucht hatte, erschien erst in der 3. Nummer der Laibacher Zeitschrift. Sie ist in der Tat eine vaterländische Geschichte, wie vom Redakteur verlangt, und handelt von kriegerischen Aktivitäten der Krainer gegen die Osmanen.9 Da Puff auch in Nachfolge, in all den 15 Jahren andauernder Korrespondenz mit Kordesch, offensichtlich sehr oft weder Gedichte noch Prosa rechtzeitig geschickt hatte, wandte sich Kordesch immer wieder an ihn mit der bangen Frage nach dem Grund seines Schweigens. Einmal gab er sogar zu, was von ununterbrochenen pekuniären Schwierigkeiten seines Unternehmens zeugt, seinem Autor bisher keinen Honorar gezahlt zu haben. Er versprach, dies unverzüglich nach Erhalt der Information, „wie viel Sie verlangen“, nachzuholen. Und da Puff in literarischen Kreisen kein unbekannter mehr war, was Kordesch wusste, wurde er dabei von der Sorge geplagt, Puffs Forderungen könnten sein schmales Budget übersteigen: „Daß Sie die Forderungen an einen anfangenden Redakteur 8

Bereits aus diesen ersten Briefen ist das große Problem des jungen und unerfahrenen Redakteurs im Umgang mit seinen Autoren zu ersehen: Auf der einen Seite haben wir den Autor (Puff), der seinen Verpflichtungen nicht termingemäß nachkommt, auf der anderen den vielgeplagten Redakteur (Kordesch), der sich um das fristgerechte Eingehen von Beiträgen kümmert, da ohne sie sein Blatt nicht erscheinen kann. Sein Druck auf Beiträger musste einerseits so sanft sein, dass sie sich dadurch nicht beleidigt, sondern beehrt fühlten, und andererseits so energisch, dass sie ihm ihre Beiträge doch noch schickten. Und da er außerdem nicht in der Lage war, das Honorar regelmäßig zu zahlen, war seine Position umso komplexer und die (fristgerechte) Mitarbeit der Beiträger umso ungewisser.

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Das Echo darauf, so Kordesch, sei so günstig, „[…] daß ich von Freunden und bedeutenden Männern aufgefordert werde, Euer Wohlgeboren hierüber das Kompliment auszusprechen und Sie zugleich wieder um eine baldige Einsendung höflichst zu ersuchen“ (KORDESCH, 20. 5. 1838).

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nicht überspannen werden, hoffe ich mit Zuversicht […]“ (KORDESCH, 16. 6. 1838). Solange Kordesch in Ljubljana als Redakteur Carniolias tätig war, das ist bis Mitte 1840, fungierte er auch, wie bereits erwähnt, als Puffs Vermittler. In dessen Geschäften mit der Buchhandlung Paternolli beaufsichtigte er z. B. das Bestellen von Puffs Werken. Dieses erfreute sich, wie Kordesch enttäuscht klagte, keines nennenswerten Erfolges: „In Betreff des Pränumerationsgeschäftes auf Ihre Werke bin ich auch recht unglücklich. Die Krainer wollen nun einmal nicht pränumeriren, wenn es ihnen nicht von der Kanzel herab befohlen wird“ (KORDESCH, 12. 2. 1839). Auch später noch hat Kordesch seinem Freund immer wieder Gefälligkeiten erwiesen. So betreute er Anfang der 1850er Jahre, diesmal als zweiter Redakteur der Grazer Zeitung, den Druck von Puffs „10 und einen halben Bogen“ (KORDESCH, 4. 5. 1853) umfassendem Taschenbuch. Möglicherweise ging es dabei um Marburger Taschenbuch für Geschichte, Landes- und Sagenkunde der Steiermark und der an dieselben grenzenden Länder, das 1853 in Graz erschienen war. Es war Kordeschs erklärter Ehrgeiz, in der Carniolia vaterländische Texte zu bringen. So wie er das in seinen Briefen an Puff explizierte, sind damit jene Texte gemeint, dessen Inhalt mit Krain in Verbindung stand, obwohl sich der Begriff des Vaterländischen damals sowohl auf das engere Vaterland Krain als auch auf die große Heimat – Habsburger Monarchie bezog (MILADINOVIĆ ZALAZNIK3, S. 32–33): „Was ists mit Balladen, Herr Professor? Was mit etwas historisch Vaterländischem? Könnten Sie unsere Galerie berühmter Krainer nicht um ein Paar Mann bereichern“? (KORDESCH, 10. 5. 1839). Äußerst brisant schien auch die Frage, was tun, wen der Autor (Puff) seine Texte diversen Zeitschriften anbot, und man (Kordesch) gerade einen Text von ihm bringen wollte oder sogar brachte, der kurz davor in einer anderen Zeitschrift, ebenfalls als Originalbeitrag, erschienen war. In Ljubljana, wie auch anderswo, legte man schon damals, als man in den Sachen Urheberrecht noch nicht so konsequent handelte wie heute, großen Wert auf Originalbeiträge. Haben die Leser festgestellt, nicht unbedingt einen

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Originalbeitrag gelesen zu haben, so hatten es die Redakteure mit ihren ärgerlichen Beschwerden zu tun (KORDESCH, 10. 5. 1839). Die Zeit vom 4. 11. 1839 bis zum 15. 11. 1843 ist dadurch gekennzeichnet, dass wir keine Briefe von Kordesch an Puff besitzen. Doch dürfen wir daraus nicht schließen, dass sie keinen Kontakt mit einander pflegten oder sich gar zerstritten hätten, was man aufgrund der vierjährigen Brief-Pause berechtigterweise annehmen könnte. Vielmehr haben sie sich in dieser Zeit weiterhin geschrieben und besucht. Gerade in diesen Jahren sind sie sich so nahe gekommen, dass sie sich, was wir den restlichen Briefen entnehmen können, nun duzten. In dem ersten erhaltenen Brief nach der vierjährigen Pause berichtete Kordesch seinem „herzlieben, hochverehrten Freund“, dass er die Redaktion der „verwaisten“ Carniolia zu übernehmen gedenke: „Die Zeitschrift erfährt [...] eine Zierde, die bisher an keiner deutschen Zeitschrift zu finden war; sie wird nämlich allmonatlich ein Costumebild in Großquart, illyrische Landestrachten in Doppelfigur, enthalten, und zwar ohne Erhöhung des Preises“. Und selbstverständlich ist in dem Schreiben auch von Honorarzahlungen die Rede: „[…] Da alle Honorare solid und sorglich nach dem Erscheinen des Aufsatzes berechnet und bezahlt werden; so wird der Zeitschrift an tüchtigen Mitarbeitern nicht fehlen“ (KORDESCH, 15. 11. 1843). Auch in den restlichen Briefen können wir uns über Kordeschs Bitten um Zusendung von Beiträgen informieren. Es fehlen auch weiterhin nicht die etwaigen Honorarversprechungen. Mitunter liest man darin, womit man eigentlich schon früher gerechnet hatte, sogar Privateres, so z. B. Ankündigungen von Besuchen Kordeschs beim Freund in Maribor und seine Wünsche, Puff möge ihn in Ljubljana besuchen. Am 8. 11. 1844 bat Kordesch seinen Freund erneut um Beiträge, ohne auch nur zu erwähnen, dass sich sein Krainer Unterhaltungsblatt Carniolia in so großen finanziellen Schwierigkeiten befand, dass er es nur bis Ende des Jahres würde erscheinen lassen können.10

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Am 31. Dezember 1844 betrugen die Schulden von Kordesch gegenüber dem Drucker der Zeitschrift, Josef Blasnik ((1800–1872), Miladinović Zalaznik5, S. 345–355), wie

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Aus dem nächsten Brief an Puff, der erst 13 Monate nach dem vorangegangenen verfasst wurde, geht hervor, dass Kordesch das Eingehen des Blattes, selbst aus gebührender zeitlicher Distanz, nicht leicht gefallen war: Ich falle Dir mit den gegenwärtigen Zeilen wohl gleichsam wie aus den Wolken […] allein, wenn man gezwungen ist, vom Schauplatze der Öffentlichkeit abzutreten, wie ich beim Einschlafen meiner lieben Carniolia, die nicht ich, sondern meine Krainer begruben […] was soll man da viel schreiben, klagen, lamentiren und Freunde belästigen? Da ich aber […] seit 1. Jänner, gleichsam wieder an das Tageslicht der Öffentlichkeit als Redakteur der „Laibacher Zeitung“ und des „Illyrischen Blattes“ getreten bin [...] so wende ich mich stracks wieder an meinen [...] allerältesten Mitarbeiter […] und ersuche Dich [...], mir mit umgehender Post bekannt geben zu wollen, ob ich noch auf Deinen verehrten Beistand rechnen könne [...]

Ganz am Schluss dieses Schreibens will Kordesch seinen langjährigen Freund und Mitarbeiter als Mitglied des 1843 gegründeten Historischen Vereins für Krain gewinnen: „Willst Du Mitglied unsers historischen Vereines werden und ihm jährlich nur einen kleinen historischen Aufsatz für sein Blatt [Mittheilungen des Historischen Vereins für Krain], welches hier erscheint, liefern? Schreibe mir darüber Deine Meinung und Du wirst das Diplom sogleich erhalten, welches ich auch habe“ (KORDESCH, 2. 2. 1846). Kordesch hat Carniolia als ein vaterländisches Unternehmen geleitet. Das ist auch dem Untertitel des Blattes zu entnehmen, der 1838–1843 Vaterländische Zeitschrift und Unterhaltungsblatt für Kunst, Literatur, Theater und geselliges Leben bzw. Vaterländische Zeitschrift und Unterhaltungsblatt für Kunst, Wissenschaft und geselliges Leben lautete. Vom Anfang an wollte er ihm eine slowenische politische Zeitung beilegen. Im letzten Jahrgang seines Erscheinens hieß das Blatt zwar nicht mehr vaterländisch, doch Kordesch wirkte als dessen Redakteur immer noch nach dieser Maxime. So zum Beispiel ließ er 1844 in Carniolia allmonatlich eine kolorierte Beilage erscheinen, auf der ein Paar in slowenischer Landestracht grafisch dargestellt war. Als Mitglied des Historischen Vereins für Krain war er ja verpflichtet, sich für den Erhalt aus dem Arbeitsbuch der Druckerei hervorgeht, stattliche 444 fl., was 144 fl. mehr war als das landesübliche Jahresgehalt eines Redakteurs.

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und Verbreitung alles Vaterländischen einzusetzen. Es liegt die Vermutung nahe, dass er zum Mitglied des Historischen Vereins für Krain (JANŠAZORN, 40–41) wurde, weil er sich des Vaterländischen als Autor und als Redakteur bereits vor der Gründung dieses Vereins im Jahr 1843 in Ljubljana angenommen hatte. Deswegen wollte er auch Puff, der ihm regelmäßig vaterländische Texte zum Abdruck überlassen hatte, als Mitglied gewinnen. Das Revolutionsjahr 1848, das bei uns unter anderem die Forderung nach einem Vereinten Slowenien innerhalb der Habsburger Monarchie (GRANDA) und eine scharfe Scheidung der Krainer in Slowenen und Deutsche mit sich brachte, wird in den Briefen an Puff leider weder kommentiert noch dokumentiert. Vielmehr schrieb Kordesch Anfang 1848 an den befreundeten Mitarbeiter nach Maribor seinen vorläufig letzten Brief: Was soll ich mir von Deiner classischen Saumseligkeit als Mitarbeiter des Illyrischen Blattes denken? – Oft schriftlich und neulich mündlich gegebenes Versprechen blieb und bleibt Versprechen. Denke doch nicht so stiefväterlich an unser Illyrisches Blatt; daß Du immer und häufig nur die „Stiria“ mit Deinen Beiträgen erfreust, eher auch nur die Brosamen Deines literarischen Tisches meinem Blatte zuzuordnen. Wenige Stunden reichen ja schon hin, daß wir hier etwas [...] von Dir lesen und ich hoffe mit aller Zuversicht, daß Du wenigstens bis Mitte Februar sicher mit irgend einem schätzbaren Beitrage überraschen werdest [...] (KORDESCH, 28. 1. 1848)

Ob und wie ihm Puff geantwortet hat, ist unbekannt. Wir wissen allerdings, dass sich Kordesch 1848 als Redakteur der beiden Laibacher Blätter, der Laibacher Zeitung und des Illyrischen Blattes, einigermaßen exponiert hatte, was ihn wenig später wohl die Stelle gekostet hat (MILADINOVIĆ ZALAZNIK1, S. 601–623). Und wir wissen auch, dass Puff nicht viel Interesse an politischer Gleichberechtigung der Slowenen an den Tag legte. Ob Kordeschs unsichere ökonomische und berufliche Verhältnisse – er musste sein Hab und Gut wie auch die gute Kleidung seiner Frau entweder verpfänden oder verkaufen, um zu überleben (MILADINOVIĆ ZALAZNIK3, S. 132) – neben den politischen Umständen auch einer der Gründe für eine wiederholte, diesmal fünfjährige Lücke in der erhaltenen Korrespondenz an Puff waren, kann man heute nicht mehr mit Sicherheit ausmachen. Es steht aber fest, dass Kordesch und Puff den gegenseitigen Kontakt nicht verloren haben. 71


Nachdem Kordesch 1849 die Stelle des Redakteurs der Laibacher Zeitung und des Illyrischen Blattes verlustig und nachdem sein Plan der Gründung eines slowenischen Theaters von den eigenen Landsleuten vereitelt wurde (MILADINOVIĆ ZALAZNIK5, S. 78)11, begab er sich nach Graz, um dort eine neue Zeitschrift, Der Magnet herauszugeben. Nach dessen Eingehen – dem Blatt war nicht einmal ein einjähriges Erscheinen beschieden – wurde er zum zweiten Redakteur der Grazer Zeitung und wandte sich in dieser Eigenschaft, nach den nachgelassenen Briefen zu urteilen, nur noch zweimal an seinen Freund. In seinem letzten Schreiben erfreute er seinen lieben, teuren „Bruder“ mit der Botschaft, dass die Rezension dessen Werks Marburger Taschenbuch für Geschichte, Landes- und Sagenkunde der Steiermark und der an dieselben grenzenden Länder „[…] zuverläßig zwischen morgen und übermorgen“ erscheinen würde. Gleichzeitig kündigte er an, dass er „mit diesem Briefe die Dir bekannte Rezension […] an meinen Freund Bäuerle einsende, und ihm verspreche, daß Du ihm alsogleich ein Exemplar deines Taschenbuches zukommen machen werdest, um was ich Dich auch hiermit ersuche“ (KORDESCH, 21. 6. 1853; Hervorhebung im Original). Dieser letzte Brief an Puff kündigt das weitere Einsetzten des Krainer Autors für seinen steirischen Kollegen und weist darauf hin, dass Kordesch nicht nur als Journalist, Publizist und Redakteur tätig, sondern mit den Kollegen aus anderen Teilen der Monarchie auch gut vernetzt und nicht ohne Einfluss war. Warum wir aus der späteren Zeit keine Briefe von Kordesch an Puff haben, kann heute nicht mehr ausgemacht werden. Fest steht, dass Puff bis zu seinem Tod im Juni 1865, d. h. noch gute 12 Jahre nach dem letzten Brief seines Freundes an ihn, in Maribor lebte, während Kordesch in dieser Zeit in Wien, in Böhmen, aber auch in Triest, Ljubljana, Zagreb, Graz und Görz nach einer adäquaten Arbeit Ausschau hielt. Noch im Jahr 1870 berichtete jenes Blatt, dessen erster Redakteur Peter von Radics (ŽIGON2) nach seinem Abgang aus Zagreb wurde, nämlich Triglav, ein deutsches Blatt für slowenische Interessen (ŽIGON1), mit unverhohlener Ironie über Kordesch:

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Erst 1867 wurde in Ljubljana der Verein Dramatično društvo als der Vorgänger des slowenischen Volkstheaters gegründet (MILADINOVIĆ ZALAZNIK5, S. 80).

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– („Die Görzer Zeitung“,) welche unter der Redaktion des „vaterländischen“ Literaten Herrn Penn glücklich einging, soll nochmals auferstehen, und zwar unter der Redaktion des einstens bekannten Schriftstellers Leopold Kordesch, welcher als Honorar 1200 Gulden bekommen soll. Es ist edel, wenn man eine Zeitung gründet, um einem verkommenen Genie auf die Beine zu helfen; einen anderen Zweck hat ein deutsches Blatt in Görz nicht (Anonym).

Diese kleine Notiz, die unter der Leitung des letzten Redakteurs von Triglav, Jakob Alešovec (1842–1901) in der Rubrik Lokales erschien, zeugt einmal mehr von der großen Abneigung des Dr. Janez Bleiweis (1808– 1881), der einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf das Blatt ausübte, gegenüber Kordesch. Man fragt sich heute freilich auch, aus welchen Gründen eine deutsche Zeitschrift in Görz weniger angebracht und wünschenswert gewesen wäre als es Triglav, ein deutsches Blatt in Ljubljana war. Besonders anrüchig ist dabei der Umstand, dass gerade Bleiweis derjenige war, der sich mit voller Wucht für das Erscheinen von deutschem Triglav einsetzte und sich somit vehement gegen die Aspirationen vom Lyriker, Erzähler, Dramatiker, Essayisten und Publizisten Fran Levstik (1831–1887) und dessen Umkreis stellte, die ein slowenisches Blatt in Ljubljana herausgeben wollten. Und die schnelllebige slowenische Nachwelt, wie steht sie zu den beiden Autoren? Sie hat den einen – Kordesch – mehr, den anderen – Puff – weniger vergessen. Die heutigen Slowenen erachten nicht einmal die Tatsache für erinnerungswürdig, dass Kordesch im Juni 1838 als erster eine slowenische politische Zeitung gründen wollte, wofür er freilich keine Erlaubnis der k. k. Polizei- und Zensurhofstelle in Wien bekam. Eine späte Folge seiner Bemühungen war die Gründung der Landwirtschaftszeitung Kmetijske in rokodelske novice (kurz: Novice, 1843–1902), die mit der Unterstützung des Erzherzogs Johann (1782–1859), nach fünfjährigen Anstrengungen der Krainer Slowenen, vor allem des Druckers Josef Blasnik (MILADINOVIĆ ZALAZNIK5), erfolgte. Alle Verdienste für ihre Gründung werden heute einem bitteren Gegner von Kordesch, dem ersten Redakteur von Novice, Janez Bleiweis zugeschrieben, der erst 1843 zu diesem Projekt gestoßen ist, dafür aber bis zu seinem Tod das Blatt redaktionell leitete. Der Name von Kordesch wurde auch in diesem Fall konsequent verschwiegen, so dass bloß der Vater der Nation, wie man Bleiweis auch heute noch nennt, in seinen vaterländischen Bemühungen,

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die nicht immer als slowenisch-vaterländisch zu verstehen sind (vgl. sein Engagement um die Gründung des deutschen Blattes Triglav, ŽIGON2, S. 97–117), vor der heutigen Generation der Slowenen Anerkennung findet. Kordesch aber, der von sich sagen konnte, „[v]on Geburt ein Slawe, schätzt er zwar die slawische Literatur, befaßt sich aber selbst von je nur mit der deutschen“ (MILADINOVIĆ ZALAZNIK2, S. 113), erfuhr weder Anerkennung noch Erbarmen in den Augen seiner Landsleute. Zum Verhängnis wurde ihm sein Schaffen in der deutschen Sprache, das von den nachfolgenden Generationen der Slowenen, vor allem nach den Zäsuren in den Jahren 1848, 1918 und 1945, als Verrat an eigener, slowenisch-vaterländischer Sache empfunden wurde. Bezeichnenderweise hält der Historiker Joachim Hösler Kordesch für einen entschlossenen Kämpfer um slowenische Interessen und „national-bewusste[n] Slowene[n]“ (HÖSLER, S. 93), der dem Hause Habsburg nicht ultra-loyal ergeben war wie etwa der bis zum heutigen Tag als unerschrockene Verfechter slowenischer Interessen verherrlichte Bleiweis (HÖSLER, S. 87). Puffs Interesse für Slowenisches fand dagegen Gnade und Anerkennung in den Augen der Slowenen. Sein Werk Marburg in Steiermark. Seine Umgebung, Bewohner und Geschichte wurde ins Slowenische übertragen und ist unter dem Titel Maribor. Njegova okolica, prebivalci in zgodovina 1999 daselbst erschienen. Nicht einmal das Puffsche verständnislose Verhalten den slowenischen politischen und kulturellen Aspirationen im revolutionären Jahr 1848 gegenüber konnte ihm diesbezüglich in den Augen der Slowenen schaden. Die 15jährige Einweg-Korrespondenz von Kordesch an Puff umfasst, wie bereits erwähnt, 22 Briefe. Es handelt sich dabei meist um geschäftliche Schreiben, die der Redakteur an seinen Mitarbeiter und Freund schickte, ihn dabei um literarische Beiträge und um Einhaltung der Fristen bittend oder ihm Informationen zu Honoraren mitteilend. Es wird daraus auch ersichtlich, dass Kordesch nicht nur als Redakteur, sondern auch als Mittler in diversen kulturellen Angelegenheiten, sei es Puff, sei es andere Autoren betreffend, tätig war. Beachtenswert ist in diesem Zusammenhang, dass nur wenige Passagen der erhaltenen Briefe rein privater Natur sind, wobei darin nie von Kindern die Rede ist. Nur einmal wird die Frau von Kordesch erwähnt (KORDESCH, 21. 6. 1853), und auch das nur deswegen, weil er trotz

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ihres Namenstags (Luise) gerade an so einem Tag einen Brief an Puff verfasst und abgeschickt hatte. Die Briefe an Puff, obwohl wir die Antworten des Adressaten nicht kennen, sind ein wertvoller Beitrag zur Kulturgeschichte Krains. Mit ihrer Hilfe lassen sich Lücken im Leben der beiden Literaten schließen und wenig Bekanntes oder gar Unbekanntes aus ihrem Umfeld ermitteln. Besonders aufschlussreich scheint mir, dass sich durch diese Briefe die Arbeit eines Redakteurs in Ljubljana, die wohl ähnlich war wie die Arbeit eines jeden Redakteurs in der Monarchie, relativ genau belegen lässt: Zum einen die ständige finanzielle Not, die Schwierigkeiten, Honorare und Druckkosten zu zahlen wie auch der stetige Kampf um Manuskripte und ihr rechtzeitiges Verfassen bzw. Abschicken. Dass die Blätter damals überhaupt rechtzeitig erscheinen konnten, ist ein Wunder, bedenkt man dabei den Umstand, dass weder die Redakteure noch die Autoren auf die technischen Wohltaten wie Internet zurückgreifen konnten. Nicht einmal der Schreibmaschine oder des Telefons konnte man sich damals bedienen. Alle anfällige Arbeit musste per Hand erledigt, die Texte per Post geschickt und manuell gesetzt werden. Man brauchte viel Organisationstalent und Ausdauer dafür, dass ein belletristisches Blatt wie Carniolia pünktlich zweimal wöchentlich erscheinen konnte. Gerade auch aus diesem Grund scheint es angebracht, am Schluss des vorliegenden Beitrags noch einmal hervorzuheben, dass sowohl Kordesch als auch Puff äußerst arbeitswillig waren – ob immer aus Neigung oder mitunter auch aus Not mag dahin gestellt werden –, und ihre Begabung, Wissen, Fleiß und Konnexionen in jenen historisch aufregenden Zeiten in den Dienst der Erhaltung alles deutsch und slowenisch Vaterländischen gestellt haben.

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Mira Miladinović Zalaznik “Professor, I am kindly asking you, to make me as soon as possible the pleasure of sending me some of your articles”. Leopold Kordesch in His Letters to Gustav Rudolf Puff Summary The author, editor and journalist Leopold Kordesch and the grammar-school teacher and impresario Gustav Puff were regional writers in the Habsburg monarchy. They lived and worked in its southernmost part, which was multilingual and multicultural. Kordesch worked as an editor in Ljubljana and Graz and as such even considered leaving for Mexico in order to publish a German journal there, while Puff taught at a grammar-school, collected folk tales, explored foreign landscapes, especially thermal spas, and wrote travelogues and literary texts. Kordesch's letters to Puff show a long working collaboration and friendship between the two men, who were connected beyond national boundaries (Kordesch was of Slovenian and Puff of German origin), supported each other, held each other in high esteem and cultivated their friendship. These letters also enable us to reconstruct, to a certain extent, the work of a journal editor. As active members of historical associations, Kordesch and Puff made every effort to collect and support Slovenian- and German-homeland activities in order to hand them over to future generations. Key words: Carniolia, Laibacher Zeitung, Illyrisches Blatt, Agramer Zeitung, Der Magnet, Triglav, historical association Historischer Verein für Krain, Slovene Theatre, Slovene University, Homeland Activities

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ZWISCHEN KUNSTANSPRUCH UND PUBLIKUMSGESCHMACK: KOTZEBUE UND DER KROATISCHE VORMÄRZ Marijan Bobinac Universität Zagreb (mbobinac@ffzg.hr) Zusammenfassung Der Beitrag gibt eine Übersicht über die Wirkung von Kotzebues Unterhaltungstheaterproduktion im deutschsprachigen Raum wie auch bei den slawischen Nationen mit einem Fokus auf die pragmatische Rezeption Kotzebues zur Aufstockung des kroatischsprachigen Repertoires im Entstehungsprozess des kroatischen Nationaltheaters: erstens in der zweisprachigen deutschen und kroatischen Phase 1840 bis 1860 und zweitens in der ausschließlich kroatischen Phase 1860 bis 1877. Kotzebue, lange einer der populärsten Dramatiker im kroatischen Theater, wurde seit 1877 nicht mehr im kroatischen Nationaltheater aufgeführt. Diese Arbeit schließt eine Lücke in der kroatischen Theaterforschung, die lange eine elitistische Ästhetik bevorzugte und den durchaus wichtigen Anteil der trivial-unterhaltenden Publikumsdramaturgie in der Theatergeschichte bei Seite ließ. Stichwörter: August von Kotzebue, Wiener Burgtheater, Zagreber deutschsprachiges Theater, Illyrische Bewegung in Kroatien im 19. Jahrhundert, Kroatisches Nationaltheater, Germanisierung, Theaterkritik, deutsch-kroatische Theaterkontakte, Kotzebues Rezeption in Kroatien und in anderen slawischen Ländern, Adaption im kroatischen Kontext, Theaterrepertoire, pragmatische Theaterpolitik, Dimitrija Demeter.

1. Das Repertoire des kroatischen Nationaltheaters zeigt, dass die ersten vier Jahrzehnte seiner Existenz, der Zeitraum zwischen 1840 und 1880, in vielerlei Hinsicht von Bühnenwerken geprägt waren, die aus der Feder des damals weltweit berühmten Dramatikers August von Kotzebue (1761– 1817) stammen. Diese Feststellung gilt gleichermaßen für die Zeit zwischen 1840 und 1860, als im Zagreber Theater neben den deutschsprachigen immer wieder auch kroatische Vorstellungen aufgeführt wurden, wie für die beiden darauf folgenden Jahrzehnte, in deren Verlauf das kroatische Ensemble allmählich aufgebaut wurde und zu einer respektablen Theaterinstitution heranwuchs. Die Frage nach der Gründung

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eines Nationaltheaters mit Vorstellungen in der neuen Standardsprache, die Frage, die im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts akut wurde, ging Hand in Hand mit der Frage nach der Gestaltung eines entsprechenden Spielplans. Dass sich die führenden Vertreter der illyrischen Bewegung, d. h. kroatischen nationalen Integration für historische Tragödien einheimischer Autoren als den Kern des Repertoires der künftigen Bühne einsetzten, liegt auf der Hand. Aber auch auf ‚niedere’ Theatergattungen wollten sie nicht verzichten, wobei sie gerade die Bearbeitungen populärer Bühnenwerke wie jener Kotzebues – wie noch zu zeigen sein wird – als ein geeignetes Vehikel für die Vermittlung neuer, gesellschaftskritischer Inhalte betrachteten. Einen großen Anteil am komischen Repertoire der Zagreber Bühne hatten im untersuchten Zeitraum – neben verschiedenen Genres des Wiener Volkstheaters – insbesondere die Bühnenwerke von Kotzebue. Schon in den Anfängen dieser Rezeption, als die Anzahl der aufgeführten Stücke noch gering war, konnte man ein gewisses Unbehagen kroatischer Intellektuellen verspüren. Hielten sich die Proteste gegen das ‚niedere Possenspiel’ in den ersten beiden Jahrzehnten eher in Grenzen – man war schließlich froh, dass überhaupt auf kroatisch gespielt wurde –, so nahmen die führenden Persönlichkeiten des Zagreber Theaterlebens nach 1860 – als auf der Bühne nur noch kroatisch gesprochen wurde – hinsichtlich der populären Stücke deutschsprachiger Autoren diametral entgegengesetzte Positionen ein. Den Mangel an einheimischen Bühnenwerken, die sich für das Repertoire der neubegründeten kroatischen Schaubühne verwenden ließen, suchten die Illyristen, die Vertreter der nationalen Wiedergeburtsbewegung in den dreißiger und vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts, durch Übersetzungen fremdsprachiger, und insbesondere deutschsprachiger Dramen zu beheben. Es liegt auf der Hand, dass sie sich bei der Bestimmung des Spielplans v. a. an jenen Autoren hielten, deren Werke im zeitgenössischen Zagreb aus den Aufführungen deutscher Schauspielertruppen bekannt waren. Unter den übersetzten Autoren taucht am häufigsten der Name August von Kotzebue auf: Der weitaus erfolgreichste deutsche Dramatiker des 19. Jahrhunderts, der insbesondere für seine moralisierend-sentimentalen Schauspiele und Komödien berühmt war, lieferte leicht transponierbare dramaturgische Modelle, nach denen nicht nur die kroatischen, sondern auch die

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Theaterenthusiasten anderer Länder Mittel-, Ost- und Südosteuropas bei der Gestaltung der Spielpläne ihrer Nationaltheater gegriffen hatten. Die „schauspielerisch und inszenatorisch oft einfachen und anspruchslosen Stücke“ des deutschen Dramatikers boten nämlich ein unentbehrliches „Einschulungs-Repertoire“1 für die Anfangsphase der neuen nationalen Bühne. Stark vereinfachend gesagt hat Kotzebue – neben August Wilhelm Iffland – eine vergleichbare Rolle schon in Deutschland an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert erfüllt, als es darum ging, ein Repertoire zahlreicher neubegründeter Bühnen aufzubauen. Die beiden Autoren haben – indem sie den Anforderungen der Theater folgten – eine erstaunlich große Dramenproduktion entwickelt: Iffland schrieb rund 65 Stücke, Kotzebue sogar 230 Stücke. 2 Wie Iffland verfügte auch Kotzebue über ausgezeichnete Kenntnisse der dramatischen Technik; im Unterschied zu seinem Zeitgenossen und Konkurrenten, der mehr auf Darstellung häuslichbürgerlicher Verhältnisse ausgerichtet war, zeigte Kotzebue eine ausgeprägte Affinität für das gesellschaftlich Aktuelle, so dass sein opulentes Theaterwerk auch bedeutende soziologische Einsichten vermitteln konnte. Bemerkenswert sind auch sein geschickter Sprachstil und fließende Dialoge sowie sein Vermögen, allgemein verständliche, klare Geschichten zu konstruieren und damit auch eine enorme Wirkung im emotionalen Bereich zu erzielen. Wie kein anderer Zeitgenosse konnte er eine wichtige Voraussetzung für anhaltende Erfolge3 erfüllen: Ihm war es 1

Walter Puchner: Historisches Drama und gesellschaftskritische Komödie in den Ländern Südosteuropas im 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1994, S. 65. 2 Zum Leben und Werk Kotzebues vgl.: Benno von Wiese: Einführung. In: August von Kotzebue: Schauspiele. Hg. v. Jürg Mathes, Frankfurt a.M. 1972, S. 7–39 (im Weiteren kurz zitiert als v. Wiese); Karl-Heinz Klingenberg: Iffalnd und Kotzebue als Dramatiker, Weimar 1962 (im Weiteren kurz zitiert als Klingenberg); Gerhard Schulz: Die deutsche Literatur zwischen Französischer Revolution und Restauration, Bd. 1, München 1983, S. 472–478 (im Weiteren kurz zitiert als Schulz); Jörg F. Meyer: Verehrt. Verdammt. Vergessen. August von Kotzebue Werk und Wirkung, Frankfurt a. M. 2005. 3 Am Wiener Burgtheater, das als die führende deutschsprachige Bühne häufig zum Vergleich herangezogen wird, wurden zwischen 1789 und 1881 114 Stücke Kotzebues in insgesamt 3782 Aufführungen gespielt, ein Erfolg, dem sich im betrachteten Zeitraum nur Schiller mit 1911, Iffland mit 1329 und der österreichische Komödienautor Eduard von Bauernfeld mit 1126 Spielabenden annähern konnten.

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nämlich klar, dass er „keine klassenspezifische Moral verkünden darf“; denn: „Wer alle beliefern will, baut in seine Werke eine mehrfache Moral ein, so daß möglichst viele auf der Basis ihrer jeweiligen verschiedenen Vorurteile einen Anknüpfungspunkt vorfinden und dem Produkt zunicken.“4 Gerade am moralischen Relativismus, einer Art „epikureischer Bequemlichkeit“ (Albertsen, S. 235), lässt sich auch Kotzebues geschichtsphilosophische Konzeption festhalten: an eine Zukunftsutopie glaubt er nicht, sein Werk prägt vielmehr die ‚ewige Wiederkehr des Immergleichen’. Niemals wird bei ihm daher ein moralischer Standpunkt gegen einen anderen ausgespielt; stattdessen laufen in seinen Stücken „mehrere Ideale nebeneinander und zugleich gegeneinander“ (ebda) einher. Diese Ambivalenz und der damit verbundene Bühnenerfolg mag auch für Nietzsche ein wichtiger Grund gewesen sein, Kotzebue als das „eigentliche Theatertalent der Deutschen“ zu bezeichnen. In seiner Schrift Menschliches, Allzumenschliches kritisiert Nietzsche nämlich den idealistischen Grundsatz, wonach das Theater v. a. zur Bildung und nicht zur Unterhaltung dienen sollte, einen Grundsatz, der seiner Meinung nach nicht nur positive, sondern auch negative Folgen hatte. Der Verlogenheit der ‚Bildungsphilister’, die ein substanzloses Klassikertheater verehren, stellt Nietzsche Kotzebues „ehrliche[n] Erfolg“ entgegen: […] als der erwachende nationale Ehrgeiz auch dem Ruhme der deutschen Dichter zugute kam und der eigentliche Maßstab des Volkes, ob es sich ehrlich an etwas freuen könne, unerbittlich dem Urteile der einzelnen und jenem nationalen Ehrgeize untergeordnet wurde – das heißt, als man anfing sich freuen zu müssen – , da entstand jene Verlogenheit und Unechtheit der deutschen Bildung, welche sich Kotzebues schämte, welche Sophokles, Calderon und selbst Goethes FaustFortsetzung auf die Bühne brachte und welche ihrer belegten Zunge, ihres

Hinzuzufügen wären noch ca. 150 Aufführungen von Kotzebues Werken im 20. Jahrhundert (vgl. Klingenberg sowie Otto Rub: Das Burgtheater. Statistischer Rückblick auf die Tätigkeit und die Personalverhältnisse während der Zeit vom 8. April 1776 bis 1. Januar 1913 […], Wien 1913). 4 Leif Ludwig Albertsen: Internationaler Zeitfaktor Kotzebue: Trivialisierung oder sinnvolle Entliterarisierung und Entmoralisierung des strebenden Bürgers im Frühliberalismus?, „Sprachkunst“, 2/1978, S. 220–240, hier S. 226 (im Weiteren kurz zitiert als Albertsen).

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verschleimten Magens wegen zuletzt nicht mehr weiß, was ihr schmeckt, was ihr langweilig ist.5

Die Ablehnung Kotzebues durch die deutsche Literaturgeschichtsschreibung und Publizistik des 19. Jahrhunderts wurde bereits durch zahlreiche politische und ästhetische Streitigkeiten vorbereitet, die der populäre Dramatiker mit verschiedenen bekannten und unbekannten Gegnern zeit seines Lebens auszutragen pflegte. So richtig es zweifellos ist, dass Kotzebues Dramaturgie, wie die neueren Forschungen gezeigt haben, viele emanzipative Momente enthält, so wäre es doch falsch, ihre Schablonenhaftigkeit außer Acht zu lassen. Ihre ursprüngliche Frische verfiel nämlich bald dem Zwang aller Trivialliteratur – d. h. zu wiederholen und zu variieren, wo nichts wirklich Neues zu sagen ist. Das Rührende, das oft als wesentlich für Kotzebues Trivialität bezeichnet wurde, kann man allerdings nicht als etwas Verwerfliches betrachten; die Gefühle können nämlich durchaus in Zusammenhang mit Humanität gebracht werden. Was seine Bühnenwerke eigentlich trivial macht – wie Gerhard Schulz überzeugend nachweist (vgl. Schulz, S. 472 ff.) –, ist die Leichtigkeit, mit der die humanen Grundsätze zum Siege gelangen. Mit seinen aktuellen Themen konnte nämlich Kotzebue die Zuschauer überzeugen, sie wohnen echten und realistischen Konflikten bei; in Wahrheit wurde aber die Auseinandersetzung mit den realen Ursachen gesellschaftlicher und privater Konflikte völlig ausgespart. Wie Kotzebue – trotz allem moralischen Relativismus seiner Werke – Klassengegensätze geschickt auszusöhnen und radikale Lösungen seiner Konflikte immer zu vermeiden wusste, so ließ er sich in seinen Stücken auch auf keine formalen Abenteuer ein. Im Unterschied zu seinen romantischen Zeitgenossen, deren bewusst hermetisch gestaltete ästhetische Strategien auf keinen Anklang beim Publikum stießen, blieb er grundsätzlich beim dramaturgischen Rezept, das sich bereits in seinem ersten Bühnenerfolg Menschenhass und Reue (1788) bewährt hatte, auch in den folgenden drei Dezennien seiner Theaterkarriere. An das bürgerliche Trauerspiel und die europäischen Lustspieltraditionen von Molière bis 5

Friedrich Nietzsche: Werke I. Hg. v. Karl Schlechta, Frankfurt a. M. u. a. 1972, S. 600f.

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Goldoni anknüpfend, verschmolz Kotzebue das Rührend-Sentimentale und das Aktuell-Satirische zu einem Ganzen, das sich weder im inhaltlichen noch im formalen Sinne als problematisch erwies. Obwohl seine Dramaturgie – wie gesagt – auf der Perpetuierung gängiger Muster beruht, musste sich Kotzebue immer dem veränderten Publikumsgeschmack anpassen. Sein Schaffen lässt sich daher gattungsmäßig nicht als einheitlich bestimmen: Während das Frühwerk vom Rührstück dominiert wird, verlagert sich seine Produktion in späteren Zeiten immer mehr auf verschiedene Varianten des Lustspiels. Es wäre falsch, wollte man Kotzebue die dramaturgische „Überrumpelung des Zuschauers“6 vorwerfen. Im Gegenteil, mit seinem ästhetischen Instrumentarium, das keine extravaganten Formen und keine komplizierten Konflikte enthält, erarbeitete er eine ‚Dramaturgie des Publikums’, die sich als dauerhaft erfolgreich erwies. Dass sie lange auch die elitären Bühnen, allen voran das Wiener Burgtheater beherrschte, hängt – wie gesagt – mit dem Vermögen Kotzebues zusammen, ein allgemeines, verschiedene dramatische Traditionen verschmelzendes Muster aufzubauen, das vor keinen Bühneneffekten scheute, die Emotionen des Zuschauers berücksichtigte und ein genuines Theaterspiel ermöglichte. Es kann daher nicht überraschen, dass die internationale Wirkung der Dramatik Kotzebues schon früh ansetzte und nicht nur beispielsweise im damals theatermäßig hoch entwickelten angelsächsischen Sprachraum zum Vorschein kam, sondern auch die Entwicklung einer modernen Schaubühne in Ländern wie Kroatien entschieden in Bewegung brachte. Hat man die erstaunlich intensive Rezeptionsgeschichte Kotzebues in Kroatien vor Augen, so verwundert es, dass ihr bisher – sieht man von einer älteren Arbeit ab7 – nur wenig Aufmerksamkeit der Theaterforscher gewidmet wurde. In kroatischen Literatur- und Theatergeschichten wiederholen sich Hinweise auf den Wirkungsgrad des deutschen Dramatikers, ohne ihn jedoch einer eingehenderen Analyse zu würdigen. 6

Roswitha Flatz: Das Bühnen-Erfolgsstück des 19. Jahrhunderts. In: Walter Hinck (Hg.): Handbuch des deutschen Dramas, Düsseldorf 1980, S. 301–310, hier S. 305. 7 Milan Ćurćin: Kotzebue im Serbokroatischen, „Archiv für slavische Philologie“, 30/1909, S. 533–555 (im Weiteren kurz zitiert als Ćurćin).

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Der Frage, ob dieses Desinteresse mehr mit dem zweifelhaften Ruf Kotzebues oder mit dem Mangel an geeigneten Forschungsmethoden zusammenhängt, kann hier allerdings nicht näher nachgegangen werden. Im Gegensatz zur Forschungslage in der kroatischen Rezeption des Erfolgsdramatikers wurden umfangreichere Studien über dessen Rolle in der Entstehung des russischen und slowenischen Nationaltheaters auch in der neueren Zeit vorgelegt.8 Die Erkenntnisse, zu denen ihr Verfasser, der deutsche Slawist Gerhard Giesemann kommt, sind heute noch richtungweisend und sollen auch in unserem Zusammenhang berücksichtigt werden, zumal die Abhandlung über Kotzebue auf der slowenischen Bühne auch zahlreiche Hinweise auf die Zustände im kroatischen Theaterbetrieb des 19. Jahrhunderts und namentlich auf die Kotzebue-Rezeption enthält. In seiner Studie über die slowenische Rezeption Kotzebues zeigt Giesemann, wie sich das Bühnenwerk des deutschen Dramatikers bei der Begründung des slowenischen Nationaltheaters – genauso wie mehr als ein halbes Jahrhundert zuvor in Russland – verwenden ließ. Hier wie dort, aber auch in den Anfangsstadien moderner Theaterwesen in den Ländern Mittel, Ost- und Südosteuropas ging es zunächst darum, dass man neben anderen organisatorischen und dramaturgischen Voraussetzungen (v. a. Aufführungsraum, Existenz von Schauspielertruppen, eine moderne Literatursprache) ein Repertoire an geeigneten Bühnenwerken sichern musste. Die Theateraktivisten waren sich dabei der Tatsache bewusst, dass das Kriterium der ästhetischen Qualität von zweitrangiger Bedeutung war; weitaus wichtiger erschien ihnen die unkomplizierte sprachliche Struktur der Stücke sowie ihre Spielbarkeit und Bühnenwirksamkeit, Qualitäten, die man – wie Giesemann überzeugend nachweist – v. a. von der Dramatik Kotzebues erwarten konnte. In seiner rezeptionsästhetisch fundierten Studie setzt Giesemann den Akzent auf den Wandel des Publikumsgeschmacks und auf die damit 8

Gerhard Giesemann: Kotzebue in Rußland. Materialien zu einer Wirkungsgeschichte, Frankfurt a.M. 1971 (im Weiteren kurz zitiert als Giesemann 1970); Gerhard Giesemann: Zur Entwicklung des slowenischen Nationaltheaters. Versuch einer Darstellung typologischer Erscheinungen am Beispiel der Rezeption Kotzebues, München 1975 (im Weiteren kurz zitiert als Giesemann 1975).

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zusammenhängende Spielplangestaltung in den Anfangsphasen des Nationaltheaters in Russland, Tschechien, Serbien und Kroatien und vergleicht die gewonnenen Ergebnisse mit den Zuständen in Slowenien. Es wird nämlich deutlich, dass die im Grunde gleich bleibenden Rahmenbedingungen der Theatergründungen in einzelnen slawischen Ländern, die sich zeitlich fast über ein ganzes Jahrhundert erstrecken, von jeweils vergleichbarem Übersetzungsrepertoire aus dem Schaffen Kotzebues begleitet werden. Giesemann geht von der in der Forschung üblichen Dreiteilung der Dramatik Kotzebues auf (1) Rührstücke, (2) Mischformen (comèdie larmoyante) und (3) Lustspiele aus, wobei er auch innerhalb dieser drei Gruppen mehrere Stücktypen unterscheidet; diese Untergliederung ist für unseren Zusammenhang insofern von Bedeutung, als innerhalb der ersten Gruppe das für Kroatien – wie noch zu zeigen sein wird – sehr wichtige Genre des historischen Rührstücks erwähnt wird. Die Verschiebung des Interesses vom Rührstück zum Lustspiel, die sich in den ersten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, d. h. noch zu Lebzeiten des Autors bemerkbar macht, kann zeitgleich – so Giesemann – in der russischen Rezeption verfolgt werden. Nicht viel anders, nur zeitlich verschoben, verläuft die Kotzebue-Rezeption bei den Tschechen, Kroaten, Serben und Slowenen, ein Prozess, der größtenteils auch mit den Wiedergeburtsbewegungen dieser Nationen im 19. Jahrhundert korrespondiert. Als ihr primäres Ziel sahen die Theateraktivisten dieser Bewegungen v. a. die Aufstockung eines Repertoires für die neuentstehenden Nationalbühnen an und griffen dabei nach jenen Stücken des deutschen Dramatikers, die sie vom aktuellen Spielplan des Wiener Burgtheaters oder der deutschsprachigen Theater ihrer Länder kannten. Von besonderer Bedeutung zeigt sich beim Transfer der Kotzebue-Texte die Gegenüberstellung von Stücktypen, die in den genannten slawischen Ländern zur Aufführung kamen. Wichtig sind dabei auch die schon erwähnten Unterschiede in der zeitlichen Staffelung der intensivsten Aufnahme des Kotzebue’schen Dramenwerks: Während sie in Russland an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert liegt, erfolgt sie bei den kleineren slawischen Nationen zu einem späteren Zeitpunkt: „Das tschechische Theater hat die Mehrzahl der Übertragungen von 1810 bis in die 40er Jahre

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aufzuweisen, während diesbezügliche Veröffentlichungen im serbischen und kroatischen Raum hauptsächlich in die Zeit der 30er bis 50er Jahre fallen. Das slowenische Theater schließt sich an, der überwiegende Teil der übersetzten Stücke Kotzebues fällt in die 50er bis 80er Jahre.“ (Ebda, S. 14) Giesemann stellt auch Übereinstimmungen in der Drucklegung übersetzter Texte fest: Im Gegensatz zu Russland, wo eine 16-teilige Kotzebue-Ausgabe unmittelbar nach 1800 erschienen ist, wurden die Übersetzungen in kleinere slawische Sprachen in der Regel in den zur Aufstockung des nationalsprachlichen Spielplans gegründeten Theatersammlungen veröffentlicht: die tschechischen Übertragungen wurden zumeist in den Reihen „Divadlo“ (20er Jahre), „Divadelni ochotnik“ (60er bis 70er Jahre) und „Divadelni biblioteka“ (60er bis 70er Jahre), die kroatischen in „Izbor igrokazah ilirskoga kazališta“ (40er Jahre), die serbischen in „Srbske Novine“ (50er Jahre) und die slowenischen in „Slovenska Talija“ (60er bis 80er Jahre) gedruckt. Weitgehend übereinstimmende Trends ergeben sich – wie Giesemann zeigt – auch hinsichtlich der gattungsmäßigen Struktur der übersetzten Stücke Kotzebues: So wurden für das russische Theater bis 1820 ca. sechzig Texte übersetzt, wovon zwei Drittel zum Rührstück und zur Mischform gehören; in der darauf folgenden Zeit, in der ca. dreißig weitere Werke ins Russische übertragen wurden, war das Verhältnis zwischen dem Rührstück und der Mischform auf der einen und dem Lustspiel auf der anderen Seite genau umgekehrt. Die etwas später einsetzende tschechische Kotzebue-Rezeption schließt sich an die Tendenz der russischen an: Von den ca. fünfzig Stücken, die im Zeitraum zwischen 1810 und den vierziger Jahren übersetzt wurden, gehören jeweils 50% zu einer und zur anderen Stücksparte. Bemerkenswert ist es dabei, dass das tschechische Repertoire der übersetzten Rührstücke viel mehr jenem russischen entspricht, als dies der Fall beim Lustspielgenre ist. Bei den späteren Übersetzungen ins Tschechische handelt es sich dann eindeutig mehrheitlich um Lustspiele. Für das kroatische und serbische Theater, die Giesemann statistisch zusammen erfasst, werden in den vierziger und fünfziger Jahren – sieht man von einigen, v. a. historischen Rührstücken ab – fast nur noch Lustspiele übersetzt. Rührstücke wurden zwar früher einzeln übersetzt und

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– im kroatischen Falle – im kajkawischen Dialekt aufgeführt; bei diesen frühen Kotzebue-Aufführungen, die – wie oben erwähnt – in unserem Zusammenhang nur am Rande berücksichtigt werden, stellt Giesemann eine weitgehende Übereinstimmung mit dem russischen Repertoire fest. Anders steht es allerdings mit der Auswahl der Lustspiele: Von den insgesamt 21 Stücken diesen Typus, die ins Kroatische und Serbische übersetzt wurden, entsprechen zwölf dem russischen und zehn dem tschechischen Repertoire, während fünf Werke neu für das kroatische und serbische Theater übersetzt wurden. In seiner Darstellung der slowenischen Kotzebue-Rezeption verweist Giesemann auch auf ein weiteres charakteristisches Merkmal – auf die dualistische Bewertungsform des deutschen Dramatikers, die zwischen einer ablehnenden, moralisch-didaktisch argumentierenden und einer pragmatischen, auf den Ausbau eines Anfangsrepertoires ausgerichteten Position schwankt. Dieser Widerspruch – wie Giesemann richtig bemerkt – lässt sich nicht nur daraus ableiten, „da eine sinnvolle Umsetzung theoretischer Vorstellungen in praktische Theateraufbauarbeit zu dieser Zeit die Ausschließlichkeit des einen oder anderen Standpunktes nicht akzeptieren konnte“ (ebda): gerade daraus ging auch die für die KotzebueRezeption so charakteristische Bewertungsform hervor. Die Anerkennung fand Kotzebue v. a. dann, als man sich seiner Stücke in Verfolgung bestimmter nationaler Interessen bediente. Als ein signifikantes Beispiel für diese Art der Rezeption nennt Giesemann die Slowenisierung des historischen Rührstücks Belas Flucht, die allerdings nicht aus dem deutschen Original, sondern aus der kroatischen Bearbeitung Ivan Kukuljević Sakcinskis ins Slowenische übersetzt wurde.9 Dass sich der Übersetzer dabei ausdrücklich als „slowenischer Patriot“ bezeichnet, verweist mit Nachdruck auf den national-politischen Zusammenhang, den man als vorbildhaft empfand. In der zweiten Phase der slowenischen Kotzebue-Rezeption wird die ästhetische Bewertung des Dramatikers immer konträrer, wobei sich 9

Vgl.: Dve igri za slovensko gledište. Juran in Sofija, ali Turki pri Sisku. Junaška igra v 3 dejanjih, po ilirskem posl. J.D. Štepan Šubič, ali Bela IV. na Horvaškem. Prestavil iz ilirskega slovenski rodoljub J.D., Ljubljana 1850.

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negative Urteile neben neutralen oder positiven Meinungen immer mehr durchsetzen. „In beiden Fällen“, stellt Giesemann fest, „manifestiert die jeweilige Einstellung zu Kotzebue die gegensätzlichen politischliterarischen Interessenvertretungen. Er hatte die Funktion eines Prüfsteins und wurde als Mittel zur Dokumentation jeweiliger Überzeugungen benutzt.“ (ebda, S. 60) 2. Deutschsprachige Schauspielertruppen, die in Zagreb seit 1780 regelmäßig auftraten, stellten schon 1792, drei Jahre nach der Uraufführung, Kotzebues ersten Hit Menschenhass und Reue vor. Bis zum Jahre 1860, bis zur Einstellung deutscher Vorstellungen im Zagreber Theater, wurden über 100 Stücke des deutschen Dramatikers, davon nur wenige mehr als einmal, gespielt. Insgesamt machten Kotzebues Bühnenwerke mehr als 10% des deutschsprachigen Repertoires in Zagreb aus.10 Auch die kroatischsprachige Kotzebue-Rezeption – wie einführend erwähnt – setzt sehr früh ein: als eine Art „Gegengewicht zum deutschen Theater“ (Batušić 1978, S. 221) hat sich am Ende des 18. Jahrhunderts im Zagreber Priesterseminar eine rege schauspielerische Tätigkeit entwickelt, in deren Rahmen auch einige Werke Kotzebues zur Aufführung kamen (z. B. Der Papagei, 1797, Menschenhass und Reue, 1800). Die Vorstellungen der Seminaristen, die in der kroatisch-kajkawischen Mundart gegeben wurden, fanden keinen nennenswerten Widerhall in der zeitgenössischen Öffentlichkeit und können daher in ihrer Wirkung keineswegs mit der zeitgleichen russischen Kotzebue-Rezeption verglichen werden. Ein weiterer Versuch der kajkawischen Bühnenrezeption Kotzebues in Zagreb ereignete sich in der ersten Hälfte der 1830-er Jahre, sozusagen als Ansatz zur Vorbereitung des modernen kroatischen Nationaltheaters. Bevor noch unter den Illyristen die endgültige Entscheidung für die Einführung 10

Die Angaben über das Repertoire des Zagreber deutschen Theaters nach: Blanka Breyer: Das deutsche Theater in Zagreb 1780–1840. Mit besonderer Berücksichtigung des dramatischen Repertoires, Zagreb 1938; Nikola Batušić: Uloga njemačkog kazališta u Zagrebu u hrvatskom kulturnom životu od 1840. do 1860, Rad JAZU, Nr. 353, Zagreb 1968.

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der štokawischen Standard- und damit auch Bühnensprache fiel, übersetzte Dragutin Rakovec, einer der Aktivisten der Wiedergeburtsbewegung, drei Lustspiele Kotzebues ins Kajkawische. Im Gegensatz zu den Vorstellungen im Priesterseminar wurden diese Stücke (Der alte Hagestolz und die Körbe, Der alte Leibkutscher Peter des Dritten und Der Deserteur) 1832 und 1833 am Zagreber Theater, d. h. öffentlich aufgeführt. Inzwischen haben nämlich die Prinzipale der deutschen Schauspielertruppen den Zuwachs des kroatischen Nationalbewusstseins registriert und darauf mit einzelnen deutschsprachigen Vorstellungen zu vaterländischen Themen, kroatischen Liedeinlagen oder – wie im Falle der drei Lustspiele Kotzebues – mit einigen kroatischsprachigen Aufführungen zu reagieren versucht. In der ersten Phase der neueren kroatischen Schaubühne (1840–1860) wurden neben den deutschsprachigen Vorstellungen auch kroatische im neuen Standard gegeben (die Höhepunkte dieser Pioniertätigkeit waren am Anfang und am Ende der vierziger sowie seit der Mitte der fünfziger Jahre). Von insgesamt 99 aufgeführten Stücken stammten 19, d. h. ca. 20%, aus der Feder Kotzebues.11 Diese Bühnenwerke wurden an 51 Spielabenden gegeben, was mehr als die Hälfte aller KotzebueVorstellungen im kroatischen Nationaltheater ausmacht. Seit 1860, als in Zagreb nur noch auf Kroatisch gespielt wurde, kamen siebzehn Premieren von Werken Kotzebues, davon nur sieben als kroatische Erstaufführungen auf die Bretter. Mit dem Jahre 1877, mit den Vorstellungen der Lustspiele Der gerade Weg, der beste Weg und Der Wirrwarr, verabschiedete sich die Zagreber Schaubühne von Kotzebue, dessen Stücke in Kroatien seitdem nur noch von Liebhabergruppen gespielt wurden. Die statistischen Angaben über die Kotzebue-Aufführungen im kroatischen Nationaltheater bestätigen im Großen und Ganzen die Forschungsergebnisse Giesemanns über die russische und slowenische Bühne, im quantitativen Sinne wie auch hinsichtlich der Verschiebung des Publikumsgeschmacks vom Rührstück zum Lustspiel. Insgesamt wird deutlich, dass die Werke des deutschen Dramatikers viel mehr den 11

Die Angaben über das Repertoire des kroatischen Nationaltheaters nach: Branko Hećimović (Hg.): Repertoar hrvatskih kazališta. 1840–1860–1980, Bd. 1–2, Zagreb 1990.

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Spielplan der Zagreber Bühne in ihrer zweisprachigen Phase zwischen 1840 und 1860 als in der darauf folgenden Zeit des ausschließlich kroatischen Repertoires geprägt haben. Von einer Gesamtzahl von 91 Vorstellungen auf Kroatisch, womit Kotzebue zu einem der meistgespielten Autoren des kroatischen Theaters im 19. Jahrhundert gehört, entfallen nämlich 51 auf die ersten beiden Jahrzehnte seiner Existenz. Bereits die erste Rezeptionsphase zeigt die Dominanz des Kotzebue’schen Lustspielrepertoires: von den neunzehn erstaufgeführten Werken gehören nur drei dem Rührstückgenre, sechzehn hingegen dem Lustspiel an. Dabei fällt allerdings auf, dass die wenigen Rührstücke sechzehn Mal, davon die Bearbeitung Ivan Kukuljević Sakcinskis von Belas Flucht sogar neunmal, gespielt wurden – ein Umstand, der nicht verwundern kann, hält man sich das patriotische Potential des Stückes in der entscheidenden Phase der nationalen Integration bis 1848 vor Augen. Und obwohl die spezifische politische Lage das im deutschen Sprachraum bereits vergessene historische Rührstück in den Vordergrund rückte, so kann man doch nicht übersehen, dass das Publikum immer mehr Affinität für Kotzebues Komödienschaffen zeigte. In der zweiten Phase, die 1860 mit der Aufnahme des exklusiv kroatischen Theaterbetriebs anfängt und bis 1877 dauert, nimmt der Anteil des deutschen Dramatikers im Repertoire allmählich ab, wobei gleichzeitig das Übergewicht der Lustspielaufführungen immer deutlicher wird. Die nach wie vor hohe Anzahl der Kotzebue-Aufführungen fällt allerdings viel weniger ins Gewicht, da der kroatische Theaterbetrieb nun kontinuierlich lief und daher viel mehr Stücke benötigte: Von den 570 Premieren in diesem Zeitraum (hier sind auch Opernvorstellungen inbegriffen) stammen aus der Feder Kotzebues nur siebzehn Bühnenwerke, die in insgesamt vierzig Vorstellungen gegeben wurden. Gattungsmäßig wird das komische Genre jetzt völlig dominant: Drei Viertel der Vorstellungen (insgesamt dreißig) entfielen auf Lustspiele, von denen fünf als Erstaufführungen auf den Spielplan kamen. Der Niedergang des Kotzebue’schen Rührstücks ist bereits daraus ersichtlich, dass im Zeitraum 1860–1877 nur zwei Werke dieser erstaufgeführt und zwei weitere wieder aufgenommen werden. Als die letzte Vorstellung des Genres kam Belas Flucht 1867 auf die Zagreber Bühne.

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Der massive Widerstand jüngerer kroatischer Intellektueller gegen das deutschsprachige Repertoire, und namentlich gegen Kotzebue, beschleunigte auch eine Umstrukturierung des Spielplans, in deren Rahmen der Erfolgsdramatiker vom kroatischen Nationaltheater verschwand. Einer Unausgewogenheit des kroatischen Repertoires, die die neue Intellektuellengeneration um August Šenoa seit den 1860-er Jahren reklamierte, waren sich schon die Illyristen, allen voran Dimitrija Demeter, in der Anfangsphase der neuen Bühne bewusst. Bei ihrer Pionierarbeit mussten sie – wie mehrmals unterstrichen – viel mehr den herrschenden Publikumsgeschmack respektieren, der sich hauptsächlich am Repertoire der deutschen Schauspielertruppen ausgebildet hatte. Dabei muss man auch bedenken, dass das Zagreber deutschsprachige Theater, dessen Leistungen nie über jene einer österreichischen Provinzbühne hinausgegangen sind, der einzige Ort im Lande war, an dem illyristische Theateraktivisten die Funktionsweise eines Theaterhauses erlernen konnten. 3. Wie weit die Illyristen den Rezeptionsgewohnheiten des zeitgenössischen Publikums entgegenkamen, sieht man auch daran, dass sie historische Schauspiele populärer Autoren wie Kotzebue als Modell für die Begründung eines nationalen Geschichtsdramas nahmen. Sie waren sich der Tatsache bewusst, dass vertraute Inhalte und Formen, die durch Übersetzung und Bearbeitung zum Eigenen gemacht wurden, für die Zuschauer viel attraktiver als die komplexen Historiendramen Schillers waren. Dieser Logik gehorchend erhoben sie nicht den Weimarer Klassiker sondern seine Epigonen Kotzebue und Theodor Körner12 zu ihrem Vorbild. Im Gegensatz zu seinem jüngeren Zeitgenossen Körner, dessen spätromantisches Dramenkonzept auf einer Mischung aus populärer Schreibart und nationalistischem Gedankengut beruht, geht Kotzebue bei seinen Geschichtsdramen vom erfolgreichen Muster des Rührstücks aus. Auch dieser Teil seines Theaterschaffens, der hauptsächlich am Ende der 1790er Jahre und im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts entstanden ist, 12

Vgl. Marijan Bobinac: Theodor Körner im kroatischen Theater, „Zagreber germanistische Beiträge“, 11/2002, S. 59–96 (im Weiteren kurz zitiert als Bobinac).

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kreist vordergründig um die bekannten Themen wie Familie, Ehe oder Pflichterfüllung und erscheint in einem sentimental-moralisierenden Gewand. Als ein Schriftsteller, der sich am Publikumserfolg orientierte, konnte Kotzebue das ästhetische Instrumentarium der führenden zeitgenössischen Autoren – auch wenn er dazu fähig gewesen wäre – nicht verwenden. So sind seine historischen Schauspiele im Wesentlichen als eine Reihung von Episoden konzipiert, die den Charakter des Helden, und namentlich seine ritterlichen Tugenden wie Tapferkeit, Treue, Großmut anschaulich machen sollen. Eine geschichtsphilosophische Durchdringung des Stoffes im Schiller’schen Sinne wird dabei völlig ausgespart; der historische und der geographische Hintergrund bleibt beliebig, weshalb es auch sinnlos wäre, Kotzebues Geschichtsdrama mit der ihm zugrunde liegenden historischen Realität zu vergleichen. Für unseren Zusammenhang ist es von Bedeutung, dass Kotzebue mit seinen gedanklich und sprachlich unkomplizierten Geschichtsdramen nicht nur für eine Zerstreuung des deutschsprachigen Publikums an historischen Themen sorgte; mit einer solchen Dramaturgie stellte er – wie gesagt – auch den Vertretern neuentstehender Nationalbühnen Modelle zur Verfügung, die ihnen bei der Begründung des begehrten Genres des nationalen Geschichtsdramas geeigneter als die weitaus komplexere Konzeption Schillers erschien. Die genannten Merkmale des historischen Schauspiels von Kotzebue kann man am Bespiel des Stückes Belas Flucht beobachten, das den kroatischen Bearbeiter und Übersetzer Ivan Kukuljević Sakcinski offensichtlich aus nahe liegendem vaterländischem Interesse angezogen hat. Eine wichtige Änderung, wie Nikola Batušić gezeigt hat13, geht schon aus dem Titel der kroatischen Fassung hervor – Stjepko Šubić oder Bela IV. in Kroatien: Den ungarischen Helden Coloman bei Kotzebue ersetzt Kukuljević nämlich durch den kroatischen Edelmann Stjepko Šubić, der dem flüchtenden Ungarnkönig entscheidende Hilfe im Krieg gegen die vordringenden Mongolen leistet, obwohl er – wie auch Coloman im Original – vom Hof ungerechterweise verstoßen wurde. Der Umstand, dass Coloman bzw. Stjepko Šubić dem König trotz allen höfischen Intrigen treu bleibt, verweist auf die politische Relevanz des 13

Vgl. Nikola Batušić: Hrvatska drama od Demetra do Šenoe, Zagreb 1976, S. 80–83.

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Stückes in den Augen der Illyristen – auf die Eintracht, die im Kampf um die nationale Einigung als notwendig angesehen wird. Die Zeitproblematik ist auch in der Erweiterung des Schlusses bei Kukuljević zu finden: Im Gegensatz zu Kotzebue, bei dem der Ausgang des Kampfes gegen die Mongolen ungewiss bleibt, lässt der kroatische Bearbeiter am Ende die Nachricht vom Siege der kroatisch-ungarischen Truppen verkünden. Die utopische Finalisierung des Stückes kann als deutlicher Hinweis auf die Vorteile der nationalen Integration gedeutet werden. Neben diesen, im Grunde unbedeutenden Ergänzungen, die jedoch dem Text eine andere ideologische Signatur verleihen, fällt v. a. die Tatsache auf, dass die Blankverse des Originals durchgehend in Prosa übertragen wurden, da die junge kroatische Literatur um 1840 noch immer nach einem entsprechenden Bühnenvers suchte. Das thematisch allgemeine und sprachlich unkomplizierte Stück eignete sich gut für die Anfangsphase der kroatischen Schaubühne. Weder Kotzebue noch Kukuljević (der später allerdings zu einem der ersten modernen kroatischen Historiker werden sollte) ging es um eine tiefere Auseinandersetzung mit der Historie, die die Verwicklung des Menschen in die Geschichte transponieren würde. Im Gegenteil, in Belas Flucht wie auch in Stjepko Šubić wird der historische Stoff nur im Rahmen einer routinierten Dramaturgie des Rührstücks verwendet. Umso erstaunlicher wirkt dann der Umstand, dass zwischen den beiden, fast identischen Versionen des Stückes ein so grundsätzlicher Unterschied in ihrem Geschichtsverständnis besteht. Dem konservativen Kotzebue, der sich für die Aufrechterhaltung der nachnapoleonischen Ordnung in Europa einsetzte und bereits 1819 von einem radikalen Nationalisten ermordet wurde, war nämlich jeglicher nationale Aktivismus fremd. Die für ihn charakteristische geschichtsphilosophische Position einer ‚ewigen Wiederkehr des Immergleichen’, die auch im offenen Ende von Belas Flucht zum Vorschein kommt, musste daher vom kroatisch-nationalen Standpunkt aus korrigiert werden. Mit der hinzugefügten Schlussszene (II, 9) wird der Kotzebue’sche Wertrelativismus jedoch in eine völlig andere Perspektive gerückt, die der aktivistischen Dramatik der kroatischen Wiedergeburtsbewegung viel adäquater erschien. Indem nämlich die

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versammelten kroatischen Fürsten den Sieg über die Mongolen feierlich verkünden, bedankt sich der König Bela bei den „ruhmreichen Kroaten“, während die Königin Marija/Marie zum Schluss des Schauspiels erklärt: „Jetzt sehe ich und anerkenne, dass jener, der an Gott glaubt und sich den Illyrern anvertraut, nie zugrunde gehen kann.“ 14 In der Schlussreplik der Königin tritt die teleologische Geschichtsauffassung des kroatischen Bearbeiters ans Licht, eine Auffassung also, die den historischen Verlauf als zweckhafte Notwendigkeit sieht. Wie Körner in seinem Trauerspiel Zriny, das im August 1841, einige Monate nach Belas Flucht, von der Vaterländischen Schauspielgesellschaft in Zagreb gezeigt wurde, geht auch Kukuljević in seiner Fassung des Kotzebue-Stückes davon aus, dass Ereignisse und Entwicklungen durch bestimmte Zwecke oder ideale Endzustände bestimmt sind und sich in dieser Richtung bewegen (vgl. Bobinac, S. 93f.). Die kroatische Übersetzung des Körner’schen Bühnenwerks, deren Drucklegung mit der Beschäftigung Kukuljevićs mit Kotzebues Schauspiel zeitlich korrespondierte,15 ist mit Stjepko Šubić auch in einem weiteren Aspekt der Bearbeitungsart verwandt: Die beiden Übersetzer haben nämlich den ungarischen national-politischen Kennzeichen der deutschen Originale in ihren Bearbeitungen eindeutig kroatische Vorzeichen gegeben. Wie Körners Helden, die im Original als Ungarn, im Grunde aber unmissverständlich als Deutsche erscheinen, in der Übersetzung als Kroaten gezeigt werden, so wird diese Art der Kroatisierung auch in Kotzebues Stück verwendet. U. a. wird „ein ehrenhafter Ungar“ in Kukuljevićs Fassung des Stückes zu einem „ehrenhaften Patrioten“, das „ungarische Blut, das für Bela IV. geflossen“, wird in das „kroatischillyrische Blut“ verwandelt, und wenn in der Szene II, 4 Kotzebues Coloman „die halb erloschene Schrift“ liest, so verwandelt das der kroatische Bearbeiter in „die glagolitische Schrift, die halb erloschen ist“ (Kukuljević, S. 24). Während Coloman die Namen seiner Vorfahren 14

Stĕpko Šubić ili Bela IV. u Hrvatsko. Drama u 2 čina. Polag nĕmačkoga s promenami od Ivana Kukuljevića Sakcinskoga, Zagreb 1841 (= Izbor igrokazah ilirskoga kazališta, Bd. 3), S. 34 (im Weiteren kurz zitiert als Kukuljević). 15 Nikola Šubić, knez Zrinjski ili: Pad sigetski. Žalostni igrokaz u V. činih. Polag nĕmačkoga pisatelja „Božidara Körnera“, Stĕpanom Marjanovićem, Brodjaninom, na ilirski jezik preveden, i na svĕt dan, Pecs 1840.

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aufzählt, rühmt sich Stjepko Šubić mit Krešimir und anderen kroatischen Fürsten. In der hinzugeschriebenen Szene (II, 9) werden die kroatischen Aristokraten, die Sieger über die Mongolen, namentlich vorgestellt: Dobroslav, Pavao und Nikola Šubić, Karlović, Keglević und Hudina Dragoš. Wie geringfügig diese Änderungen heute auch erscheinen können, so waren sie für die Zeitgenossen von großer Wichtigkeit, was auch in der Rezension Demeters hervorgehoben wird: „Die hinzugefügten Szenen sind sehr gelungen und als solche von unermesslicher Bedeutung für das kroatisch-illyrische Publikum.“ Auch sonst zeigt sich der Rezensent sehr enthusiastisch in seiner Besprechung der ersten Aufführung Kotzebues im neuen kroatischen Standard: „Herr Kukuljević-Sakcinski verspricht viel in der Zukunft […]. Sein Stjepko Šubić wurde nach Kotzebues Belas Flucht verfasst, man kann aber sagen, dass er das Original überflügelt hat, indem er diesem Werke eine glaubhaftere historische Grundlage als Kotzebue verliehen hat.“16 Dass Demeter hier das Augenmerk v. a. auf die – vom heutigen Standpunkt aus problematische – Autorschaft Kukuljevićs richtet, mag befremdend anmuten, doch sie reiht sich durchaus in die gängige Perspektivik der Zeit. Auch er selbst hat nämlich zwei Jahre später ein Bühnenwerk Theodor Körners übersetzt, unwesentlich bearbeitet (wiederum in nationaler Hinsicht) und unter seinem eigenen Namen drucken und aufführen lassen.17 Für unseren Zusammenhang ist allerdings ein anderer Aspekt der Besprechung Demeters viel wichtiger als die Frage der Urheberschaft – seine Behauptung nämlich, Kukuljević habe Kotzebues Original überflügelt. Höchst aufschlussreich ist dabei die Begründung dieses Werturteils: Stjepko Šubić besitze nämlich „eine glaubhaftere historische Grundlage“ als Belas Flucht. Demeter denkt damit offenbar nicht nur an das hinzugefügte kroatische Kolorit des Stückes, sondern will auch dessen modifizierte Geschichtsauffassung in den Vordergrund rücken. Falsch wäre es jedoch, wollte man Demeters Urteil nur auf die historische Dimension des rezensierten Bühnenwerks beziehen. Darin kommt unmissverständlich 16

„Danica ilirska“, Nr. 41, 10. 10. 1840. Dimitrija Demeter [Theodor Körner]: Horvatska vĕrnost. Vojnička igra u 1 činu [= Joseph Heydrich oder Deutsche Treue], Zagreb 1842 (= Izbor igrokazah ilirskoga kazališta, 9).

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auch jene dualistische Bewertungsform zur Sprache, von der schon oben die Rede war. Selbst Demeter, der als die zentrale Gestalt des kroatischen Nationaltheaters vom Anfang der vierziger bis zum Ende der sechziger Jahre wesentlich die Gestaltung des Spielplans beeinflusst hat, hat sich in seinen zahlreichen Theateraufsätzen nur spärlich über den ästhetischen Wert von Kotzebues Dramenwerk geäußert. Als charakteristisch für diese ambivalente Haltung könnte man einen Satz aus seiner Besprechung der kroatischen Erstaufführung des Lustspiels Braut und Bräutigam in einer Person zitieren, das im Oktober 1847 gegeben wurde: „Die Übersetzung ist ziemlich gut, das Werk aber weder besser noch schlechter als alle anderen Werke von Kotzebue, d. h. es hat viele witzige Einfälle, es ist sehr unterhaltsam und nach Gesetzen der Theatertechnik verfasst, entbehrt aber einen höheren sittlichen Endzweck.“18 Demeter war sich der Diskrepanz zwischen ästhetischer und moralischer Wertung einerseits und der Rücksichtnahme auf den Publikumsgeschmack andererseits sehr wohl bewusst. Obwohl er den Kunstanspruch eines Nationaltheaters nie aus den Augen verliert, war es ihm von Anfang an klar, dass man dieses Anliegen in Kroatien ohne Kotzebues Dramen, aber auch ohne Werke anderer bühnenwirksamer, v. a. deutschsprachiger Autoren wird nicht verwirklichen können. Die pragmatische Einsicht in die Notwendigkeit eines solchen Repertoires wurde, wie schon angedeutet, erst in den sechziger Jahren ernsthaft in Frage gestellt, als die wichtigsten Existenzfragen der kroatischen Schaubühne schon erfolgreich gelöst wurden. Bis dahin, in einer modifizierten Form auch danach, wurde die Spielplangestaltung von diesem eigentümlichen Pragmatismus dominiert. Bei der Lektüre zeitgenössischer Theaterrezensionen, ebenso Pioniertaten ihrer Art, wird deutlich, dass die Verfasser v. a. jene Aspekte der Vorstellungen herausstreichen, die mit der Begründung des Nationaltheaters zusammenhängen. Die Begeisterung darüber, dass nun von der Bühne auch kroatische Worte ertönen (können), wird lange tonangebend bleiben. Stillschweigend wird dagegen hingenommen, dass der Spielplan von populären Autoren wie Kotzebue und nicht von 18

Zagrebačko kazalište, „Danica horvatska, slavonska i dalmatinska“, Nr. 43, 23. 10. 1847.

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Dramatikern, die einer Schaubühne als ‚moralischer Anstalt’ würdig wären, beherrscht wird. Etwas mehr Licht auf die Kanondiskussion in den Zagreber Theaterkreisen am Anfang der vierziger Jahre werfen einige Beiträge in den lokalen deutschsprachigen Blättern. („Luna“ und „Croatia“, die wichtigsten Organe dieser Art, haben übrigens die Entstehung der kroatischen Schaubühne gefördert und sehr wohlwollend kommentiert.) Der interessanteste Beitrag über die Kanonfragen stammt aus der Feder des damaligen Theaterdirektors Heinrich Börnstein, der sich selbst für die Gründung des Nationaltheaters nachhaltig eingesetzt hat. Im Juli 1840, drei Wochen nach der ersten kroatischen Kotzebue-Premiere, hat er in der „Croatia“ einen Aufsatz veröffentlicht, in dem er ein aktuelles Phänomen im (deutschen) Theater unter die Lupe setzt und in diesem Zusammenhang auch die Frage des Dramatikerkanons berührt. Neben den unantastbaren Klassikern, die „nicht alle Tage gegeben werden können, und nur selten Gerichte sind“, wird von ihm der zeitgenössische Spielplan in die „Coryphäen der neuen dramatischen Literatur“ (von den unter dieser Rubrik angegebenen Namen hat jedoch nur Grillparzer seine Zeit überlebt) auf der einen und in die übrigen Dramatiker, die in den Augen der selbsternannten ‚Kunstrichter’ „unter Null stehen“, allen voran August von Kotzebue, auf der anderen Seite; und gerade aus Werken dieser Autoren (Börnstein nennt sie „Mittelgut“) besteht – wie er ausdrücklich betont – „der Hauptbestandtheil des Repertoirs“19. Bei allen Unterschieden, die den Status einer deutschsprachigen Provinzbühne von den Aufgaben eines neuentstehenden Nationaltheaters trennten, blieb das Problem des Dramatikerkanons in den beiden Sparten des zeitgenössischen Theaterlebens aktuell. Auch die enge Zusammenarbeit zwischen der deutschen Truppe und den kroatischen Theateraktivisten um 1840, die sich u. a. auch in einem ähnlichen Repertoire bemerkbar macht, lässt auf die Gemeinsamkeiten in den Kanonüberlegungen schließen. Ob und inwiefern ihre Vorstellungen mit der Lage in der damaligen Germanistik zusammenhängen, kann man nicht mit Sicherheit sagen. Dass Kotzebue aber im zeitgenössischen kroatischen

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Heinrich Börnstein: Gute (?) Schauspieler und schlechte (?) Stücke. Ein Wort zur Zeit, „Croatia“, Nr. 8, 24. 7. 1840.

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Theater geduldet, aber offenbar nicht geschätzt wurde, steht außer Streit.20 Ebenso unbestritten waren aber auch die Vorteile, die seine Werke für die neuentstehende Bühne boten, wobei insbesondere die schon mehrmals erwähnte leichte Übersetzbarkeit und außerordentliche Bühnenwirksamkeit ins Gewicht fielen. Und trotzdem bereitet die Erforschung der kroatischen Kotzebue-Rezeption, vergleicht man sie mit der Aufnahme anderer deutschsprachiger Autoren im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts, die meisten Schwierigkeiten vor, nicht zuletzt deswegen, weil sie in der zeitgenössischen Publizistik nur wenige Spuren hinterließ und in späteren Zeiten von Literatur- und Theaterhistorikern als eine Art Schande gedeutet wurde. Über die Aufführung des Schauspiels Der Opfertod, das als eines der seltenen Rührstücke in der Manier von Menschenhass und Reue dem Zagreber Publikum auf Kroatisch vorgestellt wurde, gab es keine Rezensionen in der zeitgenössischen Presse. Man weiß nur, dass es sich dabei um eine Bearbeitung des Kotzebue’schen Dramas handelt, die von Mihailo Vitković, einem der Mitglieder der Vaterländischen Schauspielgesellschaft (einer serbischen Theatertruppe aus Novi Sad, die den Kern des ersten kroatischsprachigen Ensembles in Zagreb bildete), vorgenommen wurde und nach der Premiere im Juli 1840 noch drei Wiederholungen erlebte.21 Andere Bühnenwerke Kotzebues, die von der Novisader Truppe in Zagreb gespielt wurden, waren Lustspiele. Wie wichtig den Illyristen gerade die Komödien des deutschen Dramatikers bei der Aufstockung des nationalsprachlichen Repertoires vorkamen, sieht man auch daran, dass fast alle veröffentlichten Übersetzungen seiner Texte – eine Ausnahme bildete eben Belas Flucht – diesem Genre angehören. Davon zeugen auch die beiden Theatersammlungen, die am Anfang der vierziger Jahre erschienen sind – „Izbor igrokazah ilirskoga kazališta“ (1841–1842) und „Buturica igrokazah ilirskoga kazališta iz niemačkoga 20

Im Gegensatz dazu genoss Theodor Körner, dessen Werke seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Misskredit geraten sind, ein hohes Ansehen, ebenso im Einklang mit der Lage in der zeitgenössischen Germanistik (vgl. Bobinac, S. 86f.). 21 In Hećimovićs Repertoireverzeichnis wird Kotzebue irrtümlich auch das Schauspiel Die Folgen des Verbrechens (Posljedice zločinstva) zugeschrieben, das die Vaterländische Schauspielgesellschaft im September 1840 zur Aufführung brachte. Dazu vgl auch Ćurćin, S. 541.

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prevedenih“ (1843), in denen neben Belas Flucht insgesamt acht Lustspiele Kotzebues erschienen sind.22 Unter den gedruckten Texten, von denen die meisten auch aufgeführt wurden, wird man umsonst nach Kotzebues bekanntesten Komödien wie Die beiden Klingsberg, Der Wirrwarr oder der Mutwillige und Der Rehbock suchen, die auf den Spielplan der Zagreber Bühne erst in den sechziger Jahren kamen. An diese abendfüllenden Lustspiele wagten sich die Illyristen um 1840 noch immer nicht heran; ausschlaggebend für ihre Auswahl war offenbar der Umfang der Texte: der Reihe nach handelt es sich hier um kürzere, v. a. ein-, aber auch zweiaktige Stücke, ein Umstand, der den wenig erfahrenen Schauspielern die Aufführung von Werken, die inhaltlich und formal sowieso keine hohen Ansprüche stellten, wesentlich erleichterte. Neben den gedruckten wurden – und dies bezieht sich namentlich auf die Periode des zweisprachigen Theaterbetriebs – auch weitere ein- bzw. zweiaktige Komödien Kotzebues in Zagreb inszeniert, wobei man an einem Abend in der Regel zwei Bühnenwerke dieses Zuschnitts aufzuführen pflegte. Einleitend wurde schon darauf hingewiesen, dass die Attraktivität der Kotzebue‘schen Lustspiel-Dramaturgie für das Theaterpublikum in Ländern wie Kroatien nicht nur auf ihrem einfachen ästhetischen Instrumentarium beruhte. Der enorme Reiz, den die Werke des deutschen Dramatikers auf die zeitgenössischen Zuschauer ausübten, hing zweifellos auch mit ihrer sozialen und politischen Relevanz zusammen. Die Tatsache, dass Kotzebue – sieht man von einer untergründigen Libertinage ab – selten nach sozial oder politisch provokanten Inhalten gegriffen hat, soll allerdings nicht zur Annahme verleiten, dass seine Stücke konservative 22

Palježina, Zagreb 1841 (= Izbor igrokazah ilirskoga kazališta, Bd. 2); Ljubomorna žena, Zagreb 1841 (= Izbor, Bd. 3) Raztrešeni, Zagreb 1841 (= Izbor, Bd. 5); Englezke robe, Zagreb 1842 (= Izbor, Bd. 8); Zaručnik i zaručnica, Zagreb 1842 (= Izbor, Bd. 9); Bog zna čemu je to dobro, Zagreb 1843 (= Buturica igrokazah ilirskoga kazališta iz niemačkoga prevedenih); P.Ć.B.O.V. ili Pozivna cedulja, Zagreb 1843 (= Buturica…); Tri otca na jedan put, Zagreb 1843 (= Buturica…). In Zagreb und einigen anderen kroatischen Städten (Sisak, Petrinja) wurden einige Kotzebue-Übersetzungen (z.B. Das neue Jahrhundert und Das Landhaus an der Heerstraße) am Anfang des 20. Jahrhunderts verlegt, offenbar für die Bedürfnisse der Liebhaberbühnen.

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oder gar reaktionäre Werte vermitteln. Im Gegenteil, er tritt klar für die Gleichheit der Stände und für das Aufräumen gesellschaftlicher Vorurteile ein. Wie wichtig die klassenübergreifende Geste Kotzebues war, sieht man auch daran, dass seine Bühnenwerke nicht nur im Einklang mit den Wunschvorstellungen des bürgerlichen, sondern auch des adeligen Publikums arrangiert sind. So gelang es ihm, „adelige Helden zu Vertretern der bürgerlich aufgeklärten Ideale“ zu machen und dadurch „an Sympathie sowohl beim Adel wie beim Bürgertum“ (v. Wiese, S. 19) zu gewinnen. Auch im Vormärz-Kroatien spielte dieser Umstand eine nicht unbedeutende Rolle, waren doch in der nationalen Wiedergeburtsbewegung die Vertreter des aufstrebenden Bürgertums – wie zur gleichen Zeit in Ungarn – mit jenen des liberal gesinnten Adels verbunden. Dass den beiden Gruppierungen damals eher eine Aussöhnung als eine Vertiefung sozialer Gegensätze vorschwebte, lässt wohl den Schluss zu, dass Kotzebues Gesellschaftsmodell in Kroatien auf fruchtbaren Boden fiel. Genauso interessant müssen für das zeitgenössische kroatische Publikum auch andere Aspekte dieses Modells gewesen sein, so Toleranz, bürgerliche Freiheiten, bürgerliche Tugendwerte, Gleichheit der Menschen usw. Dieser aufklärerische Wertekanon, den Kotzebue seinen Rührstücken zugrunde legt, droht in Lustspielen, und namentlich in Possen, durch gattungsimmanente Zwänge (Intrigen, Verwechslungen, Verkleidungen, Rollenspiele) auch ins Unmoralische zu entgleiten. Es liegt auf der Hand, dass die Zweideutigkeiten, die das Überschreiten bestimmter Grenzen als möglich erscheinen lassen, zum Schluss doch eindeutig im Zeichen der bürgerlichen Moral bereinigt werden. Die Besprechungen der Kotzebue-Aufführungen gingen manchmal über den konkreten Anlass hinaus, was insbesondere für einige Beiträge Demeters aus dem Jahre 1847 gilt. In der turbulenten vorrevolutionären Zeit, als die Zagreber Theaterenthusiasten die Vorstellungen auf Kroatisch wiederaufgenommen haben, stellte er nämlich mehrmals auch interessante dramaturgische Überlegungen an. Besonders aufschlussreich scheint sein Bericht über einen Theaterabend im Juli 1847 zu sein, bei dem Kotzebues Einakter Der Deserteur und Wer weiß wozu das gut ist gegeben wurden:

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Wer ins Theater geht, um einige Stündchen angenehm zu verbringen, wer dorthin nicht mit einer kritischen Brille ausgerüstet geht, um Haare zu spalten und mit Tadel und gelehrten Bemerkungen seine tiefen Kenntnisse an den Tag zu legen, sondern das Theater nur deswegen besucht, um sich zu erheitern und von alltäglichen Beschäftigungen zu erholen – für den sind diese beiden Stücke wie geschaffen, denn sie wimmeln von Witzen, Streichen und Einfällen; dies ausgenommen fehlt ihnen fast alles, was scharfe Ästhetiker von guten komischen Stücken verlangen: Glaubwürdigkeit, sittliche Bestrebungen, Bestrafung von ausschweifenden und törichten Sitten, aber auch andere schöne Eigenschaften dieser Art. Wer hingegen ins Theater geht, um nur zu lachen und sich angenehm zu unterhalten, dieser fragt nicht danach und ist zufrieden, wenn er nur diese Absicht erzielt, und dies wird er wohl bei den Aufführungen der genannten Stücke erreichen, insbesondere wenn sie entsprechend dargestellt werden.23

Kritische Töne, die Demeter in dieser und in anderen Rezensionen anschlägt, werden allerdings durch nahe liegende Vorteile solcher Stücke für das Nationaltheater in seiner Anfangsphase gedämpft: Denn, wenn Stücke, die sich auf gängige Techniken stützen, der ästhetischen Wertung abträglich sind, so können sie durchaus zu literatursprachlichen, theaterpraktischen und politischen Zwecken, d. h. als Mittel zur Förderung der neuen Bühnensprache, zur Einübung einheimischer Schauspieler sowie zur weiteren Entwicklung des nationalen Bewusstseins herangezogen werden. So schreibt Demeter aus Anlass der Erstaufführung des Kotzebue’schen Lustspiels Der Landjunker zum ersten Male in der Residenz, die die kroatischen Amateure im Dezember 1850 auf die Bühne brachten, folgendes: Mit Vergnügen und angenehmen Gefühlen konnte man bemerken, dass in den Herzen unserer Patrioten und heimatliebender Damen jene ursprüngliche Liebesflamme für die eigene teure Sprache und Nationalität keineswegs aufgegangen ist. Solange die patriotischen Gefühle so lebendig sind, ist nichts verloren; und Gott wird geben, dass es in Zukunft besser wird. Es werden sich vornehme Seelen und nach eigenem Geschlecht eifernde Herzen finden, so dass wir auch jene Zeit erleben werden, in der wir ein ständiges Nationaltheater haben werden. 24

Im Text, der am Ende einer mehrjährigen Reihe von nationalsprachlichen Vorstellungen entstanden ist und daher fatalistisch anmuten kann, lassen sich unschwer die Sorgen des Verfassers ablesen, die in ihm die anbrechende Zeit des Neoabsolutismus auslöst. Zwischen 1854, als 23 24

„Narodne novine“, 31. 7. 1847. „Narodne novine“, 17. 12. 1850.

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kroatische Vorstellungen wiederaufgenommen wurden, und 1860 gab es sechs Kotzebue-Premieren, davon vier kroatische Erstaufführungen. In diesem Zeitraum, der in der Literatur häufig auch als die Zeit der Germanisierungsversuche bezeichnet wird, wurden schließlich auch die Weichen für die Begründung einer ständigen kroatischen Schaubühne gestellt.

* * * Die äußerst erfolgreiche kroatische Kotzebue-Rezeption in der Vormärzepoche – ähnlich wie in anderen Ländern Mittel-, Ost- und Südosteuropas – lässt sich v. a. dadurch erklären, dass sich die Bühnenwerke des deutschen Dramatikers bei der Begründung neuer nationaler Schaubühnen problemlos verwerten ließen, wobei als ausschlaggebend die Allgemeinheit im Thematischen und die dramentechnische und sprachliche Einfachheit sowie die damit verbundene leichte Übersetzbarkeit galten. Als gemeinsam können auch zwei Rezeptionsphasen genannt werden: In der ersten, die man als pragmatisch bezeichnen könnte, dienen Kotzebues Stücke – dem Publikum wohlbekannt aus Aufführungen lokaler deutschsprachiger Schauspielertruppen – v. a. zur Aufstockung eines nationalsprachlichen Repertoires. Die Theaterenthusiasten der Wiedergeburtsbewegungen werden sich dabei durchaus der Diskrepanz zwischen ästhetischem Wert von Kotzebues Stücken und ihrer Rücksichtnahme auf den Publikumsgeschmack bewusst. Die wohlwollende Haltung verliert allerdings in der zweiten Rezeptionsphase immer mehr an Boden: Die ästhetische Bewertung des Dramatikers wird immer konträrer, wobei sich negative Urteile neben neutralen oder positiven Meinungen immer mehr durchsetzen. In Kroatien wurde die Unausgewogenheit des Spielplans, der von deutschsprachigen Bühnenwerken dominiert war, von jungen Intellektuellen um August Šenoa seit den 1860er Jahren nachdrücklich in Frage gestellt. Als Dimitrija Demeter, der Begründer des neueren kroatischen Nationaltheaters, der sich v. a. an der deutschsprachigen Dramatik orientierte, 1868 die artistische Leitung der Zagreber Bühne an seinen jüngeren Gegner überließ,

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verschwanden bald auch Kotzebues Werke vom Repertoire. An diesem Trend konnte auch eine kurze Wiederbelebung Kotzebues in den siebziger Jahren nichts mehr verändern: seit 1877 wurde kein einziges Werk des deutschen Dramatikers im kroatischen Nationaltheater aufgeführt.

Marijan Bobinac Between the claim to art and the general public taste: Kotzebue and the Croatian pre-March era of the 1848 revolution Summary The paper gives an overview of the impact of Kotzebue's entertainment theater production in both German-speaking and Slavonic countries with a focus on Kotzebue's pragmatic reception within the Croatian national-language repertoire in the process of the Croatian National Theater's emergence in two phases: firstly in the bilingual German and Croatian period 1840-1860 and secondly in the exclusively Croatian phase 1860-1877. Kotzebue, one of the once most popular playwrights of the Croatian theater in the 19th century, was no longer performed in the Croatian National Theater since 1877, although he, as a follower of conservative restoration since 1815, paradoxically worked, among other authors, to prepare the grounds of a national Croatian historical drama and although the Vienna Burgtheater was not ashamed of Kotzebue in its repertoire up to the end of the 19th century. This contribution fills a gap in the exploration of the history of Croatian theater in the 19th century, which was created by elitist aesthetics and the exclusion of trivial-entertaining public dramaturgy in the history of theater. Key words: August von Kotzebue, Vienna Burgtheater, Zagreb German Theater, Illyrist national movement in Croatia in the 19th century, Croatian National Theater, Germanization of Slavs, theater critiques, German-Croatian theater contacts, Kotzebue’s Reception in Croatia and in other Slavic countries, adaptation in the Croatian context, theater repertoire, pragmatic theater policy, Dimitrija Demeter.

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AN ANTECEDENT TO VIENNA: OSIJEK GERMAN STAGE FROM 1866 TO 19071 Tihomir Živić Josip Juraj Strossmayer University of Osijek (tzivic@kulturologija.unios.hr) Summary The paper predominantly deals with Anzengruber, Hauptmann, and Schiller’s dramatics on the German stage of the Osijek Upper Town Theater from 1866 to 1907; nonetheless, the chapter titled “An Osijek-based Poetics of the Bard of Avon” very acribiously testifies to a guest appearance by the German-English actor Maurice Morisson and performances of known tragedies Hamlet, Othello, and Richard III on the Osijek German stage, as well as to a general reception of William Shakespeare’s works in Osijek in 1897. One should emphasize a meticulous archival, museal, intercultural and intertextual research and a factographically abundant study of British-German literary and theatrical relations of the time, for Shakespeare frequently reached the Croatian 19-century readers and viewers exactly via German translations. The paper’s conclusion thus suggests that the Osijek-based German Theater toward the end of the 19th century and in the beginning of the 20th can indubitably be classified within the European contexts of the time, while the city can certainly be extolled as the “second Croatian stage” or as an Urbs metropolis Slavoniæ, wherein the artists arrived during six theatrical months precursorially to Vienna. Keywords: Upper Town Theater, Osijek, Anzengruber, Hauptmann, Schiller, Shakespeare

I. Do the performances of works by Ludwig Anzengruber, Gerhart Hauptmann, Johann Christoph Friedrich von Schiller and William Shakespeare expand the European vistas of Osijek’s German-speaking Upper Town Theater from 1866 to 1907? Indeed, if we remember now more than 160-year-old words by Viceroy Jelačić from his proclamation on the establishment of the National Theatrical Foundation for support to the 1

Revised and expanded version of a paper originally published under the title “Europski obzori Gornjogradskoga kazališta: Anzengruber, Hauptmann, Schiller i Shakespeare na osječkoj njemačkoj pozornici od 1866. do 1907. godine” in: Krležini dani u Osijeku 1997.: hrvatska dramska književnost i kazalište u europskom kontekstu: prva knjiga, edited by Branko Hećimović, Osijek / Zagreb, HNK Osijek, PF Osijek, HAZU, Odsjek za povijest hrvatskoga kazališta, 1999, pp. 256-64.

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opening of the Croatian National Theater in Zagreb that a “stage may be called a vivid mirror of customs of the past and present” and that we feel “even more attracted to the pathway of a higher culture if it speaks to us in our motherland voices,”2 the frequency and performance excellence of the works by the world eminences of the written word become the indices that do tell much about the strength and significance of a stage, and thus also of an edification of the environment it acts in, no matter how small this stage, according to some general criteria, might be. Then, should we only judge by the scope of pageants of authors such as Anzengruber, Hauptmann, Schiller and Shakespeare, the Osijek-based German Theater toward the end of the 19th century and in the beginning of the 20th century may indubitably fit in the European frameworks, while the city itself may certainly be distinguished as the “second Croatian stage” and the Urbs metropolis Slavoniæ,3 wherein the artists arrived as in an antecedent to Vienna. 4 With regard to the topic of this paper, the available data5 testify to a total of 13 plays of these four authors performed in a period dating from 1866 to 1907, whereof Anzengruber, Hauptmann, and Shakespeare were staged with an almost equal frequency (three, i.e., four performances), while Schiller was staged a bit more rarely (two performances). The most fertile years for a dramatization of this type were 1896/1897, when as many as six shows were performed during the theatrical administration of Franz Schlesinger, as well as the year 1900, when two productions of the kind were performed on the stage of the Free Royal City of Osijek during the theatrical administration of Josef Rust. 2

Viceroy Josip Jelačić (Jellačić) printed the aforementioned proclamation in the National Printing Office of Dr. Ljudevit Gaj and had it published in Zagreb on Dec. 13, 1851. 3 Wilma von Vukelich (Vilma Vukelić), „Introduction“ („Vorwort“), in Traces of the Past: Osijek at the Turn of the Century (Spuren der Vergangenheit: Osijek um die Jahrhundertwende), trans. by Vlado Obad (Munich: Verlag Südostdeutscher Kulturwerk, 1992), p. 7. An adaptation of the same book was published in 1994 as a special issue translated by Vlado Obad and edited by Branimir Donat. —Cf. Vilma Vukelić, Tragovi prošlosti: memoari (Zagreb: NZMH, 1994). 4 Julius (Julije) Pfeiffer, „German Theater in Osijek (1774–1907): The Theater in the Upper Town“ („Deutsches Theater in Osijek [1774–1907]: Das Theater in der Oberstadt“), Morning Paper (Morgenblatt), 352 (Zagreb: Sat., Dec. 24, 1932), 13. 5 All the Osijek-based German printed materials and theatrical affiches are quoted courtesy of the Essekiana collection (henceforth: Essek.), archived in the Hemerotheque (henceforth: H) of the Museum of Slavonia in Osijek (henceforth: MSO).

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Since this paper has assumed an interdisciplinary character, it has also been procedurally inclined to the national theatrological and historicoliterary literature, e.g., to a perusal of valuable books or articles by Marijan Bobinac, Milka Car, and Lucija Ljubić.6 Nonetheless, an in-depth research in a part of the Osijek German Theater corpus, extremely significant for the Croatian theatrology especially beyond Zagreb but only insufficiently and partially discussed in the existent studies, should be even more corroboratively circumstantiated, both methodologically and performatively. In this sense, a broader contextualization of performances by Ludwig Anzengruber, Gerhart Hauptmann, Johann Christoph Friedrich von Schiller, and William Shakespeare within the cultural, historicoliterary, and historico-theatrical temporal frameworks is indubitably recommended. Due to the spatial limitations of this article, such an approach, however, could not have been followed completely. II. GRUBER’S FOLK PLAYS Although the famous Austrian actor and playwright Ludwig Anzengruber (1839–1889)7 claimed that the “theater administrations want hits, and there Cf. Marijan Bobinac, German Drama in the Croatian Theater of the 19th Century (Njemačka drama u hrvatskom kazalištu 19. stoljeća) (Zagreb: Leykam International, 2011); Milka Car, Reflections and Shadows: German Dramatic Répertoire in the Croatian National Theater in Zagreb up to 1939 (Odrazi i sjene: njemački dramski repertoar u Hrvatskom narodnom kazalištu u Zagrebu do 1939.) (Zagreb: Leykam International, 2011.); Lucija Ljubić, „Hauptmann’s Female Dramatis Personae on the Stage of the Zagreb-based Croatian National Theater: Hannele, Rosa Bernd, and Elga“ („Hauptmannovi ženski dramski likovi na pozornici zagrebačkoga Hrvatskoga narodnoga kazališta: Anica, Rosa Bernd i Elga“), in Hvar City Theater Days (Dani Hvarskoga kazališta: građa i rasprave o hrvatskoj književnosti i kazalištu), Vol. 33, No. 1 (May 2007), pp. 399‒419. 7 During his guest appearances in the Citadel Theater in Osijek in 1862/1863, he was known as “Momus Gruber.” —Cf. Alois Plein, „Osijek as a German Theater City“ (“Essegg als deutsche Theaterstadt”), in The German Theater in the Free Royal City of Osijek 1776‒1907: Map 1 (Das deutsche Theater in der königlichen Freistadt Essegg 1776‒1907: Mappe 1) (Osijek: Amt für Kunst und Wissenschaft, 1943), n. p. In the aforementioned article, Julius Pfeiffer (see n. 3) adduces a datum that Ludwig 6

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is no folk interested in ‘folk plays’ here,“8 the performances of his plays The Fourth Commandment (Das vierte Gebot), The Perjuring Farmer (Der Meineidbauer), and The Priest from Kirchfeld (Der Pfarrer von Kirchfeld) demonstrate that the Osijek theater audience still understood his didactic, dialectal-musical comprehension of art, thus having at least partially comforted this frequently melancholically-inclined Viennese, who increasingly alienated himself from an onslaught of the French lightspirited musical shows toward the end of the 19th century. In spite of it, neither a benevolence of the City on the Drava nor the establishment of a theater of his own (1889) could save Anzengruber from a gradual loss of spectators’ munificence, whereof he, completely disappointedly, said the following: “Thus, in my person you see a minor creator in the domain of feuilletons and the narrative, and when it comes to a playwright, you find him totally discouraged.”9 In the retrospected period, the first Anzengruber’s play was that of the folk three-acter The Perjuring Farmer, directed by Ernest Mahr on Saturday, April 10, 1897 as a farewell performance of a previous Theater director, the excellent Franz Schlesinger.10 In addition to the songs by Adolf Müller, the Director Mahr himself experienced an attempt as a perjuring Kreuzweg possessor Mathias Ferner, Creszenz (Leopoldine Melzer) and Franz’s Anzengruber stayed on the first floor of an edifice at 52 Duck Street (Entengasse) during his sojourn in Osijek in the 1862/1863 theatrical year, when he also personified the role of Gröschler in the folk musical play titled The Beautiful Leni (Die schöne Leni) by Franz Suppé. The Duck Street was located in the Citadel (Tvrđa), having being named after a homonymous inn there (Zur Ente). See also thereupon: Ive Mažuran et al. (eds.), “Osijek in the 18th Century” (“Osijek u 18. stoljeću”), From the Turkish to the Contemporary Osijek (Od turskog do suvremenog Osijeka), 2 vols. (Osijek – Zagreb: Zavod za znanstveni rad HAZU [Osijek], Gradsko poglavarstvo [Osijek], Školska knjiga, 1996), p. 40. 8 E.[ckard] Hö.[fner], „Der Meineidbauer,“ in Kindlers Literatur Lexikon, 25 vols. (Munich: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1974), pp. 6153f. 9 Höfner, ibid. 10 On Schlesinger, see in more detail my paper “Osijek-based German Theatrical Publications and Critiques (1866‒1907)” (“Osječke kazališne tiskovine i kritike na njemačkome jeziku”) in the book of proceedings of the Krleža Days in Osijek 1996: Osijek and Slavonia—Croatian Dramatic Literature and Theater (Krležini dani u Osijeku 1996.: Osijek i Slavonija—hrvatska dramska književnost i kazalište), edited by Branko Hećimović (Osijek – Zagreb: HNK Osijek, PFOS, Odsjek za povijest hrvatskog kazališta HAZU, 1997), pp. 63‒71.

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(Norbert Innfelder) father, who, having hidden a letter wherein he complained about a modest inheritance subsequent to his brother’s demise, succeeds in depriving his sister-in-law and her children Jakob (Hugo Wahle) and Vroni (Constanze Zinner) of property while amending the testament, and even provokes Vroni’s day labor at the Adams estate following her mother’s death. An intricate, reversal, but yet a little bit effete story also introduces the character of Toni (Leopold Schrottenbach), the son of a peasant from the Adams estate (portrayed by Carl Göttler), who courts Vroni although he is Creszenz’s fiancé, wherefore Vroni has to ensconce herself at her grandmother’s abode (Mathilde Benoit) in a frontier inn. Having accidentally found the letter and having stricken a rapprochement between herself and Franz, Vroni confronts Mathias, who arrives there and is ready to murder his own son in order to recapture the epistle. As Franz eventually survives and Mathias gets horrified while recognizing himself in a Hofmannsthalesque narrative told by an old lady in the hut (Anna Göttler) to her nieces (Sofie Horwathy and Beatrice Rottenberg), the Osijek audience has also witnessed to a final Franz and Vroni’s, i.e., Toni and Creszenz’s, reunion. From a theatrical affiche, we obtain an information that an experienced Osijek-based team of supportive role incumbents provided for their contribution to this show: Cornelius Bollmann, Annette Pauly, Marie Körner, Jenny Elsinger, Emma Lieder and Ilka Nestor (maidservants at the Adams estate); Alexander Nikolić (Muckerl the cowboy); Josef Frank (Lewy the peddler); and Alexander Trebisch, Alfred Perlsee, and Žiga Goldstein (bathers).11 The second Anzengruber’s staging, also a feature one, was the performance of his play titled The Fourth Commandment, as a “benefit performance for the juvenile hero and paramour Robert Valberg,” held on Friday, March 2, 1900. Josef Rust’s theatrical troupe, directed by Hans Pauser, staged this folk four-acter from the Viennese life in the beginning of the 20th century with an almost “familial” cast: it was comprised of the Czernys (Liane Czerny as Michel, the turner Schalanter’s apprentice; Steffi Czerny as 11

Xerox copies of the original theatrical advertisements, affiches, and posters are presented in the collection Das deutsche Theater in der königlichen Freistadt Essegg 1776‒1907: Mappe 1, op. cit., n. p.

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Tonl, a five-year-granddaughter of the innkeeper Mostinger; and Hans Czerny as the jailer Atzwanger), the Mentzls (Käthe Müller-Mentzl as Barbara, the turner Schalanter’s spouse, and Edmund Mentzl as the knave Seeburger), and the Valbergs (the beneficiary Robert Valberg as Martin, the turner Schalanter’s son, and Louise Valberg as Herwig, the mother of Schalanter’s wife Barbara), while one of the main roles, that of the turner Schalanter, was played by the show’s director Hans Pauser. A numerous thespian cast, headed by the experienced and meritorious Fritz Albin as the privateer and house owner Anton Hutterer, was comprised of as many as 23 other actors and actresses, whereby some of them (e.g., Albin and Pauser themselves, as well as the Czernys, Mentzls, and the Valbergs; Rudolf Herdy, appearing here as August Stolzenthaler; Josef Moravi, here in the role of the innkeeper Mostinger; Alexander Nikolić, here Stolzenthaner’s inn colleague Höller) were the perennial members of the Upper Town Theater histrionic troupes. In his article,12 Alois Plein also adduces a datum on the performance of The Priest from Kirchfeld while mentioning that it frequently was on the répertoire during the subject period (1866‒1907); however, he fails to provide either a more detailed temporal framework or an information on a theatrical troupe, Theater administrator, director or casting in this renown Anzengruber’s antiecclesiastical play. III. OSIJEK-BASED PERFORMANCES OF HAUPTMANN In her memoirs,13 the Osijek-based authoress Vilma Vukelić cites a performance of Hauptmann’s Hannele in the Osijek Upper Town Theater already in 1897. Should we have confidence in this datum, the Osijek Hannele was performed only a year after this show’s première in the Zagreb-based Croatian National Theater on March 30, 1896, titled Anica

12

Plein, op. cit. Wilma von Vukelich, Alone Against the Customs of an Entire City (Allein gegen die Gepflogenheiten einer ganzen Stadt), op. cit., pp. 255f.

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and translated by Janko Ibler,14 i.e., only four years subsequent to its German première in the Royal Theater (Kgl. Schauspielhaus) in Berlin on November 14, 1893.15 Due to the fact of a usual performance of plays only a few times then and because of strenuous efforts invested in the actors’ endurance and concentration, the enactment of this “dream poem in two parts,” staged in Germany as Hanneles Himmelfahrt (The Assumption of Hannele) subsequent to 1893, was indubitably not exceptional, but an endeavor to dramatize this tragedy of the chilblained, vitrically abused Silesian girl Hannele Mattern on the Osijek German stage at all is worth chronicling. Drayman Henschel (Fuhrmann Henschel), a five-acter on the life of a Silesian bathing town in the 1860s and the predicaments experienced by the almost forty-five-year-old drayman Wilhelm Henschel with his ambitious former maidservant Hanne Schäl, which, while causing his remorse, provoke his suicide, was performed on March 21, 1900, only two years following the Berlin première in the German Theater (Deutsches Theater) on November 5, 1898. On that Wednesday, the show was announced on the affiche as a “benefit performance for the director and actor Fritz Albin” and as a completely new production that had already received the Grillparzer Prize in Austria (Hofburgtheater in Vienna) and Germany (Deutsches Theater in Berlin). The main protagonists were the veteran members of Rust’s histrionic troupe: Fritz Albin as Henschel; Marie Amenth as his suspicious and ailing spouse; Minka Moretto as Hanne; Friedrich Becher, who rendered his guest appearance as Georg, a waiter in the Gray Swan (Zum grauen Schwan) tavern and subsequent Hanne’s paramour, etc.

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Cf. Branko Hećimović (ed.), The Répertoire of Croatian Theaters 1840‒1860‒1990 (Repertoar hrvatskih kazališta 1840.‒1860.‒1990.), Book 1 (Zagreb: Globus/JAZU, 1990), p. 84. 15 V.[alentin] H.[erzog], „The Assumption of Hannele“ („Hanneles Himmelfahrt: Traumdichtung in zwei Teilen“), in Kindlers Literatur Lexikon, op. cit., pp. 4266f. —A slightly pleonastic English translation of the play as The Ascension of Little Hannele is also recorded.

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The Osijek-based triweekly The Drava (Die Drau)16 chronicled the performance of the play The Weavers (Die Weber), staged in the Upper Town Theater three nights earlier, on Saturday, January 12, 1901. In his review, the paper’s critic Stein quotes that we have “still got introduced to these notorious Weavers by Gerhart Hauptmann on our stage after they have scarcely escaped a destiny to be fallen victim to performance forbiddance at the last minute, here as well as in Germany and Austria.” Namely, seven years subsequent to the first public performance of the play (that occurred on September 25, 1894 in the Berlin German Theater) inspired by a historical riot of Silesian weavers of Kaschbach, Langenbielau, and Peterswaldau against the slave-driving employers in June 1844, on whose extinction Hauptmann heard from his father Robert,17 a spirit for the reception of such contents in this part of Europe, wherewith Osijek was undeniably affiliated already then, was still such that Stein could claim that “luckily, these relations are completely alien to us,” so “that what Hauptmann depicts in his Weavers may disturb only a sensitive person, a person who resents against the pain of the dear ones in a moral anger, as it was happening to the person himself or herself [sic].” Nevertheless, Stein concludes that “it does not pertain to an individual issue here, unlike in Drayman Henschel, but it relates to something universal, and that exactly is what captures us with an irresistible power, does not let us go from its sphere of influence, and acts upon us truly enchantingly.” Therefore, The Drava renders its full acclaim to this Osijek performance, only complaining about a typically low attendance of the Upper Town Theater auditorium while emphasizing a contribution by Mr. Schroth, the director and the protagonist of the main role of Moritz Jäger, to the success of the play, although he occasionally was a bit too loud. The Drava closes its feuilleton with laudations to Messrs. Kolmar (Baumert) 16

Stein, „Feuilleton: Die Weber,“ Die Drau, 7 (Tue., Jan. 15, 1901), 1‒2–MSO, H. Essek., 1901. 17 Cf. U.[lrich] H.[ubert], „Die Weber,“ in Kindlers Literatur Lexikon, op. cit., pp. 10159‒10161. —Kindler circumstantiates that in case of the industrialist Dreißiger, who escapes when the insurgents devastationally plunder his house, a historical precursor was a personage surnamed Zwanziger, while the character of the priest Kittelhaus, a defender of the status quo, and the persona of the senescent Hilse, who did not participate in the riot due to his piousness but fell victim to an armed confrontation with the weavers in the final scene, are Hauptmann’s nonhistorical interventions.

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due to his brilliant depiction of transition “from a benevolent tolerant man into a raged rebel,” Haas (Ansorge), Tragan (industrialist Dreißiger), Goldstein (Wiegand), Sederl (Hornig), Hellwig (Bäcker), Schönthal (Hilse), Steiner (Reisender) and Grünau (Gottlieb), as well as to Ms. Hell, who “pleasantly surprised as Louise and was rewarded by a stentorian applause for her really beautiful creation.” IV. SCHILER’S BEAUTIFIED REALITY ON THE OSIJEK GERMAN STAGE In the period from 1866 to 1907, according to the affiches, the performance of the drama The Robbers (Die Räuber) on April 14, 1898 and of Mary Stuart (Maria Stuart) on November 10, 1906 are recorded.18 The newly produced Robbers were performed on Thursday, April 14, 1898, having the following cast with the “half-raised prices”: Leopold Bass (Maximilian, the Count of Moor), Berthold Held (Karl Moor), Georg 18

While quoting the enactments without broader data, Alois Plein (op. cit.) chronicles the performances of Schiller’s plays even prior to the subject period, i.e., the staging of the play Intrigue and Love (Kabale und Liebe) and Mary Stuart (Maria Stuart) in the period from 1838 to 1859, and of The Robbers (Die Räuber) in 1861 in the Citadel Theater. —Additionally, Gordana Gojković briefly mentioned that a theatrical troupe by Louis Konderla repeatedly performed Mary Stuart in the Citadel Theater in the second half of the 1860s. The play received unfavorable critiques partially due to the directorship of the actor Brémont, “a stage autarch” who reiteratedly neglected all benevolent pieces of advice in his “undeterminedness”: cf. “Konderla’s Era” (“Konderlina era”), in German Musical Theater in Osijek 1825‒1907: A Contribution to the History of Osijek (Njemački muzički teatar u Osijeku 1825.‒1907.: prilog povijesti Osijeka) (Osijek: HNK, 1997), p. 19. However, there were much earlier attempts to perform Schiller’s theatrical dramatizations. E.g., Stanislav Marijanović cites the data from the list titled Cathalogus drammatum in publico Essekiensi Theatro producendorum by the theatrical troupe of Joseph Sellner, compiled in Osijek on January 14, 1834, wherefrom it is visible that a special review commission of the Hungarian Royal Regent Council prohibited the actors to perform Schiller’s plays Don Carlos (Don Karlos, Infant von Spanien), Fiesco’s Conspiracy at Genoa (Die Verschwörung des Fiesco zu Genua), The Robbers (Die Räuber) and Wallenstein’s Death (Wallensteins Tod): cf. “Theater and Theatrical Engagement: German Theater In Continuity” (“Kazalište i kazališni angažman: njemački teatar u kontinuitetu”), From the Turkish to the Contemporary Osijek, op. cit., p. 119.

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Muratori (Franz Moor), Ilka Nestor (Amalia, the Moors’ niece), etc. While realizing that “none in the [subject] troupe [of the administrator Franz Schlesinger] dared completely (…) incorporate the role [of Karl Moor],” The Drava still claims that the “performance of the famous play The Robbers by Friedrich v. Schiller on Thursday had, principally phrased, just a single mistake, but that was a gigantic one.”19 A critic of The Drava expresses, namely, severe denigration on the account of Berthold Held as Karl Moor while noting that he has “a single timbre at his disposal, the one of lachrymose sentimentality, extinguished life hopes, and similar characteristics,” so that Held in this role personifies a “teacher, although he should have been a robber captain.” A better appraisal was not deserved either by Georg Muratori, that night’s Franz Moor, who “was really horrible, but should have been probably less so,” or by Ms. Ilka Nestor as Amalia, “who was not up to her task.” A quite contrary critique was received by the second Schiller’s dramatization, Mary Stuart, performed on Saturday, November 10, 1906 “as a memento of Friedrich v. Schiller’s birthday.” Schiller’s tragic fiveacter, whose prolog was read by the theatrical troupe administrator Edmund Spillern, was produced on the stage of the Upper Town Theater according to a Leipzig paragon under directorship of the “superintendent” Paul Hubl, and the main protagonists were Paula v. Saltariello (Elizabeth, the Queen of England), Grete Langfried (Mary Stuart, the Queen of Scots arrested in England), Paul Hubl (Robert Dudley, Count of Leicester) and Oskar Felix (Mortimer, a nephew of the knight Amias Paulet, Mary’s guardian). On this performance, the exhilarated mid-aged reporter of The Drava writes the following: A great battle is victoriously won! Indeed, it must have been a courageous experiment to perform a classic with a troupe that has collaborated for only a week. No matter how courageous the experiment might be, it has succeeded above all. The audience that crowded the theater has received an abundant, pulchrious reward for its confidence expressed to the director. Each actor has really astonished by a dedication to the role cast. And an invisible—but palpable—soul of the director, who invested, with 19

„Theater,“ Die Drau 45 (Sun., Apr. 17, 1898), 7‒MSO, H, Essek., 1898.

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reasonable love, all his artistry in the success of this noble deed, hovered above all. He kept his word given in the prolog. He let the magic of Schiller’s word ardor act intensely upon us; the old Schiller subdued us under his influence forcefully, and we were invigorated at a fountain of eternal youth!20 V. AN OSIJEK-BASED POETICS OF THE BARD OF AVON The German performances of tragedies Hamlet, Othello, and Richard III in Osijek toward the end of the 19th century21 are related to a guest appearance of the German-English actor Maurice Morisson, which, according to one of many articles of The Drava dedicated to the artist those days, was “featured as an important artistic experience of our city,” 22 so it is unsurprising that his guest appearance, upon a request of domestic theatergoers and thanks to the entrepreneurship of Schlesinger’s administration, was prolonged for

20

a. b. g., „Theater,“ Die Drau, 135 (Tue., Nov. 13, 1906), 6‒MSO, H, Essek., 1906. Alois Plein (op. cit.) also enumerates the earlier performances of Shakespeare’s works, then still in the Citadel Theater: e.g., The Tragedy of Hamlet, Prince of Denmark (Hamlet, Prinz von Dänemark) was performed in 1864, while Othello was performed on the very eve of the grand opening of the Upper Town Theater in 1866. Nonetheless, Marijanović (op. cit.) claims that the aforementioned Hungarian Royal Regent Council prohibited Sellner’s troupe in 1834 to also perform Shakespeare’s Hamlet, in addition to other “inappropriate” plays. 22 Die Drau, 24 (Thurs., Feb. 25, 1897), 3‒MSO, H, Essek., 1897. According to the articles in various issues of the grandiloquent Drava, Morisson opened his guest appearance on Tuesday, February 23, 1897 by Alexandre Dumas’ Kean (Kean, ou Désordre et Génie); Wednesday has seen his performance as Risler in the comedy Fromont, Jr. and Risler, Sr. (Fromont jun. und Risler sen.) by Alfonse Daudet and Adolf Bilot; on Thursday, he continued his guest appearance while playing the main protagonist in Shakespeare’s Hamlet; on Saturday, he played Uriel Acosta; on Wednesday, March 3, 1897, he performed in the play The Tragedy of King Richard the Third (König Rikard III.); on Tuesday, March 9, 1897, he was Othello; and he finished his guest appearance being Sir Harleigh in an “exciting three-acter” She Is Insane! (Sie ist wahnsinnig!) on Wednesday, March 10 of the same year. Morisson departed from Osijek to Opatija, and then, while also acting in English, experienced successes in the Imperial Court Theater in Odessa. 21

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two nights, 23 for “he is an artist who thinks, he has learned a lot, and his artistry is pursuantly truly impressive.”24 Morisson starred as Hamlet “in accordance with the ideas of the English stage,” as reported by The Drava in the “Theatrical News” on page 3 of its 24th issue, dated Thursday, February 25, 1897 and edited by Julius Pfeiffer; moreover, the critic adds that it was one of Morisson’s “most significant artistic creations, wherewith he has achieved unexpected successes in America.” On the performance of The Tragedy of King Richard the Third (König Rikard III.) on March 3, 1897, The Drava brought two longer and one shorter article, and it is worth noting that an entire feuilleton on the paper’s cover page was panegyrically dedicated to Morisson. The articles testify to the fact that the auditorium was crowded on that Wednesday and that an “abundant laurel wreath” was bestowed onto him already after the first act (no. 27, Thurs., Mar. 4, 1987, p. 4) for his role of Richard of Gloucester, a “butcher dog who enjoys the fruit of his mother’s womb“ (no. 28, Sun., Mar. 7, 1897, pp. 6f), while the production also deserved a special recognition by The Drava “with regard to the modest dramatizations on our stage.” The Tragedy of Othello, the Moor of Venice (Othello, der Mohr von Venedig) with Morisson in the title role was performed on March 9, 1897, and the Osijek press (e.g., The Drava, no. 28 of Sun., Mar. 7, 1897, p. 6) interpolated a critique on this “most brilliant role from [Morisson’s] répertoire” from the United States media, according to which his acting could have been compared with that of Tommaso Salvini (1829‒1915), a celebrated Italian Shakespearean protagonist. Interestingly, this performance of Shakespeare’s Othello was reminisced by the old Essekers so much that even a year later, on Sunday, April 3, 1898, The Drava provided for the data from the Italian paper Italia on “a 1542 manuscript that has been discovered just now” in an essay titled “Othello’s True 23

Cf. “Prolongation of Morisson’s Guest Appearance” (“Verlängerung des MorissonGastspieles”), Die Drau, 28 (Sun., Mar. 7, 1897), 6‒MSO, H, Essek., 1897. 24 Ibid.

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History” (“Othellos wahre Geschichte”) on the seventh page of in its fortieth issue; nonetheless, the Osijek triweekly did express a bit of suspicion in their veracity.25 In spite of substantial expenditures incurred by Schlesinger’s histrionic troupe, Shakespeare’s Merchant of Venice (Kaufmann von Venedig) was also staged during the 1896/1897 theatrical year, according to the data by Gordana Gojković.26 The production of this play occurred on Tuesday, January 19, 1897 during a guest appearance by Max Löwenfeld,27 an actor of the Berlin Lessing Theater, who starred as Shylock. The contemporary Osijek German papers report that the auditorium was overcrowded, while Löwenfeld himself encountered an extremely cordial welcome, for, according to a critic of The Drava triweekly, “he repeatedly provided in this role a proof of a high artistic talent,” so “his entire creation was impressed by an incomparable perfection.” 28 On that soirée, an audience’s floral wreath has not missed Ms. Magda Schlesinger as Portia, who played her with “self-confidence,” and the critic also referred to the thespian styles 25

The Osijek adaptations of Othello, a play based on the 1565 collection Gli Hecatommithi by Giovanni Battista Giraldi (“Cinthio”) whose translation was known to Shakespeare, were continued after 1907: according to the data from Hećimović’s Répertoires (op. cit.), the first of them was organized as a guest performance of the Osijek Croatian National Theater in Varaždin on Sept. 12, 1912, being restaged five times; the director was Nikola Hajdušković, and the play was performed in a translation by Josip Karlović as Othello ili mletački crnac. 26 „A Thirty-Year Jubilee“ („Tridesetogodišnji jubilej“), Njemački muzički teatar u Osijeku 1825.‒1907., op. cit., p. 61. 27 As reported in detail by The Drava in a feuilleton of its no. 5 on Tue., Jan. 12, 1897, it appears that Löwenfeld arrived to Osijek the very next day, i.e., on Wednesday, January 13, 1897. The celebrated actor subsequently played the role of Traft in Hermann Sudermann’s Honor (Die Ehre) (Thurs., Jan. 14), starred as Montjoye in a “Parisian tableaux in five acts“ titled Montjoye (Montjoye, der Mann von Eisen) by Octave Feuillet (Sat., Jan. 16), was Count Klinsberg in a comedy Father and Son (Die beiden Klinsberg) by August von Kotzebue (Sun., Jan. 17), and performed in a dramatization of The Daughter of Mr. Fabricius (Die Tochter des Herrn Fabricius) by Adolf Wilbrandt (Mon., Jan. 18) in addition to being Shylock, with the raised subscription prices, during his five-day guest appearance. —The Drava publicized the reviews of his guest appearances also on pp. 2 and 5 (“Theaternachrichten”) in its no. 7 of Sun., Jan. 17, 1897, as well as on pp. 4f (“Theater: Gastspiel Max Löwenfelds”) in its no. 8 of Tue., Jan. 19, 1897. 28 See „Theater: Gastspiel Max Löwenfelds,“ Die Drau, 9 (Thurs., Jan. 21, 1897)— MSO, H., Essek., 1897.

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of Messrs. Göttler (Lancelot’s father), Innfelder (Gratiano), Mahr (Antonio) and Wahle (Prince of Morocco), as well as to an appropriate portion of humor incorporated by Mr. Trebisch in the character of Lancelot, by select eulogies. However, when it comes to Ms. Melzer’s characterization of Jessica, the same journalist, unwilling to completely discourage the juvenile actress, just claimed that it has remained more an attempt than a laudation-worth staging. Generally, the night has seen a very successful Löwenfeld’s farewell performance and yet another Schlesinger’s triumph, so necessary to him at that time, for “Shakespeare’s language, as always, radiated an irresistible charm and vehemently touched the hearts of the attentive and grateful spectators.”29 The last chronicled performance of a Shakespeare’s play in a period from 1866 to 1907 was that of Hamlet on Thursday, January 24, 1901. Speaking about the Osijek actor Carl Schroth, The Drava30 adduces that, “according to the Hamlets that we have seen so far, the mode in which Schroth comprehended the Danish prince is a new one.” The article writer Stein accentuates that Schroth “portrays in his Hamlet not only a philosophical visionary but also highlights an avenger of his assassinated father from the very first moment,” while “everything else consists of an interesting addition whereto Schroth, with an exceptional talent of sentimentality, provided its life and form.” Nonetheless, Ms. Hell (Ophelia), Mr. Kolmar (first Player), and Mr. Haas (Polonius) are also commended, while the director was objected because of his abridgement of the original play (due to the contemporary incapacitations of the Osijek stage), as well as because of his casting of the apathetic Mr. Grünau as Laertes. The remaining roles were played by Mr. Tragan (Claudius), Ms. Rühman (the not-soconvincing Queen Gertrude), Mr. Schönthal (Gravedigger), Mr. Schweizer (Rosencrantz) and Messrs. Sederl (Guildenstern) and Hellwig (Horatio). VI. The presented data pertaining to the works of the classics of the world literature on the Osijek German stage prove that in this city, even toward 29 30

Ibid. St., „Theater,“ Die Drau, 12 (Sun., Jan. 27, 1901), 6‒MSO, H., Essek., 1901.

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the end of the 19th and in the beginning of the 20th century, there was both a willingness of the thespians to perform them and a readiness of the audience to support their countrymen, the histrionic troupe leaders, by its presence. Therefore, let us finish this paper while quoting the words of an anonymous feuilletonist of The Drava, compiled on the occasion of performance of The Tragedy of King Richard the Third, which may be applied to all the aforementioned plays without any hesitation: having exclaimed that there is “an appreciative field for the drama in Osijek,” the article writer namely claims that “we are imbued by satisfaction because of the fact that there are so many people here who do not find that Richard alien and who have patiently endured four hours on their seats as to eventually experience the demise of this rogue.” This citation is exactly a proof that the Theater of the Free Royal City of Osijek, in spite of its principally musical répertoire, could be a venerable ersatz of even the leading European stages, primarily with regard to the Osijek Germans but also with regard to other contemporary intellectuals. BIBLIOGRAPHY GOJKOVIĆ, GORDANA, “Konderla’s Era” (“Konderlina era”) and „A Thirty-Year Jubilee“ („Tridesetogodišnji jubilej“). In: German Musical Theater in Osijek 1825‒1907: A Contribution to the History of Osijek (Njemački muzički teatar u Osijeku 1825.‒1907.: prilog povijesti Osijeka). Osijek: HNK, 1997, pp. 19; 61. HEĆIMOVIĆ, BRANKO (ed.), The Répertoire of Croatian Theaters 1840‒1860‒1990 (Repertoar hrvatskih kazališta 1840.‒1860.‒1990.), Book 1. Zagreb: Globus/JAZU, 1990, p. 84. HERZOG, VALENTIN, „The Assumption of Hannele“ („Hanneles Himmelfahrt: Traumdichtung in zwei Teilen“). In: Kindlers Literatur Lexikon, 25 vols. Munich: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1974, pp. 4266f. HÖFNER, ECKARD, „The Perjuring Farmer“ („Der Meineidbauer“). In: Kindlers Literatur Lexikon, 25 vols. Munich: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1974, pp. 6153f. HUBERT, ULRICH, „The Weavers“ („Die Weber“). In Kindlers Literatur Lexikon, 25 vols. Munich: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1974, pp. 10159‒10161. MARIJANOVIĆ, STANISLAV, “Theater and Theatrical Engagement: German Theater In Continuity” (“Kazalište i kazališni angažman: njemački teatar u kontinuitetu”). In: IVE MAŽURAN et al. (eds.), From the Turkish to the Contemporary Osijek (Od turskog do suvremenog Osijeka), 2 vols. Osijek – Zagreb: Zavod za znanstveni rad HAZU (Osijek), Gradsko poglavarstvo (Osijek), Školska knjiga, 1996, p. 119. MAŽURAN, IVE, et al. (eds.), “Osijek in the 18th Century” (“Osijek u 18. stoljeću”). In: From the Turkish to the Contemporary Osijek (Od turskog do suvremenog Osijeka), 2 vols. Osijek – Zagreb: Zavod za znanstveni rad HAZU (Osijek), Gradsko poglavarstvo (Osijek), Školska knjiga, 1996, p. 40.

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PFEIFFER, JULIUS, „German Theater in Osijek (1774–1907): The Theater in the Upper Town“ („Deutsches Theater in Osijek [1774–1907]: Das Theater in der Oberstadt“). In: Morning Paper (Morgenblatt), 352 (Zagreb: Sat., Dec. 24, 1932), 13. PLEIN, ALOIS, „Osijek as a German Theater City“ (“Essegg als deutsche Theaterstadt”). In: The German Theater in the Free Royal City of Osijek 1776‒1907: Map 1 (Das deutsche Theater in der königlichen Freistadt Essegg 1776‒1907: Mappe 1). Osijek: Amt für Kunst und Wissenschaft, 1943, n. p. THE DRAVA (DIE DRAU), 19 (Thurs., Jan. 21, 1897)—MSO, H., Essek., 1897; 24 (Thurs., Feb. 25, 1897), 3‒MSO, H, Essek., 1897; 28 (Sun., Mar. 7, 1897), 6‒MSO, H, Essek., 1897; 45 (Sun., Apr. 17, 1898), 7‒MSO, H, Essek., 1898; 7 (Tue., Jan. 15, 1901), 1‒2–MSO, H. Essek., 1901; 2 (Sun., Jan. 27, 1901), 6‒MSO, H., Essek., 1901; 12 (Sun., Jan. 27, 1901), 6‒MSO, H., Essek., 1901; 135 (Tue., Nov. 13, 1906), 6‒MSO, H, Essek., 1906. VUKELICH, WILMA VON, „Introduction“ („Vorwort“). In: Traces of the Past: Osijek at the Turn of the Century (Spuren der Vergangenheit: Osijek um die Jahrhundertwende). Trans. by Vlado Obad. Munich: Verlag Südostdeutscher Kulturwerk, 1992, p. 7. ŽIVIĆ, TIHOMIR, “Osijek-based German Theatrical Publications and Critiques (1866‒1907)” (“Osječke kazališne tiskovine i kritike na njemačkome jeziku”). In: Krleža Days in Osijek 1996: Osijek and Slavonia—Croatian Dramatic Literature and Theater (Krležini dani u Osijeku 1996.: Osijek i Slavonija—hrvatska dramska književnost i kazalište). Ed. by Branko Hećimović. Osijek – Zagreb: HNK Osijek, PFOS, Odsjek za povijest hrvatskog kazališta HAZU, 1997, pp. 63‒71.

Tihomir Živić Als Vorstufe für Wien. Osijeker deutschsprachige Bühne 1866-1907 Zusammenfassung Der Aufsatz beschäftigt sich vorwiegend mit Anzengrubers, Hauptmanns und Schillers Dramatik auf der deutschsprachigen Bühne des essekerischen Oberstadttheaters von 1866 bis 1907; daneben bezeugt das Kapitel getitelt „Essekerische Poetik des Barden von Avon“ sehr akribisch ein Gastspiel des deutsch-englischen Schauspielers Maurice Morisson und die Aufführungen der bekannten Tragödien Hamlet, Othello und Rikard III. auf der essekerischen deutschsprachigen Bühne, sowie eine allgemeine Rezeption der Werke von William Shakespeare in Essegg in 1897. Man soll eine aufmerksame archivalische, museale, interkulturelle und intertextuelle Forschung und eine faktographisch umfangreiche Studie der derzeitigen britisch-deutschen literarischen und theatralischen Beziehungen betonen, weil Shakespeare oft an die kroatischen Leser und Zuschauer des 19. Jahrhunderts eben durch die deutschen Übersetzungen gelangte. Daher suggeriert der Aufsatz-Schluss, dass das essekerisches Deutsches Theater am Ende des 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts zweifellos zum derzeitigen europäischen Kontext klassifiziert sein kann, während die Stadt gewiss als die „zweite kroatische Bühne“ oder als eine Urbs metropolis Slavoniæ, in die die Künstler im Laufe der sechs Theatermonate wie in eine Vor-Station zu Wien eingetroffen waren, gerühmt sein kann. Stichwörter: Oberstadttheater, Essegg / Osijek, Anzengruber, Hauptmann, Schiller, Shakespeare

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FRANZ GRILLPARZER IM SLOWENISCHEN ETHNISCHEN GEBIET DER HABSBURGERZEIT: VORSPIEL IN DER SCHULE1 Irena Samide Universität Ljubljana (irena.samide@ff.uni-lj.si) Zusammenfassung Die uneingeschränkte Anerkennung Franz Grillparzers (1791–1872), dem heute der Rang des Nationaldichters sowie des österreichischen Klassikers gebührt, vollzog sich in der Habsburgermonarchie erst nach 1890, als der Autor mit seinen Werken Eingang in den gymnasialen Lektürekanon fand – obwohl seine Stücke schon seit den 1820er Jahren auf den Bühnen in der Monarchie mit Begeisterung aufgenommen wurden. Der Beitrag untersucht die Präsenz der Dramen Grillparzers in den Gymnasien im slowenischen ethnischen Gebiet, weist auf die Unterschiede zwischen der Rezeption im Theater und in der Schule hin und geht u. a. der Frage nach, was für eine Rolle Grillparzer in der gymnasialen Kanonarchitektur gebührt. Stichwörter: Franz Grillparzer, Gymnasialer Lektürekanon, Theateraufführungen im 19. Jahrhundert im slowenischen ethnischen Gebiet, österreichischer Nationaldichter

„Zu der vielfältigen Kriminalität des österreichischen Bildungswesens gehört, daß schon den Kindern unser Nationaldichter vermiest wird. Grillparzer ist als Unterrichtsgegenstand ungeeignet. Damit er gelesen wird, gehört er verboten,“ behauptet Günther NENNING (S. 84) anlässlich des Grillparzerjahres 1991 und ist in seiner Ablehnung der schulischen Auseindersetzung mit dem Nationaldichter Österreichs keineswegs allein: „Franz Grillparzer, Österreichs Antwort auf Goethe […], der von Pädagogen in langer Tradition entstellte, zerrissene Vertreter heimischen Ordnungsdenkens“, schreibt z. B. der Publizist Richard REICHENSPERGER zum gleichen Anlass (S. 89).

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Der Beitrag entstand im Rahmen der Forschungsgruppe Interkulturelle literaturwissenschaftliche Studien P6-0265, die von der Slowenischen Forschungsagentur aus den Staatshaushaltsmitteln der Republik Slowenien finanziert wird.

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Dass der Dichter und Dramatiker in den Schulen der Habsburger Monarchie – aber auch viel später, wie die heutigen GermanistInnen berichten2 – zur unumstrittenen Leitfigur des Literaturunterrichts gehörte, beweist am eindrucksvollsten der Titel des Abituraufsatzes, den die Schüler am Cillier Gymnasium im Schuljahr 1909/10 verfassen mussten: „Grillparzer – Österreichs Klopstock, Lessing, Goethe und Schiller zugleich“.3 Die identitätsstiftende Rolle Grillparzers, die durch diesen großtuerischen Titel unterstrichen wird, kristallisierte sich jedoch erst nach 1895 heraus. Hinsichtlich der großen Erfolge, die seine Stücke bereits im zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts verzeichnet haben (Die Ahnfrau wurde 1817 uraufgeführt, Sappho 1818 und die Trilogie Das goldene Vlies 1821), sowie öffentlicher Huldigungen, die Grillparzers Tod 1872 begleitet haben, wirkt die späte Aufnahme in den schulischen Lektürekanon auf den ersten Blick vielleicht erstaunlich. Abgesehen von der Tatsache, dass Grillparzers Verhältnis zum österreichischen Staat ein ambivalentes war – als Beweise dafür dienen einerseits Zensureingriffe in seine Gedichte (vgl. SCHEIT, S. 52), die Auflösung des Künstervereins Ludlamshöhle 1826, der merkwürdige Wunsch des Kaisers, sein Stück Ein treuer Diener seines Herrn (1830) als Privatbesitz zu erwerben sowie andernseits seine zahlreichen bissigen Epigramme und kritische Stellungnahmen – war nämlich Grillparzer, wie dies Karl KUMMER und Karl STEJSKAL, Autoren des weit verbreiteten Lesebuchs Einführung in die Geschichte der deutschen Literatur hervorheben, dennoch

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So z. B. Prof. Dr. Kurt Bartsch und Prof. Dr. Neva Šlibar im persönlichen Gespräch im November 2011 an der SOEGV-Konferenz in Bled, Slowenien. 3 Vgl. den Jahresbericht des k. k. Gymnasiums in Cilli, herausgegeben am Schlusse des Schuljahres 1910. Jahresberichte oder Schulprogramme waren im Zeitraum von 1850 bis 1918 am Ende jedes Schuljahres in allen Gymnasien der Habsburgermonarchie herausgegebene Berichte, die Daten zum Lehrplan, zu Lehrwerken, zu schulischen Aufsätzen, zum Lehrkörper sowie zu allen wichtigen schulischen Aktivitäten enthielten, mehr dazu vgl. SAMIDE 2012, zum theoretischen Hintergrund auch KORTE 2007, 2011. Der folgende Beitrag basiert auf einer systematischen Untersuchung der Jahresberichte dreier Gymnasien im slowenischen ethnischen Gebiet von 1850 bis 1918: des k. k. Staatsgymnasiums zu Laibach, des k. k. Staatsgymnasiums in Marburg sowie des k. k. Staats-Obergymnasiums zu Klagenfurt, kursorisch wurden dafür aber auch Jahresberichte humanistischer Gymnasien in Triest, Cilli und Görz herangezogen. Alle Jahresberichte werden im Weiteren durch folgende Kürzeln widergegeben: JB + Angabe des Gymnasiums + Erscheinungsjahr.

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durchaus Österreicher und in der Abhängigkeit von seiner engeren Heimat, in seiner Liebe und Hingebung zu ihr liegen zugleich die Wurzeln seiner Kraft. Trotz allem, was ihm die böse Zensur, das herrschende System und eine übelwollende Kritik angetan, hielt er an seiner Liebe fest: ‚Ich bin in mein Österreich verliebt und möchte nirgends anders leben’ (S. 408).

Jedoch ist der Weg von der öffentlichen Anerkennung bis zum Eintreten literarischer Größen in den schulischen Lektürekanon, wie im Folgenden gezeigt wird, ein langer Prozess, der durch Brüche, Diskontinuitäten und Perspektivveränderungen gekennzeichnet ist; Franz Grillparzer stellt dabei keine Ausnahme dar. Nach einem ersten frühen Verweis aus dem Jahr 1861 – es handelte sich dabei um einen Aufsatz, worin Grillparzers Gedicht Abschied von Gastein mit Todtenkränze von Zedlitz verglichen werden sollte (vgl. JB Marburg 1960/61) – sind bis 1878 in den gymnasialen Jahresberichten keinerlei Nennungen verzeichnet. Angesichts teils mangelhafter Dokumentation wäre die Behauptung, dass Grillparzer im Unterricht bis dato überhaupt nie und nirgends gelesen und behandelt wurde, vielleicht verfrüht, jedenfalls kann aber seine Präsenz bis dahin als insignifikant bezeichnet werden. Bei den ersten Versuchen, Grillparzer in den Literaturunterricht zu integrieren, werden am Marburger Gymnasium – oft als Redeübungen – in erster Linie seine Dichterpersönlichkeit und sein Wirken im Allgemeinen ins Zentrum gestellt sowie einige seiner Gedichte analysiert. Erst 1892/93 kommt er mit der Ahnfrau und König Ottokars Glück und Ende in die Lehrverfassung.4 Und auch nachdem die Schüler am Klagenfurter Gymnasium 1878 den ersten Aufsatz zu König Ottokars Glück und Ende geschrieben hatten, dauerte es fast 10 Jahre, bis das Werk 1887 wieder behandelt wurde – diesmal stand es jedoch schon in der Lehrverfassung als obligatorische Schullektüre. Während die Präsenz Grillparzers in der Klagenfurter Lehrverfassung seitdem fest verankert war, befand sich sein Name in der Lehrverfassung des Marburger und Laibacher Gymnasiums erst seit 4

‚Lehrverfassung’ ist die häufigste Bezeichnung für den Lehrplan, der in den Jahresberichten jedes Jahr aufs Neue verzeichnet wurde. Während am Marburger (bis 1875) und Laibacher Gymnasium (bis 1880) die Ausdrücke ‚Lectionsplan’ sowie am Klagenfurter Gymnasium ‚Lehrplan’ (bis 1890) gebraucht wurden, setzte sich danach überall die ‚Lehrverfassung’ durch.

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1892/93. Hier eine Auflistung seiner Texte in den Lehrverfassungen dreier Gymnasien im 5-Jahres-Rhythmus:

Tabelle 1: Grillparzer in der Lehrverfassung: alle Nennungen in 3 untersuchten Gymnasien

1885–1890 1891–1895 1896–1900 1901–1905 1906–1910 1911–1915 Insgesamt

Laibach 0 5 5 18 16 21 65

Klagenfurt 4 7 5 5 5 14 40

Marburg 0 6 5 4 9 9 33

Nennungen insgesamt 4 18 15 27 30 44 138

Die ersten dokumentierten Nennungen in der Lehrverfassung gehen mit den ersten Erwähnungen Grillparzers in den vom Unterrichtsministerium herausgegebenen offiziellen Richtlinien einher. Wird er im Entwurf der Organisation der Gymnasien und Realschulen in Oesterreich namentlich gar nicht angeführt, wird sein Name 1884 zwar angegeben, jedoch mit einem kategorischen Vorbehalt: In den Instructionen 1884 heißt es: „Auch Stücke der romantischen Schule, H. v. Kleists und Grillparzers müssen [sic!] der Privatlektüre vorbehalten bleiben“. (S. 67) Resoluter geht es wohl nicht. Damit wird Grillparzer in den offiziellen Richtlinien an den Rand des Gymnasialkanons vertrieben, dem die zeitgenössischen Lehrer offensichtlich nur zustimmen konnten.5 Sechs Jahre später, in der Ministerialverordnung vom 14. Januar 1890, änderte sich der Duktus insofern, als in den Lehrplan für den Deutschunterricht in den Mittelpunkt der achten Klasse Forderungen nach einer österreichischen Literaturgeschichte sowie die besondere Berücksichtigung Grillparzers rückten. Diese Hinweise spiegeln sich z. B. auch in der Lehrverfassung des Laibacher Gymnasiums ab 1892/93 wider. Die endgültige Zäsur für den 5

REISSENBERGER kommentierte diesen Satz folgendermaßen: „Mehr rücksichtlich der neuesten Literatur zu thun, ist im Interesse der Concentration und Vertiefung des deutschen Unterrichtes nicht möglich“ (S. 98).

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Durchbruch Grillparzers stellt jedoch – wie aus der Tabelle ersichtlich – erst das Jahr 1901 dar. Werden die Zeitabstände 1896–1900 und 1901– 1905 miteinander verglichen, so hat sich die Zahl der Nennungen in fünf Jahren fast verdoppelt. Die Gründe für diesen Aufstieg dürften u. a. auf die 1900 herausgegebenen Instructionen für den Unterricht zurückgeführt werden, die Behandlung der „vaterländischen Dichtung, namentlich des Grillparzers […]“ (S. 129) verordnen. Die ab 1900 zu beobachtende quantitative Zunahme von Grillparzers Texten setzt sich vor allem ab 1910 noch deutlicher fort. Werden die beiden Zeitabschnitte 1905–1910 und 1911–1915 gegenübergestellt, steigt die Gesamtzahl der Nennungen nochmals um 50%. Dieser Trend bewahrte sich bis weit in das zwanzigste Jahrhundert hinein. Hinsichtlich der Dramenwahl zeigt man sich in den Instructionen sehr tolerant und überlässt die Entscheidung den Bildungsinstitutionen bzw. den Lehrern selbst. Dies spiegelt sich auch in der für die Lehrverfassung unüblichen Formulierung „Je drei Dramen Grillparzers nach eigener Wahl“ am Laibacher Gymnasium in den Jahren 1905/06 bis 1907/08 wider. Dennoch ist die Werk-Palette bei Weitem nicht so bunt, wie unter solchen Prämissen prinzipiell möglich wäre. In der folgenden Tabelle werden alle Nennungen Grillparzers und seiner Dramen in den Jahresberichten dreier ausgewählter Gymnasien subsummiert – sowohl Erwähnungen in der Lehrverfassung als auch Aufsatztitel und Redeübungen in einzelnen Klassen: Tabelle 2: Grillparzers Dramenstücke in den Jahresberichten dreier ausgewählter Gymnasien: alle Nennungen (Lehrverfassung, Aufsätze, Redeübungen) 1850–1918 Grillparzer Laibach Klagenfurt Marburg Insgesamt Sappho 32 11 30 73 Ahnfrau 34 17 20 71 König Ottokars Glück und Ende 23 34 13 70 Das goldene Vließ 12 3 4 19 Des Meeres und der Liebe Wellen 14 1 3 18 Weh dem, der lügt 12 2 2 16 Der Traum ein Leben 4 1 2 7 Libussa 1 0 5 6 Der Bruderzwist im Hause Habsburg 1 2 2 5 Insgesamt 133 71 81 285

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An der Spitze der Kanonpyramide – in weitem Abstand von allen übrigen Werken – befinden sich drei Dramen, die sich stark voneinander unterscheiden und thematisch drei verschiedene Bereiche berühren: das Künstlerdrama Sappho (mit 73 Nennungen), die klassische Schicksalstragödie Die Ahnfrau (mit 71 Nennungen) sowie das Staatsdrama im historischen Gewand König Ottokars Glück und Ende (mit 70 Nennungen). Während alle übrigen Dramen eigentlich nur noch am Laibacher Gymnasium behandelt werden, wird den genannten drei Stücken auf allen Gymnasien eine erhöhte Aufmerksamkeit erteilt, wobei sich am Klagenfurter Gymnasium als das Werk Grillparzers eindeutig König Ottokar präsentiert. Im Zentrum dieses politischen Dramas stehen die historischen Gestalten Ottokar von Böhmen und Rudolf von Habsburg. Während Ottokar als der machtgierige, absolutistische Herrscher alter Prägung dargestellt wird, wirkt Rudolf viel aufgeklärter, moderner, menschlicher – und kann insofern als Prototyp eines gerechten und dennoch resoluten Habsburgers gelten. Dass sich Grillparzer gerade durch dieses Drama als ein Repräsentant des von Claudio Magris beschworenen habsburgischen Mythos (vgl. MAGRIS) zeigt, liegt nahe: Im Stück manifestieren sich der Mythos vom übernationalen, väterlich schützenden Kaiserreich sowie das Lob der Bescheidenheit anstelle titanischer, rücksichtsloser Selbstverwirklichung. Das typisch Österreichische, das die Leser im Stück erkannten, war auch der Anstoß für die Positionierung Grillparzers als des österreichischen Dichters. So behauptet z. B. sein großer Verehrer Hugo von Hofmannsthal: „Grillparzer geht aus dem alten Österreich hervor und ragt in das neue hinein; er steht mitten zwischen der Zeit Maria Theresias und unserer eigenen. Sein Charakter, der hier und dorthin paßt […] gibt uns den Begriff eines unzerstörbaren österreichischen Wesens“. (HOFMANNSTHAL, S. 259) Dieses Österreichiche sollte andererseits der Grund dafür gewesen sein, dass sich das Drama nur ausnahmsweise über die Grenzen der Monarchie verbreitete, denn, so Rudolf LEHMANN, König Ottokar liege „mit seiner Verherrlichung des Hauses Habsburg der deutschen Jugend ferner als der österreichischen“ (S. 76).

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Tatsächlich sind die meisten Aufsatztitel verbunden mit der Glorifizierung des Habsburger-Reiches. 1878, noch bevor der Text ‚offiziell’ in die Lehrverfassung eingegangen ist, schrieben die Schüler der achten Klasse des Klagenfurter Gymnasiums einen Aufsatz zum folgenden Thema: „Es ist ein gutes Land / Wohl wert, dass sich ein Fürst sein unterwinde! / Wo habt ihr dessen Gleichen schon gesehen?“ (Grillparzers Ottokars Glück und Ende) (Vgl. JB Klagenfurt, 1877/78). Im Zentrum des Interesses stand also nicht das Stück, dessen Aufbau, Inhalt oder zentraler Konflikt, sondern das vaterländische Element, das zusätzlich durch die Auswahl des Themas für den Abituraufsatz im selben Jahr verstärkt wurde: Der Österreicher hat ein Recht auf sein Vaterland stolz zu sein (vgl. JB Klagenfurt, 1877/78). Wie bedeutend das Stück für die vaterländische Bildung war, zeigt auch die Tatsache, dass das berühmte Ottokar von Hornecks Lob auf Österreich, das als geistiger Mittelpunkt des Dramas bezeichnet werden kann, oft als obligater Memorierstoff verzeichnet wird.6 Wenn nicht unmittelbar auf das Vaterländische, so wurde das Augenmerk in den Aufsätzen auf den ‚Aufstieg und Fall’ – bzw., in der Grillparzerschen Version, auf König Ottokars Glück und Übermut 7 gerichtet, womit wiederum die Überlegenheit des bedächtigen HabsburgerKaisers Rudolf über den realitätsfernen und hochmütigen böhmischen König Ottokar hervorgehoben wurde. Der Deutungskanon bzw. die Deutungsperspektive dieses Dramas verdichtete sich somit unmissverständlich um die vaterländisch orientierten Sinnmuster, die das Identitätsbewusstsein der Schüler fördern sollten. Mit dem anderen Stück, der Ahnfrau, wurde Grillparzer schon lange bevor er Eingang in den schulischen Lektürekanon fand, an Seite des Klassikers Schiller gestellt, wovon ein kurzer Bericht von Peter von Radics zeugt: „In einem am 9. April 1820 aufgeführten ‚grossen Quodlibet’ wurde neben einer Scene aus Grillparzer’s ‚Ahnfrau’ mit Duett aus der Zauberflöte auch 6

Vgl. JB Klagenfurt, 1887/88, 1888/89 usf. Der auswendig zu lernende Stoff wurde nur ausnahmsweise in den Jahresberichten festgehalten, deswegen können diese Verweise lediglich als Anhaltspunkte genommen werden. 7 Ottokars Glück und Übermut bzw. König Ottokars Übermut und Demutigung nach Grillparzers Drama lauteten z. B. die Aufsatztitel in den Jahren 1887/88 und 1888/89. Vgl. JB Klagenfurt 1887/88 und 1888/89.

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eine Scene aus Schillers Trauerspiel ‚Die Räuber’ [...] gegeben“ (RADICS 1905, S. 19; zu Radics vgl. ŽIGON 2009). Ein solcher direkter Anschluss an den Kernkanonautor verleiht dem Dichter selbstredend einen viel größeren (Kanon)Wert, der ihm von den deutschen Wissenschaftlern zwar generell abgesprochen wurde. GERVINUS, z. B., stellt in seiner Geschichte der deutschen Dichtung Die Ahnfrau auf eine Rangstufe mit den Schicksalstragödien Adolf Müllners und Ernst von Houwalds und charakterisiert sie nebst den Werken „so vieler anderer Dichter“, die ungenannt bleiben, als Stücke, die „mit dem Schauerlichen hier und da das Weinerliche wunderlich verbinden, und überall den gesunkensten Begriff von Welt und Kunst in den Dichtern verraten“ (S. 764). Obwohl auch manche andere Germanisten das Stück in Bezug auf die Schule „für ganz ungeeignet“ hielten (LEHMANN, S. 76), war es am Laibacher Gymnasium sogar das meistbehandelte Werk Grillparzers überhaupt. Wie lässt sich die große Beliebtheit dieses Dramas im schulischen Lektürekanon erklären? Einerseits gebührte gerade der Ahnfrau im Bewusstsein des Bildungsbürgertums ein fester Platz. Im slowenischen ethnischen Gebiet war es zweifellos das bekannteste Werk Grillparzers, wovon u. a. eine Tagebuchnotiz zeugt, die anlässlich des Aufenthalts Grillparzers in Rimske toplice/Römerbad entstand, das er zwischen 1855 und 1864 alljährlich besuchte. In seinen Briefen an die Verlobte Katharina Fröhlich zeigte er sich oft mürrisch und beklagte sich über den Bildungshorizont der Einheimischen:

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Die Leute haben sich möglichst entfernt, und erst am Tage vor ihrer Abreise kommt ihnen das Verlangen, mit dem Dichter der Ahnfrau ein paar Worte gewechselt zu haben, denn weiter als auf die Ahnfrau hat es die Literaturkenntnis in den untersteierischen und kärntnerischen Landen vorderhand nicht gebracht. Die Dümmsten sind noch die Gescheitesten.8

Diese Bekanntheit kann wohl auf die Theater-Präsenz des Stücks zurückgeführt werden. Auf der deutschen Bühne in Laibach wurde Die Ahnfrau schon am 16. Mai 1819 aufgeführt, zwei Jahre nach der Uraufführung am Theater an der Wien (31. Januar 1817) und fünf Jahre vor der Premiere im Burgtheater, die am 21. August 1824 stattfand (vgl. RADICS, S. 19 sowie WLASSAK, S. 10 u. 164). Wieder gespielt wurde das Stück in Ljubljana im Oktober 1840.9 Die Frage, wie oft Grillparzer auf der deutschen Bühne in Laibach in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufgeführt wurde, muss auf dieser Stelle leider noch unbeantwortet bleiben, da für die Zeit zwischen 1850 und 1911 – im Gegensatz zu der Vormärzepoche, die ausgiebig untersucht worden ist (vgl. z. B. BIRK 1999 und 2002, MILADINOVIĆ ZALAZNIK 2008) – für die deutsche Bühne in Laibach noch keine relevanten Studien vorliegen. Vor diesem Hintergrund können für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts nur die Spielpläne des Deutschen Theaters in Marburg herangezogen werden.10 Dort gehörte Die Ahnfrau zu den beliebtesten Stücken Grillparzers: In der Zeitperiode 1862– 1918 erfuhr es mehrere Aufführungen, erstmals schon in der zweiten Spielsaison (1863/64) und danach in regelmäßigen Abständen bis 1913/14,

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SAUER/GLOSSY, S. 229. Übrigens gibt es in Rimske Toplice noch heute einen Hinweis auf den mehrmaligen Aufenthalt des Dichters. Auf einer weißen Marmortafel über dem Haupteingang des sogenannten Sophienschlosses steht die Inschrift: „Zur Erinnerung an den mehrmaligen Aufenthalt des Dichters Franz Grillparzer in Römerbad – Unter fördernder Mitwirkung des Ehrenmitgliedes k. k. Baurathes Karl Baron Schwarz – errichtet vom Schriftstellervereine ‚Grillparzer’ in Wien 1874.“ (Laibacher Tagblatt (1874), Jg. 7, Nr. 185, 17.08.1874). Bei der Enthüllung der Tafel am 15. August fand im Bad eine Feier statt, wobei Peter von Radics die Festrede hielt. Vgl. DJORDJEVIĆ sowie ŽIGON (zum Grillparzer-Verein). 9 Zu dieser Aufführung brachte die Zeitschrift Carniolia auch eine längere Besprechung, vgl. Carniolia 3 (1840), Nr. 53, 30. Oktober 1840, S. 212. Mehr zur Theaterkritik in der Zeitschrift Carniolia vgl. MILADINOVIĆ ZALAZNIK (1995); mehr zur Ahnfrau und Rezeption Grillparzers in Slowenien vgl. JANKO. 10 Zum deutschen Theater in Marburg/Maribor vgl. u. a. TAUFAR, ŠPENDAL, UREKAR/BIRK.

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als die letzte Inszenierung11 stattfand. Es blieb aber nicht nur bei den deutschsprachigen Aufführungen. Um die Jahrhundertwende 1900 hätte der angesehene slowenische Dichter und Dramatiker Ivan Cankar (1876–1918) Die Ahnfrau für den slowenischern Dramatischen Verein übersetzen sollen. Das Stück wurde ihm vor seiner Abreise nach Wien seitens der Theaterdirektion in Auftrag gegeben. Dem damaligen Theaterintendanten Fran Milčinski schrieb Cankar am 4. Oktober 1899 Folgendes: Blagorodni gosp. Milčinsky! [4. oktobra 1899] „Ahnfrau“ nisem mogel kupiti. Če želite, prevedem jo gotovo do 1. novembra; še ljubše pa bi mi bilo, če bi mi hoteli poslati katero drugo, morda kako moderno francosko ali nemško knjigo. Grillparzer je namreč sila dolgočasen. Prevedem jo dobro in hitro.12

Obwohl das Drama sowohl für die Spielsaison 1899/1900 als für die Saison 1900/1901 auf dem Programm stand, ist es Cankar – was bei seiner offensichtlichen Abneigung gegen Grillparzer auch nicht überraschend ist – nicht gelungen, das Stück zu übersetzen. Uraufgeführt wurde es in der Übersetzung Vladimir Levstiks erst 1907.13 Aber alleine die Beliebtheit beim Theaterpublikum ist noch kein Anlass für die Einordnung eines Werks auf die Lektüreliste. Wenn die deutschen Literaturwissenschaftler in der Ahnfrau primär das Gruselige und Schicksalhafte sahen14 und daher das Stück in den Bereich des Trivialen 11

Weitere Inszenierungen gab es noch 1869/70, 1884/85, 1896/97, 1908/09, 1911/12, 1913/14. Alle Daten rekonstruiert nach TAUFAR. 12 CANKAR, S. 101. [Kursivschreibung im Original] [Übers.: „Sehr vereehrter Herr Milčinsky! ‚Die Ahnfrau’ war nicht erhältlich. Wenn Sie möchten, übersetze ich sie sicherlich bis zum 1. November; viel lieber wäre es mir aber, wenn Sie mir ein modernes französisches oder deutsches Buch schickten. Grillparzer ist nämlich sehr langweilig. Ich übersetze es schnell und gut.“] Davon berichtet auch JANKO, S. 173. 13 Vgl. MUNDA, S. 331. Aus dem Repertoar slovenskih gledališč 1867–1967 geht außerdem hervor, dass Prababica (Die Ahnfrau) O. Haasen inszenierte und dass es 1907 im Drama SNG v Ljubljani 1907 drei Aufführungen gab (am 3. und 9. November sowie am 15. Dezember 1907). Vgl. http://www.repertoar.sigledal.org/isci-popredstavah [letzter Zugriff 20.3.2017]. 14 Es sei dazu angemerkt, dass sich Grillparzer sein ganzes Leben lang gegen diese Bezeichnung heftig gewehrt hat. So erklärte er in seiner Selbstbiographie von 1853: „Genau genommen nun, findet sich die Schicksals-Idee gar nicht in der Ahnfrau“ und am 6. Januar 1866 zeigte er sich im Gespräch mit Robert Zimmermann betroffen: „Die

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rückten, wurde in den Schulen, wie anhand der überlieferten Aufsatzthemen nachgewiesen werden kann, insbesondere die Nähe bzw. Verwandtschaft zu Schillers Dramen betont.15 Einerseits konnten Parallelen zwischen der Ahnfrau und der Braut von Messina gefunden werden16 – schließlich bauen beide Dramen auf der Schicksalsidee und enden mit dem Untergang des ganzen Geschlechts –, andererseits gibt es manche Berührungspunkte auch in der Räuber-Thematik17, obwohl sich der Ansatz bei den beiden Dramatikern unterscheidet. Während es bei Schiller in erster Linie um den Konflikt zwischen Gesetz und Freiheit geht, sieht Jaromir, der mit drei Jahren von den Räubern entführt worden ist, die Räuberwelt tatsächlich als seine eigentliche Welt, worin nicht die Gesetzlosigkeit, sondern für ihn die einzig mögliche, verpflichtende Ordnung herrscht. Erst durch die Begegnung mit Berta – und später mit dem eigenen Vater, den er als solchen nicht (er)kennt – kommt es zu jenem tragischen Keim, zum Konflikt zwischen den Vertretern zweier verschieden strukturierter Welten, der die Handlung in die Katastrophe treibt. In der Ahnfrau verbirgt sich also viel mehr als nur „Crime, Mystery und Sex“, mehr als nur „das perfecte Grusical des neunzehnten Jahrhunderts“.18 Ahnfrau? ja, die Ahnfrau! die ist mir immer noch lieb, ich halte sie für ein gutes Stück: Was da vom Schicksal drinnen steht, das ist nicht von mir … Ich möchte es wohl einmal drucken lassen, wie es ursprünglich war. Aber so, jetzt bin ich nun einmal der Schicksalsdichter!‹“ (Gespräch mit Robert Zimmermann am 6. Januar 1866. Zitiert nach SCHRÖTER, S. 170.) Seine Behauptung, das Stück in der endgültigen Fassung sei nicht von ihm, beruht darauf, dass es unter dem Einfluss des Burgtheatersekretärs Joseph Schreyvogel wesentlich revidert wurde, vgl. POLITZER, S. 61–66. 15 Vgl. Anklänge an Schiller in Grillparzers „Ahnfrau“ (JB Laibach 1913/14) oder Inwiefern erinnert uns Grillparzers „Ahnfrau“ an Schillers Dramen? (JB Laibach 1914/15). 16 Vgl. Die Schicksalsidee in Schillers Braut von Messina und Grillparzers Ahnfrau (JB Klagenfurt 1910/11) oder Lassen sich zwischen Schillers „Braut von Messina“ und Grillparzers „Ahnfrau“ irgendwelche Berührungspunkte finden? (JB Laibach 1903/1904) bzw. Waltet nicht ein zum Teile ähnliches Verhängnis über beiden edlen Geschlechtern von Messina und Borotin? (JB Laibach 1904/05) 17 Vgl. Inwiefern wird in Grillparzers Ahnfrau für die Räuber Partei genommen? (JB Laibach 1916/17) oder Räuberromantik in der deutschen Literatur (JB Laibach 1912/13). 18 Vgl. die Aussage von Günther SCHÄBLE: „Die Interpreten, die der Ahnfrau Höheres unterstellen als die virtuose Entfaltung von Crime, Mystery und Sex, die mehr in ihr sehen wollen, als das perfecte Grusical des neunzehnten Jahrhunderts, […] unterliegen verehrungsvollen Irrtümern“ (S. 31).

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Das Tragische, die Parallelen zur klassischen attischen Tragödie19, das auch bei Schiller so ausgeprägte Spannungsverhältnis zwischen zwei in sich geschlossenen, verschieden organisierten Welten, aber auch die überzeugende Wirkung auf die menschliche Psyche20 sowie gattungstheoretische21 und literaturhistorische Fragen22 wurden bei der Behandlung immer wieder hervorgehoben und analysiert. Auch Sappho, das beliebteste Drama Grillparzers am Marburger Gymnasium (30 Nennungen in 25 Jahren gegenüber 20 Nennungen von Ahnfrau und 13 von König Ottokar), das von LEHMANN als „die einzige würdige Nachfolgerin, die Goethes ‚Iphigenie’ gefunden hat“ (S. 76), bezeichnet wurde, war den Lehrern höchstwahrscheinlich bekannt, noch bevor es Eingang in den schulischen Lektürekanon fand. Auf der deutschen Bühne in Laibach wurde es bereits am 18. April 1819 aufgeführt, ein Jahr nach der Uraufführung im Wiener Burgtheater (vgl. RADICS 1905, S. 19 sowie HAUSSEN, S. 796). Der Direktor des Laibacher Ständischen Theaters war damals Hillter, der „das klassische Stück besonders kultivierte“ (RADICS 1912, S. 91). So wie Die Ahnfrau erfuhr auch Sappho am Marburger deutschen Theater in der Zeitperiode 1862–1918 sechs Aufführungen, die erste in der Spielsaison 1869/70.23 Die erste slowenische Inszenierung Anton Verovšeks – in der Übersetzung Vekoslav Benkovičs – fand am 23. September 1900 statt, es folgten noch 2 Inszenierungen (1911 in Drama SNG Ljubljana und 1920 in Drama SNG Maribor). Nicht nur Ludwig BÖRNE, der 1820 seine rühmende Sappho-Besprechung mit den Worten „Grillparzer ist ein Dichter“ (S. 383) abschloss, auch Lord Byron zeigte sich schon 1821 sowohl vom Autor mit dem „teuflischen Namen“ als auch von Sappho angetan: 19

Vgl. Inwiefern verschulden die Personen der „Ahnfrau“ ihr Schicksal selbst? (JB Laibach 1915/16). 20 Vgl. Worin liegt die Ursache der großen Wirkung der „Ahnfrau“ auf das menschliche Gemüt? (JB Laibach 1904/05) 21 Vgl. Das deutsche Schicksalsdrama (JB Laibach, 1913/14) oder Die Ahnfrau, ein analytisches Drama (JB Laibach 1910/11). 22 Vgl. Die Beziehungen Grillparzers Ahnfrau zur Romantik und zum Klassizismus (JB Klagenfurt 1912/13). 23 Weitere Inszenierungen gab es noch in den Spielsaisons 1892/93, 1898/99, 1901/02, 1903/04, 1910/11. Alle Daten rekonstruiert nach: TAUFAR.

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Read the Italian translation by Guido Sorelli of the German Grillparzer – a devil of a name, to be sure, for posterity; but they must learn to pronounce it. With all the allowance for a translation […] but with every allowance for such a disadvantage, the tragedy of Sappho is superb and sublime! There is no denying it. The man has done a great thing in writing that play. And who is he? I know him not; but ages will. ’Tis a high intellect. (MOORE, S. 407)

Davon, dass seine Qualitäten erst nach Jahren anerkannt werden würden, war auch Grillparzer selber überzeugt. So schrieb er gegen Ende seines Lebens: Will unsre Zeit mich bestreiten, / Ich laß’ es ruhig geschehn, / Ich komme aus andern Zeiten / Und hoffe in andre zu gehn. (GRILLPARZER 1984, S. 332.) Im Grunde genommen sind diese ‚andere Zeiten’ gerade mit der (verzögerten) Rezeption in der Schule gekommen, was sich auch bei Sappho bewahrheitete. Wenn bei der spannungsgeladenen Ahnfrau primär Parallelen mit Schiller gesucht (und gefunden) wurden, so positionierte sich Sappho in den Aufsatzthemen in der Nähe von Goethe: am häufigsten wurde die legendäre Dichterin, die die Kluft zwischen dem Künstlertum und dem realen Leben nicht zu überwinden vermochte, als Pendant zum Goethes Tasso gesehen: Goethes Torquato Tasso und Grillparzers Sappho. (JB Marburg 1904/05). Man suchte aber auch nach Wesensähnlichkeiten zwischen Sappho und Iphigenie (Welche Geistesverwandtschaft und sachliche Übereinstimmung zeigt sich zwischen „Iphigenie“ und „Sappho“? – JB Laibach, 1899/1900) und betonte deren tragisches Schicksal.24 Außer diesen drei Dramen, die sich nach 1900 als hochkanonisiert bestätigt haben, wurden sporadisch auch andere Werke Grillparzers gelesen und analysiert, darunter ist vor allem die Trilogie Das goldene Vlies zu nennen, die, ähnlich wie z. B. Die Ahnfrau und manche Dramen Schillers, auf dem Konflikt zwischen zwei entgegengesetzten Welten aufbaut. Das zeichnet sich auch in der Titelgebung der Aufsätze ab: Das goldene Vließ, eine 24

Z. B.: Das Tragische im Schicksal Sapphos. (Nach Grillparzers Tragödie) (JB Marburg 1911/12); Der tragische Konflikt und die Schuld in Grillparzers „Sappho“ (JB Klagenfurt 1915/16).

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Tragödie der Kulturgegensätze, lautete eine Aufgabe im Jahr 1914 (vgl. JB Laibach 1913/14). Auch das Drama Des Meeres und der Liebe Wellen (1831), das sich auf dem Lektüre-Tableau zahlenmäßig gleich hinter der Trilogie befindet, beruht auf Konflikten und Gegensätzen, wobei für den schulischen Gebrauch vor allem die Gefahr der Vorherrschaft dämonischer seelischer Kräfte und die Notwendigkeit der sittlichen Bändigung hervorgehoben wurden, also der Vorrang der Pflicht vor der Neigung. Im letzten Kriegsjahr, 1917/18, schrieben somit die Schüler der achten Klasse des Laibacher Gymnasiums einen Aufsatz mit dem Titel: Die Pflicht in Grillparzers Des Meeres und der Liebe Wellen. Das Stück, das auf der deutschen Bühne in Marburg in der Zeit zwischen 1870 und 1918 regelmäßig aufgeführt wurde (9 Inszenierungen), erfreute sich später noch zweier Inszenierungen in slowenischer Sprache. Die letzte, 1953 im Theater Mestno gledališče Ptuj, war die letzte Aufführung eines Grillparzerschen Werks in Slowenien überhaupt.25 Erwähnenswert ist noch das Lustspiel Weh dem, der lügt, das bei seiner Uraufführung in Wien 1838 einen solchen Skandal auslöste, dass sich der Dichter seitdem weigerte, für die Öffentlichkeit zu schreiben. Die Empörung, die u. a. durch die vermeintliche Respektlosigkeit des Küchenjungen Leon gegenüber den Adeligen ausgelöst wurde, war um die Jahrhundertwende 1900 offensichtlich schon vergessen. So konzentrierte man sich bei den Aufgabenstellungen auf Leons Entwicklung sowie auf das Problem der Wahrheit und Lüge,26 das wie ein roter Faden das ganze Stück durchzieht. Andere Stücke – Ein treuer Diener seines Herrn, Libussa und sogar das habsburgischste von allen, Der Bruderzwist im Hause Habsburg, der sich vom Deutungssinn gut an vaterländische Bestrebungen anschließen ließe, lassen sich aufgrund nur okkasioneller Belege nicht als kanonrelevant einordnen. 25

Ljubezni in morja valovi. Inszeniert von Peter Malec, übersetzt von Janko Moder. Nach der Premiere am 7. November 1953 gab es noch 11 Wiederholungen. Vgl. die Datenbank des Slowenischen Theatermuseums: http://www.repertoar.sigledal.org/ predstava/ 7159 [letzter Zugriff 1.2.2013]. 26 Die innere Entwicklung des Küchenjungen Leon und Das Problem der Wahrhaftigkeit in Grillparzers „Weh dem, der lügt“ (beide Titel: JB Laibach 1913/14)

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Subsummierend zur gymnasialen Kanonrelevanz Grillparzers als Dramatiker lässt sich postulieren, dass er, im Hinblick auf alle Nennungen, im letzten Zeitabschnitt, 1900–1918, in der Kanonpyramide bereits den dritten Platz einnimmt, nach Schiller und Goethe und vor Lessing und Kleist:

Tabelle 3: Kernkanondramatiker in den Jahresberichten: Nennungen in der Lehrverfassung 1900–1918 Dramen in den Jahresberichten 1900–1918 in % Schillers Dramen 757 41 Goethes Dramen 616 33,3 Grillparzers Dramen 229 12,5 Lessings Dramen 174 9,5 Kleists Dramen 69 3,7 Insgesamt 1845 100

Vergleicht man allein die Präsenz Grillparzers in der achten Klasse, so verändert sich das Bild noch einmal. Als Stichprobe sei der Zeitabschnitt 1911–1915 genommen: Tabelle 4: Lektüre in der 8. Klasse 1911–1915: k. k. Staats-Gymnasium zu Laibach: Nennungen in der Lehrverfassung k. k. Gymnasium Laibach 1911 1912 1913 1914 1915 Insgesamt 3 4 4 3 2 Grillparzer 16 2 2 3 3 1 Goethe 11 – 2 1 1 2 Hebbel 6 2 – – 3 – Schiller 5 – 2 1 1 1 Kleist 5 – 1 1 1 1 Ludwig 4 – 1 1 – – Anzengruber 2 – 1 – – – Hauptmann 1 Insgesamt 7 13 11 12 7 50

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Die Zahlen sprechen für sich: Die Lektüre Schillers verlagerte sich weitgehend in die siebte Klasse, die Zahl der Werke Goethes nahm ab und somit blieb in der achten Klasse genug Zeit und Raum für die vaterländische Dichtung, „namentlich des Grillparzers“ (Instructionen 1900, S. 29). Mit der deutlichen Vorrangstellung Grillparzers in der letzten Gymnasialklasse – vor Goethe, Schiller, Hebbel und Kleist – vollzog sich jene Transformation, wonach sich der Lektürekanon der österreichischen Gymnasien substanziell von dem der deutschen Gymnasien unterscheidet. Die bekannten Verse Grillparzers Nur weiter geht das tolle Treiben / von vorwärts! vorwärts, erschallt das Land, / Ich möchte, wär’s möglich, stehen bleiben, / wo Schiller und Goethe stand (GRILLPARZER 1984, S. 49), die gewöhnlich als ein Appell Grillparzers gegen den norddeutschen Fortschritt gedeutet werden, können somit symbolhaft auf seinen Stellenwert in den Gymnasien des angehenden 20. Jahrhunderts übertragen werden, als er als genuin österreichischer Dichter, als der eigentlich »nationale Dichter Deutschösterreichs«, so Kummer und Stejskal im Deutschen Lesebuch von 1911, gefeiert wurde: »In Grillparzer verkörpert sich alles Typische des deutschen Volksstammes in Österreich. Seine Werke haben nationalen Gehalt. […] Wie Shakespeare in seinen Menschen Engländer zeichnet, Corneille und Racine Franzosen, Calderon und Lope de Vega Spanier, so sind Grillparzers Menschen durch und durch Österreicher, Habsburger, Wiener« (S. 358). Wie seine im Unterricht behandelten Texte samt betreffenden Aufgabenstellungen darlegen, wurden mithilfe Grillparzers nicht nur literar-ästhetische und ethisch-moralische Zentralwerte klassischhumanistischer Bildung beschworen, sondern wurde durch ihn systematisch das Bild einer gemeinsamen österreichisch-habsburgischen Identität sowie einer im ethnisch-politischen Sinne nationbildenden Kultur konstruiert.

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Irena Samide Franz Grillparzer in the Slovenian Ethnic Region of the Habsburg era: Foreplay in the School. Summary The full recognition of Franz Grillparzer (1791-1872), who today deserves the rank of national poet as well as the Austrian classic, took place in the Habsburg monarchy only after 1890, when the author with his works entered into the secondary school literary classic canon – despite the fact that his plays since 1820s on the stages in the monarchy were received with enthusiasm. This article examines the presence of Grillparzer’s dramas in the secondary schools in the Slovenian ethnic area, secondly points to the differences between the receptions in the theatre and in the school and thirdly tries to answer the question what role Grillparzer played in the secondary school literary canon. Keywords: Franz Grillparzer, secondary school literary canon, theatre performances in the Slovenian ethnic region in the 19th century, Austrian national poet

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SLAWONIEN PRÄGT DEN CHARAKTER. SLAWONISCHE LEUTE UND LAND IN RODA RODAS WERKEN Iva Drozdek (iva.drozdek@gmail.com) Zusammenfassung Roda Roda bzw. Alexander Friedrich Rosenfeld in der Nähe von Drnowitz 1872 geboren, verbrachte seine Jugend in Osijek. Trotz der Auswanderung nach Wien und Berlin, empfand er immer Slawonien als seine Heimat. In dem Band Geschichten aus Slavonien von Vlado Obad 1998 zusammengestellt und veröffentlicht, bietet Roda Roda den Einblick in eine Vielfalt an Ständen, ethnischen Gemeinschaften, Stadt- und Dorfmenschen und natürlich den Guten und den weniger Guten. Roda Roda leugnete niemals seine slawonische Herkunft, ganz im Gegenteil, seine Zuneigung und Faszination zu diesem Fleckchen Erde wird in seinen Texten sichtbar. In der Auswahl an 42 Kurzgeschichten, die zur Gemeinsamkeit die Verbundenheit zu Slawonien haben, werden die zwischenmenschlichen Beziehungen verschiedener Nationen auf diesem Gebiet aufgezeigt, sowie ihr Einfluss auf das Land und der Einfluss des Landes auf die Menschen. Die damals ansässigen Nationalitäten sind bis heute ähnlich geblieben, eine Mischung aus Deutschen, Österreichern, Ungarn, Serben, Kroaten und Bosniern ist immer noch vorhanden, die Verhältnisse dagegen, sicherlich in ein verheerendes Gegeneinander übergegangen. Die Texte von Roda Roda lassen den Leser dieses Anders-sein feiern und bieten das Land, die gemeinsame Heimat, als den Boden der alle verbindet und gleich erfreut oder bestraft. Was alle Figuren in diesen Erzählungen ausmacht ist ihre Liebe und Verbundenheit zum slawonischen Land. Das fruchtbare Land bietet Sicherheit und Möglichkeiten und in einigen Erzählungen sogar die Liebe des Lebens. Stichwörter: Roda Roda, Alexander Rosenfeld, Slawonien, kroatische Länder, Geschichten, Akzeptanz, Anders-sein.

Einleitung Es herrscht vielleicht bei einigen Menschen der feste Glaube, es gäbe keine Schriftsteller aus Osijek, die sich mit Heimatdichtung beschäftigt hätten. Denn die reiche Literatur, die Slawonien, Osijek und die Menschen aus diesem Gebiet im vorherigen Jahrhundert beschreibt, wurde in deutscher (und nicht kroatischer) Sprache geschrieben. „Die Erwähnung jeglicher slawonischen Heimatdichtung, in deutscher Sprache, würden die heutigen

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Bewohner Osijeks eher als ungewöhnlich bezeichnen.“1 Zu den erwähnenswerten Schriftstellern gehören Victor von Reisner, Vilma Vukelić und Roda Roda. Mit ihren Texten bieten sie Einblicke in die vergessenen deutschen Wurzeln der Stadt Osijek und ihrer Kultur. Dass die deutsche Sprache so lange in Kroatien vorherrschen konnte, im privatem Leben und auf der Bühne – zum Schaden der kroatischen, war unnatürlich; aber da sie schon vorhanden war, wurde von ihr und ihrer Nutzung gelernt und es gab genug Anlässe, um eine kroatische Kultur daraus zu schaffen.2

Der bekannteste Vertreter der Osijeker Schriftsteller ist Roda Roda. Mit seinen zahlreichen Anekdoten und satirischen Texten bietet er Einblick in den Alltag slawonischer Adeligen und Bauer. Dabei wird ihm vorgeworfen, er halte in seinen satirischen Geschichten die slawonischen Menschen zum Besten, er missbrauche sie zum Zweck der Unterhaltung. … In jedem Fall hat er slawonische Motive, Menschen, Mentalitäten und Begebenheiten in einige seiner besten Prosatexte eingeflochten. 3

Eine detailierte Analyse des von Roda Roda geschaffenen Bildes Slawoniens ist daher unumgänglich. Diese Arbeit veranschaulicht anhand konkreter Beispiele die Sichtweise und Darstellung von Land und Leuten in Roda Rodas Werken. Rosenfeld und die Slavoniter4 Da die Festung eine gewisse Sicherheit darbot, haben sich hier neben dem Einheimischen Volke auch viele Fremde, vor allem Deutsche, meist Unternehmer und Kaufleute angesiedelt. 5

In den Texten von Roda Roda sucht man vergeblich nach national geprägten Stereotypen. Zwar findet man viele Nationalitäten und Anmerkungen, aber seltener verallgemeinernde Behauptungen. Roda Roda teilt seine Figuren, die von wahren Begebenheiten und Zeugen schildern, nach tüchtig und faul, nach Kämpfer und Verlierer, nach guten Menschen und herzlosen Tyrannen. Es scheint so, als ob gewisse Charakterzüge 1

OBAD, S. 5 ŠKREB, S. 124 3 STANČIĆ, S. 168 4 Ein Slavoniter ist Roda Rodas Bezeichnung für den Slawonier, bezeichnete er sich selbst. 5 MALBAŠA, S. 7 2

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als solcher


gewissen Nationalitäten öfter zugesprochen werden, aber sie machen eher den Charakter aus, als die ganze Nation. Eine ganz besondere Vorliebe zeigt Roda Roda für das Land und die Tüchtigen. „Ja, man muss sich's im Leben nur hübsch eizurichten wissen, dann lebt's sich ganz schön!“ 6 Nationalitäten und Unterschiede werden genannt, aber nie als Zeugnis dafür, wer besser sei, sondern wie wunderbar verschieden die Welt sei und wie amüsant sie durch diese Vielfalt wird. „Die Art und Weise wie Roda Roda über seine Heimat und Leute spricht beinhalten offensichtliche Sympathien und emotionale Verbundenheit.“7 Die Slavoniter beschreibt Roda Roda als traditionsorientiert und an Politik uninteressiert: „Doch dergleichen zieht hier nicht. Das Volk hat noch seinen Glauben, hat Gehorsam in den Knochen. Man lebt hübsch friedlich beisammen – in der Ordnung, die Gott geschaffen hat... Politik treiben hier nur Leute, die davon leben. Wenn sie sonst anständige Menschen sind, drückt man über ihr Gewerbe gern ein Auge zu.“8

Das Land Beim Verbildlichen von Slawonien hat sich Roda Roda in der Regel für die adeligen entschieden, trotzdem ist das Dorfbild intensiver als woanders, verewigt in alltäglicher Not, sowie in ungewöhnlichen komischen und tragischen Vorkommnissen. Es reihen sich Bilder, ein wenig melancholisch aber auch gewärmt von Erinnerungen, an die Landschaften seiner Kindheit. 9

Slawonien wird als das Gebiet der Arbeiter geschildert, hier herrscht das Land. Die Erfolgreichen sind diejenigen, die gut mit dem Land umzugehen wissen, dieselben werden dann auch beliebt und unabhängig vom Stand akzeptiert und als wichtig empfunden. An erster Stelle muss die Landwirtschaft stehen, diese Botschaft findet sich in Arbeit an der Wuka in der sich der junge Mile Rudan bemühte ein Stück Land trockenzulegen, um seiner Geliebten Maria ein Heim bieten zu können. Mile widmete sich verbissen dieser Aufgabe, scheiterte jedoch in jeder Hinsicht. Nach einiger Zeit, als Mile und Maria klar wurde, dass er das Land nicht trocken legen konnte, gingen er und Maria auseinander. Obwohl erst von Selbstmordgedanken überkommen, entschied sich Mile doch an seinem

6

Seine Pußten, S. 199 OBAD, S. 97 8 Die Frau des Doktors Dawidow, S. 50 9 OBAD, S. 112 7

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Land weiterzuarbeiten. Der Moment, als sich Mile für seine Arbeit entschied: „Da merkte er 'was, der Mile Rudan: so langsam, langsam ist ihm die Trockenlegung des Sumpfes wichtiger geworden als – Maria... und der Sumpf wird trockengelegt werden! Stählern blickt der Rudan drein, setzt sein couragiertes Hütl auf und summt zur slovakischen Blaumontagsmelodie: Korn auf Korn gibt Kuchen für den Gast, Stein auf Stein entsteht ein Palast.“10

In mehreren Geschichten dient das Land als Heilmittel für den Charakter, so geschieht es auch um Felix Tauheyn in Welika Bara, der einen Sumpf bei Samatowatz kaufte und sich an die Arbeit machte. Roda Roda beschreibt: „Nun ging ein Schaffen an, dass uns Gott beschütze. Italiener wühlten mit Spaten, tolle Maschinen baggerten den Römerkanal, Bahnzüge karrten die Erde meilenweit fort. Ein haushoher Damm an der Save ist daraus geworden. Da hauten deutsche Ingenieure, slovakische Maurer eine babylonische Wehr, da lohten Vulkane von Dickicht und Binsen. ... Als Felix Tauheyn den Zauber vollendet hatte, war aus der Welika Bara ein sonnenklarer Teich geworden.“11

Nach seinem Tod stellte sich heraus dass Felix Tauheyn eigentlich Artamon Petrowitsch Karien hieß und in Russland einen furchtbaren Mord verübt hatte. Man entschied sich jedoch, dies nicht öffentlich zu machen, denn unabhängig von seiner Vergangenheit war Felix allen ein guter Mitbürger. Wieder einmal betont Roda Roda, dass es wichtiger ist was man tut, als wer man ist. Tüchtige Arbeit kann sogar gebrochene Herzen heilen und aus einem Mörder einen angesehen und geschätzten Bürger machen.

Die Liebhaberinnen und die Liebhaber Die häufigste Charakterschwäche, die den Slavonitern von Roda Roda zugeschrieben wird, ist die Untreue. Diese ist bei jedem Stand, Nationalität und Religion vertreten und dient zur allgemeinen Belustigung und wird weitaus weniger als Sünde oder gesellschaftliches widrig angesehen, als es heute der Fall ist. Zu den am häufigsten genannten übereifrigen Liebhabern zählen: die Gräfin Pietro, die Ihren Gatten mit dem Dorflehrer betrog in der Erzählung Der Schullehrer von Tenje; Die Baronin Mirkowitsch, die den jungen Robida zum Liebhaber hielt in Der Fall Robida-Mirkowitsch; Ywo 10 11

Arbeit an der Wuka, S. 153 Welika Bara, S. 255

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(mit Ypsilon) Mirkowitsch, der selbst nicht weiß, wen er alles geschwängert haben könnte und Ivo Amidja, der ein Bahnwächtertochter schwängerte, es aber dem anderen Ywo aufbinden lies in Ywo mit Ypsilon; Kiki Sokolović, die ihre erste große Liebe außerhalb ihrer Ehe auf dem Fahrrad fand, in der Geschichte Graf Albins Ehrenwort; Drago Rodić, der seine erste Liebe verlässt, um sie später als verheirateter Mann verführen zu wollen und Julka Metković, die sich auf die Wette einlässt, diese verliert in Der Dukaten; Julius Sokolović, der die Tyrannei seiner Ehegattin über sich ergehen ließ, bis er ihr in einem Brief nach seinem Tod alle seine Liebeleien und sein erfundenes Amt Das Patrimonium, in der gleichnamigen Geschichte, beichtete. Isnenghyr ein Ungar der eine ungarische und eine kroatische Familie, jeweils mit Hof, sein Eigen nennt. Wobei die Familien voneinander wissen und mit diesem Lebensstil einverstanden sind in Seine Pußten; Die Vorarbeiter Bing und Rathsamer, die jährlich ihre Höfe samt Ehefrau, Kind und Schwiegermutter tauschen, in Eine verwickelte Familie. Alle Liebschaften werden toleriert, solange sie nicht öffentlich werden. Nach der öffentlichen Beschuldigung der Untreue müssen Duelle abgehalten werden, wie im Fall Robida- Mirkowitsch: „Eines Tages aber machte die Mirkowitsch eine dumme Bemerkung über Schriftstellerei ihrer Habianowtzer Cousine, besser gesagt über den Herrn von Tenje, mit dem die Cousine die schönen Künste betrieb – und der Krach war da. Die Gräfin Pilen erfuhr nämlich davon, und als dir Mirkowitsch nächstens in Habianowitz vorfuhr. Lies ihr Grafin Pilen sagen, sie wäre „für Frau von Robida nicht zu sprechen“. ... Mirkowitsch hätte Pilen (zum Duell) fordern müssen.“12

Oftmals bringt diese Untreue Kinder hervor, Ywo Mirkowitsch musste sogar Alimentationen zahlen in Ywo mit Ypsilon. Die Kinder können aber auch anerkannt werden, wie es die Gräfin Käthe tat in Iwo Amidjas Sohn. Dies scheint jedoch sehr ungewöhnlich zu sein, hier Roda Rodas Kommentar: „Weiß Gott, ob die deutschen Frauen alle so sind – die man hierzulande zu sehen bekommt, haben durchwegs ein Radl zu viel.“ ... „Wenn es nach Gräfin Käthe gegangen wäre, der Bauernbub hätte ganz wie ein richtiger Graf erzogen werden müssen.“13

12 13

Fall Robida- Mirkowitsch. S. 58 Iwo Amidjas Sohn, S. 82

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Der Graf, nachdem er erfuhr, dass er einen Sohn hat: „Iwo tat, was noch immer das Klügste in solchen Fällen ist – das heißt: gar nichts.“14 Beide Verhaltensweisen waren vertreten und uneheliche Kinder waren eher unangenehm als große Probleme. Diese Unannehmlichkeiten waren von niedrigeren Ständen gleicher Art behandelt. Die schöne serbische Tochter Sofa, in Iwo Amidjas Sohn, nahm sich das Leben, nicht weil sie unehelich Mutter wurde, sondern die Mutter von Zwillingen und deswegen von den Dorfleuten als Kätzin beschimpft.

Die Unterschätzten Ein weiterer häufig beschriebener Lebensweg ist der, der Unterschätzten. Die Lebensumstände stehen um einige nicht so günstig, handle es sich dabei um den alten deutsche Grafen namens Sokolowitsch, der sein Hof keines Falls dem Neffen Robida überlassen will und stattdessen lieber seine junge Frau von jemand anderes schwängern lässt in Wie Robida um sein Erbe kam. Graf Georg sucht verzweifelt nach einer Lösung: „...und als die Gräfin immer noch nicht verstand, sagte er ihr’s auf den Kopf zu: dass er einen Buben von ihr erwarte... „Nein“, sagte Georg, „nicht von mir, meine Liebe. Du wirst dir einen Galan erwählen, wen immer du willst. Nur muss er von großem Adel sein.“ ... „Einen Buben kriegte sie. An des alten Georg dreiundneunzigsten Geburtstag. So kam Robida um sein Erbe.“ 15

Der unscheinbare Pantoffelheld Julius Sokolowitsch schafft es, aus dem Grab heraus, seiner Gattin zu beweisen, wer die ganze Zeit die Hosen anhatte, in Das Patrimonium. Auf dem Arbeitstisch des Verstorbenen fand die Wallheimische einen Brief in dem stand: „Sieh in das oberste Fach des Schreibtisches! Da sind reizende Dinge verborgen für mein niedliches Frauchen.“ ... Im Fach obenauf – ein Zettel: „Es gibt kein Patrimonialamt – frag nur die Leute!“ Das Fach selbst, tief und weit, bis an den Rand gefüllt mit parfümierten Billetdoux, mit Photographien reizender Geschöpfe, zärtlichen Andenken, Liebesversicherungen.“16

Ebenfalls ein überraschender Charakter ist Adi Langer, ein Verkäufer der sich dem gewalttätigen Nebojse entgegenstellt und gewinnt, in Nebojse. Der einfache Bauernjunge Ante Maran, der den Adeligen Wranowitsch um 14

Ibd. S. 83 Wie Robida um sein Erbe kam, S. 105 16 Das Patrimonium, S. 253 15

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sein Geld und seine Tochter bringt, in Ante Marans Hochzeitsfeier. Ante versteckt sich mit seiner geliebten Wjera und wartet, dass ihr Vater umso mehr Geld über die Auskunft zu ihrer Bleibe gibt, so schickt Ante eines Tages einen Boten, der für seine Information zwanzigtausend Gulden erhalten soll: „Herr Ante Maran weilt in Duna-Szent-Janosch bei Komorn.“ „Und Wjera?“ „Natürlich bei ihm – ihrem Manne.“ ... „Also verheiratet!“ stöhnt der Alte. „Und wovon leben sie?“ ... „O ja, Dank der Nachfrage. Euer Wohlgeboren haben ja eben erst zwanzigtausend Gulden für ihn erlegt!“17

Der kleine Alfonso, der erst seinen Stolz und seine Zugehörigkeit zum Dorf und seiner Pflegefamilie erkennt, als er erfährt, wer wirklich seine Mutter ist in Die andere. Tante Schari, die bescheidene Bäuerin, die ihren erfolgreichen Sohn in Budapest besucht, wo ihre Kleidung, Geschenke und Sitten verlacht werden und sie in ihr Dorf zurückkehrt, um einen würdigen Lebensabend zu genießen in Großmutters Puppe. Der Moment, als die Großmutter nach Hause aufbricht: „Früh am Morgen erhebt sie sich und holt ihren alten Koffer hervor. Ein Stück um das andre legt sie hinein – zu oberst die Puppe und das Pferd, die unbeachtet liegen geblieben waren. Sie lässt sich nicht zurückhalten und ist am Abend wieder zu Hause, froh, ihr altes Dörfchen wiederzusehen. Die Spielsachen schenkt sie ihren Nachbarskindern. Denen gefallen sie.“18

Der falsch beschuldigte Mile Siwitsch der 18 Jahre im Gefängnis verbrachte, weil sein Alibi des Richters Frau war und er es nicht preisgeben wollte in Mile Siwitsch. Auf die Frage, wieso er nicht vorher preisgegeben hat, wo er war, antwortete er nur schlicht: „Eh – sagen. So etwas darf man nicht sagen.“19 Der Junge Marko, der unerlaubt bei der Jagd mitmachte, in Hajka. Obwohl er weggeschickt wurde, hat sich Marko in den Kopf gesetzt, den Wolf zu erlegen. Was ihm wunderlicher Weise auch gelingt, aber Strafe fürs unerlaubte Jagen muss sein: „Mit einer Hand kriegt Marko noch ein Kopfstück – mit der anderen ein Fünfer Schussgeld.“20 Roda Roda erzählt von Erfolgen durch alle Altersklassen und Stände. Jeder ist in der Lage sein Schicksal in die Hände zu nehmen und besser zu werden, mehr zu schaffen. Eben diese lebensbefürwortende Stimmung, die es keiner noch so unscheinbaren Figur verwehrt ihr Glück 17

Ante Marans Hochzeitsfeier, S. 260 Großmutters Puppe, S. 284 19 Mile Siwitsch, S. 289 20 Hajka, S. 214 18

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oder Frieden zu finden, macht den Erzähler Roda Roda in den Geschichten aus Slawonien aus.

Die slawonischen Frauen Eine ganz besondere Vorliebe schien Roda Roda für das gar nicht so schwache Geschlecht gehabt zu haben. Dem damaligen slawonischen Frauenbild nachzueifern, kann heute nur noch versucht werden. Die meisten Frauen, jeglichen Standes oder Nationalität, zeugen von einer Kraft und Eigensinn, der sogar für die heutige Zeit manchmal zu emanzipiert scheint. Anfänglich scheint dies den Frauen die Weiblichkeit zu nehmen, im Kontext der Zeit, wird aber klar, dass nur die Starken oder Schlauen ein gutes Leben haben konnten. Daher hebt Roda Roda diese Eigenschaften bei den Frauen ebenso wie bei den Männern hervor. Zu diesen starken Frauen zählt sicherlich die betrogene Ehefrau des Dorflehrers, die die Gräfin Pilen zur Rede stellte: „Da kam die Schullehrerin aus Tenje mit ihren zwei Kindern hereingeschneit und machte der Gräfin eine gerade unmanierliche Szene. ... „Elende Verführerin“ – und so dergleichen“21

Unbeirrt von der Tatsache, dass ihr Auftreten große Probleme ihrer Familie bringen konnte, machte die Lehrerin dem bunten Treiben ein Ende und erzwingt eine Auflösung der Heucheleien. Die schöne Wirtin Ceca war mit ihrer Ehe unzufrieden und suchte eine Lösung. Sie entschied sich ihren Ehemann zu ermorden und bat ihren Liebhaber um Hilfe, in Mirkos Tod: „Ach, meinte sie, als sie nach der Ursache fragte, es ist kein Leben mit meinem Manne. Er ist mürrisch und zänkisch zu all seinen Fehlern. ... es wird nicht vorübergehen. ... so ist er immer, Der Schurke, mein Mann und an seiner Seite muß ich leben. ... Aus der Apotheke sollst du mir etwas bringen.“22

Meta Jäger eine Bäuerin, die vergeblich auf des Grafen Sokolowitsch Zuneigung gewartet hatte, zog in die weite Welt, um sich nach dem bisherigen sorglosen Leben auf dem Lande, eine sehr erfolgreiche Schauspielkarriere aufzubauen, in Die Frau des Doktors Dawidow. Ein Einblick in ihren Alltag auf dem Dorf:

21 22

Der Schullehrer von Tenje, S.45 Mirkos Tod, S. 263

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„Indessen lebte Meta Jäger in ihrem grün umsponnenen herrschaftlichen Häuschen wie die Made im Speck. Sie spielte am offenen Fenster Tamburitza und sang dazu, ließ sich von den jungen Herren Huldigungspromenaden machen, fuhr Rad in einem sehr niedlichen Trauerdreß und tat auch sonst alles, um die Basen und Tanten von ganz Gradatz unausgesetzt zu beschäftigen.“ 23

Meta hoffte auf den ersten Schritt seitens des Grafen Sokolowitsch, aber sie wartete vergeblich. Da sie aber genug andere Anbeter hatte, schenkte sie ihre Zuneigung dem jungen ungemein reichen Rudi Hahnbichel. „In den Läden, in den Park, auf den Markt und auf den Tenissplatz - ohne Pause bis zum Abend war Rudi Hahnbichel um Frau Meta.“24 Rudi und Meta reisten viel und Rudi verprasste wieder einmal das heimlich entwendete Weizengeld. Nachdem sie ohne Geld dastanden, ging Meta zum Orpheum und wurde eine sehr erfolgreiche Schauspielerin. „Frau Meta wusste sich wohl zu helfen. Rudi aber, bei all seinem Leichtsinn im Grund genommen ein kreuzbraver Junge, der zahlte das Erlebnis teuer.“25 Maltschi mit dem Mädchennamen Pilen, die Gräfin Pietro fing an das Fahrrad zu fahren, nur um ihren Ehegatten zu ärgern. So erklärt Roda Roda: „Das Radfahren hatte eigentlich die Maltschi Pilen auf dem Gewissen. Sie fing ganz harmlos damit an, um ihren Herrn Gemahl zu ärgern, und fand später die Fahrten, zu denen man keinen Kutscher braucht, gelegentlich so bequem, dass sie die Sache weitertrieb.“26

Kiki Sokolowitsch, gefiel der skandalöse Fahrradsport in Männerhosen ebenfalls und noch mehr die gute Gesellschaft bei der Fahrerei in Graf Albins Ehrenwort. „Einmal ließ sich Kiki in Ferkos Hosen von Iwo im Park umherrollen.“ 27 Ebenfalls sehr ungewöhnlich sind die Tätowierungen von Kiki: „Das Unglücksmädel hatte tätowierte Arme. „Cäcilia“ auf jeder Seite. Sie hatte sich im Kloster den Namen ihrer Lieblingsnonne einstechen lassen.“28 Zu so einem Weib fehlt natürlich nur noch der Liebhaber. Nach der Behauptung Roda Rodas „dass jeder Mensch ob Frau oder Mann, seine erste Liebe außerhalb der Ehe haben muss.“29So erging es auch Kiki mit Leutnant Karinski. Ferko und Kiki verbrachten immer mehr Zeit mit Karinski, immer öfter trank Ferko und ließ die beiden alleine radeln. 23

Die Frau des Doktors Dawidow, S. 51 Ibd. S. 55 25 Ibd. S. 55 26 Graf Albins Ehrenwort, S.66 27 Ibd. S. 66 28 Ibd. S. 66 29 Ibd. S. 68 24

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Der Gräfin Pilen, Ceca, Meta und Kiki wurden jeweils komplette Erzählungen von Roda Roda gewidmet. In der Bauernrevolte werden einige starke Frauen erwähnt. Maritza und Zeza sind richtig gefährlich im Gegensatz zu den verliebten Damen aus den vorherigen Geschichten. Sie griffen Panduren an und stifteten eine Hetzjagd an, zum Schluss wurde Zeza deswegen sogar zum Tode verurteilt. Beide Frauen werden so beschrieben, dass ihnen außer dem Namen nichts Weibliches zuzuschreiben ist: „Der Amtsdiener fordert sein Geld und der Bauer schmält, ... Da kommen auch schon die Weiber alle vom Feld gelaufen. Maritza, Matos Frau, gleich mit der Sichel – und fangen mitzustreiten an. Maritza fährt schreiend auf den einen Panduren los: wieso er ihren Mann berühren dürfe, und er sei ein besoffener Hund.“30 „Sie ist schon als Soldatitza Witwe geworden, hat seitdem Haus und Grund selbst bestellt, geackert, gesät, gehackt und gemäht – trotz einem Mann; jede Nacht hat sie sich einen andern Burschen mit ins Bett genommen. Die fürchtet sich von keinem.“ 31

Diese Art von Stärke wird ebenfalls nicht nur den niedrigeren Ständen zugeschrieben, ein gleichfalls fast unantastbares Weib ist die Gattin des Julius Sokolowitsch: „Die Wallheimische war sehr herrisch. Wenn sie Feuer spie, dann pfiff er. Zuletzt gewöhnte sich die Gräfin, ihm seine Schlechtigkeit nur vorzuhalten, wenn fremde Leute dabei waren.“32 (S. 249)

Diese aggressiven Frauenbilder zeugen von Roda Rodas Gleichstellung von Mann und Frau. Nichts wird genannt, das eine Frau nicht verwirklichen kann. Eine Perle innerhalb dieser Gruppe von straken Frauen ist die 13-jährige Stana, die mit ihrem sturen Pferd ihre noch größere Verbissenheit und Entschlossenheit zeigt in Stana und ihr Pferd. Nachdem ihr das sture Pferd Oriasch durchgeht und die Kutsche umkippt, lässt sie sich vom Pferd hinterher schleifen, ohne loszulassen. Auf die Frage wieso sie die Zügel nicht losgelassen hat antwortet sie: „Zum Teufel, Herr Teleky, hat ihnen noch niemand was zu Trotz getan, dass sie nicht wissen, wie man zurücktrotz?“33 30

Bauernrevolte, S. 112 Ibd. S. 113. 32 Das Patromonium, S. 249 33 Stana und ihr Pferd, S. 218 31

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Roda Roda zeigt hier die Frauen mit sehr viel Respekt und Bewunderung. Seine Spanne von starken Frauen reicht von Gräfinnen bis zu Bauernmädchen, jeglicher Herkunft.

Die slawonischen Männer Die Darstellung der Männer, die in Roda Rodas Geschichten zu finden sind, scheinen von einigen Guten zu erzählen, aber schlussendlich von vielen harten Burschen zu zeugen. Fast jede der Figuren hat eine Schwäche, seien es die Frauen, das Geld oder der Wein. Der ehrenhafteste ist sicherlich Graf Albin Sokolowitsch. Sokolowitsch gilt als „ein rechter Vater, der Dienstschaft ein gnädiger Herr und gegen alle ein vollendeter Edelmann“34. Seine Meinung wird geschätzt und er wird um Rat gefragt: „Er hat es ganz allein dem alten Sokolowitsch zu danken, dass die Affäre bei alledem zu einer halbwegs menschlichen Austragung kam“ 35. Er gilt als aufrichtig, aber wenn die Ehre seiner Tochter Kiki angefochten wird, dann darf die Wahrheit ein wenig ausgeschmückt werden. Als behauptet wird, seine Tochter Kiki sei mit dem Leutnant nicht geradelt, sondern wäre anderweilig mit dem Leutnant beschäftigt gewesen, steht Sokolowitschs Wort gegen das des Majors: „Herr Major, Sie mögen aber komisch geritten sein. Ich bin nämlich mit den beiden Radlern in Podgratsch gewesen - zu Pferd - mein Ehrenwort darauf.“ 36 Seine wahre Größe beweist er jedoch, als sich die Bauern unzufrieden geben und er den Sozialdemokraten Dawidow um Rat bittet: „Nein. Ich werde sie nicht anzeigen. Anhören werde ich Sie. Sie sollen mir predigen, mir. Nicht den Bauern. Ich will lernen; will erfahren, ob ich gefehlt habe und worin.“ 37 Falls es in diesen Erzählungen einen Antihelden gibt, so ist es sicherlich der Baron Ywo Mirkowitsch. Kein gutes Wort ist über ihn geschrieben: „Er hasste ja viele Menschen, die meisten sogar ...“38, und diese Abneigung schien laut Roda Roda auf Gegenseitigkeit zu beruhen:

34

Der wunderbare Baum, S. 35 Der Fall Robida – Mirkowitsch, S. 58 36 Graf Albins Ehrenwort, S. 70 37 Bauernrevolte, S. 106 38 Iwos Art einen Konflikt zu lösen, S. 89 35

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„Baron Mirkowitsch war ein Erzgrobian. Er hielt eine Koppel von bösen Doggen auf seinem Gut - die hatte er aber gar nicht nötig: Erstens biss und bellte er selber gerade genug; zweitens ging zu ihm ohnehin nur, wer unbedingt musste.“ 39

Von seiner Ehegemahlin hielt er nicht viel: „Eine solche Person wie meine Frau ist ja nicht wert, von einem Zigeunerhund angepisst zu werden.“40 Dafür waren ihm Jagd und Ansehen umso wichtiger. Als man ihn zum Duell abholen kam, da seine Ehegattin der Untreue beschuldigt wurde, verzichtet er, mit der Begründung. „Ein andermal soll sie nicht in die Sonne gehen, wenn sie Butter auf dem Kopf hat. Dann wird sie sich solche Sottisen ersparen.“41 Als jedoch der junge Amperger den Hirsch erschoss, den er im Visier hatte, da geht er auf Rachezug. „Ich bitte, ich, Baron Ywo Mirkowitsch mit Ypsilon – ich werde nicht neidig sein.“42 Und fordert ein Duell. Weiterhin war er sehr geizig gegenüber seinem Patronat, ein Frater beschuldigte ihn schließlich eine Bahnwächtertochter geschwängert zu haben. Doch Mirkowitsch konnte sich nicht entsinnen, ob dies stimmte oder nicht: „Ich sollte ...? Mit dem Mädel da ...? Wie schaut sie den überhaupt aus? Schließlich, möglich ist alles. Aber ich muss sagen, ich erinnere mich absolut nicht.“43 Er zahlte zehn Jahre lang fälschlicherweise Alimentation. Als es erfuhr, dass der eigentliche Vater der Iwo Amidja sei, rächte er sich an den Fratern. Unter falschem Vorwand lud er die Frater zur Jagd ein, aber dann: „Kutten hoch und vorwärts in den Busch! Ihr seid die Treiber.“ Die Franziskaner wollten nicht. Da zog Iwo eine Peitsche aus dem Rock und schmitzte dem Guardian eins an die Beine. „Kutte hoch, du Ziegenbock!“... Die Mönche mussten treiben. Hatten die Kutten zusammengerafft und trieben –i tschach-tschach bis ihnen der Atem ausging.“44

Zum ersten Mal schien der Baron seine Lektion gelernt zu haben, als der Tscheche Nechljudoff sein Amt als Verwalter bei ihm antrat. Ywo versuchte dessen Ehegattin zu verführen, scheiterte jedoch kläglich: „Aber Mirkowitsch war so versessen auf die Frau, dass er es riskierte: um den Verwalter für zwei Nächte von seiner Frau zu trennen.“45 Die Gemahlin fuhr jedoch mit ihrem Herrn Gemahl mit auf die Reise. Mit der neuen Landwirtschaftspolitik seines Verwalters war er auch nicht zufrieden und bestand auf seine altmodischen Methoden. „Da hat dieser hergelaufene 39

Ibd. S.92 Der Fall Robida- Mirkowitsch, S. 61 41 Ibd. S. 60 42 Iwos Art einen Konflikt zu lösen, S. 88 43 Ywo mit Ypsilon, S. 75 44 Ibd. S. 78 45 Der Verwalter, S. 94 40

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Russe Sonnenblumen hingepflanzt. Da aber ist Mirkowitsch in den Saft gegangen.“46 Mirkowitsch entschied den Russen so lange zu beschimpfen, bis es zu einer Auseinandersetzung kam. Nechljudoff ging jedoch nicht zu Boden, da er als ehemaliger Boxer vieles gewohnt war und beruhigtte den Ywo: „Jetzt sagen Sie selbst: Was, was soll ich mit Ihnen anfangen – als Kavalier? Und Menschenfreund?“47 Mirkowitsch besann sich und hörte auf des Verwalters Rat und wurde in nur zwei Jahren alle seine Schulden los. Iwo Amidja aus Tenje kommt seinem Namensvetter Ywo Mirkowitsch in seinen Missetaten gerade nach. Die erschütterndste Erzählung um den Majoratsherrn Amidja, ist die von seinem unehelichen Sohn Martin. Obwohl Amidja jahrelang von seiner Vaterschaft nichts wusste unternahm er nicht viel, als er es erfuhr. Erst durch den Druck seiner Ehefrau Käthe, erlaubte er es seinem Sohn auf seinem Gut zu leben, aber bot ihm nie die Zuneigung und noch weniger Rechte, die ihm zustanden. Roda Roda dazu: „Iwo hätte den Martin in ein Pensionat stecken können, ins Kloster, in die Kadettenschule – oder selbst irgendwohin nach Oberungarn zu einer Herrschaft als Diener. Aber in den eigenen Stall – das ist gemein. Das ist mehr als teuflische Rache.“48

Nach langer Tortur und Misshandlung, ermordete Martin die eheliche Tochter und seine Halbschwester, Gertrude. Außer dieser tragischen Geschichte hat der alte Iwo eine Bahnwächtertochter geschwängert und zugelassen, dass der Ywo Mirkowitsch die Schuld auf sich nimmt und Alimentation zahlt. Sein Sohn Ferko Amidja war früher erfolgreicher Reiter, ist aber in der Ehe dem Alkohol verfallen. So heißt es: „Wie ein Meteor da plötzlich aufleuchtet und plötzlich verpufft.“... „Ferko war ehedem ein viel zu passionierter Herrenreiter gewesen, dass er sich nicht gern hie und da eins angetrunken hätte.“49 Die männliche Version des Mädchens Stana ist der junge starrsinnige Marko in der Erzählung Hajka. Trotz Verbots hat er entschieden bei der Jagd mitzumachen. Der Junge von sich selbst überzeugt schafft es tatsächlich, den Wolf zu erlegen und sich das Preisgeld und eine Ohrfeige zu sichern.

46

Ibd S. 95 Ibd. S. 97 48 Iwo Amidjas Sohn, S. 84 49 Graf Albins Ehrenwort, S. 66 47

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Zu den ebenfalls streitsuchenden zählt Pero Dragun, Nebojse genannt. Nebojse der nie ehrlich arbeitete, sondern seine körperliche Überlegenheit ausnutzte, um jeglichen Vorschriften zu entgehen. Eines Tages, als es bereits um seine Pußte sehr schlecht stand, legte er sich mit dem Verkaufsmann Adi Langer an, der zur Tilgungen Nebojses Schulden seinen Wald beschlagnahmt hatte. „Er schäumte auf und schlug seinem Gegner ins Gesicht. Aber nur einmal. Dann geschah etwas Ungeheuerliches. Nebojse flog in großem Bogen auf die Straße.“50 Nach diesem Zwischenfall wurde Nebojse klar, dass er nicht unbesiegbar war und er entschied seine Pußte an seine Dienerschaft zu verteilen: „Die Feinde trachten nach meinem Gut. Wenn ich sie auch erschieße, die Paragrafen, mit denen sie gegen mich kämpfen, kann ich nicht umbringen.“51 Der trotzige Raufbold, dessen leben auf seiner körperlichen Kraft aufgebaut wurde, musste der veränderten Welt entgegen sehen, der er keinen Widerstand mehr bieten konnte. Roda Roda spricht hier den Fortschritt an, der aus der Perspektive einfacher Menschen gar keiner war. Weniger vorbildliche Figuren sind die adlige Familie Hahnbichel in Die Frau des Doktors Dawidow. Alles was der alte Hahnbichel aufgebaut hatte, scheinen seine Kinder seit seinem Tod, sorgenfrei zu verschleudern. Vor allem der jüngste Rudi scheint keine Grenzen zu kennen: „Einmal verkaufte er den ganzen Weizen von der Pußta, ohne dass die Mutter es wusste, und fuhr mit dem Geld auf und davon nach Paris. Einmal entführte er das Stubenmädel in ein Seebad und lebte dort mit ihr als Baron und Baronin Traschime–Majko – das heißt auf Deutsch: Such mich nur, Mutter! – bis ihn die Polizei richtig auffand und aushob.“52

Die verschiedenen Nationen „In Slawonien lebt man hübsch friedlich beisamen – wer ein Serbe ist ist ein Serbe. Kroat ist kroat, will einer deutsch oder ungarisch sein, so wehrt ihms niemand. Kurz, jeder redet, wie ihm der Schnabel gewachsen ist, und was er sich denkt, darum kümmert sich kein Teufel. Politik treiben nur Leute, die davon leben.“53 „Der Autor stilisiert das Flachland in Kulissen vor denen er sich seiner großen Leidenschaft ergibt – dem Portraitieren von Menschen, in der Regel, sehr starken 50

Nebojse, S.220 Ibd. S. 221 52 Die Frau des Doktors Dawidow, S. 55 53 Die Frau des Doktors Dawidow, S. 54 51

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Persönlichkeiten und unkonventionellem Verhalten. Roda Roda konzentriert sich nicht auf ihr Äußeres, in energischen Zügen stellt er Skizzen verschiedener Gemüter und Temperamente dar.“54

Roda Roda beschreibt Merkmale bestimmter Nationen ohne Stereotypen zu schaffen. So sind die ungarischen Vertreter in seinen Texten, der gewitzte Isnenghy, der gleichzeitig zwei Güter und Familien besitzt und Moriz Nevery der Halunke, der gerne streiche spielt. Es wäre vermessen anhand von diesen zwei Figuren, vor allem so verschiedenen, eine genaue Einstellung Roda Rodas zu den Ungarn zu erschließen. Was jedoch auffällt, ist der Isnenghy mit seiner kroatischen und seiner ungarischen Lebensgefährtin mit Kindern, die voneinander wissen und sich alle am guten Leben erfreuen. „Katitza, Marischka lässt dich vielmals grüßen!“ 55 Ein ähnliches Doppelleben führen die Vorarbeiter Bing und Rathsamer. Das Gut, das sie führen, ist in zwei Gebiete aufgeteilt und wird daher aus zwei Häusern geführt. Was hier auffällt, ist die ungarische und deutsche Art, die es erlaubt wörtlich auf zwei Hochzeiten zu tanzen. Roda Rodas Version des Abkommens lautet: „Es ist eine stehende Einrichtung geworden und funktioniert bis heute: die Forstmeister der Gebrüder Wollak wechseln jährlich ihre Posten. Die Frauen bleiben, wo sie sind, die Freundschaft bleibt.“56

Eine weitere starke Figur, die vorgestellt wird, ist der junge Kleinrusse, Arzt und Sozialdemokrat Dawidow, der aus Budapest vertrieben wurde. Er predigt stets und versucht den Menschen die Augen zu öffnen, aber es misslingt ihm mehr als es gelingt. Dennoch findet er ein offenes Ohr beim Grafen Sokolowitsch: „Wir alle sind von Gott geschaffen“, sagt der Doktor, „aus demselben Lehm; sind Kinder der Erde gleichen Rechts. Was ist das für eine Ordnung wider Gott – was ist es für ein Vaterland, das den einen Fluren zu beherrschen gibt und den anderen versagt es den Raum, seinen Kopf darauf zu legen? Damit er sagen dürfe: Dies Stück Erde, darauf ich liege, ist mein. Bauernrevolte.“57

Eine betont deutsche Figur ist die Gräfin Käthe, Iwo Amidjas Ehegemahlin, die ihren Ehemann dazu zwang seinen außerehelichen Sohn auf den Hof aufzunehmen. „Es ist zweifellos eine Dummheit von Gräfin 54

OBAD, 1987, S. 113 Seine Pußten, S.199 56 Ibd. S. 203 57 Bauernrevolte S. 109 55

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Käthe gewesen. ... wie gesagt: Schön war’s; klug nicht“58. Dies ist das Bild einer fürsorglichen Deutschen, wobei den Gegensatz dazu die schon erwähnte Gräfin Pilen mit ihrer Fahrradfahrerei und unvorsichtigen Liebeleien ihrem Grafen Pilen das Leben schwer macht. Ähnlich der Gräfin Pilen ist die Wallheimische, die vor lauter Wut ihrem Ehemann sogar nach dem Tod die Ruhe nicht gönnt: „Dann schritt sie groß auf die Leiche zu, und holte ... wahrhaftig, sie holte zu einer Ohrfeige aus.“59 Zu den deutschen Frauen zählt noch die in sich geschlossene Schauspielerin Agathe. „Agathe war aschblond, farblos, unbedeutend in Äußern; eine schwer zugängliche Seele, Kind norddeutscher Eltern; später hat es sich herausgestellt: Kind eines Dichters.“60 Was die deutschen Männer angeht, so scheinen sie in erster Linie nicht sterben zu wollen. Zwei Beispiele für Deutsche, die trotz hohen Alters nicht ihren Nachfolgern Platz machen, sind der Lippinger aus Eine verwickelte Familie und der alte Graf Sokolowitsch in Wie Robida um sein Erbe kam. „Die Bauern von Wotschin sahen seit Generationen diesen Lippinger auf dem Thron – sie hatten ganz vergessen, dass „Lippinger“ nur ein Name war-, sie meinten, das Wort bezeichnete den Rang, und pflegten zu sagen: Wenn unser Lippinger einmal stirbt, und es kommt ein anderer Lippinger, werden wir nichts zu lachen haben.“61 „Georg Sokolowitsch, Albins Großonkel, war noch am Leben. ... und war so alt, dass sich die ältesten Menschen in Syrmien gar nicht erinnerten, er hätte jemals anderes Haar gehabt als weißes Haar. ... Er ist immer schon gewesen und wird immer sein. Die Bauern erzählten sich: er hätte es schriftlich vom Papst.“62

Ebenfalls passend ist die Erzählung Eine verwickelte Familie, die von den bereits erwähnten deutschen Freunden berichtet, die sich darauf geeinigt haben ihre Frauen jährlich zu tauschen. Diesen Beispielen nach scheint es unmöglich sich ein konkretes Bild von den Deutschen machen zu können. Roda Roda bringt keine Schlussfolgerungen über die Menschen, die er beschreibt. Er überträgt das, was er sieht, ohne zu kategorisieren.

58

Iwo Amidjas Sohn, S. 82 Das Patrimonium, S. 253 60 Die Schauspielerinnen des Esseker Theaters, S. 266 61 Eine verwickelte Familie, S. 200 62 Wie Robida um sein Erbe kam, S. 99 59

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„Der Erzähler hat seine Darstellung im höchsten Maße objektiviert und in ihren Mittelpunkt einzelne, aber gleichzeitig charakteristische und lebendige Ereignisse gestellt.“63

Zu den anderen Nationen, die erwähnt werden, gehören der schon erwähnte Russe Felix Tauhayn, aus Welika Bara, der durch harte Arbeit und Freundlichkeit, seinen Platz in der Gemeinde fand, obwohl er Untaten in der Vergangenheit begangen hatte. „Ein umgänglicher Mann. ... man wählte ihn auch in die Kongregation – fast wär’ er in den Landtag gekommen ... Felix Tauheyn wurde Vater von zwei kindern und die vornehmsten Leute der Gegend genossen die Ehre, sie aus der Taufe zu heben. Felix Tauheyn wurde Protektor der Feuerwehr, Ehrenvorstand der Sparkasse, Jagdgast bei Grafen und Baronen, Duzbruder der Herren vom Komitat.“64

Ebenfalls übermenschlich tüchtig, intelligent, hilfsbereit menschenfreundlich ist der Tscheche Nechljudoff, in Der Verwalter.

und

„Ich bin Landwirt von Beruf – ich habe in England, in Amerika studiert. Ich war Besitzer eines zehnmal größeren Gutes, als Sie es haben – und mein Gut war berühmt in halb Russland als Musterwirtschaft. ... Dann bin ich verjagt worden, aus politischen Gründen, und musste allerhand treiben: Ich bin Tänzer gewesen ... und Boxer.“65

Überaus exotisch und unwiderstehlich scheint die arabische Schauspielerin Eminaa in Die Schauspielerinnen des Esseker Theaters. „Ein junger einstweilen noch ungelenker Panther, schwarz und misstrauisch. Nein, ein Kätzchen: schnupperte überaus neugierig in die Welt, suchte nach einer kosenden Hand und fauchte unversehens jeden an, der sich ihr nähern wollte.“66

Die Geschichte Der Teufel mit den Bärentreibern ist die fantastischste Geschichte im Sammelband. Das interessante ist der Ton mit welchem dieses ewig von Vorurteilen und Herabwürdigungen begleitetes Volk, hier als exotische, clevere, schöne, respektvolle, traditionsreiche und gut situierte Gemeinschaft dargestellt wird. So beschreibt Roda Roda Kutowi, das Dorf der Bärentreiber, auf folgende Art und Weise: „Wenn man im Sommer dahin kam, sah man nur alte Zigeunerinnen und nackte Kinder. Im Winter war es der braunen Menschheit voll: Da lugten prachtäugige 63

RODA RODA / VLADO OBAD (Hgg.), S. 122 Welika Bara, S.226 65 Der Verwalter, S. 97 66 Die Schauspielerinnen des Esseker Theaters, S.266 64

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Mädchen aus den Fenstern, da gingen schöne Greise um in blauen Wämsern mit eiergroßen Silberknöpfen, in Wasserstiefeln. Betrat man einen Stall, so sah man nebeneinander: Einen Bären, einen Affen, eine Kuh; oder ein Dromedar, eine Ziege, einen Papagei.“67

Schlussfolgerung Das Verbinden und miteinander Teilen von Familie und Land hatte sicherlich eine immense Bedeutung für Roda Roda, denn dieses Thema scheint der Leitfaden durch die meisten Erzählungen zu sein. Immer wieder wird in seinen Geschichten eine Harmonie des Zusammenlebens hergezaubert, anhand von Akzeptanz. Die Toleranz, die ganz verständlich und immer mehr werden sollte, wenn viele verschiedene Nationen miteinander leben, hatte Roda Roda sich für seine Heimat sicherlich gewünscht. Die Faszination, mit der Roda Roda seine Mitmenschen sah und beschrieb, ohne jegliche negative Separation, nur ein Bemerken des Anders-seins, jedoch nie Besser-seins untereinander, hinterlässt uns ein multikulturelles Weltbild, das heute in Slawonien nicht mehr vorzufinden ist. Slawonien durch die Augen Roda Rodas gesehen, ist ein grenzenloses Potenzial an Möglichkeiten, Erfahrungen, und natürlich Kulturen.

Bibliografie Primärliteratur RODA RODA / VLADO OBAD (Hgg.), Geschichten aus Slavonien. München: Süddeutsches Kulturwerk, 1999.

Sekundärliteratur MALBAŠA MARIJA, Osječka Bibliografija. Osijek: Jugoslavenska akademija znanosti i umjetnosti, Centar za znanstveni rad u Osijeku Band I, 1981. OBAD, VLADO, Roda Roda und die deutschsprachige Literatur aus Slawonien. Wien: Böhlau Verlag, 1996.

67

Der Teufel mit den Bärentreibern, S. 235

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RODA RODA, Pripovijesti iz Slavonije. Zagreb: Nakladni zavod Matice Hrvatske, 1999. STANČIĆ, MIRJANA , Verschüttete Literatur: Die deutschsprachige Dichtung auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien 1800 – 1945. Wien: Böhlau Verlag , 2013. ŠKREB ZDENKO, Deutsche Dichtung im kroatischen Gewande in der Jahreschrift Aus der Geisteswelt der Slaven. München: Verlag Otto Sagner, 1967.

Iva Drozdek Slavonia enhances the character. People and the land of Slavonia in Roda Roda’s works

Summary Roda Roda with his full name Alexander Friedrich Rosenfeld was born in Drnowitz in 1872, and spent his youth in Osijek. Despite of his emigration to Vienna and Berlin, he always considered Slavonia to be his home. In the edited volume Geschichten aus Slawonien selected and translated by Vlado Obad 1998, Roda Roda offers an insight into the variety of classes, ethnic groups, village or town bound citizens and of course the good and the bad people in Slavonia. Roda Roda never denied his Slavonian heritage; his devotion and fascination with this piece of land are clearly visible in his texts. The selection of 42 stories, which all share the connection to Slavonia, show the relationships of different nations in this countryside and their influence on the land and vice versa. The former mixture of Germans, Austrians, Hungarians, Serbs, Croats and Bosnians is still present, but the relationships are devastated and deteriorated. The texts of Roda Roda allow the reader to celebrate the differences and provide the land as the common ground that connect and with no differentiation awards or punishes. All characters in these texts share the same love and connection to the Slavonian land. The fertile ground provides security and possibilities and in some stories even the love of life. Key words: Roda Roda, Alexander Rosenfeld, Slavonia, Croatian provinces, short story, acceptance, difference.

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DAS BILD BOSNIENS IN KÖNIGSBRUN-SCHAUPS SENSATIONS- UND ABENTEUERROMAN DIE BOGUMILEN. EIN BOSNISCHER ROMAN Amira Žmirić Universität Banja Luka (amira.zmiric@ef.unibl.org)

Zusammenfassung In den deutschsprachigen Reiseberichten mit bosnisch-herzegowinischer Thematik war Bosnien fast immer nur eine Kolonie, ein barbarisches Land, der Osten, ein Land weitab von jeder Zivilisation. Diese Reiseberichte enthielten meistens nur Fakten und Begebenheiten in Bezug auf Bosnien-Herzegowina, es gab darunter nur wenige literarische Bearbeitungen. Daher ist es interessant zu betrachten, wie dieses Land von jenen Autoren gesehen wurde, deren Bücher und Beiträge zur Trivialliteratur zu zählen sind und in deren Werken Liebesgeschichten, Abenteuer und Entführungen vorkommen. Der zeitgeschichtliche Sensationsroman und der Abenteuerroman als Genres der Trivialliteratur gehören zu den leicht verständlichen Texten, die auf die Erklärung von Hintergründen, auf die Darstellung historischer, politischer oder psychologischer Zusammenhänge verzichteten, um stattdessen breiteren Schichten von Lesern interessantere Themen zu vermitteln, wobei stets Realität und Fiktion miteinander verknüpft werden. Stichwörter: Bosnien-Herzegowina, Trivialliteratur, zeitgeschichtlicher Sensationsroman, Abenteuerroman, kolonialer Blick

Bosnien-Herzegowina war ein beliebtes Thema in den Reiseberichten deutschsprachiger Autoren, wobei diese Art Literatur ihren Höhepunkt in den Jahren 1878 und 1879 erreichte, als Bosnien-Herzegowina von der Österreichisch-Ungarischen Monarchie okkupiert wurde (vgl. ŽMIRIĆ, 2012). Gerade im Jahr 1879, aber auch in den Jahren danach bis zum Jahr 1909, findet man in der deutschsprachigen Literatur (vor allem bei den österreichischen Autoren) eine Reihe von Versuchen, bosnischherzegowinische Motive auf eine künstlerische Art und Weise zu behandeln (vgl. BEKIĆ, S. 159). Wichtig sind zu nennen: Robert Michels Novelle Die Verhüllte1 (vgl. ŽMIRIĆ, 2004), Heinrich Penns zeitgeschichtlicher Sensationsroman Hadschi Loja und die schwarze 1

Michels Novelle Die Verhüllte wurde 1907 veröffentlicht.

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Sultanin von Trebinje, oder die österreichische Occupation Bosniens. Zeitgeschichtlicher Sensations-Roman2 (vgl. ŽMIRIĆ, 2012, S. 134-136) und Königsbrun-Schaups Roman Die Bogumilen. Ein bosnischer Roman3. Tomislav Bekić betont, dass diese Autoren eigentlich auf der Suche nach neuen Themen und Motiven waren, vor allem aus exotischen Ländern (vgl. BEKIĆ, S. 159). Franz Joseph von Königsbrun-Schaup4 wurde am 22. Februar 1857 in Cilli (Celje) geboren und ist am 6. Februar 1916 in Leipzig gestorben. Königsbrun-Schaup lebte zuerst in Graz und dann ab 1892 in Dresden, „[...] wo er Mittelpunkt eines literarisch interessierten Kreises“5 wurde. Er schrieb satirisch-humorvolle Bühnenstücke und Romane, „[...] die ihm in Dresden, Braunschweig und Hamburg Bühnenerfolg brachten“.6 Der Roman Die Bogumilen. Ein bosnischer Roman fand aber erst ein paar Jahre nach seinem Erscheinen Beachtung, als er zum ersten Mal in einem Artikel in der „Neuen Freien Presse“ vom 17. Juni 1900 erwähnt wurde, obwohl er schon fünf Jahre früher veröffentlicht worden war. Dabei bleibt unklar, warum über den Roman erst einige Jahre nach seinem Erscheinen geschrieben wurde. Unter der Rubrik Literarische Notizen wurde betont, dass „[...] zum ersten Mal hier eine kühne Hand die occupierten Länder künstlerisch erschlossen [hat] und ein Bild der Contraste entrollt7, die sich im harten 2

Penns Roman Hadschi Loja und die schwarze Sultanin von Trebinje, oder die österreichische Occupation Bosniens. Zeitgeschichtlicher Sensations-Roman erschien 1879. 3 Königsbrun-Schaup, Franz Joseph von, Die Bogumilen. Ein bosnischer Roman. München: Georg Müller, 1909. Der Roman Die Bogumilen. Ein bosnischer Roman erschien schon 1895 unter dem Titel Die Bogumilen (vgl. hierzu GIEBISCH/ PICHLER/VANCSA, S. 224). 4 Tomislav Bekić und die „Neue Freie Presse“ erwähnen den Autor unter dem Namen „Königsbrunn-Schaup“. Vgl. BEKIĆ, S. 159; die „ NEUE FREIE PRESSE“, vom 14. 2. 1916, Nachmittagblatt, S. 8. 5 Österreichisches Biographisches Lexikon, S. 39. 6 Ebd. 7 Solche Versuche gab es jedoch bereits vor diesem Roman. Um nur einige zu nennen: Zorić, Vinko, Mustapha’s Teppich. Erzählung aus Bosnien. In: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens. Stuttgart/Berlin/Leipzig, Bd. 7, 1895, S. 76-100; Penn, Heinrich, Hadschi Loja und die schwarze Sultanin von Trebinje, oder die

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Aufeinanderprallen abendländischer und morgenländischer Elemente überraschend gestalten“ (vgl. hierzu „Neue Freie Presse“ vom 17. 6. 1900, S. 31). Wegen der in ihm enthaltenen Schilderungen der Gesellschaft und der landschaftlichen Schönheiten wurde er auch als „ein trefflicher CulturRoman“ (ebd., S. 32) bezeichnet. Es wurde auch festgestellt, dass der Roman in der österreichischen Presse wenig Aufmerksamkeit erregt habe, „[v]ielleicht, weil er weder den pflichteifrigen Beamten, noch den heldenmüthigen Soldateska ein Denkmal setzt“. (Ebd., S. 31) Diese Behauptung ist ein Hinweis darauf, dass der Roman vom deutschsprachigen Publikum kaum rezipiert wurde; auf der anderen Seite ist aber bemerkenswert, dass der Roman im Jahr 1909 trotzdem noch einmal aufgelegt wurde. Nach dieser Wiederveröffentlichung erschien im „Amtsblatt zur Laibacher Zeitung“ eine kleine Anzeige, die den Lesern „Königsbrunn-Schaups Roman Die Bogumilen. Ein bosnischer Roman“ als einen „Roman aus Offiziers- und Diplomatenkreisen des modernen Bosniens“, der „soeben erschien“ empfahl (vgl. „Amtsblatt zur Laibacher Zeitung“ vom 8. Juni 1909, S. 1172; „Amtsblatt zur Laibacher Zeitung“ vom 29. Mai 1909, S. 1106). In Bezug auf diesen Roman schreibt Tomislav Bekić, dass dessen Handlung in Sarajevo spiele, und dass er Elemente eines Abenteuer- und Liebesromans mit jenen eines psychologischen Romans8 und einer kräftigen Dosis Exotik verbinde (vgl. BEKIĆ, S. 159). In dem Beitrag „Die Bedeutung der slawischen Literatur für Österreich“9 erwähnt Günther Wytrzens, dass der Autor unter dem Pseudonym Königsbrunn-Schaupp mit seinem Roman Die Bogumilen (1895) Bosnien für die deutsche Dichtung entdeckt habe10 (vgl. WYTRZENS, S. 102). österreichische Occupation Bosniens. Zeitgeschichtlicher Sensations-Roman. Brünn: Karafiat, 1879. 8 Anm.: Auf die Darstellung der Innenwelt der Protagonisten und des Seelenlebens der Figuren wurde aber im Roman meistens verzichtet, weshalb man ihn nicht als einen psychologischen Roman betrachten kann. 9 Wytrzens, Günther, „Die Bedeutung der slawischen Literatur für Österreich“ In: FEDOR B. POLJAKOV/STEFAN SIMONEK (Hgg.), Slawische Literaturen – Österreichische Literatur(en). Bern: Peter Lang, 2009, S. 93-133. 10 Vgl. dazu Fußnote 7.

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Wann genau die Handlung des Romans Die Bogumilen. Ein bosnischer Roman spielt, wird im Text nicht angegeben. Man kann nur aus ein paar Andeutungen, wenn es z. B. heißt: „in jener Gewitternacht im Mai 1878“ (Königsbrun-Schaup, S. 48), oder wenn im Text erklärt wird, dass ein Jahr vergangen sei, und dann noch eins (vgl. Königsbrun-Schaup, S. 49−53), erschließen, dass es sich (eventuell) um das Jahr 1880 handelt. Es wird auch im Roman erwähnt, dass die Bevölkerung Bosniens erst seit kurzer Zeit unter dem Zepter seiner Majestät stehe und dass Bosnien ein neu erworbenes Land sei (vgl. Königsbrun-Schaup, S. 61), was ebenfalls darauf hinweist, dass das Geschehen kurz nach der Okkupation stattfindet. Es ist auch wichtig zu erwähnen, dass die Protagonisten keine realen Persönlichkeiten darstellen. Deshalb verwendet der Autor schon im Titel des Romans Die Bogumilen. Ein bosnischer Roman die Genrebezeichnung Roman. Der Ort, an dem sich die Handlung dieses Romans abspielt, ist jedoch klar erkennbar. Er spielt zum größten Teil in der bosnisch-herzegowinischen Stadt Sarajewo, wo nichts verborgen bleiben konnte, auch nicht die Tatsache, dass „[e]ine gute Wegstunde von dem bosnischen Städtchen Trawnik [...]“ (Königsbrun-Schaup, S. 3) entfernt eine Frau entführt wurde. Genau mit dieser Geschichte der Entführung, mit diesem Abenteuer, beginnt der Roman. Daniza, die Tochter eines Tabakhändlers, wird vom ungarischen Baron Kesthelyi aus ihrem väterlichen Haus geraubt, und sein Freund, Graf Erwin Altenberg, hilft ihm dabei, mit einem orientalischen Kostüm bekleidet, um die möglichen Verfolger zu täuschen. Auch Graf Altenberg hat an dieser Entführung ein Interesse. Daniza übergibt ihm nämlich die Depeschen aus dem Besitz ihres Vaters, der der Spionage für Russland beschuldigt wird. Damit dieses Abenteuer, das man im Stil eines Ritters bestehen muss, noch gefährlicher wird, kommt eine österreichische Patrouille den Flüchtlingen auf die Spur, und Graf Altenberg wird am linken Arm verwundet. Dieses Ereignis wird zu einer wichtigen Affäre, über die überall gesprochen wird. Eigentlich ist es ein Skandal, man spricht darüber „[i]n den Salons, im Café und im Kasino [...]. Die Damen nicht nur, sondern auch die Herren in Sarajewo wußten nichts Interessanteres zu besprechen.“ (Königsbrun-Schaup, S. 21) Wegen dieses Vorfalls kommt

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sogar der Minister von Bosnien nach Sarajewo, und zwar mehrere Monate früher, als geplant war: Neue Vermutungen tauchten auf. Viele glaubten und sprachen es auch aus, Veränderungen im Beamtenpersonal ständen bevor und die Zügel würden überhaupt straffer angezogen werden. Das mochten auch Graf Altenberg und Baron Kesthelyi denken und sich auf ihre Entlassung vorbereiten. Ja, man würde den Protektionskindern doch endlich auf die Finger klopfen! Andere freilich dachten anders. Manche Beamte verließen sich mehr auf die Protektion als auf die Gerechtigkeit, und nahmen Partei für die beiden Herren. (Ebd., S. 23)

Der Autor beschreibt sehr interessant den Schauplatz, an dem in diesem Moment die Handlung des Romans spielt. Es ist das Haus des englischen Konsuls und seiner Frau, mit einem großen Tennisplatz, der am Ende des großen, wohlgepflegten Gartens liegt. Von dort aus kann man „[...] die malerische Stadt mit den hundert Minarets“ (ebd.) übersehen. Die Diener des Konsuls sind zwei Albanesen, „[...] in reicher goldgestickter Tracht [...]“ (ebd., S. 24), und die Gäste des englischen Konsuls sind der italienische und der französische Konsul und ihre Frauen, weshalb die ganze Gesellschaft Französisch spricht. Man trinkt vortrefflichen Rotwein und isst Wassermelonen. In dieser Gesellschaft spricht man über den Bogumilismus, den man im Roman eine „[...] Religion der Liebe [...]“ (Königsbrun-Schaup, S. 26) nennt, über Bosnien, wo sie sich wie „[...] Pfadfinder in einer Wildnis“ (ebd., S. 33) fühlen, und wo sie „[...] die Ungläubigen mit den Waffen der Kultur“ (ebd., S. 34) bekämpfen müssen. In diesem Augenblick wird in die Geschichte die Gräfin Marie Walther eingeführt, die einen Ingenieur, also einen Bürgerlichen, geheiratet hat und die einst heimlich mit dem Grafen Erwin Altenberg verlobt war. Sie, „[e]in armes vornehmes Mädchen liebt einen mittellosen jungen Mann [...]“. (Ebd., S. 45) Ihr Geheimnis wurde entdeckt und sie wurden getrennt. Der Graf Altenberg schrieb ihr eine Zeit lang, aber dann wurden seine Briefe immer seltener. Nun treffen sie sich wieder in Sarajewo, im Haus des englischen Konsuls. Der Ball, der zu Ehren des Ministers veranstaltet wird, gibt dem Autor noch einmal die Gelegenheit, die Gesellschaft von Sarajewo zu schildern: „Orient und Okzident vereinigten sich hier im Lichte der zahllosen und schlecht gepflegten Petroleumlampen.“ (Ebd., S. 89) Hier versammeln sich die österreichischen Offiziere, der Minister und seine Frau, der britische Konsul, „beturbante Moslems“ (ebd., S. 90), der

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Bürgermeister von Sarajewo und, natürlich, viele schöne Damen. Unter ihnen sind auch die schöne Daniza und die unglückliche Marie Walther, die die Nähe des Grafen Altenberg nicht mehr ertragen kann, weil sie begreift, dass sie noch immern in ihn verliebt ist. Sie ist nervös, reizbar, und zugleich hat sie Gewissensbisse: „Sie war sich der Sündhaftigkeit ihrer Gedanken wohl bewußt, aber nur für wenige Augenblicke.“ (Ebd., S. 257) Graf Altenberg wird bald nach Wien versetzt, Marie verschwindet bei einem Ausflug, und nur ihre Leiche wird gefunden. Der Roman endet mit einer neuen Entführung. Zum zweiten Mal wird Daniza entführt, aber diesmal vom Fadil Cengic-Beg. Bei der Entführung trägt der Beg europäische Kleidung. Inhaltliche und stilistische Elemente des Romans weisen darauf hin, dass es sich hier um eine triviale Geschichte handelt, die der Unterhaltung dienen sollte. Diese Kriterien entsprechen insgesamt der Definition von Trivialliteratur als [...] literarische Schriften, die inhaltlich oder sprachlich-stilistisch als „minderwertig“ gelten, meist Werke, in denen immer wieder dieselben Themen (Liebe, Abenteuer, Krieg, Heimat, Science Fiction) in „abgedroschener“, d. h. klischeehafter Weise abgehandelt werden. (Vgl. SCHWEIKLE, S. 473)

In diesem Roman findet man Elemente zweier verschiedener Genres der Trivialliteratur: des zeitgeschichtlichen Sensationsromans und Abenteuerromans. Der zeitgeschichtliche Sensationsroman ist ein „Sondertyp des Zeitromans seit der 2. Hälfte des 19. Jh., der zeitgenössische Ereignisse der Weltpolitik oder aufsehenregende Kriminalfälle und -prozesse mit angeblich sensationellen, doch fiktiven Enthüllungen über Verschwörungen u. ä. reißerisch darstellt“. (Vgl. WILPERT, S. 748) In diesem Kontext kann man auch den Roman Die Bogumilen. Ein bosnischer Roman betrachten. Den Hintergrund dieses Romans bilden nämlich die zur Zeit seiner Entstehung aktuellen politischen Ereignisse11. Im Roman kommen deshalb als Protagonisten, neben der hiesigen Bevölkerung, österreichische Offiziere und Beamte vor. Diese historischen Ereignisse verbindet der Autor, wie man das auch von einem zeitgeschichtlichen Sensationsroman erwartet, mit einem durch die 11

Vermutlich, wie schon erwähnt, die Zeit unmittelbar nach der Okkupation Bosniens und der Herzegowina.

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Entführung ausgelösten Skandal, mit fiktiven Spionagegeschichten über den Vater der am Anfang des Romans entführten Frau aus Travnik. Ihn vergleicht der Autor mit einer realen Person, und zwar mit dem HadschiLoja. Im Stil eines zeitgeschichtlichen Sensationsromans verbindet Königsbrun-Schaup Fakten und Fiktion, aktuelle, reale Ereignisse und erfundene Geschehnisse. Der Autor hat in seinem Roman auch Elemente eines Abenteuerromans verwendet. Ein Abenteuerroman ist ein „Romantypus mit dem Schwerpunkt auf ungewöhnlich spektakulären, den Rahmen des Alltagslebens sprengenden Geschehnissen“ (vgl. WEIMAR, S. 2), der bestimmte Merkmale aufweist, etwa „[...] die vom Helden eindringlich erfahrene Polarität zwischen einer ihm bekannten, soliden Ordnung und demgegenüber zunächst befremdlich und wirr erscheinenden Verhältnissen [...]“. (Ebd.) Typisch ist für einen Abenteuerroman auch, dass das dargestellte Geschehen fiktiven Charakter hat. Er ist ein beliebtes Genre der Trivialliteratur; man könnte ihn ein Genre der Stereotype nennen. Im Roman Die Bogumilen. Ein bosnischer Roman findet der Leser die erwähnten Elemente. Der Roman beginnt und endet als ein Abenteuerroman: mit einer Entführung. Die Entführer am Anfang des Romans, Graf Altenberg und der ungarische Baron Kesthelyi, die der österreichisch-ungarischen Adelsgesellschaft angehören, werden in eine ihnen unbekannte Welt, die Welt des Orients, versetzt, wobei man feststellen muss, dass auf diese das Wort Held, im Sinne eines Ritters, nur ironisch angewendet werden kann. Das Motiv für ihre Tat ist jedenfalls keine Ehrensache, sondern sie wird eher aus Langeweile und zur Befriedigung einer erotischen Lust begangen. Das Motiv des Abenteuers ist also in diesem Roman mit der Suche nach etwas Ungewöhnlichem, Merkwürdigem und Neuem verbunden. Man könnte hier diese Suche eher als Ausdruck für die unbestimmten Sehnsüchte und die erotische Lust eines jungen Mannes verstehen und weniger als Ausdruck seiner großen Liebe. Dieser Schritt heraus aus der bekannten Ordnung führt die beiden Männer in eine exotische Welt in einem für sie exotischen Land: „Man erzählte sich, die Herren hätten in türkischer Tracht das Abenteuer bestanden, und dank der Verkleidung wäre der Graf von einem österreichischen Posten angeschossen, des Grafen Diener aber von derselben Kugel, die den Arm

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des Gebieters gestreift, getötet worden.“ (Königsbrun-Schaup, S. 22) Für die Damen und die Offiziere, „Romantiker von Geburt und Beruf“ (ebd., S. 23), ist das der Anlass, über das Aussehen der Entführten nachzudenken. Sie beschäftigt nur der Gedanke, ob „[...] Daniza, die Heldin, des Preises wert wäre“. (Ebd.) Mystisch wirkt auch der Schauplatz der Entführung: die Bogumilengräber. Das ist ein Ort, vor dem bosnische Bevölkerung, die als sehr abergläubisch beschrieben wird, Angst empfindet: „Der Bosniak macht einen weiten Bogen, sobald er nur von ferne der hochragenden Eichen gewahr wird, die über mächtige steinerne Sarkophage ihre knorrigen Äste wie schützende Arme ausbreiten.“ (Ebd., S. 3) Es herrsche unter dem Volk die Meinung, dass sich hier schlimme Geister befänden, und deshalb könne die hiesige Bevölkerung nicht verstehen, dass die „Schwabas“, wie man in Bosnien die Österreicher nannte, „[...] die Bogumilengräber wegen ihrer malerischen Lage und des Schattens der Eichen zum Endziel von Landpartien“ (ebd., S. 4) wählten. Osman, der Diener des Grafen Altenberg, erwähnt unter anderem, dass man keinesfalls auf das Grab des Königs Ostoja, der hier begraben liege, treten dürfe, weil dies Verderben bringen würde. Diese Art und Weise der Schilderung der Personen, die Schwarz-WeißMalerei, die typisch für die Trivialliteratur ist, findet man bereits am Anfang des Romans, bei der Darstellung der an der Entführung beteiligten Personen: Graf Altenberg wird im Gegensatz zum abergläubischen Osman, dem jungen Moslem, seinem Diener, von dem er nur Gehorsam erwartet, als ein gelehrter Mann, den sein Diener „Kajmakam“ 12 nennt, beschrieben. Graf Altenberg glaubt als Angehöriger der österreichischen Regierung und damit einer entwickelten Zivilisation nicht an Gespenster. Die bipolare Anordnung der Personen hat zum Ziel, die Leser zu unterhalten, aber auch, was noch wichtiger ist, auf bestimmte Unterschiede zwischen den Lebensverhältnissen im Orient und im Okzident hinzuweisen. Der Roman entwirft ein Doppelbild Bosniens: einerseits ist Bosnien ein wildes, barbarisches Land mit fremden Sitten und Gebräuchen, und andererseits ist es ein märchenhaftes, exotisches Land, in dem man die 12

Der Autor übersetzt den Begriff als „Bezirksgouverneur“. S. 5.

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Spuren der alten Religion der Bogumilisten entdecken kann: „Eine Religion der reinen, alles duldenden Liebe, wie sie der mythische Bogumil vor mehreren Jahrhunderten hier gegründet haben soll [...].“ (Ebd., S. 34) Die Lehre der Bogumilen, die Landesreligion im alten Bosnien, wird im Roman in erster Linie als eine Lehre der freien Liebe interpretiert. Immer wieder hebt der Autor durch die Gespräche oder das Nachdenken der Angehörigen der europäischen Zivilisation über Bosnien hervor, wie groß der Kontrast zwischen Bosnien und Österreich-Ungarn ist. Das wird auch am Beispiel der ehemaligen Gräfin Marie deutlich. Sie, die geborene Gräfin, fühle sich so weit entfernt von ihrer Heimat, in dieser seltsamen Umgebung, wo man auf jedem Schritt die Spuren der Ärmlichkeit sehen könne. In dem baufälligen Haus, in dem die Gräfin wohnt, befinde sich in der Ecke ein wunderlicher Ofen; man höre die ganze Zeit ein Hüpfen und Pfeifen, und die Gräfin Marie habe sich früher sehr geänstigt, als sie begriffen habe, dass es sich um die Ratten handele, aber mit der Zeit habe sie sich daran gewöhnt. Es fällt auf, dass die häufigsten Adjektive, die in Verbindung mit Bosnien, der Lebensweise in diesem Land, den Sitten der hiesigen Bevölkerung und den Häusern und Gegenständen in diesen Häusern benutzt werden, seltsam, wild und wunderlich sind. So wird u. a. von einem „seltsame[n] Gebäck“ (Königsbrun-Schaup, S. 42), „wilde[r] Janitscharenmusik“ (ebd.) oder einem „wunderliche[n] Ofen“ (ebd., S. 46) und „seltsamen Gefäßen“ (ebd.) gesprochen. Ein Gespräch zwischen der Frau Rätin Wokurka und dem Fadil Cengic Beg zeigt auch, wie fremd einer Europäerin die hiesigen Gebräuche sind. Sie ist mehr als verwirrt, als sie erfährt, dass der Beg noch eine Frau heiraten will, oder dass er sogar eine Frau kaufen möchte. Genauso betroffen ist die Gräfin Marie von dem Tanz der Derwische. Diese Vorstellung, der Tanz in der Moschee, hinterlässt auf sie einen tiefen, sonderbaren Eindruck. Sie fühlt Angst, als sie diesen mystischen Ort betritt, mit dunklen Gestalten, „die dort in einer Gruppe auf dem Boden lauerten [...]“ (Königsbrun-Schaup, S. 113). Schon wieder erfährt man von einem seltsamen Schauspiel, von unheimlichen Gestalten; das alles verbunden mit der magischen Gewalt des Tanzes, mit immer lauterem und wilderem Gesang soll bestätigen, dass hier eine andere, unbekannte Welt herrscht, die

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einem daran nicht Gewöhnten, darauf Unvorbereiteten nur Angst einflößen kann. So fühlt sich die Gräfin wie betäubt, „als wollten die Dämonen sie mit sich ziehen in den unheimlichen Tanz [...]“ (Königsbrun-Schaup, S. 116). Noch einen Einblick in das bosnische Leben bekommt man durch die Schilderung der volkstümlichen Musik und der Lieder, die hier gesungen werden. Von den Instrumenten erwähnt der Autor die Tamburiza. „Die Tamburiza ist ein seltsames Instrument, eine winzige, primitive Mandoline, mit vier oder sechs Drahtsaiten“ (Königsbrun-Schaup, S. 177). Den Ton dieses Instrumentes vergleicht der Autor mit dem Gesumme eines Insektes (vgl. ebd.), und die Lieder, die die bosnischen Mädchen dazu singen, seien eintönig und melancholisch (vgl. ebd.). Auf diese Weise werden sogar die Musik und die bosnischen Lieder als etwas Ungewöhnliches dargestellt, was dem Geschmack eines Europäers nie entsprechen könne. Es ist interessant zu bemerken, dass im ganzen Roman keine direkte Kritik an dem Bosnischen ausgedrückt wird: Entweder wird von einer Art Hilfe gesprochen, die für dieses Land unentbehrlich sei, in dem Sinne, dass Österreich-Ungarn hier eine Kulturmission durchführen müsse, oder es werden zur Beschreibung des typisch Bosnischen die schon erwähnten Adjektive verwendet, wie z. B. seltsam, sonderbar, unheimlich13. Aus einer Bemerkung des Autors, die sich auf die Einwohnerzahl Sarajewos bezieht, lässt sich erschließen, dass die Mehrzahl der Bevölkerung moslemisch war; so wird im Roman von den religiösen Feiertagen nur der Ramazan beschrieben: „[...] die Moslemins, die tagsüber fastend und ohne zu rauchen ihre Sünden gebüßt hatten, begingen nur den nächtlichen Teil des Ramazans mit allerlei Lustbarkeit“ (KönigsbrunSchaup, S. 41). Der Autor schilderte die ganze Atmosphäre als sehr feierlich, mit Limonade, Feuerwerk und Köstlichkeiten, die im Text haardünne Festnudeln (vgl. Königsbrun-Schaup, S. 42) genannt werden. Aber auch bei dieser Beschreibung einer Festlichkeit, mit abenteuerlichen Gestalten und einer wilden Janitscharenmusik (vgl. ebd.), wird deutlich, dass der Autor alles für sehr mystisch und außergewöhnlich hält. Dass das 13

Anm.: Nur einmal benutzt der Autor das Adjektiv primitiv (vgl. Königsbrun-Schaup, S. 177).

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Folkloristische für die Österreicher auch anziehend wirken kann, schildert der Autor am Beispiel des Herrn Walter, eines österreichischen Ingenieurs, der das Volkstümliche sehr liebe, wie z. B. einen Moslem, Nachkomme des Propheten, mit seinem grünen Turban, oder einen blinden Guslar, der den alten Heldengesang von Marko Kraljewic vorträgt (vgl. KönigsbrunSchaup, S. 42). Er bezeichnet das, was er sieht, ganz neutral als „manche charakteristische Erscheinung [...]“. (ebd.) Dies bestätigte wieder das bereits über Bosnien herrschende Bild eines exotischen, märchenhaften Landes. Es ist zu bemerken, dass der Roman auch ein Doppelbild Österreich-Ungarns entwirft. Einerseits hat die Österreichisch-Ungarische Monarchie die Funktion des Kulturträgers. So sind die Westeuropäer der Meinung, dass man in Bosnien noch vieles leisten könne, wenn man seine volle Kraft dafür einsetzen würde. Es wird betont, dass man die Ungläubigen mit den Waffen der Kultur bekämpfen sollte (vgl. Königsbrun-Schaup, S. 34). Diese Aussagen und das gesamte im Roman über Bosnien entworfene Bild wirken irgendwie zynisch, wenn man weiß, dass gerade die Angehörigen der europäischen Zivilisation, ein Graf und ein Baron, am Anfang des Romans eine Frau aus Bosnien entführt haben, und nicht die Einheimischen, die immer wieder als Barbaren dargestellt werden. Dieselbe Frau wird am Ende des Romans zum zweiten Mal entführt, und zwar diesmal von einem Einheimischen, Fadil Cengic Beg. So kommt auch das andere Bild Österreich-Ungarns zum Vorschein. Es stellt sich die Frage, ob sich die zwei dargestellten Welten, der Orient und der Okzident, wirklich so sehr voneinander unterscheiden, wie es im größten Teil des Romans dargestellt wurde. Man erhält den Eindruck, dass der Autor hier mit der negativen Meinung über Bosnien, die im Roman in den österreichisch-ungarischen Kreisen zum Ausdruck kommt, spielen möchte. Königsbrun-Schaup vertritt eigentlich nicht den Standpunkt, dass die Menschen aus Österreich-Ungarn im Allgemeinen, und insbesondere die Adligen − als die Vertreter eines Prestige-Milieus −, viel bedeutender und zivilisierter seien. Sogar die Kleidung, die die Entführer bei dieser Tat anhaben, weist satirisch darauf hin: Die Europäer tragen bei der ersten Entführung orientalische Kostüme, und Fadil Cengic Beg trägt bei der zweiten Entführung europäische Kleidung. Ist allein die Kleidung

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ausreichend, um aus einem Barbaren einen zivilisierten Menschen, oder sogar einen Adligen, zu machen oder umgekehrt? Im Roman wird auch betont, dass Bosnien eine Kolonie der ÖsterreichischUngarischen Monarchie sei, von der man auch viel erwarte, weil dieses Land sehr reich an Bodenschätzen sei, eigentlich eine kostbare Perle (vgl. Königsbrun-Schaup, S. 126). Daran wird auch Graf Altenberg in einem Gespräch erinnert. Österreich-Ungarn solle deshalb ein Vorbild für Bosnien sein, ein Vorbild „der Gerechtigkeit, der Ordnung, des Wohlwollens und des Ernstes der Regierung [...]“. (Königsbrun-Schaup, S. 61) Der Autor stellt indirekt die Frage, wie die bosnische Bevölkerung Vertrauen zu Österreich-Ungarn haben könne, wenn die österreichisch-ungarischen Adligen als die Akteure eines solchen Skandals in Erscheinung treten. Man kann also schlussfolgern, dass Bosnien in diesem Roman als idealer Rahmen für die Handlung benutzt wurde. Nirgendwo anders ließe sich eine solche abenteuerliche Geschichte besser ansiedeln als in dieser exotischen, unheimlichen, sonderbaren Welt. Die sonderbare Atmosphäre dieses Landes hat eine seltsame Wirkung auf jeden Menschen, in diesem Fall auf die mutigen österreichisch-ungarischen Diplomaten, die ein Vorbild für die hiesige Bevölkerung sein sollten. Zweifellos vertritt der Autor auch die Meinung, dass man sich mit der Zeit an das Leben in Bosnien gewöhnen müsse. Das bestätigt auch einmal der Ingenieur Walther, wenn er sagt, dass ihm Sarajewo vor seiner Forschungsreise in die anderen Teile Bosniens unkultivierter vorgekommen sei (vgl. Königsbrun-Schaup, S. 279). Fazit Bosnien war selten Thema zeitgeschichtlicher Sensations- und Abenteuerromane, und gerade aus diesem Grund ist es interessant, dass dieses Land nun auch in solchen zur Trivialliteratur zählenden Werken geschildert wird. Im Mittelpunkt steht eine aus österreichisch-ungarischen Offizieren, Beamten, Diplomaten und ihren Frauen bestehende Gesellschaft, die sich langweilt und sich deshalb die Zeit mit Liebesgeschichten, Skandalen oder Entführungen zu verkürzen versucht. Das Geschehen ist, um es noch aufregender zu machen, in eine unbekannte,

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orientalische Welt (Bosniens bzw. Sarajewos) eingebettet. KönigsbrunSchaup gelingt es, die Schauplätze, wie die Bogumilengräber, die Umgebung der Stadt Trawnik und die Hauptstadt Sarajewo, auf eine sehr mystische Art und Weise darzustellen, und zwar als Orte, die sich hervorragend für große Abenteuer eignen. Sie werden als Teil einer Wildnis geschildert, in einem barbarischen, muslimischen Land. In einem solchen Land existiert, wie der Autor beschreibt, noch immer die Falkenjad, was man niergendwo sonst in Europa mehr finden konnte. In diesem Sinne hat dieses Land für einen Europäer seine Reize, weil es etwas Neues und Unbekanntes anbieten kann. Dem deutschsprachigen Publikum wird aber durch den Roman auch vermittelt, dass Bosnien ein sehr reiches Land sei, was es für die Österreicher (wie im Roman in Gesprächen erklärt wird) erst noch zu entdecken gelte. Der Autor erwähnt auch die bosnischen Bodenschätze und den fruchtbaren, aber noch immer vernachlässigten Ackerboden, und es wird betont, dass das alles jetzt der Krone gehöre. Dieses Land hätte Österreich-Ungarn noch mehr Reichtum bringen sollen. Das Bild Bosniens wird also dem Leser durch die Brille der im Mittelpunkt der Handlung stehenden österreichisch-ungarischen Gesellschaft präsentiert. Der Eindruck, dass die geschilderte Welt Bosniens in einem starken Kontrast zur westeuropäischen Zivilisation steht, dominiert bis zu dem Moment, in dem der Leser begreift, dass sich die Tat der Entführung im Roman zweimal ereignet, und zwar einmal begangen von einem Einheimischen, einem Barbaren, und einmal von einem österreichischen Grafen und einem ungarischen Baron, also von den zivilisierten Europäern. Fast satirisch wirft der Autor damit die Frage auf, ob die Österreichisch-Ungarische Monarchie zu einer Kulturmission (wie das im Roman betont wird) auf dem Balkan fähig sei. Der Autor lässt Zweifel an der Autorität ÖsterreichUngarns und seiner starken Hand aufkommen, wenn sich seine Offiziere und Diplomaten wie echte Barbaren benehmen.

Bibliographie „Amtsblatt zur Laibacher Zeitung“ vom 29. 5. 1909. Nr. 121. Ljubljana. „Amtsblatt zur Laibacher Zeitung“ vom 8. 6. 1909. Nr. 128. Ljubljanja.

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BEKIĆ, TOMISLAV, „Jugoslovenski motivi u delima Roberta Mihela“. U: Zbornik za slavistiku, br. 15, Matica srpska, 1978, S. 155-165. H. GIEBISCH/L. PICHLER/K. VANCSA (Hrsg.), Kleines österreichisches Literaturlexikon. Wien: Brüder Hollinek, 1948. KÖNIGSBRUN-SCHAUP, FRANZ JOSEPH VON, Die Bogumilen. Ein bosnischer Roman. München: Georg Müller, 1909. „Neue Freie Presse“ vom 17. 6. 1900. (Morgenblatt). Nr. 12864. Wien. „Neue Freie Presse“ vom 14. 2. 1916 (Nachmittagsblatt). Nr. 18492. Wien. Österreichisches Biographisches Lexikon 1815−1850. Bd. 4. Lfg. 16. 1966. SCHWEIKLE, GÜNTHER UND IRMGARD (Hrsg.), Metzler Literatur Lexikon. Begriffe und Definitionen. Stuttgart: Metzlerische Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag, 1990. WEIMAR, KLAUS (Hrsg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 1. A−G. Berlin: De Gruyter, 1997. WILPERT, GERO VON, Sachwörterbuch der Literatur. Stuttgart: Alfred Kröner Verlag, 2001. WYTRZENS, GÜNTHER, „Die Bedeutung der slawischen Literatur für Österreich“ In: FEDOR B. POLJAKOV/STEFAN SIMONEK (Hgg.), Slawische Literaturen – Österreichische Literatur(en). Bern: Peter Lang, 2009, S. 93-133. ŽMIRIĆ, AMIRA, Bosansko-hercegovačka tematika u djelima Roberta Michela. Banja Luka: Besjeda 2004. ŽMIRIĆ, AMIRA, Austrijski i njemački putopisi o Bosni i Hercegovini do 1941. godine. Banja Luka: Besjeda 2012.

Amira Žmirić Images of Bosnia in Königsbrun-Schaup’s sensational and adventure novel Die Bogumilen. Ein bosnischer Roman Summary Bosnia was rarely a theme in adventure and sensational novels, thus it is interesting to notice that this country in those novels, which can be classified as trivial literature, is represented in a realistic way. Königsbrun-Schaup managed to show different settings such as Bogomils’ graves, surroundings of Travnik and the capital city Sarajevo in a completely mystical way, like places where adventures happen. They are shown as a part of the wilderness of a barbarian country. There still exists, as author describes, hawk hunt, which cannot be found anywhere else in Europe. While reading the novel you get the impression that you are transferred into an unknown world, the world of the East, which shows great contrast between the western civilizations. You can also see that Bosnia is a rich country, which for the Austrians is but to be revealed. The author mentions natural riches of this country and fertile land, actually the use of these descriptions is to reveal the real aim of the novel: to show the Austrian public an unknown country which should bring many riches to the Habsburg monarchy. Key words: adventure novel; sensational novel; Bosnia; trivial literature; colonialist view

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III. KAPITEL: (Ungefähr) zwischen den zwei Weltkriegen



EINEM RUSSISCHEN SUBALTERNOFFIZIER MAGISCH VERFALLEN: ZUR FRAGE DER ALTERITÄT IN LEO PERUTZ’ ROMAN WOHIN ROLLST DU, ÄPFELCHEN... (1928) Sven Hanuschek Ludwig-Maximilians-Universität München (sven.hanuschek@germanistik.uni-muenchen.de) Zusammenfassung Der Aufsatz untersucht die Frage der Slawenklischees in Perutz’ Roman als Frage nach der Darstellung von Alterität im Kontext der Heimkehr der deutschen Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg. Perutz’ Protagonist wird als paranoid gezeigt, als Täter, der offenbar weit mehr Schuld auf sich lädt als der russische Offizier, den er als ‚Heimkehrer‘ durch halb Europa und Russland verfolgt. Die wenigen expliziten Slawenklischees, die der Roman aufzuweisen hat, werden humoristisch ausgestellt. Es handelt sich vielmehr um ein Fremdenbild als Projektionsfläche für eigene negative Eigenschaften. Stichwörter: Leo Perutz, Ullstein-Roman, Antislawismus, Russophobie, bochisme, Paranoia, imaginierte Fremdenbilder, Projektionsmechanismus, Spiegelfiguren, Kitsch, Genrehybridität

1. Die erste Wissenschaft von der Fremd- und Andersheit ist keineswegs zuerst die Literaturwissenschaft, sondern vielmehr die Ethnologie. Hier sind die Horizont-Abschreiter zu Hause, die Grenzgänger, die teilnehmenden Beobachter, die unentwegt Eigenes mit Fremdem oder doch Anderem vergleichen. Ethnologie kann als Wissenschaft von der Differenz schlechthin verstanden werden1 und damit als habituelle AntiWissenschaft, der es nicht um die Bildung von Generalisierungen und Abstraktionen geht, sondern gerade darum, die Gegenstände ihres Interesses nebeneinander stehen zu lassen und sie dabei als distinkt zu beschreiben. Diese Haltung hat zu der bekannten Selbstbeschreibung des Fachs durch Aidan Southall geführt: „It is not that anthropology is in crisis,

1

So Bernhard Streck: Fröhliche Wissenschaft Ethnologie. Eine Führung. Wuppertal 1997, S. 13. – Zur Ethnologie als Kulturwissenschaft vgl. einführend Stephan Moebius, Dirk Quadflieg (Hg.): Kultur. Theorien der Gegenwart. 2., erweiterte und aktualisierte Auflage. Wiesbaden 2011, S. 147-186.

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but that anthropology is crisis“2 – der Konsens der Humanwissenschaften wird immer wieder in Frage gestellt, „weil eben alles nur kontextuell, relativ, im jeweiligen Zusammenhang und Hintergrund zu sehen und nur aus sich heraus zu verstehen ist.“3 Dementsprechend gibt es das Fremde oder das Andere nicht ohne das Eigene, jede Reflexion über Alterität ist immer auch ein Versuch über Identität. Das ist in der zeitgenössischen Ethnologie oder auch der Soziologie4 Konsens, auch die Literaturwissenschaft kann sich ein paar Scheibchen von diesen Nachbardisziplinen abschneiden. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gab es einen anderen Konsens, Völkerpsychologie und Sozialdarwinismus wurden ernsthaft diskutiert, besonders der letztere mit Vorstellungen ‚höherwertigen’ und ‚minderen’ Lebens führte geradewegs in die Katastrophen des Jahrhunderts, in die NS-Diktatur und die Shoah. Im 19. Jahrhundert existierten insbesondere über Russland eine Reihe von Klischees, die umstandslos „auf die Slawen im ganzen übertragen worden sind“5 und die 1914 leicht zu aktivieren waren. Trotz der Beliebtheit von Gogol, Gontscharow, Dostojewski, Tolstoi und Tschechow, trotz des Russland-Erlebnisses von Rainer Maria Rilke6 überwogen die NegativKlischees. Auch wenn die Russophobie keine spezifisch deutsche Eigenschaft gewesen war, so Dietrich Geyer, waren doch „nirgends sonst“ die „Schablonen so dauerhaft“,7 die Konservativen des ausgehenden 19. Jahrhunderts vertraten den Gedanken, „das slawische Barbarentum endgültig auf sein natürliches Aktionsgebiet, den asiatischen Osten und Südosten, zurückzuwerfen und die westeuropäische Kultur vor panslawischer Vergewaltigung zu sichern“, so der preußische General und Militärhistoriker Friedrich von Bernhardi 1890.8 Diese Haltung, noch rassistisch aufgeladen und angefüttert mit den Klischees über Menschen 2

Zit. n. Streck (Anm. 1), ebd. Streck (Anm. 1), S. 14. 4 Vgl. z. B. Zygmunt Bauman: Vom Nutzen der Soziologie. Aus dem Englischen von Christian Rochow. Frankfurt am Main 2000, S. 56-101. 5 Dietrich Geyer: Ostpolitik und Geschichtsbewusstsein in Deutschland. In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Jg. 34 (1986), H. 2, S. 147-159, hier S. 153. 6 Vgl. Joachim W. Storck: Rainer Maria Rilke in Jasnaja Poljana. Marbach am Neckar 2000 (Marbacher Magazin 92). 7 Geyer (Anm. 5), S. 152. 8 V. Bernhardi zit. n. Geyer (Anm. 5), S. 156. 3

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„von gemeiner Gemütsart, der Trunkenheit und Faulheit verfallen, ohne Intelligenz, unfähig, Eisenbahnen und Maschinenfabriken ohne fremde Hilfe zu betreiben“, konnte für den Ersten Weltkrieg entsprechend instrumentalisiert werden; es „war nicht leicht, in Deutschland anders als schlecht von den Russen zu reden“.9 Hitlers ‚Generalplan Ost’ nach 1939 war daher in vielerlei Hinsicht nur eine Radikalisierung der Pläne der deutschen Generäle im bzw. vor dem Ersten Weltkrieg; die Weimarer Republik „hatte die Kontinuität des deutschen Ostimperialismus“ nur „kurzzeitig unterbrochen“.10 Im Folgenden soll ein Roman aus dieser Unterbrechungszeit untersucht werden; wie geht der in Prag geborene österreichische Schriftsteller Leo Perutz in seinem Roman Wohin rollst du, Äpfelchen... mit diesen Slawenklischees um, und damit auch mit dem Thema Alterität? Trotz der Spezifika, die bei einem 1882 geborenen österreichischen Autor gelten, der noch im k.u.k.-Reich aufgewachsen ist, 11 kann von der Rezeption her argumentiert werden, dass es sich auch um ein Werk der deutschen Literatur handelt, ist das Äpfelchen doch 1928 zunächst als Fortsetzungsroman in der Berliner Illustrierten Zeitung erschienen und das wohl erfolgreichste Werk Perutz’ zu Lebzeiten geblieben. Dass Identität und Alterität große Themen des Romans sein könnten, ist naheliegend, jagt Perutz’ Wiener Protagonist Vittorin doch über mehrere hundert Seiten, Fronten und Länder einem russischen Offizier nach, direkt nach dem Ersten Weltkrieg. Im Folgenden soll der Roman kurz vorgestellt werden (2.), das Slawen-Thema darin durchgearbeitet (3.) und schließlich Perutz’ AlteritätsDiskurs bilanziert werden (4.). 2. Wohin rollst du, Äpfelchen... gehört in den Kontext der HeimkehrerLiteratur nach dem Ersten Weltkrieg, die Heimatlosigkeit der entlassenen 9

Geyer (Anm. 5), S. 156. Geyer (Anm. 5), S. 158. 11 Zu Perutz als grundlegende Einführungen: Hans-Harald Müller: Leo Perutz. Biographie. Wien 2007. – Hans-Harald Müller, Brita Eckert: Leo Perutz 1882-1957. Eine Ausstellung der Deutschen Bibliothek, Frankfurt am Main. Wien, Darmstadt 1989. 10

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Soldaten, der Lost Generation diesseits wie jenseits des Atlantiks ist in zahlreichen Werken thematisiert worden, von Bertolt Brecht (Trommeln in der Nacht, 1919/22), William Faulkner (Soldier’s Pay, 1926), Joseph Roth (Die Flucht ohne Ende, 1927), Erich Maria Remarque (Im Westen nichts Neues, 1928/29; Der Weg zurück, 1931), Ernest Hemingway (A Farewell to Arms, 1929), um nur einige der bekannteren Titel zu nennen. Allerdings bricht Leo Perutz das Muster des Heimkehrerromans gleich zu Beginn seines Werks: Sein Protagonist, der Leutnant Georg Vittorin, wird mit Regimentskameraden während der Bahnfahrt ins heimatliche Wien gezeigt, denkt allerdings schon hier daran, dass er nach Russland zurückkehren und sich dort an einem „Stabskapitän im Semjenowschen Regiment“12 rächen wird, an Michael Michajlowitsch Seljukow. Er will den Schwur einlösen, den er mit seinen Kameraden zusammen abgelegt hat; er stellt sich vor, wie er Seljukow gegenübertreten, was er ihm an den Kopf werfen würde: Erinnern Sie sich an den Fliegerleutnant, dem Sie die Offiziersbehandlung entzogen haben, weil seine Papiere nicht in Ordnung waren? [...] Weil er sich geweigert hat, die Arbeit in der Mannschaftsküche zu verrichten, haben Sie ihn in den Kellerraum der C-Baracke gesperrt. Er war krank, Rückfallfieber, schwere Malaria, aber Sie ließen ihn auf seiner Sträflingspritsche in dem schmutzigen Kellerloch, bis er ... Er simuliert, wie? Der Lagerarzt ist nicht da für Launen von Kriegsgefangenen, sagten Sie. [...] An dem Tag, an dem man ihn begraben hat, haben wir einen Eid geschworen, wir fünf, und nun, sehen Sie, ist der Tag der Abrechnung gekommen. (23)

Dass er diese Abrechnung vornehmen, sie nicht seinen Mit-Offizieren überlassen will, hat aber sehr persönliche Gründe: Seljukow hat ihn seiner Meinung nach gedemütigt, den Kriegsgefangenen Vittorin wie einen Schuljungen (vor dem russischen Diener, vielleicht auch vor den Ohren einer Geliebten hinter einem Wandschirm) aus dem Raum geschickt und ihm Zimmerarrest verordnet; es ist diese Szene, die noch mehr an Vittorin nagt als der tote Leutnant. Er hätte im Unterschied zu anderen Protagonisten von Heimkehrerromanen sogar einen Platz in seiner Heimatstadt, eine Verlobte, eine aussichtsreiche Stelle, eine Herkunftsfamilie, die auch auf seine Arbeit angewiesen wäre. Trotz seines 12

Leo Perutz: Wohin rollst du, Äpfelchen... Roman. Hg. und mit einem Nachwort von Hans-Harald Müller. Wien, München 2011, S. 14. – Alle Zitate im Folgenden nach dieser Ausgabe mit Seitenzahlen im Text.

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Gefühls „des Geborgenseins“ (32), des zeitweiligen Vergessens (95) verlässt er Wien bald wieder, um im postrevolutionären, bürgerkriegsgeschüttelten Russland nach Seljukow zu suchen und sich mit ihm zu duellieren. Mehrmals glaubt er, ihn gefunden zu haben, er wird von den roten Truppen ins Gefängnis gesteckt, von dem Revolutionär Artemjew befreit, er kann sich in Seljukows Wohnung in Moskau einquartieren lassen, in der aber ein alter Baron lebt. Auf jeder Station seiner Jagd ‚erzeugt’ Vittorin Tote: Graf Gagarin, der bei seiner Verhaftung bei ihm ist, erschießt sich, statt sich gefangen nehmen zu lassen; der Geige spielende Baron in Seljukows Wohnung wird später erschossen; den Untergrundkämpfer Artemjew hat Vittorin verraten und das noch nicht einmal bemerkt. Er übernimmt das Kommando eines roten Truppenteils, fast alle seiner Leute fallen; er überlebt im Lazarett und reist ins Dorf des früheren Seljukow-Dieners Grischa. Dessen Mutter schickt ihn nach Batum (in Georgien), und nun schließen sich kürzere Episoden an, die „im Genre des Kolportageromans [...,] in atemberaubendem Tempo im Zeitraffer“13 erzählt werden: Vittorin lebt mit einer Geliebten in Konstantinopel, hört, Seljukow sei in Rom, und reist ihm nach Italien, nach Barcelona, nach Paris nach, und dort erfährt er, der Gesuchte sei in Wien: „Währinger Gürtel 124. Daheimbleiben und warten und dann eines Tages eine Straße hinaufgehen und um die Ecke biegen. Mehr wäre nicht zu tun gewesen.“ (239) Im letzten Kapitel gibt es nach knapp zwei Jahren tatsächlich den Showdown in Wien, Vittorin findet Seljukow in einem armseligen Zimmer, „ein Mann mit einer Brille, unrasiert, in einem alten, abgetragenen Sakko“ (255), ein alter Mann mit entzündeten Augen, der Holzspielzeug schnitzt. Vittorin kauft ihm einiges ab, erzählt Grischa Neuigkeiten aus seinem Dorf und von seiner Mutter, und er geht wieder. Aus dem großen Racheakt ist ein kleiner, halb mitleidiger Vormittagsbesuch geworden: Und mit einer Handbewegung strich Vittorin zwei Jahre, in denen er Abenteurer, Mörder, Held, Kohlentrimmer, Spieler, Zuhälter und Landstreicher gewesen war, aus seinem Leben – – mit einer gleichgültigen Handbewegung, die einem verlorenen Vormittag und einem durchnäßten Mantel galt und nichts verriet. (260) 13

Hans-Harald Müller: Krieg im Frieden – zur metafiktionalen Genremischung in Leo Perutz’ Roman Wohin rollst du, Äpfelchen. In: Imaginäre Welten im Widerstreit. Krieg und Geschichte in der deutschsprachigen Literatur seit 1900. Hg. von Lars Koch und Marianne Vogel. Würzburg 2007, S. 46-57, hier S. 52.

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Franziska Mayer hat den Veröffentlichungskontext des Romans rekonstruiert, der als Bestseller für Ullstein und die Berliner Illustrierte Zeitung geschrieben und mit aufwendigen Werbe-Aktionen lanciert worden war.14 Für die Niederschrift dieses Romans hat Perutz drei Jahre gebraucht, auch ein Werk der ‚Unterhaltung’ hat er ebenso sorgfältig formuliert und konstruiert wie seine übrigen Werke. Die formale Komplexität, die typisch für andere seiner Romane von Die dritte Kugel (1915) bis Nachts unter der steinernen Brücke (1953) ist, scheint hier etwas zurückgenommen, wohl der einzige Kompromiss für das Ziel einer Zeitungsveröffentlichung; Wohin rollst du, Äpfelchen... ist mit wenigen Ausnahmen chronologisch erzählt, personal und in innerer Fokalisierung des Protagonisten und erlebter Rede,15 es gibt keinen Rahmen, keine analytische Struktur, keinen unzuverlässigen Erzähler.16 Michael Scheffel hat die raffinierteren Elemente erzähltheoretisch ausführlich analysiert, so etwa den mehrfachen Wechsel zwischen Erinnerung und imaginärer (zukünftiger) RacheSituation im Bewusstsein Vittorins. 17 Hans-Harald Müller sieht die Komplexität im mehrfachen Genrewechsel; der Roman beginnt als Heimkehrer-Roman, wandelt sich zum Abenteuer- und dann Kolportageroman, mit dem Ende schließlich enttäusche er jede GenreErwartung.18 Konsequenterweise konnte er sich also auch den Alteritätsund Alienitäts-Stereotypien der Zeit entziehen.

14

Vgl. Franziska Mayer: Unterhaltung vom „Dichter“: Leo Perutz’ Ullsteinroman Wohin rollst du, Äpfelchen... In: Populäres Judentum. Medien, Debatten, Lesestoffe. Hg. von Christine Haug, F. M. und Madleen Podewski. Tübingen 2009, S. 171-189. 15 Vgl. Michael Scheffel: Leo Perutz: Wohin rollst du, Äpfelchen... In: Leo Perutz’ Romane. Von der Struktur zur Bedeutung. Mit einem Erstabdruck der Novelle „Von den traurigen Abenteuern des Herrn Guidotte“. Hg. von Tom Kindt und Jan Christoph Meister. Tübingen 2007, S. 81-93, hier S. 83f. 16 Vgl. dazu vor allem die Arbeiten von Matías Martínez: Doppelte Welten. Struktur und Sinn zweideutigen Erzählens. Göttingen 1996, S. 177-202; und M. M.: Proleptische Rätselromane. Erzählrahmen und Leserlenkung bei Leo Perutz. In: Leo Perutz. Unruhige Träume – Abgründige Konstruktionen. Dimensionen des Werks, Stationen der Wirkung. Hg. Brigitte Forster und Hans-Harald Müller. Wien 2002, S. 107-129. 17 Scheffel (Anm. 15), S. 85. 18 Vgl. Müller (Anm. 13).

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3. Schon der sprichwörtlich gewordene Titel ist ein etwas getragenes russisches Volkslied, gewissermaßen über die Vergänglichkeit eines jeden Apfels, der in den Korb fällt und nicht wiederkommt. Es soll im Ersten Weltkrieg populär gewesen sein, mittlerweile kann man sich das durchaus unpolitische Lied auch auf YouTube auf Russisch anhören.19 Perutz hat neben dem Roman auch das vorletzte Kapitel danach benannt, Wohin rollst du... (216-245). Hier finden die größten Reisebewegungen des Protagonisten statt. Zudem verwendet der Geige spielende Baron Pistolkors den Titel, nun ausdrücklich in Bezug auf Seljukow: Ja, der sei mit seinem Regiment an die Front gegangen; er habe „Moskau verlassen. Vielleicht ist er auch nicht an die Front gegangen, wie kann ich wissen, wohin das Äpfelchen gerollt ist.“ (170) Es ist ein russisches Volkslied, aber es evoziert kaum russische oder slawische Klischees, wenn man von dem Gran Fatalismus und Melancholie absieht. Überhaupt wirkt der verfolgte russische Offizier in der zentralen Kränkungsszene keineswegs ‚typisch russisch’: Ein schnöseliger Offizier, der auch Franzose sein könnte, wenn er nicht seine russischen Orden trüge – er wechselt zwischen gebrochenem Deutsch, russischer und französischer Sprache – , an dem Vittorin die „lässig-elegante Art“ auffällt, „während des Schreibens die Zigarette zu halten“ (20). Seljukow maßregelt den Kriegsgefangenen, der habe sein Anliegen dem „Unteroffizier du jour“ zu melden, stattdessen belästige er ihn zum dritten Mal „mit Bitte und Beschwerde“ und erhalte daher „zehn Tage Zimmerarrest, damit Sie sich merken russische Gesetz“ (21). Vielleicht ist Seljukow auch ein homme de femmes, wenigstens in Vittorins Phantasien; er sieht „französische Romane“ (20) neben den militärischen Büchern auf dem Schreibtisch liegen und argwöhnt, Seljukow habe womöglich eine Frau „hinter dem 19

Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=Z2g5KN63HL4 (zuletzt überprüft am 1.8.2018); die deutsche Übersetzung des Liedes: „Ach Äpfelchen, du goldiges!/ Ich gehe auf dem sauberen Feld spazieren.// Ach, Äpfelchen, wohin rollst du?/ Du fällst in den Korb und kehrst nicht mehr zurück.“ Das russische Original lautet wie folgt: „Ech, Jablotschko / Ty zolotistoje / Ja poydu pogulyat' / W pole chistoje. // Ech, Jablotschko / Kuda ty katishsya / W korsinu popadjosh' - / Ne worotish'sya!“

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Wandschirm“ stehen, eine „Französin“, „die Frau eines Gutsbesitzers“ (22), wie ein Gerücht im Lager geht. Obendrein verweist der Russe auch noch auf Frankreich und verwendet bei seiner Rüge Vittorins seinerseits tatsächlich ein Nationalitätenklischee: „In Frankreich nennt man das Bochisme.“ (21) Vittorins Erinnerung an Seljukow steigert sich im Verlauf der lange vergeblichen Verfolgung und löst sich dabei zunehmend von der tatsächlichen Szene, die freilich nie von einem objektiviert-distanzierten Erzähler mitgeteilt wird, wir kennen sie nur durch Vittorins in erlebter Rede mitgeteilte Gedanken. Seljukow wird erst zum Vertreter eines ‚anderen’ Teils der Gesellschaft, der vom Elend der Vielen profitiert, der immer auf der Seite des Glücks steht und ein grausamer Sadist ist; Vittorin stellt sich vor, als seine Weiterreise nach Moskau gefährdet ist, wie sein Feind „mit der Reitgerte in der Hand hochmütig durch die Straßen der aus weißem Stein erbauten Stadt“ geht, „saß vielleicht in seinem Amt und verhöhnte die demütig wartenden Bittsteller [...] Und während Vittorin an all dies dachte, kam ihm plötzlich das Gesicht Seljukows, das verhaßte Antlitz [...] wieder in Erinnerung. Die Augen eines Raubvogels, ein grausam-spöttisches Lächeln auf den schmalen Lippen, keine menschlichen Züge, die Maske Satans“ (149f.). Seljukow wird zum absolut Bösen schlechthin, zum Profiteur der Bürgerkriegswirren, zum reichen Bourgeois, zum Offizier, der seinen Sinn gefunden hat – damit hat er eine Position inne, die in nichts der seines Verfolgers entspricht, er verkörpert also scheinbar tatsächlich dessen ‚Anderes’ (ohne dass dabei seine Nationalität die geringste Rolle spielen würde). Vittorin stellt sich vor, unter der beleuchteten Wohnung seines Widersachers stehend, der sei noch wach (es handelt sich dann um den Grafen Pistolkors): „Ruhelos, mit blutunterlaufenen Augen, Mordgedanken hinter der Stirne wälzend, ging dieser Feind der Menschheit in seinen Zimmern auf und nieder, die Toten ließen ihn nicht schlafen.“ (164) Schließlich, in Konstantinopel, steht Seljukow gewissermaßen als Apotheose des Bösen da, mit deutlich kapitalismuskritischem Zungenschlag:20

20

Vgl. Mayer (Anm. 14), S. 187.

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Er sieht in Seljukow nicht mehr den hochmütigen russischen Offizier, der ihn beleidigt hat. Seljukow ist der böse Geist einer entarteten Zeit. In ihm haßt Vittorin alles Schändliche, das seine Augen sehen, in ihm haßt er die Schieber, die Valutageier, die Raubtiermenschen, die sich in den Besitz der Welt geteilt haben. Konstantinopel ist voll von diesen düsteren Gestalten [...] (225)

Vittorin will die ganze Menschheit an denen rächen, die sie verraten haben, die „unangreifbar“ und „überall“ sitzen (225) – und dafür steht in seiner Phantasie die einzelne Figur Seljukow, wegen einer recht zweifelhaften Ehrabschneidung. Die Zahlreichen, die ‚überall’ sitzen, ‚unangreifbar’, zeigen hier deutlich die Paranoia des Protagonisten, expliziter wird Perutz nie. Einer von Vittorins Regimentskameraden, der als „Professor“ betitelt wird, diagnostiziert den gemeinsamen Racheschwur als Gefangenenpsychose, „psychisch krank waren wir“, die Gruppe habe sich in den „typischen Traum aller Gefangenen“ geflüchtet: „Einmal kommen und Abrechnung halten!“ (49) Vittorin ist aus diesem Zustand nie herausgekommen, hat ihn sogar verabsolutiert, eine „schwere Psychose“, „Kein normaler Zustand“ (50). Seine Jagd, die vielen Menschen beiläufig das Leben kostet, die seinen Platz im Wiener Alltagsleben zerstört, seine amourösen und familiären Verhältnisse gleich mit, wäre danach also Resultat seines Wahnsinns,21 der sich zeitweilig ganz von der konkreten Figur Seljukows ablösen kann, so weit, dass er dessen Gesicht vergisst, es „bleibt wesenlos und schemenhaft“ (108). Die andere Erklärung, die angeboten wird, ist das romantische Spiegelmotiv: Mehrfach werden Vittorin und Seljukow als identisch gesetzt, als Spiegelfiguren. Ein Spitzel des Untergrundkämpfers Artemjew hält die Bilder an der Wand in Seljukows Wohnung für die Vittorins und vermutet auch, das er derselben politischen Splittergruppe angehört wie dieser, er setzt die beiden und ihre Standpunkte also in eins (vgl. 181). Noch deutlicher wird Vittorins Geliebte in Konstantinopel, sie gesteht ihm, sie habe ihn für „einen russischen Offizier“ gehalten (230). Über die wirklichen Schandtaten Seljukows ist nichts mehr zu erfahren, vielleicht sind sie nur eine solche Chimäre, wie die Beleidigung Vittorins 21

Vittorin spricht einmal vom „Phantom, das von seinem Gehirn Besitz ergriffen hatte“ (78f.); Emperger, ein anderer seiner Regimentskameraden, macht sich über ihn lustig, er sei „einem russischen Subalternoffizier magisch verfallen“ (76).

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offensichtlich eine gewesen ist; dagegen werden wir vom Erzähler über die Toten, die Vittorin hinter sich lässt, stets sehr genau informiert. Das so sehr dämonisierte alter ego Vittorins könnte harmlos sein, und am Ende ist er es tatsächlich; da „lag er nun“, Vittorin, „und war im Kreis gegangen“ (211). Bei dieser Ineinanderblendung liegt es auf der Hand, dass Nationalitätenklischees in der erwarteten Art in der Beschreibung Seljukows keine Rolle spielen können. Dennoch, es gibt sie im Roman; allerdings werden sie durchweg humoristisch verwendet, sie werden vorgeführt, nicht vertreten, weder explizit noch implizit. Vittorins Wiener Freundin Franzi erfindet zwei Männer, um ihn mit ihnen aufzuziehen, als die beiden endlich einen Abend allein in ihrer Wohnung verbringen können (es wird ihr letzter sein, der Abend seiner Abreise nach Russland). Sie geht so weit, die beiden Herren als kunstvoll zusammengebaute Puppen auf ihr Sofa zu placieren; und einer von beiden ist ein Kroate, ein Herr „Milosch Pavisisch“ (101) aus Agram (also aus Zagreb), der sich durch ausgiebige kroatische Flüche auszeichnet, sonst ist nichts über ihn zu erfahren – ein Popanz eben. Es gibt einen idealtypischen (erfundenen) russischen Ort mit dem lächerlichen Namen „Nowochlowynsk“, in dem Vittorin kurz nach dem Grenzübertritt ein dürftiges Zimmer bewohnt, „dunkel, schlecht gehalten und dürftig eingerichtet“ (116), und auch der Bolschewismus spukt durch den Roman, meist als Menetekel, das man verstehen kann, weil die westliche Welt so korrupt und verrottet ist, 22 auch in Russland ist freilich nicht alles zum Besten bestellt, eine „Armee von Henkern herrscht über das große, heilige Rußland“ (123), für das man nicht sterben wolle (119), in dem alles auf dem Kopf stehe (121), und auch Rasputin hat das Land ja bekanntlich im Sterben verflucht (145). Besonders exponiert ist der regelrechte Slawen- bzw. Russenkitsch am Anfang und am Ende des Romans. Denn die Kriegsteilnehmer haben sich 22

Vgl. Kohouts Stoßseufzer: „Muß man denn nicht Bolschewik werden in dieser erbärmlichen, korrupten und verrotteten Gesellschaft, in der wir leben?“ (78); und Empergers Erklärung für die Schwierigkeiten der Wohnungssuche in Wien: „Aber jetzt sei etwas Passendes schwer zu finden, man sei ja leider mitten im Bolschewismus“ (110).

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mit Souvenirs eingedeckt, es ist zu erfahren, dass Vittorin in seinem Koffer eine „russische Hemdbluse“ (11) liegen hat, derselbe Typus Kleidungsstück, mit dem Rilke zeitweilig seine Russlandreise vor sich her getragen hat; außerdem eine „Tungusenmütze“ (12), einen „Pelzrock mit dem Krimmerkragen“ (11) – mit einer Persianer-Nachbildung aus Plüsch also – , und hohe „Filzstiefel, daheim nicht zu verwenden, aber eine schöne Erinnerung an die sibirische Zeit.“ (11) – Am Ende steht der Kauf des geschnitzten Spielzeugs durch Vittorin, die Werke des heruntergekommenen Seljukow: „Er brachte zur Auswahl einen grellbemalten Kosaken, einen Popen mit weißem Bart, zwei Hasen mit beweglichen Ohren, einen heiligen Iwan und eine Bäuerin, die einen Milchtopf trug. Vittorin nahm alles.“ (258) Das klägliche und komische Ergebnis des Racheaktes, all der Toten an Vittorins Weg, der verlorenen Franzi, der bankrotten Familie, ist eine Handvoll zusammengewürfelter Kitsch aus dem Bauernstand, dem geistlichen und dem militärischen, die Häschen mit den beweglichen Ohren dürften orientierungslos sein wie die Kosaken, die als freie Reiter in den Wirren nach der russischen Revolution ebenso auf der Seite der ‚Weißen’ standen wie auf der der ‚Roten’. 4. Es hat sich gezeigt, dass Perutz’ Roman Wohin rollst du, Äpfelchen... die Slawen-Klischees des 19. Jahrhunderts und des nachfolgenden nationalsozialistischen Jahrzwölfts souverän ignoriert. Die gejagte Figur Seljukows wird als Projektionsfläche des Protagonisten gezeigt, der entweder paranoid agiert oder aber zeigt, dass die Verbrechen, die er dem Gejagten zur Last legt, bei ihm selber weit näher liegen als bei seinem alter ego. Zeittypische Nationalitätenklischees kommen allein in distanzierthumoristischer Brechung vor, zum Teil – zu Beginn und am Ende des Romans – an exponierter Position. Dass das bedrohliche, befremdliche Andere das Eigene ist, und dass man über dieses Eigene viel eher erschrecken sollte, hat Perutz besonders am Ende seines Romans gezeigt; denn nach den geschnitzten Figürchen kommt noch die bereits zitierte gleichgültige Handbewegung Vittorins, die „nichts verriet“ (260) und die befürchten lässt, dass er nichts gelernt hat, nichts über sich, nichts über die politischen Zeitläufte, in denen er lebt. Es bleibt den Lesern überlassen, ob

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sie das „Grauen über die moralische Selbstvergessenheit des Antihelden“23 annehmen; oder ob sie sich der beliebten Partikularität und Fragmentierung von Alterität überlassen.

Literaturverzeichnis LEO PERUTZ: Wohin rollst du, Äpfelchen... Roman. Hg. und mit einem Nachwort von Hans-Harald Müller. Wien, München 2011. ZYGMUNT BAUMAN: Vom Nutzen der Soziologie. Aus dem Englischen von Christian Rochow. Frankfurt am Main 2000. DIETRICH GEYER: Ostpolitik und Geschichtsbewusstsein in Deutschland. In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Jg. 34 (1986), H. 2, S. 147-159. MATÍAS MARTÍNEZ: Doppelte Welten. Struktur und Sinn zweideutigen Erzählens. Göttingen 1996, S. 177-202. MATÍAS MARTÍNEZ: Proleptische Rätselromane. Erzählrahmen und Leserlenkung bei Leo Perutz. In: Leo Perutz. Unruhige Träume – Abgründige Konstruktionen. Dimensionen des Werks, Stationen der Wirkung. Hg. Brigitte Forster und Hans-Harald Müller. Wien 2002, S. 107-129. FRANZISKA MAYER: Unterhaltung vom „Dichter“: Leo Perutz’ Ullsteinroman Wohin rollst du, Äpfelchen... In: Populäres Judentum. Medien, Debatten, Lesestoffe. Hg. von Christine Haug, F. M. und Madleen Podewski. Tübingen 2009, S. 171-189. STEPHAN MOEBIUS, DIRK QUADFLIEG (Hg.): Kultur. Theorien der Gegenwart. 2., erweiterte und aktualisierte Auflage. Wiesbaden 2011. HANS-HARALD MÜLLER, BRITA ECKERT: Leo Perutz 1882-1957. Eine Ausstellung der Deutschen Bibliothek, Frankfurt am Main. Wien, Darmstadt 1989. HANS-HARALD MÜLLER: Leo Perutz. Biographie. Wien 2007. HANS-HARALD MÜLLER: Krieg im Frieden – zur metafiktionalen Genremischung in Leo Perutz’ Roman Wohin rollst du, Äpfelchen. In: Imaginäre Welten im Widerstreit. Krieg und Geschichte in der deutschsprachigen Literatur seit 1900. Hg. von Lars Koch und Marianne Vogel. Würzburg 2007, S. 46-57.

23

Hans-Harald Müller: Nachwort. Die Stunde der Abrechnung. In: Leo Perutz: Wohin rollst du, Äpfelchen... (Anm. 12), S. 261-268, hier S. 268. – Vgl. auch Müller (Anm. 13), S. 55f.

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MICHAEL SCHEFFEL: Leo Perutz: Wohin rollst du, Äpfelchen... In: Leo Perutz’ Romane. Von der Struktur zur Bedeutung. Mit einem Erstabdruck der Novelle „Von den traurigen Abenteuern des Herrn Guidotte“. Hg. von Tom Kindt und Jan Christoph Meister. Tübingen 2007, S. 81-93. JOACHIM W. STORCK: Rainer Maria Rilke in Jasnaja Poljana. Marbach am Neckar 2000 (Marbacher Magazin 92). BERNHARD STRECK: Fröhliche Wissenschaft Ethnologie. Eine Führung. Wuppertal 1997.

Sven Hanuschek Forfeited by the magic of a Russian subaltern officer. On the issue of alterity in Leo Perutz’ novel Little Apple (1928) Abstract The essay examines the issue of Slavic clichés in Perutz's novel as a question about the representation of alterity in the context of the return of German soldiers from the First World War. Perutz's protagonist is portrayed as paranoid, more as a perpetrator who appears to have far more guilt than the Russian officer, whom he persecutes as a 'returner from war' across half of Europe and Russia in the post-war period. The few explicit Slavic clichés the novel has to show are humorously exhibited. The novel deals much more with stranger image as a projection screen for the German protagonist’s own negative characteristics. Key words: Leo Perutz, Ullstein novel, anti-Slavism, bochisme, paranoia, imagined notions of foreigners, projection mechanism, mirror characters, kitsch, genre hybridity

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UNTER DEM STERN VON NIEDERGANG UND KATASTROPHE: DIE GLEMBAYS ALS DIE KROATISCHEN BUDDENBROOKS1 Marijana Erstić Universität Siegen (erstic@germanistik.uni-siegen.de)

Zusammenfassung Der nachfolgende Aufsatz beschäftigt sich mit dem Drama Gospoda Glembajevi/Die Glembays (1928) des kroatischen Schriftstellers Miroslav Krleža. Die zentrale Fragestellung ist der Darstellung des Künstlertums in diesem Drama gewidmet. Diese Problematik wird mit dem Roman Buddenbrooks (1901) von Thomas Mann verglichen. Zum Schluss des Artikels werden zwei neuere Inszenierungen thematisiert (SNG Ljubljana, 2012, Reg.: Ivica Buljan sowie Residenztheater München, 2013, Reg.: Martin Kušej). Stichwörter: Miroslav Krleža, Thomas Literaturwissenschaft, Die Glembays, Buddenbrooks

Mann,

Vergleichende

Als 1961 in den diesbezüglich eingeweihten Kreisen die ersten Gerüchte auftauchten, daß ein Jugoslawe für den Literatur-Nobelpreis vorgesehen sei, war man sich klar darüber, daß es entweder Ivo Andrić oder Miroslav Krleža sein müsse. Der Preis ging dann an Andrić, aber darum galt Krleža nicht weniger als zuvor, ja sein Werk wurde seithin im deutschen Sprachraum immer besser bekannt. Es ist ein umfangreiches und höchst wichtiges Werk, mit dem der heute Zweiundsiebzigjährige sich ausweisen kann, es umfasst Romane, Essays, Novellen und Dramen…2

1

Der vorliegende Aufsatz ist in einer kürzeren Fassung als Vortrag im Rahmen eines Krleža-Symposiums im Literaturhaus Berlin am 15.10.2013 gehalten worden und war hiermit v.a. an das interessierte deutschsprachige Publikum gerichtet. Zugleich handelt es sich um einen Text, der als Kapitel in der Habilitationsschrift schon publiziert wurde: Marijana Erstić: "Unter dem Stern von Niedergang und Katastrophe. ,Die Glembays' als die kroatischen 'Buddenbrooks'. In: Dies.: Ein Jahrhundert der Verunsicherung. Medienkomparatistische Analysen. Siegen: Universi 2017, S. 69-82. 2 Friedrich TORBERG: „Über Miroslav Krleža“. In: Ders.: Das fünfte Rad am Thespiskarren. Theaterkritiken. Bd. II (Gesammelte Werke in Einzelausgaben). München/Wien: Langen-Müller 1967, S. 454-457, hier S. 454. Zur Stellung Krležas im deutschsprachigen Raum vgl. Karl-Markus GAUß: „Miroslav Krleža oder Die Literatur darf nicht vergessen“. In: Ders.: Tinte ist bitter. Literarische Porträts aus Barbaropa. Klagenfurt/Celovec: Wieser 1992, S. 20-22.

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Trotz dieser enthusiastischen Worte Friedrich Torbergs, trotz der mehrbändigen deutschsprachigen Werk-Ausgabe sowie einiger 3 Einzelpublikationen in verschiedenen Verlagen ist das Œuvre Miroslav Krležas im deutschsprachigen Raum, namentlich in Deutschland, nach wie vor eine terra incognita. Dabei hat die Frage, wer dieser galizische Kadett, „Übervater der kroatischen Literatur“4, Marxist, Dissident, Lieblingsschriftsteller Titos mit unaussprechlichem Namen, wer also Miroslav K. sei, kürzlich erst Reinhard Lauer beeindruckend beantwortet.5 Im Folgenden soll deshalb weniger die Beantwortung dessen, wer Miroslav Krleža sei, im Zentrum stehen, sondern vielmehr: Wer sind die Glembays? Damit wird indirekt auch die Frage beantwortet, ob es sich dabei wirklich um die ‚kroatischen Buddenbrooks‘ handelt.6 Die Parallelen sind augenscheinlich evident. Glembajevi sind zunächst ein aus Dramen und Prosastücken bestehendes gleichnamiges Text-Corpus. 7 Und dieses Corpus – eigentlich ist in der Literatur von einem Zyklus die Rede – zeichnet den wirtschaftlichen Aufstieg und den sich anschließenden sittlichen und finanziellen Verfall eines kroatischen Patriziergeschlechts zwischen dem 18. und dem 20. Jahrhundert nach. Dies rückt die Handlung durchaus in die Nähe des Romans Buddenbrooks von Thomas Mann. Ein fulminanter Unterschied ist jedoch eine geradezu postmodern-verspielte Vielfalt der Gattungen, die wir hier vorfinden (Prosaskizzen, Dramen, ein Stammbaum etc.), die das Werk wesentlich mehr öffnet, als der 3

So u.a. Miroslav KRLEŽA: Die Rückkehr des Filip Latinovicz. Aus dem Kroatischen von Martin Zöller. Königstein/Ts: Athenäum 1984 sowie Ders.: Eine Kindheit in Agram. Aus dem Kroatischen von Barbara Antkowiak. Fr. M.: Athenäum 1986, um nur einige wenige zu nennen. 4 Karin FISCHER: „Von den betrogenen Betrügern und den kroatischen Buddenbrooks“. In: Deutschlandradio. 24.05.2013. http://www.dradio.de/dlf/sendungen/kulturheute/2119391/ (19.10.2013). 5 Reinhard LAUER: Wer ist Miroslav K.? Klagenfurt/Celovec: Wieser 2010. 6 Vgl. Elisabeth VON ERDMANN: „Miroslav Krleža: Meisterschaft oder Fragwürdigkeit?“. In: http://www.uni-bamberg.de/?id=82674 (04.01.2014). Vgl. auch Reinhard LAUER: „Kritik der bürgerlichen Literaturrepräsentanz – Miroslav Krleža und Thomas Mann.“ In: Ders. (Hgg.): Künstlerische Dialektik und Identitätssuche. Literaturwissenschaftliche Studien zu Miroslav Krleža. Wiesbaden: Harrasowitz 1990, S. 233-248. 7 Vgl. Miroslav KRLEŽA: Glembajevi. Zagreb: Zora 1954 (im Folgenden in Klammern im Fließtext).

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integrierende, verdeckte Montagestil Manns. Um etwas präziser zu werden, wird im Folgenden die Frage ausschließlich im Hinblick auf das Drama Gospoda Glembajevi beleuchtet (dt. Üb. von Milo Dor Die Glembays8; eigentlich: Die Herrschaften Glembay), ein Schauspiel in drei Akten aus dem Leben einer Agramer Patrizierfamilie, das 1928 erschienen und 1929 in Zagreb uraufgeführt worden ist. Das Stück bildet mit den Dramen U agoniji/In Agonie und Leda eine Trilogie. Seine erste deutschsprachige Aufführung erlebte das Drama in Graz im Jahre 1965. Seine vorläufig letzte fand im Münchener Residenztheater in der Saison 2013/14 statt. Diese zuletzt genannte Inszenierung wurde zum ersten Mal in Wien im Laufe der Festwochen im April 2013 unter der Regie von Martin Kušej aufgeführt, als der erste Teil der Trilogie In Agonie.9 Gerade im Hinblick auf diese Inszenierung sprach die Kritik – so z.B. im Deutschland-Radio die Redakteurin Karin Fischer – von den kroatischen Buddenbrooks.10

Verfall, Ironie und Künstlertum im Roman Buddenbrooks Bei der Familie Buddenbrook handelt es sich bekanntlich um ein Lübecker Patriziergeschlecht, dessen Geschichte im gleichnamigen Roman von Thomas Mann (1901) vermittels Retrospektiven vom Ende des 18. Jahrhunderts bis zum Jahr 1877 nachgezeichnet wird. Die eigentliche Handlung vollzieht sich jedoch von 1835 bis 1877. Nach dem Aufstieg der Familie von Händlern und Kriegsgewinnlern (Johann Buddenbrook der Ältere) erreichen die Buddenbrooks die höchste Lübecker Konsulen(Johann Jean Buddenbrook) und Senatorenwürde (der Sohn des Letztgenannten, Thomas Buddenbrook). Thomas’ Triumph bedeutet zwar 8

Miroslav KRLEŽA: Die Glembays. Schauspiel in drei Akten (1928). In: Ders.: Galizien. Die Wolfsschlucht. Die Glembays. Leda, In Agonie. Aus dem Kroatischen von Milo Dor. Königstein/Ts.: Athenäum 1985, S. 151-226 (im Folgenden in Klammern im Fließtext). 9 Die Glembays (1. Teil der Reihe In Agonie), Wiener Festwochen/Residenztheater München, Reg.: Martin Kušej, Premiere in Wien: 23.05.2013, Premiere in München: 01.06.2013. 10 S. Anm. 4.

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den Höhepunkt der Familiengeschichte, aber er markiert auch den Wendepunkt zu ihrem Verfall. Doch als eine Art Apotheose und Niedergang gleichermaßen fungiert hier vor allem die Idee eines fruchtlosen Künstlertums, die sich in der Figur des neurasthenischen Christian Buddenbrook (Thomas’ Bruder) manifestiert, sich v.a. im lebensuntüchtigen Hanno Buddenbrook (Thomas’ Sohn) verdichtet, und gegen die sich auch Thomas wehren muss. Die Ironie, mit der die Idee des Künstlers hier postuliert und im nächsten Schritt aufgehoben wird,11 findet ihre Entsprechung in der Form, die sich beispielsweise der Montage, primär aber der ironischen Distanziertheit bedient. Diese Distanziertheit ist auf der Ebene der Begriffe genauso vorhanden wie auf der der Handlungsorganisation. Symptomatisch hierfür sei der Ausspruch: „Es ist so!“ Sesemi Weichbrodts angeführt, der zum Schluss des Romans und in Anbetracht des frühen Todes Hanno Buddenbrooks erfolgt. Er zeugt augenscheinlich von einer geradezu dogmatisch unaufgeklärten, religiösen Überzeugung eines Wiedersehens nach dem Tode. Was folgt, ist jedoch eine die Ambivalenzen dieser vehementen Überzeugung entlarvende Äußerung des Erzählers: Sie stand da, eine Siegerin in dem guten Streite, den sie während der Zeit ihres Lebens gegen die Anfechtung von seiten ihrer Lehrerinnenvernunft geführt hatte, bucklig, winzig und bebend vor Überzeugung, eine kleine, strafende, begeisterte Prophetin. 12

Hier zeigt sich im gesellschaftlich-religiösen Sinne jenes, was Erich Heller in seinem vielzitierten Satz über die Ironie und die Kunst in diesem Roman hinsichtlich der Form bemerkte: „Indem die konventionelle Organisation des Werkes die Idee einer Kunst in sich schließt, welche die Konvention zerbrechen muss, widerlegen die Buddenbrooks auf höchst ironische Weise den Verdacht der Konventionalität.“13 Im Falle des letzten Satzes Sesemi Weichbrodts heißt das, dass die eigenen religiösen Zweifel dieser Figur in 11

Zur Präzisierung der mannschen Menschen- und Künstlertypologie vgl. v.a. Thomas MANN: „Tonio Kröger“. In: Ders: Sämtliche Erzählungen in zwei Bänden. Bd. I. 5. Auflage. Frankfurt a.M.: Fischer 1995, S. 265-331. 12 MANN: Buddenbrooks. Frankfurt a.M.: Fischer TB 1989, S. 759 (im Folgenden in Klammern im Fließtext). 13 Erich HELLER: „Pessimismus und Genialität“. In: Ders: Thomas Mann. Der ironische Deutsche. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1975, S. 9-60, hier S. 19.

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der abschließenden Anmerkung des Erzählers aufgedeckt werden. Auf der Ebene des Romans bedeutet dies folgendes: Was die Formkonvention ironisch dekonstruiert, ist in dem Roman Buddenbrooks vor allem die AdAbsurdum-Führung sowohl der Bürgerlichkeit als auch des Künstlertums. Denn die ‚buddenbrooksche Krankheit‘14 – die Verfeinerung, vor allem aber der Niedergang einer Familie im Künstlertum, die für die Idee des Untergangs einer bourgeoisen Gesellschaft steht – zersetzt ironisch und reflexiv (wie später in Der Tod in Venedig15) auch die Idee eines unfruchtbaren, kranken, auf sich selbst bezogenen Ästhetischen. Ob auch im Falle der Glembays die Idee des Künstlertums inmitten einer großbürgerlichen Umgebung affirmiert oder ob sie vielmehr aufgehoben wird, und welche Konsequenzen das von Krleža angewandte Vorgehen hat, sollen die nachfolgenden Ausführungen beantworten.

Katastrophe und Zynismus im Drama Die Glembays mit Verweisen auf Buddenbrooks Die Handlung des Dramas Die Glembays spielt im Spätsommer 1913 im Hause der Familie. Die Familie ist im gegenseitigen Sich-Verabschieden begriffen, gefeiert wurde kurz zuvor das 70. Jubiläum des glembayschen Bankunternehmens. Auch der Maler Leo Glembay ist zu diesem Anlass aus dem Ausland in das väterliche Haus zurückgekehrt. Die gegenwärtige Familie scheint längst schon ‚verdorben‘. Aber auch die Familiengeschichte – präsentiert im 1. Akt als eine Ahnengalerie – entlarvt Leo in einem der Gespräche als ruchlos: Die Leser des Zyklus` wissen, dass das Fundament zum wirtschaftlichen Aufstieg der Raubmord eines Glembay um 1790 ist.16 Dass es an solch fragwürdigen Wegen zum Geld 14

Zur Neurasthenie als der Krankheit der Buddenbrooks (und der Manns) vgl.: Manfred DIERKS: „,Das sind die Nerven‘. Die Krankheit der Buddenbrooks“. In: Otrud GUTJAHR (Hgg.): Buddenbrooks. Von und nach Thomas Mann. 2. Auflage. Würzburg: Königshausen & Neumann 2007, S. 47-57. 15 Ders.: „Der Tod in Venedig“. In: Ders: Sämtliche Erzählungen in zwei Bänden. Bd. I, S. 436-516. 16 KRLEŽA: Die Glembays. Roman. Aus dem Kroatischen von Veselinka SedlićKovačević, Eva Liebetrau-Krekić und Georg Liebertrau. Book on Demand, 2006 S. 9. Der kroatische Originaltext findet sich in: Ders.: Glembajevi, S. 10.

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auch später nicht fehlt, offenbaren bereits die Dialoge im ersten Akt. An den Dialogen nehmen Leo (eig. Leone) und seine Exzellenz Fabriczy teil, der aus der Familie stammende Obergespann i.P (eig. Bezirksgouverneur), sowie Angelica, die Witwe von Leos Bruder, eines „Glembayschen Selbstmörder[s]“ (KRLEŽA: Die Glembays, S. 161). Angelica: Und dieser hier, mit der Kirche in der Hand, das dürfte wohl Ignaz Glembay sein, der die neue Kirche in Remetine gebaut hat. […] Fabriczy: Das ist Franz Ferdinand Glembay, der die Bahnlinie Petta-CsakathurnNagy-Kanisza erbaut hat. Generalvizedirektor der Südbahn und Vizepräsident des Wiener Herrenklubs. Er hätte ohne weiteres Baron werden können, wenn er gewollt hätte. […] Leo: Ich war damals noch ein Kind, aber ich erinnere mich noch sehr gut daran, wie unsere Tante Marietta erzählt hat, daß er von Laibach bis Essig als gefürchteter Falschspieler gegolten hat. Fabriczy: Aber geh’, ich bitte dich, mit deinen überspannten Scherzen. […] Leo […]: Was glaubst du, Exzellenz, warum dieser Glembay eine Waage in der Hand hält? Fabriczy: Die Waage ist doch das Innungsabzeichen. Er hat sein Leben lang gewogen und gehandelt. Leo: Ja, er hat sein Leben lang gewogen. Es hat mich schon als Kind interessiert, warum die Waage sich so stark auf eine Seite neigt. Erst viel später habe ich den symbolischen Sinn des Bildes verstanden: das war der erste Glembay, der falsch gewogen hat. (KRLEŽA: Die Glembays, S. 159f)

Leo spricht die Skandale der Familiengeschichte hier im privaten Rahmen an. Der aktuelle Skandal jedoch ist längst öffentlich: Denn während einer Spazierfahrt hat einige Zeit vor Beginn der o.g. Jubiläums-Feier die zweite Frau des Familienpatrons Ignaz Glembay mit ihrem Viergespann die alte Arbeiterin Ruppert überfahren. Bei der Thematisierung der Schicksale des Proletariats wird Krležas marxistischer Gedankenhintergrund offensichtlich, über den sich auch Krleža-Forscher immer wieder geäußert haben. So wird er für die Zeit der 1920er Jahre gerne als marxistischkommunistischer Dichter beschrieben, aber auch als Dissident, dessen Texte und Gedanken „nicht ‚auf der Linie‘ lagen“.17

17

Vgl. z.B. LAUER: Wer ist Miroslav K? S. 66, vgl. auch zum Zerwürfnis mit Tito während des Zweiten Weltkrieges ebd. S. 83ff sowie zur Rolle des Kroatischen bzw. zu Sprachfrage in Jugoslawien ebd. 191ff.

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Im Drama Die Glembays entwickelt sich der Skandal ,klassenspezifisch‘ weiter: Die Baronin Charlotte Glembay-Castelli wird dank ihrer weitläufigen Beziehungen vom Gericht freigesprochen. In der linken Presse ist ein Skandal entfacht, Teile der Zeitungsberichte werden im ersten Akt auch verlesen. Die, so heißt es in einem Artikel, „illegitime Frau des Josef Ruppert, de[s] Sohn[es] der alten Ruppert, der vor einiger Zeit als Dachdeckergehilfe einen tödlichen Unfall erlitt“ (KRLEŽA: Die Glembays, S. 168), Fanika Canjeg, bringt sich kurz vor der Jubiläumsfeier um: Sie stürzt sich nach dem Gespräch mit Leo vom dritten Stock des glembayschen Hauses, nachdem ihr von Leo jede Hoffnung auf eine Unterstützung seitens der Glembays geraubt wurde. In Folge des aktuellen Skandals spitzen sich die Streitgespräche zu. Leo wird als „überspannt“ und „paranoid“ betitelt, er selbst rückt die Sippe der Glembays immer wieder in die Nähe der Legenden von „Mördern und Falschspielern“ (Vgl. KRLEŽA: Die Glembays. Ein Schauspiel in drei Akten, S. 160; Ders. Gospoda Glembajevi, S. 349) (wie auch die Baronin Castelli im dritten Akt, Vgl. KRLEŽA: Die Glembays. Ein Schauspiel in drei Akten, S. 226; Ders.: Gospoda Glembajevi, S. 500). Die Ausdrücke werden auch im kroatischen Original deutsch ausgesprochen. Derart verkürzt dargestellt, enthält der nacherzählte erste Akt einen starken Boulevardcharakter, der auch thematisiert wird, wenn die Zeitungsartikel verlesen werden. Doch bedeutender scheint die Konsequenz aus dieser Boulevardisierung18 von dargestellten Liebes-, Macht- und (Über-)Lebenskämpfen: Morde kümmern nur als Skandale, die für den Ruf der Familie schädlich sind. Ob man dabei wie Leo rachsüchtig in Zynismen verfällt, oder sich um bürokratische Schadensbegrenzung bemüht, wie die anderen Mitglieder des Clans, entpuppt sich angesichts des Ergebnisses (drei Tote in kürzester Zeit) als zweitrangig. Die Skandale der bourgeoisen Familie sind an das Untergangsklima einer Gesellschaft gekoppelt, die es nach dem Ersten Weltkrieg nicht mehr geben wird, die Österreich-Ungarns. 19 Dass 18

Zum Begriff vgl.: Walburga HÜLK/Gregor SCHUHEN: „Haussmann und die Folgen. Von Boulevard zur Boulevardisierung“. In: Dies. (Hgg.): Hausmann und die Folgen. Von Boulevard zur Boulevardisierung. Tübingen: Narr 2012, S. 7-9. 19 Vgl. hierzu Marijan BOBINAC: „Miroslav Krleža und der Erste Weltkrieg“. In: Klaus AMMAN/Hubert LENGAUER (Hgg.): Österreich und der Große Krieg 1914-1918. Die andere Seite der Geschichte. Wien: Brandstätter 1989, S. 242-247.

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das Stück dennoch auch einiges über das Jetzt aussagt, wird in den meisten neueren Inszenierungen deutlich. Der hier eingeläutete Zusammenbruch der glänzenden glembayschen Fassade beruht auf dem stets aktuellen Konflikt zwischen den Generationen, zwischen Geist und Macht. Es handelt sich um ein Thema, das Krleža Viktor Žmegač zufolge nicht nur mit Thomas Mann sondern auch mit Größen und z.T. auch ‚literarischen Nachbarn‘20 wie Proust, Rilke und Musil teile.21 Dieser Konflikt wird in den Figuren des Künstlers Leo – also des Sohnes – und des Bankiers Ignaz’ – des Vaters – vor allem im zweiten Akt vorgeführt. Der Streit bezieht sich auf Äußerlichkeiten – Ignaz beispielsweise kritisiert das Künstlertum und das Aussehen Leos, er schwebe „mit [s]einem Talent in den Wolken“, irre „da herum wie ein Schimpanse“ mit seinem „Kossutbart […] Wie ein Gespenst“. Er sei „schon alt und seit fünfzig Jahren“ lebe er „mit Wechseln, und während der ganzen Zeit ist es noch nie vorgekommen, daß [sic!] auch nur ein einziger Glembay-Wechsel um eine Sekunde zu spät eingelöst worden“ sei (KRLEŽA: Die Glembays. Ein Schauspiel in drei Akten, S. 199f), so die Vorwürfe des Vaters. Sowohl bei der Beschreibung der Äußerlichkeiten als auch bei der Schilderung der Lebensweise finden sich Parallelen zu Christian Buddenbrook. Dieser kehrt im Roman 1855, ein Jahr nach dem Tod des Vaters, aus dem Ausland zurück und wird vom Erzähler als „hager und bleich“ beschrieben, seine Haut umspanne „überall straff“ den Schädel, und „zwischen den Wangenknochen“ springe „die große, mit einem Höcker versehene Nase scharf und fleischlos hervor“ (MANN: Buddenbrooks, S. 260). Hier wie dort der gesellschaftliche Nonkonformismus gepaart mit den Anzeichen des Verfalls. Dem Verfall versucht im Roman vor allem Thomas beharrlich wie vergeblich entgegenzuwirken. Somit stehen im

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Vgl. dazu Josip BABIĆ: „Krleža und das österreichische Kulturerbe“. In: Johann HÖLZNER/Wolfgang WIESMÜLLER (Hgg.): Jugoslawien – Österreich. Literarische Nachbarschaft. Innsbruck: Universität Innsbruck 1986, S. 39-47. 21 Viktor ŽMEGAČ: „Miroslav Krleža und seine mitteleuropäische geistige Heimat“. In: Most, I-2, 1996, S. 103-107, S. 106.

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Roman Buddenbrooks vor allem die Differenzen und der Konflikt zwischen den Brüdern Thomas und Christian im Vordergrund. Im Drama Die Glembays hingegen trägt der Konflikt zwischen den konträren Lebensweisen (‚bürgerlich-vital‘ vs. ‚künstlerisch-dekadent‘) einen offen ödipalen Charakter. Die Vorwürfe des Sohnes Leone Glembay an seinen Vater sind schwerwiegender als die Drohungen und die Schläge des Vaters Ignaz. Im Vergleich zu den Buddenbrooks sind sie auch deutlich boulevardesker als der penible Streit zwischen Christian und Thomas nach dem Tode ihrer Mutter 1871, ein Streit, der um das Erbe („Mutters Wäsche und Essgeschirr“, Ebd. S. 574) und um die geplante Heirat Christians mit Aline Puvogel, einer ,Statistin‘ (eig. Animierdame) kreist. Und schließlich um die „Ehre, der Kränkere zu sein“ (Ebd., S. 578), wie die Schwester Tony entsetzt bemerkt. Leos Vorwürfe in Die Glembays sind vulgärer und in ihrer Konsequenz fataler, da Leone zum Schluss des Zweiten Aktes dem eigenen Vater sein zurückliegendes Verhältnis mit der Stiefmutter beichtet: Leo: Als ich damals, ein Jahr nach Mamas Tod, aus Cambridge hierherkam, fand ich alles genauso wie heute. […] Monsieur de Fabriczy, […] Radkay. Außerdem war noch ein Gerichtsadjunkt hier – ich glaube, er hieß Holleschegg, wenn ich nicht irre. Ein Pendant zum heutigen Oberleutnant von Ballocsansky. Alle diese Herren waren von der gnädigen Frau Baronin charmiert. Ihre Mondscheinsonate, ihre Maréchal Nie-Rosen auf Seide, ihre Konversation und die lothringischen Gobelins! Außer diese Herren gelang es Frau Baronin in diesem Sommer auch mich zu charmieren und das mit ihrer Mondscheinsonate! Unsere Sonate war wirklich eine Mondscheinsonate, quasi una fantasia, dort oben in ihrer Villa! Und erst in Cambridge, in den englischen Nebeln, einige Monate später, wurde mir klar, was es mit diesem Charme für eine Bewandtnis hatte! Damals erst begriff ich, was bei den Glembays ‚moral insanity‘ heißt. Ja. Siehst du: das ist moral insanity: die Mätresse eines Greises zu sein, daneben drei Liebhaber zu haben und sich vor einem zwanzigjährigen Student aus Cambridge zu fürchten! Diese Frau zwängte mich zwischen ihre Schenkel, um mich zum Schweigen zu verpflichten! (KRLEŽA: Die Glembays. Ein Schauspiel in drei Akten, S. 203f)

Der alte Glembay ruft daraufhin nach seiner Frau, doch kurze Zeit später stürzt er und stirbt an einem Herzinfarkt. Das Bekenntnis des Sohnes und der anschließende Tod des Vaters leiten den dritten Akt ein. Mit den Finanzen der Familie steht es nicht zum Besten, die Baronin glaubt sich

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betrogen, auch sie wurde von ihrem Mann bestohlen, es folgt die Katastrophe: Baronin: Was wollen Sie von mir? Der Alte hat mich bestohlen. Gemein bestohlen. Mein ganzes Vermögen ist verloren! […] (Leo geht auf sie zu. Angelica will ihn zurückhalten, er stößt sie jedoch resolut zurück und nimmt die Schere vom Tisch. Alles spielt sich unter großer Spannung und sehr rasch ab.) Leo: Kein einziges Wort mehr! Baronin: Sie Mörder! (Ebd. S. 225f)22

Was daraufhin passiert, ist den Schauspieleranweisungen und dem Mauerschau-Satz des Kammerdieners zu entnehmen: „Der Herr Doktor haben die Frau Baronin erstochen!“ (KRLEŽA: Die Glembays. Ein Schauspiel in drei Akten, S. 226)/„Gospon doktor zaklali su barunicu!“ (KRLEŽA: Gospoda Glembajevi, S. 501). Es ist die Leo im Stück oftmals prophezeite geistige Umnachtung, die ihn an dieser Stelle ergreift; ähnlich wie auch Christian Buddenbrook, den seine Frau Aline, wie zu Beginn des Elften Buch zu erfahren ist, einweisen lässt (Vgl. MANN: Buddenbrooks, S. 700). Die sog. ‚buddenbrooksche Krankheit‘, die in Buddenbrooks wie in Die Glembays bis in den inneren Zerfall pathologisiert wird, steht in Die Glembays symbolisch für die Dekadenz und die Kriminalität Agrams, also des kuk-Zagrebs, kurz vor dem ersten Weltkrieg. Doch das Besondere an diesem Werk ist nicht nur die Brutalität (und bisweilen auch Vulgarität) der Handlung, sondern vor allem auch die Gewalt der Sprache – auch dies im Gegensatz zur sehr feinen, stechenden Ironie der Buddenbrooks. Es ist eine vor Gewalt zerberstende, weil eigentlich nicht zum Schrei kommende Sprache: In der geläufigen deutschen Übersetzung: „Herr Doktor haben die Baronin erstochen“, kommt dies weniger deutlich zum Ausdruck als in der

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Andreas Leitner zufolge ist der Auslöser dieses Mordes weniger das Wort ‚Stundenhotel‘ (mit dem Charlotte als Prostituierte diskreditiert wird), sondern vielmehr der von Charlotte geäußerte Vorwurf, die von Leo angebetete Beatrice/Angelica sei die Geliebte eines Kardinals. Dies durchkreuzt Leones Vorstellung von ‚ethischer Intelligenz‘ vehement. Vgl. Andreas LEITNER: Die Gestalt des Künstlers bei Miroslav Krleža. Heidelberg: Winter 1986, S. 93.

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eigentlich wortwörtlichen: „…haben die Baronin geschlachtet!“ 23 Die Form – 3. Person Plural – die der Diener seiner Rolle entsprechend hier annimmt, steht im geradezu schreienden Kontrast zum beschriebenen Vorgang.

Künstlertum im Drama Die Glembays Im Drama Die Glembays und auch in einigen anderen Werken (z.T. in Die Rückkehr des Filip Latinowicz) folgt Krleža Nietzsches radikaler Behauptung, die intellektuell-rationale Erkenntnis führe zwingend zu einem Wunsch nach Destruktion bzw. Autodestruktion.24 Diese (Auto-)Destruktion ist in Die Glembays im höchsten Maße brutal. „In Krležas Menschenbild“ gebe es zwar Viktor Žmegač zufolge im Hinblick auf das Gesamtwerk „nur eine Apotheose: die des Künstlers“.25 Doch die Apotheose ist hier äußerst negativ, pervertiert. Auch wenn, wie Žmegač formuliert, „in zahlreichen Texten Krležas“ eine Antwort darauf zu finden sei, „was den Absurditäten der (bisherigen) Geschichte entgegenzusetzen“ sei, nämlich „Krležas Vorstellung vom ‚Künstler‘“,26 so handelt es sich im Falle Leo Glembays um einen Künstler-Schöpfer, dessen Schöpfung, wenn überhaupt, dann nur bedingt wirklich gelingt und gelingen kann. Auch Leos dreifache Schuld – am Tod der Näherin, des Vaters, der Stiefmutter – und somit das Morbide stehen im Stück entschieden mehr als die Schöpfung im Vordergrund, was das Stück in die Nähe des analytischen Dramas rücke, so Ante Stamać.27 Zwar stellen auch Leos Taten zumeist eine Abrechnung mit fragwürdigen Autoritäten vor dem Hintergrund einer 23

Um wie vieles ist diese letzte Aussage roher, radikaler und gewalt(tät)iger als die Aussage Sesemi Weichbrodts in den Buddenbrooks. Vgl. hierzu Anm. 12. 24 Sinnbildhaft ausgedrückt in „Gott ist todt! Gott bleibt todt! Und wir haben ihn getödtet!“ Friedrich Wilhelm NIETZSCHE: Die fröhliche Wissenschaft, Drittes Buch, Aphorismus 125 „Der tolle Mensch“. In: Ders.: Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hgg. von Giorgio Colli und Mazino Montinari. Bd. 3. München/NY: dtv/de Gruyter 1980, S. 480. 25 ŽMEGAČ: „Krležas Geschichtsverständnis im europäischen philosophischen Kontext“. In: Zagreber germanistische Beiträge. Beiheft 6, 2001, S. 3-18, Zitat S. 16. 26 Ebd. Vgl. auch: Ders.: „Miroslav Krleža und seine mitteleuropäische geistige Heimat“. In: Most, I-2, 1996, S. 103-107. 27 Ante STAMAĆ: „Ein typischer Autor Mitteleuropas“. In: Most. I-2, 1996, S. 100-102, hier 101.

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präzisen Gesellschaftsanalyse dar. Der Gedanke einer marxistischen Sozialrevolution wird jedoch zurückgenommen, reagiert doch Leo Glembay auf die Bitte der Näherin genauso wenig wie die anderen Mitglieder der Familie – er weist die verarmte Frau mit zynischen Bemerkungen zurück. Zu spät kauft er für sie die Nähmaschine. Der Zynismus hat über die Humanität gesiegt, wenn auch für einen Moment. Zwar ist die Gesellschaftskritik hier durchaus marxistisch motiviert.28 Dem bourgeoisen Künstler jedoch kann eine Sozialrevolution nicht gelingen, und es fragt sich, ob diese in Krležas Augen überhaupt je gelingen kann. In der Literaturwissenschaft, zuletzt auch in der Aufführungspraxis und in der Kritik spricht man dabei häufig von einer krležianischen Dialektik.29 Auch der Künstler-Schöpfer trägt sie in sich, und das Bewusstsein derselben führt letztlich zur immer größer werdenden Überreizung. So treten hier an die Stelle der Apotheose, der Sublimierung und auch einer möglichen Änderung der sozialen Ordnung Neurasthenie,30 Krankheit und Dekadenz. Und letztlich liegt gerade darin die eigentliche, wenngleich höchst anarchistische Größe der Künstlerfigur Leo Glembay. Mit ihren ‚Morden‘ vielleicht mehr noch als mit ihrem eigentlich hellsichtigen und räsonierenden Charakter entlarvt die Künstlerfigur die Rücksichtslosigkeiten, Primitivität und Phobien einer verunsicherten, sich im Zerfall befindenden Gesellschaft. Die bisweilen schizophrene Spaltung, die sie in sich trägt (das Abbild der krležianischen Dialektik), ist das Spiegelbild ihrer Umwelt, die dystopische Werkaussage verneint hier jegliche Heuristik. Damit schrieb Miroslav Krleža in den 1920er Jahren – wie Reinhard Lauer hervorhebt – zunächst einmal ein Requiem auf die Habsburger und die

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Vgl.: Alfred GALL: „Das Künstlerdrama als Gesellschaftsdrama. Die Glembays (Gospoda Glembajevi) von Miroslav Krleža“. In: Frank GÖBLER (Hgg.): Das Künstlerdrama als Spiegel ästhetischer und gesellschaftlicher Tendenzen. Tübingen: Narr 2009, S. 153-180. 29 Zur Dialektik in Die Glembays vgl. LAUER: Wer ist Miroslav K? S. 107. Während des Krleža-Symposiums in Berlin (15.10.) sprach Alida BREMER im Rahmen ihres Vortrages „Der kroatische Gott Mars. Der Erste Weltkrieg und Krležas Schreiben“ sogar von Krležas Dekonstruktivismus. 30 Zur Überreizung in der ‚modernen Großstadt‘ vgl. nach wie vor Georg SIMMEL: Die Großstädte und das Geistesleben (1905). Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006.

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k.u.k.-Agramer, das in das Jahr 1913 angesiedelt ist.31 Doch dieser Text und andere Texte des Autors lassen aus heutiger Sicht seine Verortung in einem Neo-Manierismus des 20. Jahrhunderts zwingend erscheinen.32 Denn das Stück zeichnet die Degeneration einer endenden Epoche nach, die nicht nur das Ende der Habsburgermonarchie bedeutet. Sie führt geradewegs in die Zeit der Verunsicherung – in das beginnende, von den Kriegen gekennzeichnete 20. Jh. Krležas „furchtlose sozialistische Kunst“, von der im Rahmen der Münchener Aufführung mit Verweis auf Lauer die Rede ist, 33 ist nichts anderes als der Ausdruck eines Kampfes gegen den Nihilismus eines Jahrhunderts, das von Südost-Europa aus mit den Worten: Krieg-Krieg-kalter Krieg-Krieg beschrieben werden kann und beschrieben wird34 (auch wenn der 1981 verstorbene Krleža den letzten Krieg nicht erlebt hat). Sicherlich ließen sich auch die reflexive Hinterfragung des Künstlertums oder der ausufernde Satzbau bei Thomas Mann durchaus als inhaltliche bzw. formale Ausdrücke eines Neo-Manierismus betrachten. Doch das, was Krleža hier durch seinen Zynismus und die Gewalt nachzeichnet, ist die Zurücknahme jeglicher Utopie, d.h. sowohl jener ästhetischen (was ihn durchaus in die Nähe Thomas Manns rückt), wie auch jener politischen (was ihn beispielsweise deutlich vom Sozialrealismus abgrenzte). Denn rückblickend betrachtet entpuppen sich Die Glembays als das Antizipieren eines zukünftigen Scheiterns des Kommunismus: Leos Unvermögen, sozial richtig zu handeln, ist nicht nur der Ausdruck seines bourgeoisen Charakters, sondern vielmehr eines allgemeinen Mensch-Seins. Zwar handelt er wie ein Glembay, doch die

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LAUER: „Die Welt als Skandalon. Zu den Dramen Miroslav Krležas“. In: KRLEŽA: Galizien. Die Wolfsschlucht. Die Glembays. Leda, In Agonie, S. VII-XIII, hier S. XI. 32 Manierismus wird im Anschluss an Hauser als antiklassischer Stil und als ein Zeichen der Krise verstanden. Vgl. Arnold HAUSER: Der Ursprung der modernen Kunst und Literatur. Die Entwicklung des Manierismus seit der Krise der Renaissance. München: dtv 1979, S. 11ff. 33 LAUER: Wer ist Miroslav K? S. 168 sowie Sebastian HUBER: „Untergänge. Über Miroslav Krleža und seine Trilogie“. In: In Agonie. Residenztheater München 2013, S. 4-14, hier S. 7. Herzlichen Dank an den Dramaturgen Sebastian Huber für die unkomplizierte und schnelle Zurverfügungstellung des Materials. 34 Die Beschreibung findet sich z.B. im Film Underground (1995) Emil Kusturicas wieder. Auch Susan Sonntag lässt im Film Grbavica – Esmas Geheimnis (2006) das 20. Jahrhundert in Sarajevo geboren werden und sterben.

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Sippe der Glembays ist nicht von Anfang an eine Gesellschaft der Großbürger, eine Gesellschaft an (nicht nur latenten) Kriminellen durchaus.

Von der Avantgarde über den Boulevard zum Krieg: Zwei neuere Glembay-Inszenierungen Abschließend sollen zwei neuere Inszenierungen (noch einmal) hervorgehoben werden. Zunächst die Aufführung des Ljubljanaer Nationaltheaters von 2012 unter der Regie von Ivica Buljan.35 Hier haben die historischen Avantgarden, v.a. der politisch höchst ambivalente italienische Futurismus und der frühe Film Pate gestanden. Die Aufführung macht u.a. deutlich, dass Krležas Werk ohne die Avantgarden nicht gedacht werden kann,36 auch wenn die Rekurse auf die Avantgarden in Die Glembays eher auf der inhaltlichen Ebene wiederzufinden sind als auf der formalen. Denn inhaltlich vollzieht sich im Drama (Auto-)Destruktion zuhauf. Sprachlicher Schock dagegen wird vermittelt in Form bisweilen überaus geschmeidiger Sätze. Die Form des Stückes ist also wenig antibürgerlich, die Handlung durchaus. 37 Diesen Kontrast führt die Aufführung aus Ljubljana präzise und überzeugend vor, indem in die Inszenierung Elemente und Schockpraktiken des italienischen Futurismus eingebettet wurden (Marinettis tavole parolibere, eine futuristische Aktion auf der Bühne, ein futuristischer Tanz in der Pause zwischen dem ersten und dem zweiten Akt…).38 Ein Bindeglied ist die Fragwürdigkeit – sowohl 35

Gospoda Glembajevi, Slovensko narodno gledališče Ljubljana, Reg.: Ivica Buljan, Premiere in Ljubljana: 31.03.2012. 36 Vgl. Anne Cornelia KENNEWEG/Angela RICHTER: „Essayismus und vernetztes Denken. Miroslav Krleža, Erasmus von Rotterdam und die europäische Moderne“. In: Sebastian KEMPGEN u.a. (Hgg.): Die Welt der Slaven. Bd. 50 (2013), S. 377-386 (16. Internationaler Slavistenkongress, Minsk 2013, gleichzeitig auch Vortrag während des Miroslav Krleža-Symposiums, Berlin 2013). 37 In einem der Texte der Aufführungspublikation ist gar vom Tod des Modernismus die Rede, vgl. Svetlana SLAPŠAK: „Jaguar in sipa: smrt modernizma v drami Miroslava Krleže.“ In: Miroslav Krleža. Gospoda Glembajevi. Hgg. von. Slovensko narodno gledališče. Drama. Ljubljana: SNG 2012, S. 13-15. Herzlichen Dank an den Pressesprecher des Theaters Jernej Pristov für die rasche und problemlose Zurverfügungstellung des Materials. 38 In einer kroatischen Fernsehsendung lobt der Regisseur Ivica Buljan die Münchener Inszenierung. Vgl. Drugi Format. Povodom 125. Godišnjice rođenja Miroslava Krleže

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der künstlerischen Gewaltpraktiken der Avantgarde als auch der dargestellten Gewalt in Die Glembays. Und schließlich ist auch die Trilogie-Inszenierung von Martin Kušej aus der Saison 2013/14 noch einmal zu erwähnen, bei der der Grund für die Überreizung ebenfalls die Krisenzeit und die Nähe zum Ersten Weltkrieg darstellt, was hier weniger unter Einbeziehung der historischen Avantgarden geschieht. Dass dabei die Komödie Leda durch das 1.Weltkrieg-Drama Galizien ausgetauscht wurde, rückt die Rezeption Krležas vehement in Richtung eines aktuellen künstlerischen Neudenkens der Ersten-Weltkrieg-Thematik. Zudem spielt das Stück in der Münchner Aufführung in der Nacht vor dem Beginn des Ersten Weltkrieges. Der abschließende Satz, der auf zwei Katastrophen-Nachrichten – Bankrott der Firma und Ausbruch des Krieges – folgt, lautet: „Jetzt sind wir gerettet!“, und gemeint ist damit, dass das Bankunternehmen nun durch den Verkauf von Waffen saniert wird. Zwar wird durch diese letzte Aussage der Münchener Inszenierung eine gewisse Nähe zur Thomas Mann’schen Ironie verdeutlicht.39 Doch während im Roman durch Ironie und Ambivalenz eine Unmöglichkeit des Glaubens in der beginnenden Moderne angedeutet wird, erscheint der Zynismus zu Beginn des 1. Weltkrieges rückblickend betrachtet als geradezu diabolisch.

Anstelle eines Fazits Der Verfall einer Familie, der im deutschsprachigen Raum beispielhaft in den Buddenbrooks aufgezeigt wird, enthält im Drama Die Glembays durch Krležas kühne Verbindung von „nietzscheanischem Artistenindividualismus und marxistisch motivierter Gesellschaftskritik“40 eine Radikalität, die den Text vom Roman Buddenbrooks deutlich absetzt. Sie macht ihn für Leser, Zuschauer und Theatermacher auch außerhalb Kroatiens interessant, ganz im Sinne Friedrich Torbergs. [Zweites Format. Zum 125. Geburtstag von Miroslav Krleža]. Nachzusehen auf YouTube unter: https://www.youtube.com/watch?v=U5xI60i27W4 (26.10.2013). 39 S. Zitat und Anm. 12. 40 GALL: „Das Künstlerdrama als Gesellschaftsdrama“, S. 153.

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Aber auch formal sind vehemente Unterschiede zu verzeichnen. Während Mann anhand von Ironie die organische Einheit des Romans aufzulösen trachtet, ist eine solche Einheit im Hinblick auf den Gesamtzyklus Die Glembays gar nicht gegeben, handelt es sich doch beim Gesamt-Zyklus um ein Zusammentreffen verschiedener Textsorten. Das Drama Die Glembays wiederum löst die organische Einheit durch die zynische Haltung gegenüber der dargestellten Zeit und durch die Sprachgewalt auf. So reißt hier die Sprachgewalt einzelner Begriffe (z.B. ‚zaklali‘/,geschlachtet‘) der bürgerlichen Sprache und der Kriminalität des Großbürgertums die Maske ab.

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KENNEWEG, Anne Cornelia/RICHTER, Angela: „Essayismus und vernetztes Denken. Miroslav Krleža, Erasmus von Rotterdam und die europäische Moderne“. In: Sebastian KEMPGEN u.a. (Hgg.): Die Welt der Slaven. Bd. 50 (2013), S. 377-386 (16. Internationaler Slavistenkongress, Minsk 2013). KRLEŽA, Miroslav: „Gospoda Glembajevi“ (1928). In: Ders.: Glembajevi. Zagreb: Zora 1954, S. 325-501. Ders.: „Die Glembays. Schauspiel in drei Akten“. In: Ders.: Galizien. Die Wolfsschlucht. Die Glembays. Leda, In Agonie. Aus dem Kroatischen von Milo Dor. Königstein/Ts.: Athenäum 1985, S. 151-226. Ders.: Die Glembays. Roman (1932). Aus dem Kroatischen von Veselinka SedlićKovačević, Eva Liebetrau-Krekić und Georg Liebertrau. Book on Demand, 2006. Ders.: Die Rückkehr des Filip Latinovicz (1932). Aus dem kroatischen von Martin Zöller. Königstein/Ts: Athenäum 1984. Ders.: Eine Kindheit in Agram (entst. 1942, veröff. 1952). Aus dem Kroatischen v. Barbara Antkowiak. Frankfurt/M.: Athenäum 1986. Ders.: „Literatur heute“ (1945). Aus dem Kroatischen von Barbara Sparing. In: ders: Essays. Über Literatur und Kunst. Hgg. von Reinhard Lauer. Frankfurt a.M.: Athenäum 1987, S. 173-212. LAUER, Reinhard: Wer ist Miroslav K.? Leben und Werk des kroatischen Klassikers Miroslav Krleža. Klagenfurt/Celovec: Wieser 2010. Ders.: „Kritik der bürgerlichen Literaturrepräsentanz – Miroslav Krleža und Thomas Mann.“ In: Ders. (Hgg.): Künstlerische Dialektik und Identitätssuche. Literaturwissenschaftliche Studien zu Miroslav Krleža. Wiesbaden: Harrasowitz 1990, S. 233-248. Ders.: „Die Welt als Skandalon. Zu den Dramen Miroslav Krležas“. In: Miroslav KRLEŽA: Galizien. Die Wolfsschlucht. Die Glembays. Leda, In Agonie, S. VII-XIII. LEITNER, Andreas: Die Gestalt des Künstlers bei Miroslav Krleža. Heidelberg: Winter 1986. MANN, Thomas: Buddenbrooks (1900). Frankfurt a.M.: Fischer 1989. Ders.: „Tonio Kröger“. In: Ders: Sämtliche Erzählungen in zwei Bänden. Bd. I. 5. Auflage. Frankfurt a.M.: Fischer 1995, S. 265-331. Ders.: „Der Tod in Venedig“. In: Ebd. S. 436-516. NIETZSCHE, Friedrich Wilhelm: Die fröhliche Wissenschaft, Drittes Buch, Aphorismus 125 „Der tolle Mensch“. In: Ders.: Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hgg. von Giorgio Colli und Mazino Montinari. Bd. 3. München/NY: dtv/de Gruyter 1980, S. 480ff. OBAD, Vlatko: „Matkovićev General i njegov lakrdijaš u kontekstu europske drame“. In: Branko HEČIMOVIĆ (Hgg.): Krležini dani u Osijeku. Osijek: HNK u.a. 1993, S. 191-198. SIMMEL, Georg: Die Großstädte und das Geistesleben (1905). Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006.

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SLAPŠAK, Svetlana: „Jaguar in sipa: smrt modernizma v drami Miroslava Krleže.“ In: Miroslav Krleža. Gospoda Glembajevi. Slovensko narodno gledališče. Drama. Ljubljana 2012, S. 13-15. STAMAĆ, Ante: „Ein typischer Autor Mitteleuropas“. In: Most/Die Brücke. I-2 1996, S. 100-102. TORBERG, Friedrich: „Über Miroslav Krleža“. In: Ders.: Das fünfte Rad am Thespiskarren. Theaterkritiken. Bd. II (Gesammelte Werke in Einzelausgaben). München/Wien: Langen-Müller 1967, S. 454-457. ŽMEGAČ, Viktor: „Krležas Geschichtsverständnis im europäischen philosophischen Kontext“. In: Zagreber germanistische Beiträge. Beiheft 6 (2001), S. 3-18. Ders.: „Miroslav Krleža und seine mitteleuropäische geistige Heimat“. In: Most, I-2 1996, S. 103-107.

LINKS Drugi Format. Povodom 125. Godišnjice rođenja Miroslava Krleže [Zweites Format. Zum 125. Geburtstag von Miroslav Krleža]. Nachzusehen unter: https://www.youtube.com/watch?v=U5xI60i27W4 (26.10.2013) (Fernsehsendung). ERDMANN, Elisabeth von: „Miroslav Krleža: Meisterschaft oder Fragwürdigkeit?“. In: http://www.uni-bamberg.de/?id=82674 (04.01.2014). FISCHER, Karin: „Von den betrogenen Betrügern und den kroatischen Buddenbrooks“. In: Deutschlandradio. 24.05.2013. http://www.dradio.de/dlf/sendungen/kulturheute/2119391/ (19.10.2013).

AUFFÜHRUNGEN Gospoda Glembajevi, Slovensko narodno gledališče Ljubljana, Reg.: Ivica Buljan, Premiere in Ljubljana: 31.03.2012. Die Glembays (1. Teil der Reihe In Agonie), Wiener Festwochen/Residenztheater München, Reg.: Martin Kušej, Premiere in Wien: 23.05.2013, Premiere in München: 01.06.2013.

FILMOGRAPHIE Underground/Podzemlje. Deutschland/Frankreich/Ungarn/Yugoslawien 1995, Reg.: Emir Kusturica. Esmas Geheimnis – Grbavica/Grbavica. Österreich/Bosnien/Deutschland/Kroatien 2006, Reg.: Jasmila Žbanić

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Marijana Erstić Under the Sign of Decline and Catastrophe: The Glembays as the Croatian Buddenbrooks Summary The following essay deals with the drama Gospoda Glembajevi / The Glembays (1928) by the Croatian writer Miroslav Krleža. The central question is: How is the artistry portrayed in this drama? This problem will be compared with the novel Buddenbrooks (1901) by Thomas Mann. At the end of the article two recent theatrical productions will be discussed (SNG Ljubljana, 2012, dir .: Ivica Buljan and Residenztheater München, 2013, dir.: Martin Kušej). Keywords: Miroslav Krleža, Thomas Mann, Comparative Literature, The Glembays, Buddenbrooks

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THE RECEPTION OF THEATRE PRODUCTIONS OF GERHART HAUPTMANN’S DRAMAS ON THE STAGE OF THE OSIJEK CROATIAN NATIONAL THEATRE IN OSIJEK’S PRESS IN THE FIRST HALF OF THE 20TH CENTURY Marica Liović J. J. Strossmayer University of Osijek (mgrigic@ffos.hr) Summary Although it has been more than seventy years since the death of the great German writer Gerhart Hauptmann (1862-1946) who preferred to stay in the Third Reich instead to emigrate, his opus and many WWII-related biographical facts revealed in the recent publications of his diaries seem to be still able to provoke ambivalence, controversy, and aversion. We might consider it a devastating fact that after the Second World War not a single Croatian theatre house dared to stage any of the Nobel prize winner’s drama works – and even conclude that Croatian public (for a couple of generations!) has been denied the opportunity to enjoy the productions of one of the most prolific and influential German dramatists. However, any responsible theatre director cannot ignore the context of Hauptmann’s now fully revealed antiSemitism, anti-Slavism, and anti-Americanism expressed explicitly in his diaries, as proven in Željko Uvanović’s book Gerhart Hauptmanns Egoismus (2013). Contrary to today’s situation, Osijek’s theatre audience has been shown six of Hauptmann’s works in the period from 1910 to 1942. The task of this paper is to try to find out, by reading Osijek’s press in the aforementioned period, what the expectations of Osijek’s theatre audience were, how the press covered the activities of Osijek’s Theatre, and what the reactions of the audience to the repertoire of Croatian National Theatre in Osijek were, especially with regard to Gerhart Hauptmann’s selected dramas. Keywords: Gerhart Hauptmann, drama, Croatian National Theatre in Osijek, Osijek’s press, theatre critique, period 1910-1942, German-Croatian culture contacts, influence of the fact of proven anti-Semitism, anti-Slavism and anti-Americanism on the author’s reception today, Željko Uvanović

Osijek’s theatre scene and the German-speaking culture(s) have long been in the relationship of a strong and prolific correlation. Since the travelling

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German theatre troupes1 noted down Osijek as an unavoidable geographical point for their performances, in which numerous and well-organized Austrian, German (and German-speaking Jewish) communities lived at the time, those relations left a deep and a permanent mark not only in the theatre life, but also in the cultural image of the city which lies on the river Drava. That relationship, if we take into consideration the then contemporary artistic events in the centres of German culture, was strong – all up until the end of the Second World War. Having those facts in mind, it becomes clear that the repertoire of Osijek’s theatre did not lag behind the most prominent European theatre houses. Gerhart Hauptmann (1862 – 1946) is one of the pivotal personalities of German literature at the turn of the 19th century. Disputed, attacked, forbidden, celebrated and awarded (thrice laurelled with Grillparzer-Prize, with the Nobel Prize in 1912, and with Goethe Prize in 1932, to mention the most important ones), this literary Nobel Prize winner was one of the most prolific authors,2 not only in the context of German literature but also in the World literature. Although literary criticism was faltering for a long time when it comes to systematizing his work, it seems that the contemporary researchers of G. Hauptmann’s work agreed with the estimation that Hauptmann’s work is a mixture of “poetic compromise between tradition and modernism, an autonomous poetry which owes its contradictions to author’s own personal contradictions.” (Uvanović 1998: 462) However, Uvanović (2013: 108) comes to the following disappointing conclusion after close reading of Hauptmann

1

S. Marijanović, V. Obad and G. Gojković made a minute report on German travelling theatre troupes. See in: Stanislav Marijanović, Njemački teatar u Osijeku. Kazališni plakati i almanasi, Krležini dani u Osijeku 1987-1990-1991, Osijek-Zagreb, 1992, pp. 134 – 191; Vlado Obad, Njemačke putujuće družine na pozornici osječkoga kazališta, Krležini dani u Osijeku 100. godina HNK u Osijeku, Osijek-Zagreb, 2007, pp. 30 – 44; Gordana Gojković, Njemački muzički teatar u Osijeku 1825-1907, HNK u Osijeku, Osijek, 1997. 2 Seven novels, a few short story collections, five novels in verse and more than 40 plays out of which the most influential are The Rats and The Weavers. The Weavers is often mentioned in drama theory because of the inauguration of the type of character who will gain importance in expressionistic drama.

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diaries and consequently proving the disagreeable presence of egoism, Heimatkunst racism, anti-Semitism, anti-Slavism, and anti-Americanism: On the one hand, it is a pity – on the other hand, it is absolutely justified that one has to be on Kerr’s side after removing the mask of only simulated social involvement from Hauptmann’s face, and after the diagnosis of his prevalent egoism. The nobility of Gerhart Hauptmann’s position in the German and the European culture at the time of his life placed the poet actually under the obligation to do much more than he really demonstrated. Or was the high public reputation of the honorary doctor of four most respectable universities and the winner of many public prices just an illusion?

This is an ominous shadow cast on the reception of Hauptmann after the Second World War Out both outside of Germany and within the Germanspeaking countries. But we look now on the period 1910-1942. Out of eleven Hauptmann’s theatre pieces that the Repertoar hrvatskih kazališta (herein after: RHK) notes were performed in front of the Croatian audience, six of them were staged and presented to its audience by the Croatian National Theatre in Osijek. Those plays are as follows: Rose Bernd, Colleague Crampton, The Sunken Bell, Elga, Drayman Henschel, and Before Sunset.3 3

6629D Rose Bernd. Five-act drama. Producer: Mihajlo D. Milovanović. Premiered on January 29 th 1910. February 4 th 1910. Two plays (RHK 1, pg. 470) 6803 D The Sunken Bell (Die versunkene Glocke). Five-act fairy-tale drama. Translator: Risto Odavić. Staging: Kurt Bachmann. Producer: Zora Vuksan Barlović. Premiered on November 11th 1914. December 19th 1915. Three plays (RHK 1, pg. 479) 6827D Elda (Elga). Nocturnus. Six scenes. Translator: Ivo Vojnović. Producer: Leon Dragutinović. Premiered on November 1st 1916. October 5th 1917. Seven plays (RHK 1, pg. 480) 6818D Drayman Henschel (Fuhrmann Henschel). Five-act drama. Translator: Antun Schneider. Producer: Robert Starck. Premiered on April 4th 1916. April 19th 1916. Two plays (RHK 1, pg. 480) 6733D Colleague Crampton (Kollege Crampton). Five-act comedy. Translator: Marijana Marković. Producer: Viktor Beck. Premiered on December 20th 1913. December 21st 1913. Two plays (RHK 1, pg. 475) 7224D Before Sunset (Von Sonnenuntergang). Four-act drama. Translator: Mihovil Kombol. Producer: Tomislav Tanhofer. Scenery: Đorđe Petrović. Premiered on October 30th 1932, April 27th 1933. Four plays (RHK 1, pg. 500) 7438D Before Sunset (Von Sonnenuntergang). Four-act drama. Translator: Mihovil Kombol. Producer: Aleksandar Gavrilović. Scenery: Đorđe Petrović. Premiered on November 28th 1942. January 2 nd 1943. Three plays (RHK 1, p. 511). On April 13th 1918 Croatian National Theatre’s ensemble from Osijek held the premiere of The Beaver Coat in Vukovar. The Beaver Coat (Der Biberpelz). Four-act rascal comedy. Translator: Tonka Savić. Producer: Emil Nadvornik (RHK 1, p. 483).

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While reading Osijek’s press of the aforementioned period, this paper will focus on more sophisticated theatre critiques which do not only inform about the theatre event, but also include literary-theatre elements and reach an educational level of discourse.

1. Drayman Henschel,4 a five-act drama, was performed for the first time for Osijek's audience on April 4th 1916, and since then it has been performed only once.5 In the introductory part of his text Gerhart Hauptmann: Drayman Henschel,6 prof. D. M –s.7 refers onto the main aim of Hauptmann's literary work and that is, in his opinion, a constant fight to reach the highest artistic goals. Osijek’s theatre critic sees the secret of the literary success of the German writer in that very battle. As a decisive criteria D. M –s. points out the personal experience of the pains in life, but also a very emotional attitude towards the world which surrounds Hauptmann. Further in the text the author delves into the problems of symbolism which had been noted with the German writer, but he does not perceive the symbolism in a negative light, unlike a couple of other European literary critics: Hauptmann's symbolism, according to his opinion, “is never imprudent. The dreams and the symbolism encompass Hauptmann's relation to the world.” As a specific value of Hauptmann's drama skill, the theatre referent of "Hrvatska obrana" points out the sure and absolutely true characterisation of his characters. To support that thesis, he points out Hauptmann's works and the main heroes who represent the very top of the European dramatic literature (Florian Geyer, Rose Bernd). 4

Regarding this premiere, "Die Drau" only had a short report (Theaternachrichten) that the following day (on Thursday) there will be a premiere staging of Gerhart Hauptmann’s drama Drayman Henschel. Furthermore, "Die Drau" informs its readers that the main role was entrusted to Mr. Milivojević, and Robert Starck is the producer. "Die Drau", April 3rd 1916. 5 RHK 1, p. 480. 6 “Hrvatska obrana”, Osijek, year XV, April 5th 1916, p. 6. 7 Under the initials prof. D. M –s. we find one Dragan Melkus, a professor of Secondary Modern School in Osijek.

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The aforementioned is followed by attributes which, as we will see later, D. M –s. constantly correlates with the work of G. Hauptmann. Such are, for example, pity towards sufferers, mercy towards the fallen, and empathy towards human pain: “Suffering, pity, yearning and salvation, intertwined with love, make the last and deepest content of Hauptmann's poetry craftsmanship (...)” After a lengthy introduction, as we have seen, the author of the text, among other things, dedicates a lot of paragraphs to his personal view and impressions of the work of the German Nobel prize winner, and the rest of the text has been dedicated to Drayman Henschel. Although we are talking about a review which was written after the theatre premiere, D. M –s. begins his review by outlining the summary of the play, and detecting the main points of the dramatic conflict (Mrs. Henschel's deadly illness, maid Hanna's and Henschel's affair, Hanna's child out of the wedlock whom she hates, adultery, Henschel's suicide). Although he emphasises that the main value of the play are strong and consistent characters, D. M –s. does not pause to consider the characteristics of the female character8, but rather directs his attention to the selection and portrayal of characters as a whole, concluding that all of the characters are well thought through, selected and, in a way, universal: As a matter of fact, all of them are wonderful types. We know them, we have seen them, they are not only like this in Silesia – we can find them here as well, far to the south... Everything is considerable, imperious, true to its nature up to the tiniest detail. To him (Henschel, author's note) the unmentioned mysticism is intertwined with co-belief, which we often find in the lower classes of the public.

The last third of the text D. M –s. dedicated to the premiere of the play. All of the praises went to the main actor, Mr. Milivojević, who in each segment (he especially noted the mask and the movement) perfectly embodies Henschel's 8

For instance, Hauptmann’s contemporaries have expressed the specific relation of the author and the main female character as something specific to Hauptmann’s writing, no matter if we are talking about a naturalistically or a neo-romantically shaped character. See: L. Ljubić, work mentioned, p. 416. On differences between naturalistic and neo-romanticist female characters in Hauptmann’s opus cf. Glibić / Uvanović (2013).

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character. A minor objection went to diction, because Mr. Milivojević occasionally got stuck in speech in the scenes which do not tolerate slow thoughts and actions. Mrs. Mitrović, who portrayed Henschel's wife, left an excellent impression on D. M –s., and especially with her convincing crying. Against Mrs. Dragotinović, although she played her part convincingly, he holds the fact that she was portraying a character of a girl who is quite younger than herself. The rest of the actors (Mr. Bonačić, Mr. Letica and Mr. Stojković, Miss Puhovska and Mrs. Gavrilović) did an excellent job with their parts, as well as the producer, Mr. Starck, who hit every note, planned the scenes in an excellent way, “bringing the soul in each scene. The audience was restless,” and in order to really see something art-worthy, D. M –s. tells them that they have to “find their way in the dark as well.” In the end, he concludes as follows: Yesterday's evening fared well for both Mr. Manager and Mr. Dramaturge, especially for letting Mr. Starck9 handle the part of the producer. We only cannot seem to understand why the clock in Henchel's room did not "come alive", and we cannot understand why there were no extras in the "tavern" in the fourth act. The first three acts were, and we say that again, done especially well and with great skill. We know that "Drayman Henchel" will not find all of the seats filled, but this is not the task of Osijek's Croatian National Theatre. The management's duty is to nourish drama in the first place, and then fine comedy, public plays etc., and another one that goes with is the opera – we cannot begin to love the operetta, its sole purpose to fill the coffers, nothing more...

2. Gerhart Hauptmann's fifth drama work, with which Osijek's audience had the privilege to see on stage, is Elga, deduced as a notturno in the genre, and only eight months after the premiere in Zagreb. The text was written in 1896, and published and premiered in 1905 (at the Berlin Lessing-Theater) (Ljubić 2007 :415). It is important to note that this is the longest-running work of Hauptmann's at Osijek's National Theater stage: Elga was on the repertoire 9

Emphasized by D. M –s.

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from November 1st 1916 up to October 5th 1917, and was performed a total of seven times.10 "Hrvatska obrana"11 brings us the detailed text prior to Elga's premiere. An anonymous author begins by looking back on the date of the premiere (November 1st, All Saints Day), concluding that the date of the premiere “is no coincidence because it will, prior to All Saints’ Day, increase the effort which pulses out of this piece,” and it's on the verge of the Scriptures: Vanitas vanitatum et omnia vanitas (Utterly meaningless! Everything is meaningless. Or: Vanity of vanities; all is vanity.) And under “meaningless” the author implies passion, love and adultery, all the things that pushed the main heroin into earthly pleasures, and in a way represents some kind of a game between life and death and, continues the author, “makes everything seem meaningless and crazy, as if we were listening to a serious and dark choir of friars, followed by the music of the pipes, which sounds like a funerary song.” The author points out that Hauptmann found a framework for his drama in a novella by Grillparzer,12 and thus stating the main idea of Grillparzer's work: “It is but a dreamy state, dreamt by the knight who came to an abbey.” After a detailed description of Elga's character (physical characterisation, social, moral and psychological: “Elga is a beautiful woman who married count Starschenski; she is the daughter of a fallen nobleman. She lives with her father in poverty, yet she always longs for riches, and for nice clothes and lush jewellery, and that was the only reason she married Starschenski.)” The author discreetly suggests that Hauptmann stepped out of the frame of realism because the work basically has two endings: one is the tragic one, on stage, which does not culminate with the death of Elga's lover Oginski, but with her taking off her mask when talking to her husband (“Now all the evil, all the hatred towards her husband she never loved, culminates in her, and she snares words at him, full of poison and hatred.”), and the other ending is the one which refers back to the original (Grillparzer's novella): “The curtain drops, 10

RHK, p. 480. "Hrvatska obrana", Osijek, year XV., October 31st 1916, pp. 4 – 5. 12 The novella is Das Kloster bei Sendomir, from the year 1828. 11

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we again see the sleeping knight whom we have seen in the first scene, as he awakes. It was all just a strange dream.” By introducing us to the summary and the problematic of the work, the author of the text focuses on the problem of staging a drama, pointing out (as was typical in the years we are talking about, for instance, scenic productions of expressionist dramas) that the main problem is how to show the difference between the reality and a dream: This difference between dream and reality, between what is going on and what the knight is dreaming about – it is all left in the hands of the producer to make that happen, and that is the producer’s most important work in this piece. Mr. Dragutinović is the producer in this play.

Furthermore, the nameless author determines which elements of the scenic production the producer will use in order to undoubtedly suggest the difference and the border between dreams and reality. He claims that stage of that period does not have the technical capabilities for such demanding scenes, but that the producer will reach for the choir in order to portray the contrast between dreams and reality: This will especially be achieved with the help of the choir of church friars, accompanied by pipes: the song will be heard at the beginning and between each act, and that reminds us of the abbey, the knight, and we will, once the curtain goes down, exclaim: "Aha! It was all but a knight's dream!"

Theatre column's reviewer of "Hrvatska obrana" predicts that the first scene will be played out differently, suggesting at the same time that a tone of realism should engulf it, while other scenes, according to his opinion, should be intertwined with a tone of story, fable, dreams. The author concludes the text by informing his readers that the main role will be portrayed by Mrs. Vuksan-Barlović, Starchenski by Mr. Gavrilović, and other roles are portrayed by Mrs. Dragutinovićka, Mrs. Makušinska and Mr. Stojković. It is interesting to note that the unnamed author of the text in "Hrvatska obrana" ignored something that, for instance, occupied the theatrical critics

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during the premiere in Zagreb. Namely, the most of the critics saw and judged this Hauptmann's piece from the perspective of a strong female character, such as Hauptmann had never put on stage before (Ljubić :416). The critic from Osijek, and one can see that through the quote from the Scriptures, sees Elga as a vain, unsympathetic person whose sole purpose is satisfying her own (frivolous) needs, subversively affects the regulated society and its norm with strictly classified male and female roles. The day after the premiere, the author of the text (prof. D. M –s.) in "Hrvatska obrana"13 reflects in a lengthy text not only on the premiere of the play, but also dedicates a large part of the text to the greatness of Hauptmann's writing skills, pointing out that “there was no such throng of humanity so artificially overcome as in the first act of Florian Geyer since Shakespeare.” On the other hand, in The Rats D. M –s. notices that “the mix of various mixed up classes which hypocritically defend themselves, rise and fall” has been characterized with unreachable credibility. Rose Brend and Drayman Henschel, according to the author of the text, “reveal a deep pity of the poet not only with the main personas, but also with all the others that gather around them.” Pointing out pity as the key word of Hauptmann's creativity, D. M –s. explains that it is exactly from the writer's pity that the “colossal judgement of the capitalist society order” arises. The judgement against the unjust capitalist society D. M –s. also sees in, as he characterized it, a social drama Before Sunset, pointing out that in that drama “we see the fall of grandeur, debauchery, poisoning the future generations in their mothers' bodies.” He ends his thoughts of that drama with the following conclusion: Although there are quite a few repellent things in the play, as well as distasteful details, the poetic grandeur is still present. The conclusion is followed by a short deliberation about The Weavers and by an opinion with which the modern drama critique also agrees: D. M –s. sees Hauptmann as a dramatist who brought in among the first ones the mass as character on the theatre stage. After mentioning, as he said, the epos Narres in Christo and the novel Atlantis, D. M –s. concludes: “His meaning will

13

"Hrvatska obrana", Osijek, October 31 st 1916, p. 6.

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forever stay in literature as the one of the master and pioneer of the naturalist drama.” Regarding the premiere, D. M –s. turns back to the key points of the staging (the friar’s song as the main "border" between reality and dreams, the voice of the pipes, the play of light and shadows...) As the main negligence of the premiere performance, D. M –s. points out the following: Some of the scenes are connected with the voice of the pipes and the singing of the friars; it is understandable that the dream should not be interrupted; a scene must come after the other without shedding light onto the audience. But that should have been thought of during yesterday's performance, and above all, the voice should not reach the audience during the change of scenery.14 True, next to the devices we have on our stage that is hardly achievable, but even that can be done if one wishes it, and we hope that we will not have to speak against the same felony during the revival.

The last part of the text is dedicated to actors. In general, D. M –s. is thrilled with the male role interpreters, so Mr. Gavrilović as Starschenski and Mr. Stojković as his servant basked in praises, while the main heroin (Mrs. Vuksan-Barlović), next to a handful of praises, received critique as well. It was a good-natured advice, saying that she shouldn't be as loud, so when she is defending her mad Dortka she should be a lot more discrete. In the end, producer Dragutinović was also praised. He worked extremely hard on the staging, and D. M–s. also praises the management who decided to present one such piece to Osijek's audience who, as D. M –s. points out, should be presented with such serious pieces. He also invokes the viewers, since this is a piece which will constantly “remain on the repertoire” of Osijek's theatre, to listen to it a couple of times.

14

Emphasized by prof. D. M –s.

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3. Hauptmann's latest work which came alive on the scene of Osijek's national theatre house is Before Sunset15 (Von Sonnenuntergang). That is a four act drama which had its premiere (for the second time on Osijek's stage) on November 28th 1942, and the reason was appropriate – celebrating the 80th birthday of the great German writer. Due to that occasion the entire edition of the theatre weekly paper, "Osječka pozornica"16 was dedicated to the life and work of this German Nobel prize winner. We read on the first page: The German people have celebrated a ceremony of spirituality on November 15th, and that was the 80th birthday of their greatest living poet, who in today's time is the keeper of the poetry tradition of Goethe's genius. All German theatres arranged whole cycles of his dramas which have been shown during the month of Gerhart Hauptmann's birth, and on the actual day of his birth numerous poets put on celebratory shows etc. in their theatres. The grey-haired poet received numerous congratulations and the greatest of acknowledgements for his prolific and dedicated artwork. Our theatre will pay its respects to the great dramatist by putting on his symbolic drama Before Sunset.

Then the writer's biography with a review of some of his greatest works follows. The author17 of the text pays special attention to the premiere (Lessing Theatre in Berlin, October 20th 1889, as a part of Otto Brahm's "Free Stage") of Hauptmann's drama. The author informs us that Before Sunrise is not only his first drama play, but also the writer's first encounter with a very demanding audience. The author of the text describes in great detail the atmosphere of the premiere which mostly consists of audience's negative 15

RHK 1, p. 511. "Osječka pozornica" is a weekly of Croatan National Theatre in Osijek which was published in Osijek from 1941 to 1944. The first editor of "Osječka pozornica" was Marko Fotez, and since the second year it was Anđelko Štimac. The weekly was published in the Public Print Shop Osijek. It featured weekly theatre show schedules and announced premieres. It brought previews of plays, columns on certain actors and other theatre news. "Osječka pozornica" has been digitalized and is available on the Internet pages of GISKO. http://baza.gskos.hr/cgi-bin/croldig.cgi?A1210080270000611 (accessed on December 15th 2017) 17 The author is anonymous. We assume the author of the text is editor Anđelko Štimac. 16

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opinion which was “'disgusted' by the unknown writer's realism.” The writer, although misunderstood and hissed down, announced even then that “a new sun is being born on the horizon of German drama.” ("Osječka pozornica", pg. 2) Furthermore, the author follows Hauptmann's path of development, and states "constant intertextual places" of this dramatist (Ibsen's influence and the creative overcoming of influence, autobiographical elements in his drama opus and a strong feeling of reality which is transferred into the characters). The aforementioned is followed by a chronology of his work and a try to poetically name each of the mentioned pieces, for instance, The Sunken Bell (1986) was described as an echo of defeats and personal, private crises which tortured the poet during his creation; Drayman Henschel (1898) was characterized as the poet's return to reality, while Rose Bernd (1903) in the development of this dramatist's letter represents the proof that the poet yet again found himself. ("Osječka pozornica", p. 4) Now follows the casting list of Osijek's premiere performance: “On our premiere of Before Sunset, the main role of Mathias Clausen belongs to Aca Gavrilović, who is also directing this piece. In other main roles we have: Nevenka Veselinović, Elena Manjkovska, Draga Pregarc-Stiplošek, Ema Küfner, Đuka Trbuhović, Eugen Petrović and Milan Miljuš. In other roles we have a great number of the members of our theatre. The drafts for the scenery were made by Đuka Petrović” ("Osječka pozornica", pg. 7), and then the text is followed by the German writer's monumental thoughts about life and art. The following page (p. 8) brings us a list18 (up until 1942, author's note) of all the Hauptmann's pieces performed on Osijek's scene, concluding that “our theatre has in 35 years of its existence performed seven pieces of the great 18

The mentioned works are: The Beaver Coat, premiered on February 13th 1913; Colleague Crampton, premiered on December 20th 1913; The Sunken Bell, premiered on November 11th 1915; Rose Bernd, premiered on January 29th 1916; Drayman Henschel, premiered on April 4th 1916; Elga, premiered on November 1 st 1916; Before Sunset, premiered on December 6th 1932. The data published in "Osječka pozornica" in some cases collide with the one we have available in Croatian Theatre Repertoire. The Repertoire notes that the first Hauptmann’s drama staged in Osijek was Rose Bernd, premiered on January 29th 1910. The Repertoire does not note that The Beaver Coat was ever staged in Osijek (it was staged in Vukovar, on April 13 th 1918).

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German poet.” The author continues to explain that his list features only premieres, while “the number of performances of Hauptmann's dramas is large, because a lot of the pieces have been practiced anew, with new roles, which is for example the case with the latest drama Before Sunset.” ("Osječka pozornica", p. 8) The last page features some kind of a poetic synthesis of the theatre, with the words of Hauptmann himself: “The theatre will not reach for a long time its full and deep meaning, as long as it does not get the blessing of the liturgy, as was in ancient Greece. It is strong on its own, but it is still only being tolerated, not cultivated; it is burdened by enemy judgement, and not under the protection of everything that is holy.” ("Osječka pozornica", p. 12) In his account of Hauptmann's life and work, the author of the text symbolically moves between two border lines of the German writer's literary work (but also life): between the drama Before Sunrise and his last work which represents some sort of a will of the writer himself, Before Sunset is very significant when we talk about Hauptmann's life on Osijek's theatre scene: it was this very work, presented to Osijek's audience more than 70 years ago, that was Hauptmann's last living word Osijek's audience had the privilege to hear.

4. When it comes to theatrical issues, the here presented review of Osijek’s press in the first part of the 20th century, gives us full right to conclude that Osijek’s audience was continuously well-informed when it comes to premieres and received detailed reports. The texts were written with great competence. Drama was observed as a literary text, without ignoring the theatrical aspect. This means it was still perceived as a theatrical play, with a detail description of characters and players who participated in the creating of the theatre production. It is important to add that cultural columns had an important function of preparing the viewers for the literary text, or rather it’s staging. We are talking about lengthy texts whose sole purpose was to place the

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authors and their work in space and time, and situate the work into the opus of the dramaturge the text was talking about. Often the authors would also mention the previous premieres, as well as prominent artistic names known for their cooperation on one of the previous plays. As we have seen in examples above, the authors of the theatre reviews also had a role of the "guardian of the societal taste", and they would often criticize Osijek’s public who obviously inclined more towards ‘easier’ pieces (especially towards operettas, as D. M –s. reports) whose reception did not demand a lot of intellectual endeavour. Osijek’s theatre, under constant pressure to attract and keep the audience, balanced between entertainment and art, trying to satisfy the public’s taste but also to keep up the pace with Europe’s cultural capitals. The fact is that serious drama pieces would not linger long on the repertoire (with honourable exceptions) and that Osijek’s audience didn’t react appropriately during the plays. That was the cause for theatre critics and reporters to persistently and permanently fight for a higher artistic level, but also to open the horizons for Osijek’s theatre audience. The role of Osijek’s press was not only to report and to educate, but also, as it seems, to take the role of Prometheus, too. The final remark would be that a new reception of Hauptmann’s dramas in Croatian theatre houses is not in sight – due to contextual and political problems Hauptmann created himself. Literature and resources: ANTONIJA BOGNER-ŠABAN, Povijesni podsjetnik na 100. godina djelovanja Hrvatskoga narodnog kazališta u Osijeku, in: Krležini dani u Osijeku 2007., ed. B. Hećimović, Zavod za povijest hrvatske književnosti, kazališta i glazbe HAZU, Odsjek za povijest hrvatskog kazališta Zagreb, HNK Osijek, Filozofski fakultet Osijek, Zagreb – Osijek, 2008, pp. 7.-18. DARIJA GLIBIĆ, ŽELJKO UVANOVIĆ, Naturalistički i neoromantički ženski likovi u odabranim djelima Gerharta Hauptmanna, in: Sanjari i znanstvenici. Zbornik u čast Branke Brlenić-Vujić, Filozofski fakultet u Osijeku, Osijek, 2013, pp. 221.-239.

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LUCIJA LJUBIĆ, Hauptmannovi ženski dramski likovi na pozornici zagrebačkoga Hrvatskoga narodnog kazališta – Anica, Roza Bernd i Elga, Dani Hvarskoga kazališta 33, ed. N. Batušić et al., Književni krug Split, HAZU Zagreb, Split – Zagreb, 2007., pp. 399.-419. STANISLAV MARIJANOVIĆ, Njemački teatar u Osijeku. Kazališni plakati i almanasi. Krležini dani u Osijeku 1987-1990-1991, Osijek-Zagreb, 1992., pp. 134-191. DRAGAN MUCIĆ, Prvih četrdeset godina, Hrvatsko narodno kazalište u Osijeku 1907. – 1941., Matica hrvatska Ogranak Osijek, Filozofski fakultet u Osijeku, Osijek, 2007. VLADO OBAD, Njemačke putujuće družine na pozornici osječkoga kazališta, in: Krležini dani u Osijeku 2007., ed. B. Hećimović, Zavod za povijest hrvatske književnosti, kazališta i glazbe HAZU, Odsjek za povijest hrvatskog kazališta Zagreb, HNK Osijek, Filozofski fakultet Osijek, Zagreb – Osijek, 2008., pp. 30.-44. Repertoar hrvatskih kazališta 1 i 2, ed. Branko Hećimović, Globus, Zagreb, 1990. ŽELJKO UVANOVIĆ, Smisao Nobelove nagrade, in: Gerhart Hauptmann, Školska knjiga, Zagreb, 1998., pp. 459.-490. ŽELJKO UVANOVIĆ, Gerhart Hauptmanns Egoismus. Eine Interpretation aufgrund des Reiseberichts Griechischer Frühling und der Tagebücher. Akademische Verlagsgemeinschaft München, München, 2013.

"Hrvatska obrana" (1914. – 1933.) "Die Drau" (1910. – 1930.) "Osječka pozornica", http://baza.gskos.hr/cgibin/croldig.cgi?A1210080270000611

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Marica Liović Die Rezeption der Theaterproduktionen der Dramen Gerhart Hauptmanns auf der Bühne des Osijeker Kroatischen Nationaltheaters in Osijeks Presse in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Zusammenfassung Obwohl es mehr als siebzig Jahre her ist, seit der große deutsche Schriftsteller Gerhart Hauptmann (1862-1946) starb, der es vorzog, im Dritten Reich zu bleiben, statt zu emigrieren, hat es sich herausgestellt, dass sein Opus wie auch viele biographische Fakten aus dem Zweiten Weltkrieg (in den jüngsten Publikationen seiner Tagebücher öffentlich verfügbar) imstande sind, immer noch Ambivalenz, Kontroversen und Abneigung hervorrufen zu können. Wir können es als eine verheerende Tatsache betrachten, dass nach dem Zweiten Weltkrieg kein einziges kroatisches Theaterhaus es gewagt hat, irgendwelches Drama des Nobelpreisträgers zu inszenieren – und sogar zu dem Schluss kommen, dass das kroatische Publikum (für ein paar Generationen!) keine Möglichkeit hatte, die Inszenierungen der Werke eines der produktivsten und einflussreichsten deutschen Dramatiker zu genießen. Ein verantwortlicher Theaterregisseur kann jedoch den Kontext von Hauptmanns nunmehr vollständig offengelegtem Antisemitismus, Antislawismus und Antiamerikanismus nicht ignorieren, die ausdrücklich in seinen Tagebüchern zum Ausdruck kommen, wie in Željko Uvanovićs Buch Gerhart Hauptmanns Egoismus (2013) bewiesen wurde. Entgegen der heutigen Situation hat Osijeks Theaterpublikum in den Jahren 1910 bis 1942 sechs von Hauptmanns Werken gesehen. Die Aufgabe dieser Arbeit ist es, durch das Lesen von Osijeks Presse in der erwähnten Zeit herauszufinden, was die Erwartungen von Osijeks Theaterpublikum war, wie die Presse über die Aktivitäten von Osijeks Theater berichtete und welche Reaktionen das Publikum auf das Repertoire des kroatischen Nationaltheaters in Osijek hatte, insbesondere in Bezug auf Gerhart Hauptmanns ausgewählte Dramen. Stichwörter: Gerhart Hauptmann, Drama, das Kroatische Nationaltheater Osijek, Osijeker Presse, Theaterkritik, Zeitabschnitt 1910-1942, deutsch-kroatische Kulturkontakte, Einfluss des festgestellten Antisemitismus, Antislawismus und Antiamerikanismus auf die Rezeption heutzutage, Željko Uvanović

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ZWEI DICHTERINNEN, ZWEI STÄDTE - BERLIN UND LWÓW IN GEDICHTEN VON MASCHA KALÉKO (19071975) UND ANDA EKER (1912-1936) Aleksandra Bednarowska Pädagogische Universität Krakau (abednaro@kent.edu) Zusammenfassung Im Zentrum dieses Beitrages stehen Gedichte von zwei in Galizien geborenen jüdischen Dichterinnen der Zwischenkriegszeit: Mascha Kaléko und Anda Eker. Beide Autorinnen gehören zur langen Tradition der jüdischen Schriftsteller, für die Städte eine Inspirationsquelle und ein literarisches Sujet wurden. Mascha Kaléko, die in der Endzeit der Weimarer Republik berühmt wurde, publizierte in mehreren Zeitungen und Zeitschriften „soziologisch relevante Gebrauchslyrik“. In ihrem ersten Gedichtband Das lyrische Stenogrammheft aus dem Jahre 1933 übernimmt die Autorin die Rolle der Beobachterin, die Einwohner der Berliner Metropole im Mittelpunkt ihrer Gedichte stellt. Kaléko unterstreicht die Spannung zwischen der Glitzerwelt der Großstadt und Wirklichkeit. Trotz flüchtiger Momente des Glücks, bietet die Großstadt keine Sicherheit, keine glänzende Zukunft an, sondern bloß eine Chance zu überleben. Anda Eker, eine zu Unrecht ganz vergessene, früh gestorbene Dichterin vermittelt in ihrem ersten Gedichtband Na cienkiej strunie ihre Liebe zu Lwów (Lemberg) und stellt die Stadt als einen Erinnerungsort dar, in dem jede Straße ihre eigene Geschichte und ein Geheimnis hat. Die märchenhafte Darstellung der Stadt wird mit Gedichten kontrastiert, in denen prekäre Wohn- und Arbeitsverhältnisse der Stadtbewohner gezeigt werden. Stichwörter: Mascha Kaléko, Anda Eker, jüdische Dichterinnen, Großstadtlyrik, Stadtlandschaft, Lwów (Lemberg), Berlin, Galizien, Zwischenkriegszeit, Armut, Einsamkeit, Nacht

PARALLELBIOGRAPHIEN Die in Galizien geborenen Dichterinnen Mascha Kaléko (1907-1975)und Anda Eker (1912-1936)1gehören zu der Generation jüdischer Frauen, die während der Zwischenkriegszeit, d.h. in der Zeit sozialer Umschichtungen, neuer Genderrollen, des zunehmenden Kosmopolitismus und des steigenden Antisemitismus, ihre literarische Laufbahn begannen. Zum 1

Zu den jüdischen Schriftstellerinnen jener Generation, die mit Galizien verbunden waren, zählen auch u.a.: Minka Silberman, Syda Rychter, Debora Vogel und Maria Hochberżanka.

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ersten Mal in der Geschichte bekamen Frauen das Wahlrecht, den Zugang zum Studium und die Möglichkeit berufstätig zu wirken, selbstständig zu leben und zu reisen. Ob man beide Autorinnen zur weiblichen Avantgarde rechnen kann, die laut Dagmar LORENZ „sich durch neue feministische Inhalte und den Blickpunkt auf die weibliche Erfahrung in der Welt der Moderne auszeichnete“ (S. 117) ist fraglich. Sie thematisierten zwar in ihrer Lyrik die Welt der Frauen (unter anderem Angestellten, Verkäuferinnen, Großmütterchen), stellten aber das patriarchalische System nie in Frage. Die Topographie der Stadt war ein wichtiges literarisches Sujet sowohl in der polnisch-jüdischen als auch in der deutsch-jüdischen Literatur.2 Lwów und Berlin prägten das Leben und Schaffen beider Autorinnen. Für Anda Eker war Lwów (Lemberg/Lviv), trotz enger, winkeliger Gässchen, kleiner Häuser, krummer Laternen und schmutziger Höfe, märchenhaft, mysteriös und voll mit Erinnerungen. Es war die Stadt, in der sie geboren und gestorben wurde, die Stadt, in der sie studierte und Anerkennung als Dichterin fand, die Stadt, zu der sie nach ihrem Aufenthalt in Palästina zurückkehrte. Es war ihr Heimatort, und gleichzeitig ein Ort, in dem sie sich einsam fühlte. Für Mascha Kaléko wurde Berlin ein Zufluchtsort. Sie kam nach Berlin im Jahre 1918, durch den ersten Weltkrieg aus ihrem Heimatsort Chrzanów im Westgalizien vertrieben. Berlin wurde für sie zur zweiten Heimat, in der sie Kompromisse eingehen musste zwischen ihrer ostjüdischen Herkunft und der Berliner literarischen Szene, zwischen der traditionellen jüdischen Erziehung und ihrem Wunsch als selbstbewusste Neue Frau zu erscheinen. In Berlin veröffentlichte sie ihre ersten Gedichte und genoss Ansehen als Dichterin der Großstadt. Mascha Kaléko – die Dichterin wurde geliebt, Mascha Kaléko – die Jüdin wurde verboten, verfolgt und verbannt. Laut Ilona Oster dichtete Kaléko „weiblich und soziologisch. Sie verfasste soziologisch relevante Gebrauchslyrik [...] so erfahren wir aus Kalékos weiblicher Gebrauchslyrik viel über die Befindlichkeit der Menschen“ (vgl. OSTNER, S. 207). Stilistisch und inhaltlich war ihre frühe Lyrik von der Neuen Sachlichkeit geprägt – sie 2

Zur polnisch-jüdischen Literatur s. PROKOP-JANIEC S. 170-180, zur deutsch-jüdischen Literatur, s. SCHOOR, Literarische Berlin-Bilder, und HARDER, HILLE, Weltfabrik Berlin.

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beschrieb in einem nüchtern unsentimentalen Stil das Großstadtleben und thematisierte soziale Umwälzungen in der Weimarer Republik. (Vgl. BRITTNACHER, S. 119) „Nicht Sentimentalität oder Pathos, sondern Präzision sichern diesen lyrischen Momentaufnahmen ihren besonderen Reiz als Poesie der Großstadt, wo der Alltag des modernen Lebens zu sich selbst gefunden hat.“ Bei beiden Dichterinnen finden wir eine Aneignung und Internalisierung der städtischen Geographie, die durch Gemütszustände repräsentiert wird und die, das Verhältnis zwischen dem Ich, der privaten Sphäre und dem öffentlichen Raum, der öffentlichen Identität zum Ausdruck bringt3. Zu den deutsch-jüdischen Schriftstellerinnen, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Berlin literarisch tätig waren, gehörten außer Mascha Kaléko, Else Lasker-Schüler, Gertrud Kolmar, Nelly Sachs, Hilde Marx, Edith L. Meyer, Meta Samson. In ihren epischen und lyrischen Werken wurde die Berliner Metropolis häufig zum Ort der Handlung. Im Kolmars Roman Eine jüdische Mutter (geschrieben 1930/31, posthum herausgegeben) und Samsons Kinder-und Jugendroman Spatz macht sich (veröffentlicht 1938) wurde Berlin bedrohlich für jüdische Frauen und Mädchen. Unbeschönigt zeigten beide Autorinnen die Stadt als Ort der Ausgrenzung und des Antisemitismus; die Stadt als Ort, der die Zugehörigkeit und Sicherheit nicht gewährt.4 Mascha Kaléko wird oft mit solchen Großstadt-Schriftstellern: wie Erich Kästner, Joachim Ringelnatz, Christian Morgenstern, Walter Mehring oder Kurt Tucholsky (vgl. BRITTNACHER, S. 118; BAUSCHINGER, S. 202) nicht zu Unrecht verglichen, obwohl ihre Lyrik eher an Irmgard Keuns Großstadtromane (Gilgi, eine von uns oder Das kunstseidene Mädchen), deren Handlung in Köln bzw. Berlin spielt, erinnert. Keuns und Kalékos Protagonisten sind junge Frauen, die versuchen, ihr Leben selbstständig zu gestalten und sich in einer Großstadt durchzusetzen. Diese aus der Frauenperspektive beschriebenen Großstadterlebnisse finden wir auch in Gedichten der jungen polnischjüdischen Autorin der Zwischenkriegszeit Anda Eker, die wie Kaléko aus einer jüdischen Familie in Galizien stammt. Wie es in diesem Aufsatz 3

Zur Topographie der Stadt in der Dichtung von Frauen, s. BARRY, Introduction. Zu Kolmar s. LORENZ, S. 117-135, zu Samson s. SCHOOR Vom literarischen Zentrum zum literarischen Ghetto, S. 323-328

4

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gezeigt wird, weisen die Gedichte aus Ekers Erstlingswerk (1935) Na cienkiej strunie (Auf der dünnen Saite) beachtenswerte Berührungspunkte mit Kalékos erstem Gedichtband Das lyrische Stenogrammheft (1933), obwohl die Autorinnen sich nie getroffen haben und von einander nichts wussten. Über das Leben der polnisch-jüdischen Dichterin Anda Eker gibt es nur wenige Informationen. Sie kam zur Welt 1912 in einer assimilierten jüdischen Familie, besuchte ein Gymnasium und später studierte an der Johann-Kasimir-Universität in Lwów. Die 12- jährige Eker debütierte in Nowy Dzienniczek, einem Kinderblatt in der Zeitung Nowy Dziennik. Seit 1927 gehörte sie zum Dichterkreis um Chwila (eine jüdische Tageszeitung aus Lwów, die auf Polnisch erschien), der von den ostgalizischen jüdischen Dichtern, die wie es Eker beschrieb „Gedichte auf Polnisch gesungen haben“, gegründet wurde. Sie veröffentlichte Gedichte in mehreren jüdischen Zeitungen und Zeitschriften u.a. in Chwila, Ewa, Nasz Przegląd, Nasza Opinia und Opinia. Ihr Vater, der ein sozialer Aktivist und ein überzeugter Zionist war, entschied sich, mit der Familie nach Palästina zu emigrieren. Für Eker war das Klima unerträglich und sie kehrte nach Lwów zurück. Kurz nachdem sie ihren ersten Gedichtband Na cienkiej strunie 1935 herausgegeben hatte, starb sie an Lungenentzündung (manche Quellen sprechen über Grippe). Nach ihrem Tod wurden ein zweiter Gedichtband Melodia chwili (Die Melodie des Augenblicks) und Märchen Ojców dzieje (Geschichten der Väter), Mama śpiewała kołysankę (Mutter sang ein Wiegenlied) und O świerszczyku muzykancie (Über das Grillchen Musikerlein) herausgegeben. Anda Eker wurde von Kritikern für die sprachliche Virtuosität ihrer auf polnisch geschriebenen Gedichten gelobt. (vgl. STAŃCZUK, S. 145-147) Mascha Kaléko wurde als Golda Malka Aufen am 7. Juni 1907 in einer jüdischen Familie in Chrzanów / Westgalizien geboren. 1914 verließ die Familie Galizien und emigrierte nach Deutschland, wo der Vater wegen seiner russischen Staatsangehörigkeit interniert wurde. 1918 bezogen sie eine Wohnung im Berliner „Scheunenviertel“, der Gegend um die Neue Synagoge in der Oranienburger Straße, die vorwiegend von den ärmeren Juden aus Osteuropa bewohnt wurde. Nach dem Besuch der

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Mädchenschule der Jüdischen Gemeinde, begann Mascha eine Bürolehre im „Arbeiter-Fürsorgeamt der jüdischen Organisationen Deutschlands“ und besuchte Abendkurse in Philosophie und Psychologie. Im Alter von 22 veröffentlichte sie ihre ersten Gedichte. Im Januar 1933 erschien ihr erster Gedichtband Das lyrische Stenogrammheft, ein Jahr später gefolgt von einer Sammlung von Gedichten und Kurzgeschichten Kleines Lesebuch für Große. Am 8. August 1935 erhielt sie Berufsverbot und wurde aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen. Danach hatte Kaléko begrenzte Möglichkeiten, ihre Texte zu drucken, und durfte als Jüdin nur in jüdischer Presse publizieren. Sie veröffentlichte ausschließlich in der zionistischen Zeitung Jüdische Rundschau und im Gemeindeblatt der jüdischen Gemeinde zu Berlin und schrieb Gedichte, Aufsätze über Palästina und wichtige Persönlichkeiten der jüdischen Kultur (z.B. Nachum Sokolow und Izzik Manger) und übertrug aus dem Hebräischen.1938 emigrierte Kaléko mit ihrem zweiten Mann, dem polnisch-jüdischen Komponisten Chemjo Vinaver und ihrem gemeinsamen Sohn in die USA, wo sie vergebens ihre literarische Tätigkeit aufzubauen versuchte. Ihre Leser waren in Deutschland und hier war sie weiterhin gern gelesen. Auch in Israel, wo sie später umsiedelte, blieb sie unbekannt. Mascha Kaléko starb unerwartet in Zürich im Jahre 1975. (Vgl. BEDNAROWSKA, S. 462-465) Kalékos und Ekers Biographien können trotz der Unterschiede als Parallelfälle betrachtet werden. Beide Autorinnen wurden in jüdischen Familien in Galizien geboren und wuchsen in Familien mit zionistischer Ideologie – sowohl Ekers als auch Kalékos Eltern siedelten nach Palästina um. Beide Dichterinnen reisten dahin und erwogen ihre ständige Niederlassung in Palästina. Eker musste aber das Land aus gesundheitlichen Gründen verlassen, Kaléko traf erst 1959 die Entscheidung nach Israel endgültig umzusiedeln. Sowohl Eker als auch Kaléko schrieben zuerst für Zeitungen und Zeitschriften5, bevor sie einen Gedichtband veröffentlichten. Eker schrieb ausschließlich auf Polnisch, da sie Hebräisch nicht kannte (vgl. STAŃCZUK, S. 153). Kaléko, obwohl sie 5

Kaléko debütierte im Juni 1929 mit zwei Gedichten Spießers Frühlingserwachen (später Piefkes Frühlingserwachen) und Zwischen zwei Fenstern (später Tratsch im Treppenflur) im Der Querschnitt. Später schrieb sie für Vossische Zeitung, Berliner Tageblatt und Die Welt am Montag.

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Jiddisch, Hebräisch, Englisch und Deutsch kannte, veröffentlichte auf Deutsch.6 Spezifisch jüdische Thematik finden wir in den frühen Gedichten von Kaléko nicht 7 ; sie dichtete aus der Perspektive einer jungen „waschechten Berlinerin“, die im Büro arbeitet, in einem möblierten Zimmer wohnt und sich nach einer großen Liebe sehnt. 8 Ihre Großstadtlyrik bot kein beschönigendes Bild von der Notlage vieler Berliner an. Solche Thematik: Armut, Krankheit, Einsamkeit war auch im Ekers Schaffen stark vertreten. Außerdem setzte sich Eker mit der inneren Zerrissenheit zwischen zwei Heimaten auseinander: dem geliebten Lwów und der jüdischen Palästina und der Zugehörigkeit zu zwei Traditionen und zwei Kulturkreisen: jüdischem und polnischem. Dieser Zwiespalt bedeutete einerseits das Glück zwei Heimstätte zu haben, andererseits er verursachte das Gefühl, dass man nirgendwo zugehört, dass man sich nirgendwo geborgen fühlt (vgl. MAREK, S. 66).

ZWEI STÄDTE Lwów, die ehemalige Hauptstadt von Galizien, wurde in der Zwischenkriegszeit Teil der Zweiten Polnischen Republik. Die multikulturelle Stadt, die von Polen, Juden, Ukrainern, Deutschen und Armeniern bewohnt wurde, war ein wichtiges kulturelles und literarisches Zentrum und eine Universitätsstadt. Lwów mit den 300.000 Einwohnern war die drittgrößte Stadt und gleichzeitig die drittgrößte jüdische Gemeinde Polens. 1931 lebten hier 98.000 Juden. Laut Encyclopedia Judaica gab es in Lwów mehrere jüdischen Institutionen: sieben Gemeindesynagogen, drei Waisenhäuser, eine Gemeindeschule, zwei jüdische Gymnasien, ein hebräisches Gymnasium, ein hebräisches Lehrerseminar, ein Pädagogium, eine Gemeindebibliothek, ein Spital. Seit 1918 erschienen hier eine polnisch-jüdische Tageszeitung Chwila und eine jiddische Tageszeitung Lemberger Tugblatt und Der Morgen. 6

Das Gedicht Höre Deutschland, Hear Germany, das auf Englisch und auf Deutsch erschien, ist eher eine Ausnahme. 7 Gemeint sind die ersten Gedichtbände: Das Lyrische Stenogrammheft (1933) und Das kleine Lesebuch für Grosse (1935). 8 NOLTE sieht als das Hauptmerkmal der frühern Gedichte der Autorin die Vereinigung von allgemeinverständlichen Themen mit der volksnahen Sprache (NOLTE, S. 32).

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Mit 4,5 Millionen Einwohnern wurde Berlin der Zwischenkriegszeit zu einer Weltmetropole und zum Mittelpunkt des literarischen Lebens, des Zeitungs- und Verlagswesens, des Theaters, der Filmindustrie und des Nachtlebens. Berlin war auch das größte Produktionszentrum des Landes, das Zentrum des Geldverkehrs und eine Bankstadt von internationaler Bedeutung. Infolge der sozialen Umwälzungen wurde die Angestelltenschicht kulturprägend und dadurch wurde Berlin zur „Stadt der ausgesprochenen Angestelltenkultur“ d.h. der Vergnügungskultur der Kinos, Varietés, und Bars. (Vgl. WELLERSHOFF, S. 17) In der Stadt lebten ein Drittel deutscher Juden und Zehntausende Juden aus Osteuropa, die Berlin zum Zufluchtsort und Zwischenstation machten.9

MASCHA KALÉKOS BERLIN Berlin war für Mascha Kaléko eine Inspirationsquelle und ein literarisches Sujet. In ihrem ersten Gedichtband Das lyrische Stenogrammheft übernimmt die Autorin die Rolle der Beobachterin, die ein Mosaik der Einwohner der Metropole in den Mittelpunkt ihrer Gedichte stellt. Dominant werden Bilder bzw. Gruppenbilder von namenlosen, arbeitenden Menschen: Beamten, Stenotypistinnen, Mannequins, Kassen-Patienten, einer Dichterin, einem Liftboy, einem Prokuristen oder einem arbeitslosen, an einer Straßenecke den Passanten das Horoskop stellenden Koch. Gleichförmige, anonyme „matte, blasse Großstadtmenschen“ mit „müden Händen“ und „Alltagssorgen in den Augen“ (S.14), die abends in ihre einsamen möblierten Zimmer in den „kahlen Mietskasernen“ zurückkehren, leiden an Armut, Arbeitslosigkeit, und Einsamkeit. BAUSCHINGER stellt fest, dass was Kalékos Protagonisten gemeinsam haben, ist Mangel an Geld. (S. 200-201) Was sie aber auch verbindet, ist die unheilbare Sehnsucht, Melancholie und Enttäuschung. Trotz flüchtiger Momente des Glücks, bietet die Großstadt keine Sicherheit, keine

9

Erwähnenswert ist der 1913 erschienene Stadtführer Was die Frau von Berlin wissen muss. Ein praktisches Frauenbuch für Einheimische und Fremde von Eliza Ichenhäuser, einer der führenden jüdischen Frauenrechtlerinnen.

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glänzende Zukunft an, sondern bloß eine Chance zu überleben: „Und im Schatten blasser Tage/Leben wir, weil wir nicht sterben.“(S. 48) In der Großstadt wird das Leben dem Kollektivrhythmus von Arbeit unterworfen: „der Werktag kutschiert ohne Pause“, „die Arbeit marschiert in den Städten, / Alle Straßen hallen wider von Betrieb und von Geschäft.“ (S. 9) Der Eindruck von Hektik wird durch Anwendung der Lautmalerei verstärkt: „und die Bahnen brausen, das Auto kläfft“, „die Stadtbahnschlange rollt an, / Nur der Motor rasselt, der Hammer dröhnt.“Der Lärm der Großstadt und das pulsierende Leben einer Metropole am Tage, werden oft mit dem Bild der überwältigenden Stille und Einsamkeit, die in möblierten Zimmern am Abend und in der Nacht herrschen, kontrastiert. In dem Gedicht Einsamer Abend heißt es: „Die Stille sickert leis durch Türenritzen. / Durch meine Stube kriecht die Einsamkeit / Und bleibt dann stumm auf kahlen Bänken sitzen. / Der Abend läßt sich heute sehr viel Zeit.“ (S. 56) Die Erfahrung der Einsamkeit der Stadtbewohner, die oft mit Angst und Unsicherheit in Verbindung gebracht wird, teilen alleinstehende Arbeiter und Angestellte, die nach ihrem Arbeitstag „in ihren vier Wänden hocken“ und „wie wird das wohl enden?“ fragen (S. 9), junge Frauen, die nach dem Abschied vom Geliebten „mißvergnügt in ihr Möbliertes gehen“ und dort ganz allein den dünnen Kaffee trinken. Das in mehreren Gedichten zurückkehrende Motiv der durchwachten Stunden in der Nacht wird zur allgemeingültigen Erfahrung der Großstadtmenschen, „die in Kalékos Dichtung einen hohen Preis für ihr Leben in der geschäftigen Metropole zu entrichten haben. Die schlaflos verbrachte Nacht wird zur Metapher für das Umherirren zwischen den Versprechungen von einst, die nicht mehr gültig sind, und den Hoffnungen von morgen, die doch bloß Versprechen bleiben.“ (BRITTNACHER, S. 119) Diese von vielen Großstadtbewohnern empfundene Einsamkeit 10 , so wie Armut und Krankheit werden von der Öffentlichkeit versteckt: in Höfen, 10

„In Kalékos Gedichten wird immer wieder deutlich, daß vor allem in einer durch soziale und politische Unruhen unsicheren Zeit die Zugehörigkeit zu der Gemeinschaft, oder noch mehr die Verbindung mit einer einzigen liebenden Seele, zu den letzten verbliebenen Lichtblicken und Hoffnungsschimmern gehört, und daß darum das Gefühl der Einsamkeit in dieser Situation eine besonders schlimme Erfahrung ist.” (NOLTE, S. 48-49)

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in einem möblierten Zimmer eines Prokuristen, der am 24. Dezember sehr einsam ist, in der Nacht, in der ein Mann aus der Destille wankt und Diebe still zur Arbeit ziehen, im Park, wo ein Vagabund auf kalter Bank schnarcht und hinter den Fassaden der herrschaftlichen Häuser: „Außen protzt das herrschaftliche Haus/ Stillos-reich und kitschig-kalt wie früher./ Innen kennt sich Gerichtsvollzieher/ Besser als der Geldbriefträger aus.“ (S. 70)In der Nacht kommt zum Vorschein, alles was hinter der Glitzerwelt der Metropole steckt: „blasse Kinder träumen still von Glück“, „Kranke stöhnen wach in ihren Kissen“, „irgendwo geht einer in den Tod“ (S. 21) Der Reiz von grellen Lichtreklamen, glitzernden Fenstern, protzigen Cafés, Tanzlokalen und Lichtspielhäusern, vom „vielgerühmten Puls der Stadt“ lässt vergeblich auf Vergnügen, Glück und Erfolg hoffen, denn in der Stadt herrschen Hoffnungslosigkeit, über Stand und Schicht überspringende Arbeitslosigkeit und Armut von ehemals Reichen. In den Gedichten Meditation eines Hofsängers und Zeitgemäßer Liebesbrief zeigt die Dichterin, dass alles flüchtig und ungewiss ist. Ein Hofsänger, der sein Geld zwischen „Mülleimer und Teppichstangen“ verdienen muss, nachdem er eine sichere Stellung bei einer Großbank verloren hatte, beklagt sich:„Wir hatten mal einen Salon, ein Klavier und seidene Sofaschoner./...Eigentlich bin ich aus besserem Haus./ Nur leb ich vom Fensterapplaus/ Der Küchenmädchen und von den Groschen der Hausbewohner.“(S. 23) Ein junger Beamte aus dem Gedicht Zeitgemäßer Liebesbrief, der sich unerwartet in einer schwieriger Situation findet und „ab Dienstag stempeln geht“ d.h. arbeitslos sein wird, muss auf seine Heiratspläne und Zukunftsträume verzichten und fühlt sich gezwungen seine Verlobung zu lösen, denn: „Du bist. schön. Du tanzt gern in Lokalen. Du passt in keine Not-Zeit-Ehe’ rein!“ Die Entscheidung seiner Arbeitsgeber zwingt den jungen Mann alle Pläne aufzugeben: „Ein Jahr nur noch: ich wäre was geworden. Ich hatte mir die Zukunft schön gedacht“ (S. 17).11 Die Liebesbeziehungen werden nicht nur durch die sozioökonomische Situation sondern auch durch die Großstadtatmosphäre geprägt und dadurch rationalisiert, prosaisch, flüchtig und zufällig. Das selbstständige 11

Zur Interpretation des Gedichts sieh auch NOLTE, S. 44-45.

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Leben in der Metropole und die Veränderung der Geschlechterrollen können zu einer Herausforderung werden. Im Gedicht Großstadtliebe verläuft die Liebesbeziehung im schnellen Tempo: „Beim zweiten Himbeereis sagt man sich >du<“, beschränkt sich auf Weekendfahrt und Küssen und wird von den romantischen Gesten beraubt: „Man küsst sich dann und wann auf stillen Bänken,/Beziehungsweise auf dem Paddelboot./ Erotik muß auf Sonntag sich beschränken./... Wer denkt daran, an später noch zu denken?/Man spricht konkret und wird nur selten rot.“(S. 20) Berlin wird für junge, allein stehende, berufstätige Frauen, Protagonisten vieler Gedichte12, kein „zu Hause“, denn das möblierte Zimmer, das man meistens nur abends sieht, kann das Familienhaus nicht ersetzen. Im Gedicht Mannequins werden schwierige Arbeitsbedingungen junger Frauen geschildert. Das Gedicht wird durch ein Inserat, das „leichte, angenehme“ Arbeit als Mannequin verspricht, eingeleitet. Kaléko zeigt die gesellschaftliche Hierarchie: ganz unten steht die Verkäuferin, die der Kundschaft – Frauen und Männern der Mittelschicht– luxuriöse Waren verkauft, die sie sich selbst nie leisten kann, in einem Kaufhaus, das nicht nur die Waren verkauft sondern junge attraktive Verkäuferinnen selbst zur Ware und zum Objekt der sexuellen Begierde macht. Beim Engagement des Verkaufspersonals wird das gute Aussehen zur wichtigen Voraussetzung für die Anstellung: „die Beine, die sind uns Betriebskapital und Referenzen“. Die Mannequins, müssen „nur lächeln und schmeicheln den endlosen Tag“ und „das sorglose Püppchen machen“. Sie verdienen so wenig, dass sie nur Stullen und Tee am Tag haben, denn das ist billiger als eine Mahlzeit in der Kantine. Wenn sie am Abend etwas besseres essen wollen, können sie auf eine Einladung eines Kunden hoffen, wenn sie nur „willig“ sind.(S. 10) 13 Die in Kalékos Gedichten porträtierten Frauen verdienen nicht genug Geld, um sich gut zu ernähren, ins Kino zu gehen oder Bücher zu kaufen. Das lyrische Ich - eine verarmte Dichterin aus dem Gedicht Gewissermaßen ein Herbstlied (S. 16) stellt ihre elende Lebenssituation dar, indem sie sich über ihre Geldsorgen beklagt: „Der Hauswirt wir allmählich ungeduldig/Und meine Winterjacke leicht defekt./ 12

In frühen Gedichten der Dichterin werden ältere Frauen nur Randfiguren. Ihr Schicksal steht nie im Mittelpunkt. 13 Zur Interpretation des Gedichts sieh auch WELLERSHOF, S. 34.

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Der Waschfrau bin ich schon acht siebzig schuldig“ und ironisch bemerkt „ich darf noch höchstens eigene Werke lesen, was man wohl kaum Vergnügen nennen kann“. Eine Dichterin, die Freiheit und Selbstentfaltung braucht, um sich künstlerisch durchzusetzen, benötigt das von Virginia Woolf geforderte „Zimmer für sich allein“ und Nahrung: „Bei leergebranntem Herd und dito Magen/Schreibt man nicht mal ein lyrisches Gedicht.“14

ANDA EKERS LWÓW Im Gegensatz zur nüchternen Beschreibung der Metropole bei Mascha Kaléko, erzählt Anda Eker in einer meisterhaften Sprache märchenhafte Geschichten über Lwów, schwelgt in Träumen, Erinnerungen und Gefühlen und erfindet eine zauberhafte Welt der Wunder: Straßen, die nachts mit dem Mond schweben und wo der Regen melodisch fällt und schluchzt odereinen Park, in dem die Dunkelheit in die schönste und tiefste Nachdenklichkeit versunken ist. In dem Band Na cienkiej strunie vermittelt sie ihre Beziehung zu ihrer Heimatstadt durch die Kraft der bildhaften Sprache, die reich an Metaphern und Kontrasten ist, die zu einem melancholischen und harmonischen Bild verschmelzen. Anda Ekers Lwów Gedichte zeigen deutlich, dass die Dichterin sich mit der Stadt, dem Ort ihrer Kindheit und ihrer Jugend, dem Ort, wo „alles, zum ersten Mal passierte, wo nichts sich verändert“ (EKER, S. 52) identifiziert, obwohl sie innerlich zwischen Polen und Palästina zerrissen ist15. In einer nostalgisch gefärbten Vision stellt sie die Stadt als einen Erinnerungsort dar, in dem jede Straße ihre eigene Geschichte, ein Geheimnis hat. Hier fühlt sie sich mit der polnischen Kultur, mit der polnischen Sprache, in der sie dichtet, verbunden. Ihre dichterischen Bilder von Lwów erinnern an die märchenhaften Schtetl-Bilder von Chagall mit luftigen Liebespaaren, 14

SWIDERSKI weist darauf hin, dass die Dichterin trotz finanzieller Schwierigkeiten nicht bereit ist ihre materielle Unabhängigkeit und ihr Leben als freischaffende Dichterin aufzugeben. (S. 57) 15 ANTOSIK-PIELA zitiert in ihrem Beitrag P. Appenschlak, die im Nachruf über die Sehnsucht schrieb, die Eker empfunden hat – „hier nach Palästina, dort nach Polen”. Während ihres Aufenthalts in Palästina sollte Eker verstanden haben, dass sie auf Hebräisch dichten müsste, um dort wohnen zu können. (S. 36-37.)

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schwebenden Leiterwagen, Geiger auf den Dächern, honiggelben Monden und fliegenden Kühen. Im Gegensatz aber zu intensiven Farben seiner Bilder, dominieren bei ihr eher silberne, goldene, perlige, graue und herbstliche Töne. Im Gedicht Elegja z orjentu do Lwowa (Elegie vom Orient an Lwów) (Eker, S. 29), das Eker während ihres Aufenthalts in Palästina geschrieben hat, kontrastiert sie ihre Erinnerungen an die Heimatstadt und den Geliebten, den sie dort zurückgelassen hat, mit den Gefühlen der Einsamkeit und der Fremdheit, die sie Palästina, dem Land, das zu ihrer neuen Heimat sein soll, empfindet. Sie sehnt sich nach einem herbstlichen Abend in Lwów: „Ich träume von grauen Lemberger Gassen,/ slawischen Dämmerungen, polnischen Monden/ gelben Kastanien – herbstlichen Regen [... ] Ich träume von unseren regnerischen Abenden/ [...]von krummen Laternen und Perlennebel,/ von spielenden Rinnen in meinem Lwów/ plätschernden Dächern, grauen Schornsteinen,/ so vertrauten –so einmaligen“ während sie in einem fremden Zimmer mit hässlichen Möbeln sitzt, in dem sie sich allein, krank und von der Heimat fern fühlt. In der Ballade Ballada o mojej ulicy (Ballade über meine Straße) (S. 35) wird dagegen eine auffällige Diskrepanz zwischen dem nächtlichen, streng geheimen Charakter der „verzauberten und glückseligen“ Gasse, die in der Nacht „mit ihren Gesimsen, Fassaden, Fenstern und Balkons, rudernden Schornsteinen und Rinnen“ mit dem Mond über die schwierige und traurige Welt schwebt und der grauen, verschlafenen, traurigen und alltäglichen Gasse zu der sie am Morgen wird. Eker zeigt ein Mosaik der Einwohner der Stadt: Lampenanzünder, Großmütterchen, eine Verkäuferin. Das Gedicht Elegja o pannie sklepowej (Elegie von einer Verkäuferin) kann man mit dem Gedicht Mannequins von Kaléko vergleichen, denn in beiden Texten werden prekäre Arbeitsbedingungen der Verkäuferinnen geschildert. Eker beschreibt einen Tag aus dem Leben einer verarmten Verkäuferin – Fräulein Helenka – die ihr Haus früh um sieben in „einem kurzen Mäntelchen mit einem altmodischen Kragen und in alten, abgetragenen Gummioberschuhen“ verlässt. Den ganzen Tag muss sie mit einem höfflichen Lächeln Kunden bedienen, beraten und überzeugen, dass die Ware der besten Qualität und die Preise günstig seien. Ähnlich wie die Verkäuferinnen aus Kalékos Gedicht, verkauft sie Waren, die sie sich nie leisten könnte – silberne

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Strümpfe gleiten über ihre Hände während sie selbst alte, dicke und gestopfte trägt. Am Abend zieht sie ihren alten Mantel über ihren dünnen und anämischen Körper und geht ratlos und übermüdet nach Hause. Ihr Zustand und Aussehen stehen im Kontrast zu den vornehmen Kunden und den luxuriösen Waren, die sie jeden Tag verkauft. In der Beschreibung von Fräulein Helenka dominieren solche Adjektive wie: alt, altmodisch, abgetragen, kurz, dick, gestopft, ausgeblichen, eng und hässlich. Die Waren dagegen sind: schön, wunderschön, bunt, gemustert, hell, solide, weich. Warme Handschuhe mit flauschigem Pelz sind aus Leder und goldene, silberne, Strümpfe aus Seiden. Auch die Stadt bildet einen augenfälligen Kontrast zur Beschreibung von der Gestalt der Verkäuferin: sie geht in ihrem kurzen, hässlichen Mantel ratlos durch die glitzernde, belebte Stadt. Während bei Kaléko die Tatsache, dass die Verkäuferinnen, die jung und attraktiv sind, selbst zu einer Art Ware werden, hervorgehoben wird, lenkt Eker unsere Aufmerksamkeit auf den Kontrast zwischen dem Reichtum der Kunden und der Armut des Fräuleins Helenka. Im Gedicht Lampenanzünder16 werden in der ersten Strophe Ort und Zeit der Handlung dargestellt: in durchscheinenden, verträumten, kränklichen, Gassen streckt die Abenddämmerung ihre biegsamen Hände nach dem Abend aus. In diesem mysteriösen und unbestimmbaren Augenblick beginnen ihre Arbeit die geheimnisvollen Märchenfiguren, sich lautlos bewegenden Lampenanzünder, die niemand sieht und niemand hört, denn nur um diese Zeit können die Laternen – Blumen mit dunklen Kelchen – erblühen. Dann gehen die Lampenanzünder langsam und geräuschlos durch Seitengassen und Straßen und verschwinden in der Dämmerung. Keiner weiß von ihnen, keiner hat von ihnen gehört. Beide Dichterinnen schreiben über die überwältigende Einsamkeit, die das lyrische Ich abends oder nachts empfindet. Bei Eker wird das lyrische Ich abends in ihrem einsamen Zimmer mit ihren Erinnerungen an die verlorene Liebe konfrontiert: „Ich habe Angst vor späten Abenden in meinem winzigen Zimmer; die Erinnerungen auf der anderen Seite des 16

Dieses Gedicht steht im starken Kontrast zum kurzen Prosatext von Kurt Tucholsky „Laternenanzünder”, den er als Peter Panter in der Weltbühne (21.04.1925, Nr. 16) veröffentlichte.

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Fensters stehen und schauen mich an, nicken stumpfsinnig mit den Köpfen und haben tote Augen wie unsere verstorbene Liebe.“ (S. 44). In einem anderen Gedicht beklagt sie sich: „Es gibt hier nichts außer meiner Einsamkeit“ und fragt ihren einsamen Nachbarn, der ein schmalziger Tango in seinem Zimmer spielt, nach vergangenen Zeiten. (S. 80) Am Abend hat man Zeit zum Nachdenken, denn während des Tages spielt man die von der Gesellschaft aufgezwungene Rolle: Bei Kaléko heißt es: „Ich bin allein mit meinem Spiegelbild“(S. 56) Eker dagegen macht sich Gedanken über „das Vergangene, das Verlorene, das Unwiederbringliche“, „was nicht passierte, was nicht geschah, was man im Leben zu wenig hatte, was nebenbei war und verloren ging, wovon man träumte, wonach man sich sehnte, was nie passieren wird, was nie passierte.“ (S. 64) Berlin wurde für Kaléko weiterhin ein wichtiges Thema, sowohl im zweiten Gedichtband Kleines Lesebuch für Große als auch in den Gedichten, die nach dem Krieg entstanden. Die Perspektive, aus der die späteren Gedichte geschrieben wurden, hat sich natürlich infolge der Erfahrung der Verfolgung verändert: Berlin wurde zu einem Erinnerungsort, mit dem das lyrische Ich ein ambivalentes Verhältnis verbindet. Anda Eker starb kurz nach dem Druck ihres ersten Gedichtbandes. Die im Nachlass gebliebenen Gedichte wurden von ihrem Vater als Melodia chwili herausgegeben. Auch in diesem Band wird Lwów thematisiert und in einer malerischen Weise beschrieben.

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Aleksandra Bednarowska Two poets, two cities – Berlin and Lwów in the poetry of Mascha Kaléko (1907-1975) und Anda Eker (1912-1936) Summary The paper focuses on two Jewish women poets from the interwar period: Mascha Kaléko and Anda Eker. Both authors, who were born in Galicia, belong to the long tradition of Jewish writers, for whom cities were a source of inspiration and a literary subject. Kaléko who became famous in the last days of the Weimar Republic, published "sociologically relevant poems of everyday life" in popular newspapers and magazines of the time. In her first book of poems Das lyrische Stenogrammheft from 1933, inhabitants of the Metropolis are the focal point of the poems. Kaléko highlights the tension between the glittering world of the big city and reality. Despite brief moments of happiness, the city offers no security, no bright future, but merely a chance to survive. Anda Eker, an unjustly forgotten poet conveys in her first book of poems Na cienkiej strunie her love for Lwów (Lemberg). She associates the city, in which every street has its own history and secrets with her memories. The fairytale-like representation of the city is contrasted with poems in which precarious living and working conditions of urban residents are shown. Keywords: Mascha Kaléko, Anda Eker, Jewish women poets, images of a city in poetry, city landscape, Lwów, Berlin, Galicia, Interwar period, poverty, loneliness, night

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DER METAPHYSISCHE HORIZONT DES GESCHICHTLICHEN IN MANNS JOSEPH-TETRALOGIE UND IN KRLEŽAS BALLADEN DES PETRICA KEREMPUH IM SPIEGEL DER NIETSCHE-REZEPTION Tihomir Engler Josip-Juraj-Strossmayer-Universität Osijek (tengler@ffos.hr) Zusammenfassung Im Beitrag wird das in die romaneske Joseph-Tetralogie eingeflochtene Geschichtsverständnis von Thomas Mann mit demjenigen verglichen, auf dem Die Balladen des Petrica Kerempuh von Miroslav Krleža beruhen. Einleitendend wird die Entstehungsgeschichte sowie die in beiden Werken enthaltene Reaktion der Autoren auf den historischen Kontext, aus dem heraus ihre Werke entstehen, erörtert, um daraufhin das in den angeführten Werken enthaltene Geschichtsverständnis der Autoren zu untersuchen. Dabei wird festgestellt, dass dieses aus ihrer metaphysisch ausgerichteten Vorstellung vom zyklischen Ereignen des Geschichtlichen entspringt, weshalb in beiden Werken ein poetisches „Metaphysion“ aufgebaut wird, dessen Wurzeln in Nietzsches nihilistischem Gedankengut liegen, das sowohl Mann als auch Krleža in ihren Werke zu überwinden versuchen. Der Überwindungsversuch gestaltet sich bei Mann in Form eines künstlerischen Humanitas-Mythos, deren Kerngedanke die Vermittlung zwischen dem Tellurischen und dem Geistigen ist, während sich bei Krleža ein solcher Versuch immer wieder an der Verwurzelung des Menschen in seiner „diluvialen“ Herkunft stößt, die ihm jedwede Form der Vergeistigung der menschlichen Existenz als suspekt erscheinen lässt. Schlüsselwörter: Thomas Mann, Miroslav Krleža, Geschichtsverständnis, Joseph-Tetralogie, Balladen des Petrica Kerempuh, Nietzsche-Rezeption

1.

Produktionsliterarische und historische Verortung der JosephTetralogie und der Balladen des Petrica Kerempuh

Schon ein flüchtiger Blick auf die literarische Produktion von Thomas Mann und Miroslav Krleža genügt, um festzustellen, dass es sich um Autoren handelt, deren Schaffen einen ergiebigen Vergleichsgegenstand abgibt. Trotz der Tatsache, dass Thomas Mann (1875-1955) etwas früher als Miroslav Krleža (1893-1981) geboren ist und infolge dessen sich schon um die Jahrhundertwende als Schriftsteller profiliert, während Krleža seine literarische Produktion etwas später − ab 1914 − entwickelt, sind ihrem Werk und Wirken einige gemeinsame Grundmerkmale eigen. Zum einen

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werden beide Autoren schon in ihrer Jugend durch je eigene stilistische Merkmale ihres Schaffens zu Hoffnungsträgern im jeweiligen nationalen Literaturbetrieb, um in der Zwischenkriegszeit zu führenden nationalen Schriftstellern zu werden. Zum anderen entwickeln beide eine enorme literarische Produktion, die sich im Falle von Thomas Mann auf den Prosabereich beschränkt, während sich Miroslav Krleža in allen Gattungen erfolgreich bestätigt. Darüber hinaus entwickeln beide eine umfangreiche essayistische Produktion, worin sie sich nicht nur mit literarischen und allgemeinkulturellen Themen beschäftigen, sondern auch auf aktuelle gesellschaftliche Ereignisse eingehen. Ähnlichkeiten sind auch in der Entstehungsgeschichte der hier zu besprechenden Werke zu erblicken: Sowohl die Joseph-Tetralogie als auch Krležas Balladen entstehen im ähnlichen historischen Kontext und stellen u.a. eine künstlerische Reaktion auf ähnliche außerliterarische Impulse dar. Angeregt durch Illustrationen des Malers Ebers (vgl. HEFTRICH 2001, 448; KURZKE 2003, 131) wendet sich Mann im Winter 1923/24 der Bearbeitung des Joseph-Stoffes zu, dieser alttestamentarischen, aus der Thora stammenden „Erzählung vom Verkauf, Aufstieg und Wiederfinden des gehassten Bruders durch die Jakobssöhne“ (HEFTRICH 2001, 447). Obwohl sich Mann den Vorarbeiten an dem eingangs nur als Novelle geplanten Werk schon 1926 widmet (vgl. ebd., 449), zieht sich die Arbeit in die Länge: Zum einen wächst der Erzählstoff in die Breite, zum anderen folgen zahlreiche Unterbrechungen infolge der Erledigung von essayistischen Nebenaufgaben. So sind erst im Sommer 1933 die ersten zwei von den zu dieser Zeit drei geplanten Bänden fertig. Der erste Band erscheint im Oktober 1933 unter dem Titel Die Geschichten Jaakobs und der zweite folgt im Frühjahr 1934 unter dem Titel Der junge Joseph. Am dritten Band arbeitet Mann bis Ende August 1936, der dann, betitelt als Joseph in Ägypten, noch im selben Jahr erscheint. Daraufhin folgt eine vierjährige Unterbrechung, wonach auch der letzte, vierte Teil der Joseph-Tetralogie entsteht, der Ende 1943 unter dem Titel Joseph der Ernährer publiziert wird (vgl. ebd., 450-452). Miroslav Krleža betritt das literarische Parkett während des Ersten Weltkriegs, als Thomas Mann durch den Roman Buddenbrooks (1901)

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sowie durch zahlreiche Novellen, deren vorläufigen Höhepunkt Der Tod in Venedig (1911) bildet, schon weltbekannt war. Krleža zieht die Aufmerksamkeit der einheimischen literarischen Öffentlichkeit auf sich zuerst durch expressionistisch intonierte Dramen und Gedichte. Dank Werken wie die Novellensammlung Hrvatski bog Mars [dt. Der kroatische Gott Mars] (1922), das Drama Vučjak (1922), die Dramentrilogie Gospoda Glembayevi [dt. Die Glembays] (1928) und der Roman Povratak Filipa Latinovicza [dt. Die Rückkehr des Filip Latinovicz] (1932) etabliert er sich in den 1920er und 1930er Jahren als führender kroatischer bzw. jugoslawischer Schriftsteller (vgl. VISKOVIĆ 1999b, 569). Im Mittelpunkt der angeführten Werke stehen zum einen die menschenverachtende Erlebnisse aus dem Ersten Weltkrieg, vor allem „Zwang und Ausbeutung, sinnlose Befehle und übertriebene Reglementierung, Blut und Schweiß, hoffnungsloser Überdruss, grenzenlose Resignation, Fehlen von Ziel und Zweck und Sinn des Daseins“ (MATVEJEVIĆ 1978, 10). Dabei werden in Krležas Werken die Erfahrungen von den an die Front − wie jene in Galizien − geschickten kroatischen k. u. k. Soldaten poetisch verarbeitet. Zum anderen gesellt sich diesem Themenkreis Krležas Kritik an der kroatischen kleinbürgerlichen Welt, insbesondere der verlogenen bürgerlichen Moral als Mittel der Verschleierung von sozialen Problemen niederer Schichten. Von Dezember 1935 bis März 1936 arbeitet Krleža an einem Balladenzyklus (vgl. SKOK 1993a, 34), der dann in Ljubljana unter dem Titel Balade Petrice Kerempuha [dt. Die Balladen des Petrica Kerempuh] erscheint. Es ist ein Zyklus von 30 Balladen, der in der zweiten Auflage von 1946 durch weitere vier, schon in den 1930er Jahren entstandenen Balladen erweitert wird (vgl. ebd.). Der Unterschied zwischen der jahrelang andauernden Entstehung der Joseph-Tetralogie und der relativen Schnelligkeit, mit der Krleža seine Balladen schreibt, soll jedoch nicht zu voreiligen Schlussfolgerungen verleiten. Dass die Balladen in wenigen Wintermonaten entstehen, besagt nicht, dass diese aus Krležas momentaner Eingebung heraus entstanden sind und insofern ein Ergebnis kurzfristiger Beschäftigung mit diesem Stoff darstellen, während Manns jahrelange Bearbeitung des Joseph-Stoffes auf

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eine langfristige Auseinandersetzung mit den Schreibanlässen hinzudeuten hat. Im Gegenteil verfolgen beide Autoren in ihren Werken ein und dieselbe, in ihrem bisherigen Opus schon vorhandene Absicht. Die Bestätigung dafür ist im Falle von Thomas Mann in seinem berühmten Essay aus dem Jahre 1926 zu finden. Dort behauptet er: „[...] nun, so sprach ja heute vor Ihnen ein bürgerlicher Erzähler, der eigentlich sein Leben lang nur eine Geschichte erzählt: die Geschichte der Entbürgerlichung – aber nicht zum Bourgeois oder zum Marxisten, sondern zum Künstler“ (MANN 1926, 398). Aus dieser Selbstäußerung geht zweierlei hervor: Zum einen, dass sich Manns gesamtes Opus immer wieder auf ein und dasselbe Grundthema („Entbürgerlichung des Menschen“) konzentriert; zum anderen, dass die Verarbeitung dieses Themas auf einer − politisch gesprochen − weder ganz rechts- noch ganz linksorientierten Weise erfolgt, sondern diese auf Manns genuinen künstlerischen Maßstäben beruht. Ähnlich verhält es sich auch mit dem Schaffen des kroatischen Autors. In der Studie über die Genese des Balladenzyklus weist Kuzmanović darauf hin, dass dessen relativ schnelles Entstehen zum einen das Ergebnis von Krležas jahrelangen vorbereitenden Forschungsarbeiten zur Geschichte Kroatiens sowie zur Literaturgeschichte des kajkawischen Dialekts (vgl. KUZMANOVIĆ 1985, 17) ist. Zum anderen entsprechen die Balladen in ihren stilistischen Merkmalen und in der Handhabung einzelner Motive Krležas anderen, bis zur Mitte der 1930er Jahre entstandenen Werken (vgl. MILANJA 2010, 14). Man kann daher seine vorhergehenden Werke als eine Prolegomena zu den Balladen verstehen, woraus auch „die Logik, beinah das Imperativ zum Entstehen einer solchen Poesie“ (KUZMANOVIĆ 1985, 26),1 erklärbar ist. Obendrein wird der Balladenzyklus von zahlreichen Kritikern als Höhepunkt Krležas bisheriger, wenn sogar nicht seiner gesamten literarischen Produktion bezeichnet, weil u.a. darin auch sein epistemologisches Paradigma auf eine äußerst prägnante Weise zum Vorschein kommt (vgl. MILANJA 2010, 14).

1

Die Übersetzungen der Zitate aus der kroatischen Sekundärliteratur stammen vom Verfasser.

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Demzufolge beschäftigt sich auch Krleža in seinen Werken – Mann paraphrasierend − mit ein und derselben „Geschichte“, deren poetische Verarbeitung er in einzelnen Werken variiert. Um dem Bedürfnis beider Autoren nach dem Erzählen der „einen Geschichte“ in den hier zu besprechenden Werken auf die Spur zu kommen, werden gattungsspezifische Unterschiede in der Gestaltung ihrer Texte – bei Mann die Romanform und bei Krleža die Balladenform – absichtlich vernachlässigt.2 Diese scheinen in der Ausformung der in den Texten enthaltenen Intention nicht eine solche Rolle zu spielen wie die außerliterarischen Herausforderungen, worauf die Autoren mit ihren Texten innerhalb des je eigenen historischen Horizontes reagieren. Den für die Joseph-Produktion entscheidenden historischen Hintergrund bilden der Erste Weltkrieg und die Zeit der Weimarer Republik – von ihrer Gründung bis zu ihrem Untergang im Nationalsozialismus. Obwohl Thomas Mann während des Ersten Weltkrieges die konservativmonarchistische Haltung bis zum bitteren Kriegsende aufrecht erhält, wovon ein umfangreiches Zeugnis Die Betrachtungen eines Unpolitischen sind, entscheidet er sich zuletzt doch zugunsten der neuen deutschen Republik (vgl. SONTHEIMER 2002, 63-79). Dies tut er wie zahlreiche andere „Vernunftrepublikaner“, die den Ausbau der Demokratie in der jungen Republik als einzige Alternative zur bolschewistischen Links- bzw. nationalistischen Rechtsradikalisierung der deutschen politischen Szene befürworten (vgl. GÖRTEMAKER 2005, 48-49). Den Kampf für die Demokratie versteht Mann als Anstrengung zur Schaffung notwendiger Grundlagen für die Erneuerung der deutschen Kultur, die er sich „geistig, von höchster humaner Noblesse [... denkt], formvoll, maßvoll und kraftvoll durch die Intensität ihrer Menschlichkeit“ (MANN 1919, 250). Dabei geht Mann auf Distanz zu den reaktionärkonservativen Kreisen, indem er die „Sehnsucht nach der Synthese […], Wiederverknüpfung und -versöhnung von Seele und Geist“ (Mann 1920, 2

Durch Anwendung einer solchen Zugangsweise möchte man keineswegs die Relevanz formaler Eigenschaften der hier zu besprechenden Werke in ihrem Gesamtausbau unterbewerten. Das Eingehen in die formalen Merkmale der Werke würde jedoch den Beitragsrahmen zusätzlich sprengen.

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595) als unmittelbare Aufgabe gegenwärtiger künstlerischer Tätigkeit versteht, insbesondere nach einer Zeit „fortschreitende[r] Zerstörung aller psychischen Wirklichkeit und seelischen Formen, scheinbar unaufhaltsame[r] Anarchisierung und Barbarisierung der Menschenwelt durch den revolutionären Intellekt“ (ebd., 597). Um ein solches Programm der „Lebensvergeistigung“ verwirklichen zu können, müsse der Geist aufhören, nur sich selbst, das heißt die Zerstörung zu wollen, daß er sich entschließe, fortan dem Leben, der Ganzheit und Harmonie des Menschen, dem Wiederaufbau seelischer Form zu dienen, daß er zur Weisheit werde. Denn Weisheit ist nichts als die Vereinigung von Leben und Wissen, von Seele und Geist. (Ebd., 602)3

Ein solches geistig-humanistisches Verständnis legt Mann Dem Zauberberg, seinem Hauptwerk in der Zeit der Weimarer Republik, zugrunde. Darin lässt er die Hauptgestalt die Folgen der nihilistischen bzw. lebenszersetzenden Wirkung des Vorkriegsgeistes kosten, um ihn im offen gelassenen Romanschluss in den Krieg als Symbol aktueller gesellschaftlicher Umbrüche zu entlassen (vgl. MANN 1924, 971-984). Die im „Donnerschlag“ der Umwälzungen des Ersten Weltkrieges und der Folgezeit zu bewältigende Aufgabe liegt gerade in der – wie oben beschriebenen – Etablierung des humanen Geistes, deren exemplarischer poetischer Entwurf dann zum tragenden Gerüst der Joseph-Tetralogie wird. Dabei reagiert Mann mit der Tetralogie nicht nur auf die Verhältnisse in Deutschland, sondern auch auf jene im europäischen Rahmen. Mit Bedauern stellt er fest, dass sich Europa nach dem Ersten Weltkrieg gegen die humanistische Idee entschieden hat: Man habe sich in mehreren europäischen Ländern „in der überdrußvollen Abkehr von Demokratie und 3

Das Mittel zur solchen Vereinigung erblickt Mann in der Arbeit an der Wiederbelebung der deutschen „Kultur − das ist menschliche Ganzheit und Harmonie; es ist die Vergeistigung des Lebens und das Fleischwerden des Geistes, − die Synthese von Seele und Geist. […] Deutschland als Kultur, als Meisterwerk, als Verwirklichung seiner Musik; Deutschland einer klugen und reichen Fuge gleich, deren Stimmen in kunstvoller Freiheit einander und dem erhabenen Ganzen dienen; ein vielfacher Volksorganismus, gegliedert und einheitlich, voll Ehrfurcht und Gemeinsamkeit, Echtheit und Gegenwart, Treue und Kühnheit, bewahrend und schöpferisch, würdevoll, glücklich, das Vorbild der Völker, − ein Traum, der wert ist, geträumt, der wert ist, geglaubt zu werden.“ (MANN 1920, 603)

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Parlamentarismus“ (MANN 1921, 166) für „Diktatur und Terror“ (ebd.) ausgesprochen, was dann die europäischen Völker immer tiefer in den Abgrund des menschenfeindlichen Extremismus hinunterziehe. Ein solcher Extremismus ist für Mann auch der deutsche Nationalsozialismus, worin er eine ethnische Religion [erkennt], der nicht nur das internationale Judentum, sondern ausdrücklich auch das Christentum, als menschheitliche Macht, zuwider ist und deren Priester zum Humanismus unserer klassischen Literatur sich nicht freundlicher verhalten; er ist völkisches Heidentum, Wotanskult, − feindlich ausgedrückt (und wir wollen uns feindlich ausdrücken) romantische Barbarei (ebd., 169).

Indem sich Mann schon in den 1920er Jahren gegen nationalkonservative Kräfte und für den sozialdemokratischen Ausbau der jungen Republik ausspricht, gerät er „zwischen die Stühle“.4 Zum einen bringt ihm seine demokratische Wende den Vorwurf Konservativer ein, Verrat an der bürgerlich-nationalen Sache begangen zu haben (vgl. GÖRTEMAKER 2005, 56), zum anderen stößt sein Engagement für die nationale Sache im sozialdemokratischen Lager auf Verwunderung. Ungeachtet dessen spricht sich Mann immer offener gegen die nationalsozialistische Ideologie aus, wofür hier stellvertretend der Appell aus seiner Schrift Sieg deutscher Besonnenheit anzuführen ist: Darum verabscheue ich das trübe Amalgam, das sich ‚Nationalsozialismus‘ nennt, dies Falsifikat der Erneuerung, das, hirn- und ziellose Verwirrung in sich selber, nie etwas anderes als eben Verwirrung und Unglück wird stiften können, diese 4

Als Beleg bewusster Einnahme einer solchen unbestimmten politischen Position, die sich mit der Zeit zwischen den bürgerlich-konservativen und sozialdemokratischen Einstellungen einpendelt, kann auch Manns Äußerung gegenüber Nietzsches Schwester nach Veröffentlichung der Betrachtungen eines Unpolitischen dienen: „Ich sitze ein wenig ‚zwischen den Stühlen‘, - den Konservativen bin ich zu literarisch und den Literaten zu reaktionär, eine Situation, auf die ich übrigens geradezu wert lege“ (Brief an Elisabeth Förster-Nietzsche aus Oktober 1918; zit. nach HEINE/SCHOMMER 2004, 85). Ein solches Sitzen zwischen den Stühlen ist die beste Umschreibung von Manns politischer Position, denn sein Eintreten zugunsten der sozialdemokratischen Weltansicht bedeutet keine Wandlung zum Sozialdemokraten. Thomas Mann bedient sich des sozialdemokratischen Gedankenguts nur äußerlich, um dessen Bestimmungen mit dem eigenen Gedankengut zu amalgamieren. Auf diese Weise legt sich Mann ein Mittel zurecht, womit er den libertinistisch-humanistischen Impetus seiner Werke zusätzlich politisch untermauern kann. Zu Manns Position „zwischen den Stühlen“ nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg vgl. SONTHEIMER 2002, insb. 181-189.

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Elendsmischung aus vermufften Seelentümern und Massenklamauk, vor der germanistische Oberlehrer als vor einer ‚Volksbewegung‘ auf dem Bauch liegen, während sie ein Volksbetrug und Jugendverderb ohnegleichen ist, der sich umlügt in Revolution (MANN 1932, 343).

Eine so scharfe Kritik des an die Macht kommenden nationalsozialistischen Regimes bringt Mann zuletzt die erzwungene Exilierung ein, in deren Kontext auch die ersten zwei Bände der Joseph-Tetralogie veröffentlicht werden. Parallel zu Mann reagiert auch Krleža mit seinen Werken auf das sich in Europa anbahnende geschichtliche Missgeschick. Seinen historischen Kontext bilden der Zerfall der Habsburger Monarchie und die Gründung des SHS-Staates bzw. des Königreichs Jugoslawien. Schon beim Versuch als Freiwilliger am Zweiten Balkankrieg teilzunehmen, durchläuft Krleža einen Ernüchterungsprozess in Bezug auf die Idee der Einigung südslawischer Völker unter der Führung der serbischen Königsfamilie Karađorđević (vgl. VISKOVIĆ 1999b, 560-561). Ein solches integrative Jugoslawentum lehnt Krleža mit der Zeit immer schärfer ab, 5 weil dem königlichen Regime nicht nur die Unterdrückung anderer Nationen, insbesondere der kroatischen, eigen ist, sondern auch weil dieses Regime in der Zwischenkriegszeit ein Konglomerat primitivster Balkanismen und skrupellosester Machenschaften der Bourgeoisie charakterisiert, weshalb natürlich damals individuelle Freiheit unmöglich war. Es herrschte ein für irgendwelche Art des kulturellen Überbaus ungünstiges Klima, das dem Progress gegenüber feindlich gesinnt war. [... Es war] ein Land, in dem die Klassen- und Nationalkonflikte schon zur Zeit der Staatsgründung in den Vordergrund kamen, die man seit dieser Zeit bis zum Zusammenbruch im April [1941, Anm. des Verfassers] auf eine autokratische und unterdrückende Weise löste. [...] In Jugoslawien war die Politik Mittel zur Durchsetzung eigener Interessen, das serbisch-saloniker Jugoslawentum wuchs zum politischen Verbrechen als normale Herrschaftsform aus, die Lösung der Nationalfrage war das Gefängnis. Es war die Zeit der inquisitorischen Jagd nach dem Kommunismus [...], man liebäugelte mit dem Faschismus in einer oder anderer Form. (CAR 1963, 129) 5

Vgl.: „Persönlich ist er unzufrieden mit der integralen Euphorie der meisten kroatischen Politiker und der überwiegenden Mehrheit der kroatischen intellektuellen Elite. Er selbst spricht sich für die südslawische Integration aus, jedoch auf Supilos föderalistischen Grundlagen, die den Kroaten ihre Gleichstellung zu garantieren hätten.“ (VISKOVIĆ 1999b, 563)

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Demzufolge bildet den historischen Kontext von Krležas Schaffen und Wirken die Erfahrung nationaler und klassenspezifischer Unterdrückung in Jugoslawien, insbesondere der niederen Schichten wie der Bauern und der Arbeiterschaft. Auf Grund dessen und unter dem Eindruck der Oktoberrevolution spricht sich Krleža für den Kommunismus aus (vgl. VISKOVIĆ 1999b, 565) und wird zum Sammelpunkt der linksorientierten jugoslawischen Intelligenz (vgl. MATKOVIĆ 1988, 45). Als solcher und insbesondere infolge seiner scharfen Kritik des (klein-)bürgerlichen Milieus gerät er in den 1920er Jahren in einen permanenten Konflikt mit „allen bürgerlichen Parteien (sowohl mit jenen regimetreuen als auch oppositionellen)“ (ebd., 46). Diesem Konflikt gesellt sich von Ende der 1920er bis Ende der 1930er Jahre auch jener auf der linken bzw. kommunistischen politischen und literarischen Szene hinzu, weil sich Krleža dem Aufzwingen der aus der Sowjetunion übernommenen Forderung nach realsozialistischer Literatur als dem einzig wahren Literaturkurs der damaligen linksorientierten Intellektuellen energisch widersetzt (vgl. LASIĆ 1989, 153-206; VISKOVIĆ 1999a, 375-402). Der Forderung, dass der Schriftsteller „kein Schriftsteller ist, wenn er kein Kämpfer für die Arbeitende ist“ (MATKOVIĆ 1988, 57), wenn er folglich in seinen Werken das Kollektivbewusstsein der Massen parteiliniengerecht nicht zum Ausdruck bringt (vgl. ebd., 61), widerspricht Krleža mit dem Argument, dass „uns schon jahrhundertlang die ästhetische Erfahrung klar sagt, dass subjektive Neigungen zum Eintauchen in die unentdeckten Schönheiten nicht durch Befehle und Programme bestimmbar sind“ (KRLEŽA 1933, 27), denn „mit pharisäischem Dilettantismus ist das allgemeine ‚Soziale‘ nicht herzustellen, und insbesondere nicht in der Kunst“ (ebd., 31): Im ewigen Zerfall und Aufstieg ist die weltliche Kunst die einzige Eprouvette, um die Wahrhaftigkeit des aktuellen Zustands zu bemessen. Mit der Kunst misst der Mensch den Wert seiner Weltansichten sowie jenen der Weltereignisse ab, mit ihr bewegt er sich durch Dunkelheiten und phosphoresziert auf dem dunklen Boden der Wirklichkeit, indem er mit den Strahlen der Kunst wie mit einem magischen Schwefelauge seinen dunklen Pfad beleuchtet, und so bewegt er sich zwischen den Sternen und so lebt er. (Ebd., 32)

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In dieser Auseinandersetzung auf der jugoslawischen Linken bleibt Krleža seiner Forderung nach freier Wirklichkeitsgestaltung des Künstlers uneingeschränkt treu, so dass er zuletzt wie auch Mann zwischen zwei Fronten gerät: Den Bürgerlichen ist er zu revolutionär, den Kommunisten zu liberal,6 weshalb er immer wieder in heftige Polemiken mit beiden Seiten verwickelt wird. Aus dieser Position des an die Dogmen nicht zu bindenden Künstlers heraus reagiert Krleža auch auf die damals neueste Manifestation der Unvernunft im europäischen Kontext. Dem spanischen Bürgerkrieg7 widmet er im Sommer 1936 einige Balladen, die in die Balladen des Petrica Kerempuh u.a. nicht übernommen werden konnten, weil sich diese schon in Druck befanden. Stilistisch bilden diese jedoch die Fortsetzung des Balladenzyklus (vgl. KUZMANOVIĆ 1985, 13-16). Daraus ist zu schließen, dass den Anlass zum Balladenzyklus nicht nur das in Jugoslawien schon jahrelang praktizierte totalitäre Königsregime, sondern auch das europaweite Aufblühen des Faschismus bildet. In einer von diesen im Zyklus nicht veröffentlichten Balladen unter dem Titel „Strašilo straši gleb europejanjski“ [dt. „Ein Gespenst ängstigt Europas Erdklumpen“], der eine Persiflage zum berühmten Einleitungssatz des Kommunistischen Manifestes ist, steht: „Auf Blutfeldern Spaniens und der Fremde / Kopflos schwimmt Europa wie ein Ertrunkener“ (KRLEŽA 1939, 127). Einer solchen blutigen Kopflosigkeit Europas im damals aktuellen historischen Augenblick durch poetische Gegenentwürfe 6

Vgl.: „Die kommunistische Linke störte an Krleža seine Fokussierung auf die Hinterfragung der menschlichen Intime sowie auf Gestalten, die an den Sinn der kollektiven sozialen Aktion nicht glaubten, obwohl sie die moralische Fäulnis der bürgerlichen Gesellschaft einsahen; ferner war sie wegen des Ausbleibens des revolutionären Optimismus sowie wegen Krležas modernistischen, an Proust angelehnten Erzähltechnik in seinen Romanen besorgt“ (VISKOVIĆ 1999b, 571). Als die Auseinandersetzung Ende 1930er kulminierte, wird Krleža beschuldigt, „dass er von trockistischen und revisionistischen Positionen ausgeht“ (ebd., 574), was damals einer der schlimmsten Vorwürfe der Kommunisten gegen die Feinden in eigenen Reihen war. 7 VUĆETIĆ (1958, 249) weist darauf hin, dass Krleža mit den Balladen „in jener ersten Phase des spanischen Dramas […] auf spanische Ereignisse reagierend, die alle verwundeten europäischen Blutadern öffneten, ein schriftstellerisches Denkmal errichtete, das so riesig und tief war, als ob es Jahrhunderte geschrieben hätten.“

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entgegenzuarbeiten, ist eben sowohl Krležas als auch Manns Absicht. Beide entwerfen ihre Werke vor den sich im aktuellen historischen Kontext auftuenden Abgründen, worin die europäischen totalitären Regime den Menschen durch ihre sich immer offener bekundende Bestialität hineinzustürzen gedenken. Und dennoch verzichten beide Autoren sogar in einem solchen schwierigen historischen Moment nicht darauf, zum einen das Menschliche ganz und gar mit künstlerischen Maßstäben zu messen, zum anderen den damals aktuellen geschichtlichen Augenblick als den einzig wahren Bezugspunkt der literarischen Produktion zu nehmen, woraus und gegenüber dem die künstlerische Bemessung des menschlichen Daseins – wie immer auch dieses kostümiert sein mag – stattzufinden hat. 2.

Das Geschichtsverständnis von Thomas Mann und Miroslav Krleža

2.1 Die mythische Diskursivierung des Geschichtlichen in der JosephTetralogie In der Oberflächenstruktur von Manns Joseph-Tetralogie ereignet sich ein reich bestücktes und bunt ausgemaltes Nacherzählen der biblischen JakobsGeschichte. Im ersten Teil fungieren die im Titel enthaltenen Geschichten Jaakobs als „große, sinnende Rückerinnerung, die sprunghaft die Zeiten wechselnd beginnt und erst dann in eine chronologische Folge mündet“ (KURZKE 2003, 37). Dabei wird die in die Handlung einführende Vorgeschichte dieser altbiblischen Glaubensfamilie von Abraham über Jizchak bis hin zu den Zwillingssöhnen Jaakob und Esau aufgerollt. Es wird ferner berichtet, wie Jaakob seinen Bruder um den Gottessegen bringt, wie er nach der Flucht in den Dienst bei seinem Onkel Laban wegen seiner Tochter Rachel tritt, wie dieser ihn betrügt, indem er ihm in der Hochzeitsnacht anstatt Rahel ihre Schwester Lea unterschiebt, die ihm dann zehn Söhne gebiert, während Rahel, Jaakobs Ausgewählte, unfruchtbar bleibt, bis sie ihm doch im hohen Alter Joseph als Erst- und Benjamin als Zweitgeborenen schenkt, um dann bei der Niederkunft auf der durch Leas gewalttätige Söhne verursachten Flucht vor den Bewohnern von Sichem zu sterben. Nach dieser „belehrende[n] Strafe für Jaakob, der Rahel ohne Maß bevorzugt hatte und dem seine Seele so selbstverliebt

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wichtig war“ (ebd., 38), kehrt dieser nach Kanaan zurück, um dort seine grenzenlose Zuneigung Joseph, dem Ebenbild seiner geliebten Rahel, zu widmen. Diesen breit angelegten einführenden Erzählhorizont verankert Mann schließlich in der Erzählgegenwart, wo Jaakob den jungen Joseph, diesem „Bevorzugten und Erwählten“ (KURZKE 1997, 251), beim Brunnen findet und ihm die oben erwähnte(n) Familiengeschichte(n) erzählt. Diese fungieren als novellistische Einlagen, deren Funktion darin liegt, die Besonderheit der Joseph-Gestalt hervorzuheben. Dabei handelt es sich um eine Gestalt, die „wie frühere Künstlergestalten Thomas Manns ein Narziß [ist], sich selbst reflektierend und bewundernd und der hochmütigen Meinung [ist], alle müßten ihn ebenso lieben wie er sich selbst“ (ebd.). Im zweiten Teil der Tetralogie kommen die ersten verhängnisvollen Auswirkungen eines solchen narzisstischen Hochmuts zum Vorschein. Durch Vaters Bevorzugung ermutigt, reizt Joseph mit seinen Träumen seine Brüder immer mehr, bis sie ihn in eine Zisterne werfen, um ihn dann doch an vorbeiziehende Händler zu verkaufen. Mit ihnen kommt Joseph im dritten Teil nach Ägypten, wo er an „Mont-kaw, den Hausverwalter Potiphars, eines sehr hohen Würdenträgers an Pharaos Hof“ (KURZKE 2003, 43), weiterverkauft wird. Dort steigt er zum Hausverwalter empor, bis er zum zweiten Mal stürzt, weil er der Leidenschaft von Potiphars Ehefrau, Mut-em-enet, nicht entgegenkommt und infolgedessen im Gefängnis landet. Im vierten Teil wird Joseph wegen seines Talents, Träume zu deuten, befreit und zu „Echnatons Oberstem Mund“ (ebd., 49) ernannt, der von nun an allein in ganz Ägypten die wirtschaftlichen Maßnahmen zu bevorstehenden Hungerjahren einzuleiten und ihre Einhaltung zu überwachen hat. Durch Hungersnot getrieben, erscheinen in Ägypten Josephs Brüder, die zuletzt auch Benjamin und Jaakob mitbringen, wonach sich alle in Unterägypten ansiedeln. Die Tetralogie endet mit Jaakobs Verteilung des Gottessegens. Dieser geht jedoch an Juda über, der dadurch zu dem im biblischen Mythos

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verheißenen Stammvater wird, und nicht an Joseph, wie sich das dieser als Junge infolge Vaters grenzenloser Liebe ausgemalt hatte. Joseph muss im Schatten seiner eingebildeten Erwähltheit sogar zweimal in die „Grube“ fallen, um endlich die Erkenntnis zu erlangen, er sei „kein Gottesheld und kein Bote geistlichen Heils, sondern [...] nur ein Volkswirt“ (MANN 1943, 1686). Dementsprechend entpuppt sich Joseph als ein in die Irre Gehender, der auf seinen Irrgängen zuletzt doch noch den richtigen Weg findet. Um das Ausmaß eines solchen Irrgangs und dessen Folgen aufzuzeigen, steigt Mann in der Tetralogie in die seelisch-mythischen Regionen hinunter. Dorthin begab er sich zwar schon in der Venedig-Novelle sowie im Zauberberg, jedoch nur in Form von Träumen (vgl. MANN 1911, 515517; MANN 1924, 677-686). Jetzt möchte Mann aber „[d]as Problem des Menschen […], die Frage nach seinem Wesen, seiner Herkunft und seinem Ziel [... im] Dunkeln der Vorzeit oder in [der] Nacht des Unbewußten“ (MANN 1930, 137) noch gründlicher erforschen. Zu diesem Zweck entwickelt er in der Tetralogie aus „Mythus und Psychologie“ „eine mythische Psychologie“ bzw. eine „Psychologie des Mythus“ (ebd.), weshalb er auch die Handlung in einen synkretisch aufgebauten Kontext einbettet, der aus Elementen jüdischer, ägyptischer, babylonischkanaanitischer, hellenistischer und christlicher Mythenkreise besteht (vgl. KURZE 2003, 95). Die einigende Quelle dieser mythischen Erzählelemente wird schon im einführenden Kapitel des ersten Teils der Tetralogie, im Kapitel „Vorspiel: Höllenfahrt“, dargebracht, wo auch „die den Roman strukturierende Theorie der Geschichte“ (ebd., 34) entwickelt wird. Die zentrale Metapher dieser Theorie ist in den ersten zwei Sätzen des Romans enthalten: „Tief ist der Brunnen der Vergangenheit. Sollte man ihn nicht unergründlich nennen?“ (MANN 1933, 9) Mit der Brunnen-Metapher wird das Verständnis der Geschichte als eine unendliche Kette von Ereignissen entwickelt, die – spiralförmig − immer tiefer in die Vergangenheit führt, eben wie ein in die Tiefe des Wüstensands ausgehobener Brunnen, wobei der Ur-Grund unerreichbar ist: Denn „je tiefer man schürft, je weiter hinab in die Unterwelt des

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Vergangenen man dringt und tastet, [erweisen sich] die Anfangsgründe des Menschlichen, seiner Geschichte, seiner Gesittung, als gänzlich unerlotbar“ (ebd.). Deshalb gibt es nur „Anfänge bedingter Art, welche den Ur-Beginn der besonderen Überlieferung einer bestimmten Gemeinschaft, Volksheit oder Glaubensfamilie praktisch-tatsächlich bilden“ (ebd.). Dementsprechend handelt es sich bei den „Anfängen der Geschichte“ um willkürlich gewählte Momente aus dem Verlauf des menschlichen Lebens in Raum und Zeit, worin einzelne Ereignisse infolge ihrer Wiederholung durch diskursive Praktiken zu „mythischen Geschichten“ verfestigt werden. Als Beispiel solcher mythischen Diskursivierung des menschlichen Lebens steht im „Vorspiel“ der Tetralogie der Disput des Erzählers über den UrAnfang der Welt. Auf seiner Suche nach den Urgründen stößt dieser auf eine Vielzahl von unterschiedlichen Mythen über die Erfindung der Schrift und der Viehzucht sowie über die Sintflut, den Turmbau und das Paradies (vgl. ebd., 26-39). Vor einem solchen Hintergrund erscheint das gesamte Gefüge der biblischen, ägyptischen und babylonischen Sagen über den Ur-Anfang als ein riesiger mythischer Palimpsest, dessen Wahrhaftigkeit nicht feststellbar ist und dessen Endprodukt zahlreiche Mythenvarianten sind. Dabei scheint dieser Palimpsest eine Folge des Eingreifens des (mythischen) Diskurses in zahlreiche (historische) Situationen zu sein, wobei nicht mehr zu unterscheiden ist, welche von diesen Situationen das Original und welche die durch die mythische Wirklichkeitsbewältigung entstandene Kopie ist (vgl. ebd., 20). Auf diese Weise wird schon zu Beginn der Tetralogie die mythische Historiografie als historischer Rahmengerüst des Erzählens dekonstruiert: Das Erzählen wird in ein mythisches Stimmengewirr verwandelt, dessen Wahrhaftigkeit äußerst fragwürdig, dessen zeitlosem Zugriff der Einzelne aber schon immer ausgesetzt ist, weshalb er in die Arbeit des mythischen Diskurses seit eh und je einbezogen ist. Manns Tetralogie liegt insofern ein Geschichtsverständnis zu Grunde, wonach sich Ereignisse im menschlichen Leben zyklisch wiederholen. Ihre Wiederholung bildet die Voraussetzung dafür, dass der Einzelne beim Eintreten in den „Brunnen“ bzw. in geschichtliche Prozesse auf das

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Stimmengewirr (mythischer) Wirklichkeitsdiskursivierung(en) stößt, wodurch sein Leben letztendlich zum Gegenstand der Selbstbestätigung des mythischen Diskurses wird. Demnach wandert man immer wieder – wie Joseph – innerhalb des je eigenen historischen Horizontes auf den Spuren solcher Diskurse, in deren Netz man den Verheißungen des Mythischen wieder und wieder ausgesetzt ist. Auf einem solchen Verständnis des sich zyklisch wiederholenden Ereignens der Geschichte beruht auch Manns romaneske Bearbeitung des Joseph-Stoffes. Deren Anfänge liegen in Abrahams Stiftung der „mythischen Geschichte“ über seine Gotteserwähltheit bzw. in seinen daraus resultierenden Wanderungen, auf denen sich das Mythische in Abrahams Seele verfestigt. Dabei werden die reale Zeit und der reale Raum zum zeitlosen „Jetzt und Hier“ (ebd., 31), deren Zeit- und Ortungebundenheit die Wiederholbarkeit der mythischen Vorlage ermöglicht, bis sich der mythische Diskurs der konkreten Wirklichkeit zuletzt derart bemächtigt, dass er sich darin als die einzige Wahrheit einschreibt und zur Deutungsmatrize konkreter Lebenskonstellationen einzelner Menschen wird. Demgemäß wird in Manns Tetralogie als epistemologisches Ausgangsparadigma die mythologische Diskursivierung der Wirklichkeit angeboten, welche die Geschichte als einen spiralförmigen, sich zyklisch wiederholenden Ablauf von historischen Situationen und Lebenskonstellationen erscheinen lässt, deren vexierbildhafte Bestandteile sich der Mensch im Rahmen der Arbeit des mythischen Diskurses maskenartig, und das heißt unpersönlich, aneignet. Die Auswirkungen einer solchen Arbeit lässt Mann in seiner Tetralogie die Joseph-Gestalt spüren. In seiner Jugend „bei minder genauer Geistesverfassung, des Nachts etwa, bei Mondlicht“ (ebd., 17), taucht Joseph ins Netz der ihm weitergereichten mythischen Vorstellungen ein, um darin der mythischen Diskursivierung der eigenen Person zu unterliegen: Ausgehend von der uneingeschränkten Liebe des Vaters, versteht er seine Lebensaufgabe als die des heilbringenden Erwählten, an den man „den Segen von oben“ weiterzureichen gedenkt. Dabei steigert er

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sich in diese Rolle ein, ohne Verständnis dafür aufzubringen, dass er damit nur zu einer Jaakob-Imitatio wird, die gleichwohl nur eine Imitatio, und zwar misslungene, des „Ur-Mannes“ bzw. Abrahams ist. Jaakob ist aber nicht wie Abraham der starke Mann des Glaubens, was u.a. im Prüfungs-Kapitel des ersten Teils gezeigt wird (vgl. ebd., 105). Als Jaakob der biblisch-mythischen Vereinnahmung seiner selbst unterliegt und sich wähnt, Gottes Stimme zu hören, die ihn wie Abraham einst dazu aufruft, dem Gott sein „ein und alles“, und das heißt seinen Lieblingssohn, zu opfern, ist er nicht im Stande, die mythische Opferprüfung in Form der Abraham-Imitatio zu leisten, sondern lässt das Messer aus der Hand fallen, bevor die Stimme Gottes dem Mythos nach zu ertönen hatte, um ihn aufzuhalten. Es ist ein offenkundiges Versagen gegenüber der mythischen Deutungsmatrize, ein Versagen, das im Text damit begründet wird, dass Jaakobs „Liebe stärker denn [s]ein Glaube [war]“ (ebd., 106). Insofern beruht Manns romaneskes Nacherzählen der Joseph-Gesichte auf einer grundlegenden Verkenntnis: In Jaakobs Zuneigung zu Joseph spiegelt sich nicht der himmlische, von Abraham herrührende Segen Gottes wider, sondern die unermessliche Hingabe Jaakobs an seine Frau Rahel, wodurch schon hier die Problematik des Tellurischen angesprochen wird.8 Denn durch Jaakobs grenzenlose Liebe zu Rachel bzw. Joseph wird zum einen die Verankerung des menschlichen Lebens ausschließlich im GöttlichGeistigen in Frage gestellt; zum anderen ist dies der Ausgangspunkt, aus dem heraus sich Joseph in die mythischen Spuren seiner Vorfahren begibt, wähnend irrenderweise, er habe sich auf diesem Weg die Rolle des Erwählten anzueignen.

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Beim Begriff des Tellurischen handelt sich um eine Entlehnung u.a. aus Manns Essay Goethe und Tolstoi, worin zwischen Schillers nach Freiheit strebendem „Aristokratismus des Geistes“ (MANN 1921, 96) und Goethes „tellurischer Abhängigkeit“ (ebd., 97) unterschieden wird, die sich nach Mann in Goethes „erdadeligem Stolz“ (ebd., 96) spiegelt und die zur Grundlage seiner „Antäus-Natur“ (ebd.) wird. Dementsprechend versteht man unter dem Begriff des Tellurischen die Erdgebundenheit bzw. Erdverbundenheit des Menschen, aus der heraus nach Mann − wie am Beispiel von Goethes Schaffen – die Bewältigung „der tellurischen Unterwelt“ (MANN 1939, 852) des Menschen zu erfolgen hat.

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Um sich der Verkehrtheit der Inanspruchnahme des mythischen Diskurses in seinem Fall bewusst zu werden, muss Joseph zwei Mal in den „Brunnen“ fallen: Zuerst in die Zisterne, wo seine exzentrische Ausgerichtetheit auf die geistige Selbstbezogenheit seiner Persönlichkeit zum ersten Mal erschüttert wird, um danach ins „Ägypterland“ zu gelangen, in dieses Land „des Todes, des Sumpfes, der Dunkelheit und der mutterrechtlichen Unterwelt“ (KURZKE 1997, 251). Dieses Land fungiert als Sinnbild des ausschließlich an die Erde gebundenen und dieser verbundenen Existenz, als Sinnbild der ganz und gar tellurischen Verankerung des menschlichen Lebens, der Joseph anhand seiner mythisch-geistigen Vorstellungen von eigener Gotteserwähltheit ablehnend begegnet. Den Höhepunkt der Auseinandersetzung zwischen diesen zwei Arten mythischer Diskursivierung der Wirklichkeit bildet „die dionysischtellurische Versuchung durch Mut-em-enet“ (ebd.), der Joseph nur teilweise widersteht. Denn in seiner Seele waltet noch immer zum einen der „artistische Hochmut“ (MANN 1936, 1146) als Sinnbild der einseitigen, das Tellurische ausschließenden Ausrichtung seines Lebens. Zum anderen bewegt Josephs Hochmut ihn dazu, Muts Nähe zu suchen, um „ein Virtuosenstück der Tugend zu vollbringen“ (ebd.), worin er noch immer ein verkennendes, ich-fixiertes Versuchungsspiel mit dem „SittlichGeistlichen“ treibt. Beide Verfehlungen führen ihn dann zum zweiten Mal in die „Grube“ hinein. Erst nach diesem zweiten Sturz erkennt Joseph seine wahre Aufgabe. Diese ist zwar schon von Anfang an in seiner Fähigkeit präsent, Träume zu deuten, jedoch kommt diese erst am Ende der Tetralogie zum vollen Einsatz. Dabei entspricht Josephs Traumdeutung der apollinischen Fähigkeit des Künstlers, sich durch Handhabung künstlerischer Mittel in das Stimmengewirr im „Brunnen“ einzumischen, um anhand eigener, künstlerischer Diskursivierung der Wirklichkeit das Wesentliche an ihr aufzuzeigen und somit der entpersonalisierenden Vorgehensweise des mythischen Diskurses entgegenzuwirken. Dementsprechend liegt Josephs Funktion nicht in der mythischen Abraham-Imitatio, die ihm am Anfang der Tetralogie als Deutungsmuster seiner Person vorgelegt wurde und an der schon sein Vater scheiterte, sondern darin, seinen eigenen Weg im

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Stimmengewirr der im „Brunnen“ Wirklichkeitsvereinnahmung(en) zu finden.

stattfindenden

mythischen

Eine solche Suche nach dem eigenen Weg beruht nicht zuletzt auf Manns Verständnis der Geschichte, wonach historische Ereignisse und konkrete Lebenskonstellationen im spiralförmigen Verlauf von Generationen in zeitund ortungebundene matrixhafte Deutungsmuster eingebettet werden. Diese verfestigen sich infolge der Wiederholung von Ereignissen zuletzt zu „mythischen Geschichten“, in denen sie dann mit ihren Verheißungen auf den Einzelnen lauern, um sich seiner innerhalb seines jeweiligen historischen Horizonts zu bemächtigen. 2.2 Die tellurische Ausrichtung des Geschichtlichen in Krležas Balladen des Petrica Kerempuh Wie einleitend erwähnt, besteht Krležas Werk aus insgesamt 34 Balladen, deren Inhalt sich gleichwohl wie in Manns Joseph-Tetralogie innerhalb eines schon verflossenen historischen Horizonts ereignet. In zahlreichen Balladen wird die Handlungszeit sogar durch die dem Titel zugefügten Zeitangaben wie z.B. „AD 1570“ (KRLEŽA 1936, 7) konkretisiert, so dass in den Balladen ein historischer Rahmen aufgebaut wird, der vom 16. bis ins 19. Jahrhundert hinein reicht (vgl. MILANJA 2010, 19-20). Innerhalb dieses Rahmens wird das Leben der in Nordwesten Kroatiens ansässigen Bauern bzw. Leibeigenen dargestellt. Es handelt sich aber um keine idyllisch-pittoreske Schilderung des ländlichen Lebens, sondern um die Wiedergabe eines äußerst düsteren Bildes des bäuerlichen Alltags, der durch schwere Arbeit, Armut und soziale Ungerechtigkeit bestimmt ist, was auch den Grundton der Balladen ausmacht. Zum einen sind die Bauern von den Launen der Natur abhängig, die ihre ganzjährige Arbeit durch Dürre, Hagel und Überschwemmungen im Nu zugrunde richten kann, wie dies in der Ballade „Am Bärenberg“ beschrieben wird: Am Bärenberg, wie Kater träge, zieh’n sich Wolken, schwarze, schräge, wieder gibt es Hagelschläge,

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als wenn’s am schwarzen Kater läge. Wie’n Zelt wölbt sich die Wolkenwand, schlimme Zauber zieh’n ins Land. All das besieht der Bauer, vergebens, armer Tropf. Es peitscht ein Wind, ein rauer, mit Blitz und Hagelschauer, treibt Vögel gen die Mauer. Drin geht verlor’n all unser Korn, der letzte Hafertopf. (KRLEŽA 1936, 66)

Das weitere, noch größere Übel stellt die Ausbeutung der Bauern dar: Steht’s nicht unter Wasser und ist’s nicht abgebrannt, vernichtet dir das Feld der deutsche Protestant, Hassan-Khan, Tatar-Khan, aus Ofen der Sinan, oder unser Landeshauptmann, der Bärensteiner Ban. (Ebd., 66)

In diesem sozial-historischen Rahmen bestimmen zwei Konstanten das Leben der Bauern. Zum einen ist das das soziale Gefälle der feudalen Gesellschaft, worin die Bauern v.a. die Abgabelast plagt, die in der Ballade „Das Klagelied von der Steuer“ penibel aufgezählt wird, um deren ungeheuren Umfang darzutun. Dabei wird in dieser Ballade die Besitzlosigkeit der Bauernschaft in ironischer Spiegelung auf die Spitze getrieben: „Küss die Hand, Herr Graf, das trifft sich doch fein, / was mir gehört, soll Euer sein: mein Hab und Gut, / meine Beute, mein Dach und mein Leben obendrein!“ (ebd., 21). Dementsprechend wird das Leben der Bauern im Balladenzyklus durchgängig als eine schreckliche, infolge der Ausbeutung der Herrschenden an der Grenze zum Hungertod stehende Daseinsform dargestellt, worin Rebellion mit Foltern oder Tod bestraft wird. Dies ist schon aus der einführenden Ballade „Petrica und die Galgenvögel“ ersichtlich, wo die narrative Hauptgestalt der Balladen, Petrica Kerempuh, unter den drei am Galgen hängenden Vagabunden in sarkastisch-grotesker Manier eines Till Eulenspiegels das leid- und qualvollen Leben der Bauern besingt:

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Scheiterhaufen, Galgen, Stöcke schweflig heiße Totenwagen, Schandpfähle und Blöcke und so viele andre Plagen, im Turm und im Käfig der blutigen Parade, für den Knechtskopf ein Tanz ohne jegliche Gnade, […] Bei allen Wunden, Tränen, blutigen Andenken, zerbrochenen Knien, ausgerenkten Gelenken, im Schädel ein Loch, am Galgen noch Bedenken, das alles kann der liebe Gott sich doch schenken, wo die Bischöfe gleich plappernden Papageien unterm Galgen erbitten sein’ Segen fürs Kasteien. (Ebd., 8)

Eines der in den Balladen unmittelbar angesprochenen historischen Ereignisse ist der in der kroatischen Geschichte bekannteste Bauernaufstand aus dem Jahre 1573, der die ganze Region in Aufruhr setzte, der aber von adeligen Truppen rasch und brutal niedergemetzelt wurde. Mit der Einbettung des Balladeninhalts in die blutige Niederwerfung des Bauernaufstandes wird die aussichtlose Lage der Bauern betont, für die es kein Herauskommen aus der ständisch gegliederten Gesellschaft gibt, weshalb sie – der Brutalität und blutrünstigen Mordlust der Herrschenden ausgeliefert – nur eine Stufe höher als das zu schlachtende und den Wohlgeborenen aufzutafelnde Vieh stehen. Die Blutrünstigkeit der Machthaber wird u.a. in der Ballade „Auf der Folter“ beschrieben, deren Inhalt auf der Rekonstruktion der Vernehmungsprotokolle von Bauernrebellen von Anno Domini 1573 fußt und worin die Resignation der aufständischen Bauernschaft äußerst prägnant ausgedrückt wird: Warum haben wir uns erhoben? Weil wir mussten, weil wir nichts anderes wussten! Was hätten wir denn tun sollen? (Ebd., 74)

Dabei wird in der Antwort eines der Aufständischen „der verfluchte Ruf des Blutes“ als letztendlicher Beweggrund zur Rebellion angeführt: Das Blut raubt mir den Schlaf, das Blut schläft nie und schlummert nie ein, wie ein Wespenstich brennt seine Glut.

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Wie aus ’ner Zisterne, Zuber um Zuber, entzieht uns der Henker fassweise Blut. Es fließt wie das Wasser, wie eine Straße, klappert wie’n Mühlrad, strömt mit der Flut, wir folgen seinem Ruf wie unsrem Fluch. (Ebd., 75)

Das blutige Schicksal der Bauernschaft wird mit äußerstem Fatalismus dargestellt, obwohl Krleža es nicht versäumt, immer wieder die zentrale Frage des gesamten Balladenzyklus ertönen zu lassen: Blut, dieses salzige Stubitzer Bauernblut, Dieses pechschwarze, rote, stinkende, zähe Blut, warum rinnt dieses dumpfe, fette, blinde, fürchterlich laue Blut? Dunkles, tiefes, bitteres Blut; warum und wozu fließt es nun? (Ebd., 72)

Das Blut wird sowohl zur zentralen Metapher des Balladenzyklus als auch zum Mittelpunkt des balladesken Erzählens von Petrica Kerempuh.9 Dieser kehrt immer wieder zu diesem Motiv zurück, um aus ihm heraus in den Darstellungen zahlreicher Episoden aus der Geschichte des nordkroatischen Bauernvolkes nach der Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Blutvergießens zu suchen, wobei er nichts anderes findet, als weitere diesbezügliche grausame Beispiele. Dem Motiv der Grausamkeit und der Blutdurst feudaler Herrscher gesellt sich in den Balladen als zweite Konstante im Leben der nordkroatischen Bauernschaft das Kriegsmotiv hinzu.10 In einer Reihe von Balladen wie im „Lied der Totengräber unter der Feste Sissek“ oder in „Carmen antemurale Sisciense“ wird das gleichwohl aus der kroatischen Geschichte stammende Motiv der jahrhundertlang andauernden Stellungskämpfe mit den osmanischen Truppen auf ihrem Vordringen nach Mitteleuropa verarbeitet, 9

Vgl.: „In der Tat, das ist – trocken gesagt – das blutige Blut, nacktes, völkisches, bäuerliches Blut, das durch die riesige Bewegung der Jahrhunderte als ihr Wesen fließt“ (VUČETIĆ 1958, 256). Ferner: „In den Balladen des Petrica Kerempuh sind mehrere Grundmotive miteinander verflochten, die ständig um Krieg, Blut und Nebel als einem natürlichen Szenenrahmen tragischer Ereignisse im jahrhundertlangen Kontinuum kreisen“ (CAR 1963, 113). 10 Dabei stellt die Kriegsthematik in den Balladen „die Fortsetzung, Erweiterung und Vertiefung von Krležas intimen Obsessionen aus den Kriegstagen“ (ŠICEL 1974, 66).

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worunter gerade Kroatien als Pufferzone zwischen dem christlichen Westen und dem islamisierten Balkan vom 15. bis zu Ende des 18. Jahrhunderts sehr zu leiden hatte. Auch dieses Motiv ist eng mit dem Leben des einfachen Volkes verbunden, weil dieses in den Türkenkriegen – wie im „Lagerlied“ dargestellt – entweder dem Kriegsgott als soldatisches Fraß vorgeworfen wird oder zum Opfer des Frondienstes bei der Errichtung von Fortifikationsanlagen, der Plünderungen sowie der Vergewaltigungen und der Mordlust der aus allen Herren Ländern stammenden und durch Kroatien schwadronierenden Truppen wird. Es sind Antikriegsballaden, in deren Mittelpunkt abermals das sinnlose Blutvergießen steht: alles war zerrissen, zermalmt und zerschlissen, wie’s der Teufel in der Mühle macht, wenn er ’s Mehl mit Asche mengt, zu Aschermittwoch die Totenfeier lenkt, Sündern am Balken die Gelenke verrenkt, dass nichts mehr übrigbleibt nach der Schlacht, und niemand mehr erkennen kann, wer Knecht war, wer in Adelspracht! (Ebd., 80-81)

Im Balladenzyklus entwirft Krleža auf diese Weise ein thematischsprachliches Panoptikum der „sprachlichen und allgemeinen kulturellen Geschichte der kajkawischen Regionen“ (ŽMEGAČ 1986, 161) Kroatiens, worin die „Autochthonität der nordkroatischen gesellschaftlichen und historischen Substanz“ (MILANJA 2010, 18) zum Ausdruck kommt. Um die Authentizität des Geschilderten noch zusätzlich zu stärken, bedient sich Krleža der kajkawischen Mundart,11 das heißt der dialektalen Sprachvariante aus Nordwesten Kroatiens, und nicht der kroatischen Schriftsprache. Durch solche Sprachverwendung setzt er auf der metapoetischen Ebene der Balladen die in dieser Region schon seit dem Spätmittelalter immer wieder aufkeimende Rebellion gegen die sozialen Ungerechtigkeiten fort. 11

Das Kajkawische ist eine der drei kroatischen Mundarten, die neben der kroatischen Standardsprache existieren. Die kajkawische Mundart wird im Nordwesten Kroatiens, die tschakawische Mundart in Istrien und in einzelnen Teilen des Küstenlandes und die stokawische Mundart in Slawonien, Lika, im südlichen Dalmatien, Dubrovnik und in Teilen von Bosnien und Herzegowina gesprochen.

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Auf eine solche metapoetische Absicht der Balladen verweist schon ihr Erscheinungsjahr: Diese werden im Jahr des hundertjährigen Jubiläums der Einführung der stokawischen Mundart als kroatische Standardsprache veröffentlicht. In den 1830er und 1840er Jahren etablierte sich nämlich in Kroatien im Rahmen der „Illyrischen Bewegung“, deren politisches Ziel die Einigung aller südslawischen Völker war, das Stokawische als kroatische Schriftnorm. Dabei inkludiert Krležas Sprachwahl auch eine historiographische Absicht: Durch die Verwendung des Kajkawischen anstelle der kroatischen Standardsprache bereitet er den Boden vor, um die bis dato ausschließlich positive Bewertung der südslawischen Einigungsbewegung in der kroatischen Historiographie in Frage zu stellen. Diese Bewegung wurde und wird noch immer als eines der zentralen Ereignisse in der Geschichte Kroatiens verstanden, weil in der Situation der österreichischen bzw. ungarischen Fremdherrschaft das nationale Bewusstsein nur noch durch den die slawische Bevölkerung einigenden Spracherhalt getragen werden konnte. Dem feudalen Gepräge der damaligen Gesellschaft entsprechend stammten jedoch die Wortführer dieser Bewegung sowie ihre Nachläufer aus den feudalen Kreisen bzw. aus den diesen durch ihre Interessen nahestehenden wohlhabenden bürgerlichen Schichten. Daher bestand auch die kroatische Historiographie zu Krležas Schaffenszeit aus glorifizierenden Darstellungen dieser in Kroatien den Ton angebenden Familien. Demgegenüber wird in den Balladen, indem darin der in der geschichtlichen Entwicklung Kroatiens verschütteten Mundart samt deren niederen Schichten, die sich dieser Mundart bedienten,12 ihre Stimme 12

Vgl.: „Zuerst ist festzustellen, dass die Balladen keine dialektale Poesie im üblichen Sinne sind. Die Sprache der Balladen ist eine künstliche Schöpfung, die durch gelungene Verflechtung des Vokabulars der alten kajkawischen Literatur, des erhaltenen Archivmaterials und der gesprochenen Merkmalen einzelner kajkawischer Mundarten entstanden ist, die bis heute ihre archaische Formen erhalten haben. […] Auf diese Weise wurden die Balladen durch die Patina der ‚alten guten Zeiten‘ bereichert, zugleich jedoch in einer Sprache geschrieben, die auch zeitgenössisch ist: durchdringlich, einfach und elastisch.“ (CAR 1963, 112)

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zurückgegeben wird, zugleich die offizielle kroatische Historiographie, und insbesondere die historischen Mythen, auf denen sie aufgebaut ist, auf schärfste kritisiert. Den Höhepunkt dieser Kritik bildet die den Zyklus abschließende Ballade „Das Planetarium“, worin sich die Dichtergestalt im Nebel verliert, um dort dem aus Blut und Rauch bestehenden „Inferno der gesamten kroatischen Geschichte“ (SKOK 1999, 167) beizuwohnen: Und im Nebel, da sah ich, da sah ich im Nebel: Wie ein Blinder im Nebel geht Zrinski nach Wien. Bald ist sein Leben, bald ist sein Leben, bald ist sein Leben für immer dahin. Auch Jelačić, den Ban, und auch Herrn Gaj, sah ich im Nebel: Nach Wien geh’n sie fort: dort wer’n sie spucken, dort wer’n sie spucken, dort wer’n sie spucken aufs eigene Wort. (KRLEŽA 1936, 118-119)

Neben Zrin, Jelačić und Gaj finden in den Balladen weitere Größen aus der kroatischen Geschichte wie „Strossmayer, Mažuranić, Khuen, Chavrak, Bresztensky, Kršnjavi, die Illyrer mit ihrem nebligen Südslawentum, Unionisten mit hungarophilen Ideen sowie die Vertreter der Volkspartei mit ihrer Verständigungs- und Kompromisspolitik“ (SKOK 1999, 168) Erwähnung. Dabei wird ihre geschichtliche Position und Funktion in einer bitter ironischen, teilweise grotesken Weise desavouiert, indem ihnen nicht nur politische Blindheit, sondern auch „Karrierismus, Unterwürfigkeit, moralischer Defätismus, Ehr- und Ruhmbegierde, Eigensucht und Mangel am Nationalbewusstsein“ (ebd.) vorgeworfen wird. Die Mitglieder der gesamten politischen Oberschicht Kroatiens, die seit dem 16. Jahrhundert angeblich für die Freiheit des kroatischen Volkes kämpften und trotzdem allemal erfolglos blieben, werden als „Larventräger“ bzw. „vermummte Gelehrten“ (KRLEŽA 1936, 120) der Fremdmächte bezeichnet, denen diese in Kroatien als Handlanger dienen. Aus dieser Perspektive pointiert Krleža, sei „diese Ruhmesparade im illyrischen Hort“ (ebd., 121), das heißt die gesamte Illyrische Einigungsbewegung, „Wiedergeburt nicht, nicht roter Triumph, / der Hauch eines Toten nur, blutig und dumpf“ (ebd.), dessen Opfer das kajkawische „toterniedrigte Wort“ (ebd., 123) samt sich seiner bedienenden Unterschichten ist, deren Schicksal im „Nebel“ der Geschichte nur Unterdrückung war und bleibt.

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Mit einer solchen Kritik unternimmt Krleža den zu dieser Zeit in kroatischer Literatur einzigartigen Schritt in Richtung der Etablierung der „Geschichtsschreibung von unten“,13 worunter die Darstellung historischer Ereignisse aus der Perspektive der unterdrückten sozialen Schichten verstanden wird. Dementsprechend (re)konstruiert Krleža in den Balladen die Geschichte als Ereignis des einfachen Volkes, um ausgehend von dessen Leiden zum einen die zum Mythos gewordenen Inhalte der Nationalhistoriographie als persönlichkeitsbezogene Lügengebäude zu verstoßen und zum anderen die leidenden Unterschichten als die eigentliche Substanz der Geschichte – sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart – zu präsentieren. Insofern fließt die in den Balladen enthaltene Kritik des sozialen Gefüges auch in den gegenwartsbezogenen kulturellen und sozialpolitischen Diskurs der 1930er Jahre ein. Mit dem Balladenzyklus wird nicht nur gegen die im 19. Jahrhundert aufgezwungene Sprachnorm rebelliert, bzw. die sich an die sozialpolitischen Eliten orientierende Historiographie als eine das Leben des einfachen Volkes verschweigende und insofern als falsifizierende Geschichtsschreibung dargestellt, sondern werden zugleich die Lebensbedingungen im Königreich Jugoslawien des 20. Jahrhunderts kritisiert. Dass die Kritik gegen das diktatorische Regime des Königreiches, wie es sich in Jugoslawien in den 1920er und 1930er Jahren ausbildete, und nicht so sehr gegen die Idee des Zusammenlebens unterschiedlicher südslawischer Völker in einem Staat gerichtet ist, bezeugt wiederum das Grundthema der Balladen: Die Darstellung der blutigen Unterdrückung und Ausbeutung der Bauern, die ihre mittelalterlichen Ketten noch in der Gegenwart zu tragen haben. Denn die Ausbeutung und Unterdrückung geht in Jugoslawien weiter, weil jede politische und soziale Opposition gegen das königliche Regime mit Haft bzw. die Herausgabe von sozialkritischen 13

Vgl.: „Die Balladen sind unsere erste plebejische, dichterische, emotionale Geschichte. Sie stellen die Opposition und Negation beinah aller bisherigen offiziellen historischen Interpretationen der kroatischen Geschichte dar. Der geänderte Blickwinkel auf geschichtliche Ereignisse, Etablierung neuer Maßstäbe und Wertungen, Demystifizierung des falschen Pathos, der Etiketten und Vergoldungen aus dem Fundus der kleinbürgerlichen historischen Schemen sind schon aus zahlreichen früheren Prosawerken von Krleža bekannt.“ (KUZMANOVIĆ 1985, 37)

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Büchern und Theateraufführungen – wie im Falle von Krleža selbst – mit Zensurverboten auferlegt wird (vgl. VISKOVIĆ 1999b, 565, 568, 570-571). In Jugoslawien scheint sich demzufolge der geschichtliche Kontext für kroatische Unterschichten wenig geändert zu haben, außer dass als Machtzentrum anstelle von Wien und Budapest nun Belgrad kam. Insofern stellen die Balladen eine poetisch-polemische Schrift dar, dessen brisante Schärfe man sofort erkannt hatte, wobei der Balladenzyklus auch noch heute zu den Höhepunkten von Krležas Schaffen gezählt wird. Nimmt man jedoch Krležas Gesamtopus ins Visier, dann ist festzustellen, dass darin die balladeske Darstellung der kajkawischen Bauernschichten keinen Ausnahmefall bildet. Im Gegenteil, in den Balladen wird ein Motiv verarbeitet, das in Krležas anderen Werken immer wieder vorkommt und variiert wird. Es ist das „Motiv des menschlichen Leidens inmitten allgemeiner Infernalisierung der Lebensumstände“ (MATVEJEVIĆ 1971, 183). Das Infernalisierungsthema bezieht sich jedoch nicht nur auf die Position der Unterschichten in der kroatischen bzw. jugoslawischen Region, sondern scheint Krleža darin eines der Grundmerkmale der europäischen Geschichte zu erblicken,14 dessen Schatten infolge des Aufkommens von totalitären Regimen in einer Reihe von europäischen Ländern auch auf Europas Gegenwart lasten. Auf die paneuropäische Verbundenheit von Krležas Darstellung des Leidens in Nordwesten Kroatiens weist Kuzmanović in seinem Vergleich unterschiedlicher Varianten der Beschreibungen von Kriegsschauplätzen in Krležas Opus hin. Als markantes Beispiel soll folgender Auszug aus einer von Krleža mehrmals variierten Impression zu seiner Zugreise durch Nordwesten Kroatiens dienen: 14

Eine solche Infernalisierung ist in Krležas Werken weder orts- noch zeitgebunden: „Es gibt keine andere Zeit (sowohl hier als auch in den Balladen) als dieses wahnsinnige kaleidoskopische Umwühlen, worin sich nur Tod, Blut und Tränen in all ihren Kombinationen und Aufstellungen zeigen. Die Allzeit des Bildes (Allzeit seiner Darstellung, seines Inhalts) bedeutet die Allzeit des feudalen Terrors und des Martyriums der Leibeigenen“. (KUZMANOVIĆ 1985, 35-36) Denn, „die Geschichte hat hier nur eine zeitliche Ebene – die des Präsens – und nur ein Zeichen – das der Gewalt“ (ebd., 100).

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Brabant zur Blütezeit der Antwerpener Republik weist eine Reihe von bestimmen Berührungspunkten mit unserer Region (um Koprivnica) auf. Immer, wenn ich im Winter durch diese Provinz fahre, kommt es mir vor, als ob die Eisenbahn sich in einen großen Rahmen einer von Brueghels Schneekompositionen hineinbohrt. Dächer der Bauernhütten aus Stroh, unter denen Rauch hervorquillt, das Leben, das sich in seiner primitiven Zusammensetzung erst neulich in den Boden eingegraben hat und sich zu entwickeln begann, gemauerte Glockentürme und römisch-katholische Friedhöfe, dicker, schwarzer, fruchtbarer Boden Brabants und Bauern, Viehzüchter, Winzer, rötlich, mit Blut überladen, mit Baril Wein, mit Würsten und Knoblauchkränzen. Immer pisst jemand, jemand kotzt und jemand baumelt auf dem Galgen. Und über das Land ziehen Kürassiere und schleppen sich Heeren im bunten, rot-gelben, königlichen, spanischen Gewand. Höfische Arkebusieren, spanische Söldner, höfische Erbfolgekriege, das Geknarre der Wagen, siegreicher Mob, betrunken und aggressiv, der sich über Brabant und Flandern wälzt und plündert und brandschatzt, wo er nur kann. [Auf den Bahnstationen] stehen Brueghels Bettler, Epileptiker und betrunkene alte Bettlerinnen, allesamt vermischt mit den spanischen Arkebusieren und Madrider Gendarmen, die angebundene und hilflose Bauern vor sich treiben. […] Es ist Brabant zu Beginn des sechzehnten Jahrhunderts, als spanische Söldner im Namen des Toled’schen Zentralismus Brueghels unschuldige Bauern im Rahmen dessen schneereichen und traurigen Gemäldes tyrannisierten. Und so kamen wir in Koprivnica an. (KRLEŽA 1933, 219-220)

Wie im Balladenzyklus wird auch hier ein zeitloses Panoptikum des bäuerlichen Lebens entworfen, das aber im angeführten Essayauszug ganz Europa umfasst und die Vorstellung von similärer Wiederholbarkeit der menschlichen Existenz in jedem Winkel Europas enthält. Es handelt sich um die Darstellung einer allgemein geltenden Daseinsform, deren bäuerliche Symbolik auf die Erdgebundenheit und Erdverbundenheit des Menschen hinweist. Demgegenüber sind örtliche und zeitliche bzw. historische Eigenmerkmale der menschlichen Existenz nur etwas SekundärHinzukommendes. Denn nach Krleža scheinen die Verbundenheit des Menschen mit der Erde sowie seine Gebundenheit an die Erde als Grundmerkmal seines Daseins durch alle Epochen und Regionen durchzugreifen. Dieses Merkmal wird dann in mehr oder weniger unterschiedlichen historischen bzw. sozialen Abwandlungen verwirklicht, um darin zu einem Leidensinferno zu werden, das immer wieder aus existenziell-erdverbundener Lebensquall und aus erdgebundener historischsozialer Ungerechtigkeit besteht, woraus es nach Krleža keinen Ausweg gibt. Denn, wie es in der Ballade „Am Bärenberg“ erklingt, gibt es „weder Hoffnung, noch packt man’s Glück am Schopf“ (KRLEŽA 1936, 66).

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Dass alle Hoffnungen trügerisch sind, insbesondere jene, die auf das Überirdische ausgerichtet sind, worin „alle Sorge und Last von uns abkehren: / im himmlischen Herrn das süßeste Begehren“ (ebd., 114) erfühlt wird, wird äußerst prägnant in der Ballade „Keglovichiana“ dargestellt, worin von der „TRIUMPHALSTE[N] UND PARADEHAFTESTE[N] HIMMELSFAHRT, AUFNAHME UND ANKUNFT SEINER HOCHWOHLGEBORENEN DURCHLAUCHT, HERRN HERRN HERRN UND DOMINALEN HERRN GRAF BALTHASAR MELCHIOR KASPAR KEGLOVICH, KÜRASSIEROBERST UND SEINER HOHEIT ECHTER KAMMERHERR, AN SEINEM SIEBENUNFFÜNFZIGSTEN GEBURTSTAG ZUM HERODES-FEST“ (ebd., 36), berichtet wird. Hier wird in parodistischer Brechung die ersonnene Himmelsfahrt des Grafen Keglević beschrieben, dessen Einzug man in den Himmel schon zu Lebzeiten durch die nach Jerusalem abgeschickte „Fracht Forint“ (ebd., 37) sicherte und den samt seinem Gefolge an Dienern der Heilige Petrus mit einer Engelschar zum buchstäblichen und im Balladentext umfangreich beschriebenen Himmelsmahl empfängt. Dabei schleicht sich durch die Himmelspforte als Soldat verkleidet auch „Emm’rich Kaulquapp, Hühnerdieb und Taschelzieher“ (ebd., 40) ein, der aber sofort erkannt und dem, nachdem er nur einen flüchtigen Blick auf das köstliche Grafenmahl werfen konnte, „das ewige Feuer zum Grab“ wurde (ebd., 51), weil „dem Grafen gebührt die himmlische Höh’ / dem diebischen Gesindel – nö!“ (ebd., 40). Die menschliche Existenz erfährt insofern weder in ihrem jenseitigen noch in ihrem diesseitigen Horizont eine Linderung, geschweige denn eine Erlösung. In seinem berühmten Essay „Vorwort zu den Motiven aus Podravina von Krsto Hegedušić“, worin Krleža sein Geschichts- und Kunstverständnis vorlegt, weshalb er mit der linksorientierten jugoslawischen Intelligenz in einen heftigen Konflikt geriet, behauptet er, dass uns

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vom ägyptischen Granit bis zum antiken Porphyr und dem weißen hellenischen Mittelmeermarmor [alles sagt], dass alles schon einmal war, dass Erscheinungen und Begriffe geschlossene Kreise bilden, […], dass alles schon einmal vor uns war: Skorpione und Krebse, Schlangen und Hass, Liebe und Leidenschaft, Frauen und Tode! Kriege führten Menschen und in zahlreichen Schlachten brach man Knochen, und nach lärmenden Siegen heulten Hunde nach ihren Herren und Witwen nach ihren Helden (KRLEŽA 1933, 13-14).

Den Höhepunkt eines solchen Verständnisses der Geschichte als restlosewige Wiederholung des Gleichen, das heißt des ewigen menschlichen Leidens, bildet im Balladenzyklus die Ballade „Khevenhüller“. Um diesem Verständnis genauer auf die Spur zu kommen, wird hier der im Einzelnen von der vorhandenen Version der deutschen Übersetzung abweichende Balladentext vorgelegt, um das kroatische Original inhaltlich möglichst je genauer wiederzugeben: Es ist niemals gewesen, dass es irgendwie nicht war, so wird’s jetzt auch nicht sein, dass es irgendwie nicht wäre. Denn: wie wär’s, wenn’s doch irgendwie nicht gewesen wär’, es wär’ doch gar nichts, nicht mal so, wie’s mal war. Doch stets war’s, dass es irgendwie war, und nicht etwa so, wie’s gar nicht gewesen war. So wird’s jetzt auch sein, dass es irgendwie schon sein wird, wie es zu sein hat, um gewesen zu sein. Doch nie war’s, dass nichts gewesen war, so wird’s auch nicht sein, dass gar nichts sein wird. Es ist so wie’s ist, so war’s immer auf Erden, wie’s wird, wird’s, und es wird schon irgendwie sein! Es kann nicht sein und wird niemals geschehen, dass der Knecht nicht müsste zur Fronarbeit gehen. Es ist nie so gewesen, also kann’s auch nicht kommen, dass der Knecht würd’ können dem Kriegsdienst entkommen. Wie auch immer was war, war’s gerade so, wie’s war, so ist’s und wird’s gewesen sein.

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Es ist niemals gewesen, drauf kann man vertrauen, dass der Knecht hätt’ nicht müssen Festungen bauen, und Mörtel schleppen und Schutzwälle ziehen und stets wie ein Köter den Schwanz einziehen. Es weiß nicht der Knecht, warum’s so zu sein hat, dass Hunger er leidet und die Generäle sind satt. Doch nie war’s, dass es uns gerade nicht so war, so wird’s auch nicht sein, dass der Knecht nicht schmachten wird, und nie wird’s auf Erd’ und im Himmel anders sein, als dass zum Schluss der Türk’ uns alle abschlachten wird. Und dem Knecht’ ist’s gleich, krepiert er hier, dort oder im Agramer Dom, da kein andres Denkmal die Gruft ihm verziert, als Hund’kot, auf ärmlichen Grabe verschmiert. (KRLEŽA 1936, 61-62)

In der Ballade wird die ewige Wiederkehr des menschlichen Daseins und seines Leidens postuliert, und zwar in derselben Form, wie sich diese schon in der Vergangenheit einmal herausbildeten, wie sie gerade jetzt zum Vorschein kommen und wie sie sich in der Zukunft auch erneut einstellen werden. Da gibt es keine Veränderung. Unmöglich scheint es nur, dass zum einen der Mensch in seinem So-Sein15 nie sein und zum anderen dieses ohne Leiden sein wird. Denn als der Mensch zum Vorschein kam, entstand er in gerade diesem leidvollen So-Sein, das er in der Vergangenheit durchlebte und heute noch immer lebt, so dass es ihm − ungeachtet seiner unterschiedlichen geschichtlichen Ausprägung – letztendlich immer so sein wird, wie es war und ist. Dabei scheint die Quintessenz des ewig wiederkehrenden menschlichen So-Seins gerade in seiner Herkunft zu liegen, wonach der Menschen nur ein Haufen mit Leben erfüllten Schlamms ist, das sich in seinem Aufrichten den Sternen nähern möchte und dennoch immer wieder in den herkommenden Schlamm zurückfällt, wofür das in den Balladen immer wiederkehrende Motiv des „Blutvergießens“ steht. Dieses scheint den 15

Unter dem Begriff des menschlichen So-Seins versteht man hier „das Dasein, insofern es irgendwie bestimmt ist“ (SCHMIDT 1916, 226).

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Menschen immer wieder ins Tellurische zurückzuwerfen, so dass er sich seiner schlammigen Herkunft nie entledigen kann. Demnach wäre die Geschichte ein ewiges Wandern des Menschen durch unterschiedliche und dennoch immer gleiche historische Lebenssituationen, deren Brennpunkt im Kampf des Menschen mit seiner tellurischen Herkunft liegt. Dass Krležas Geschichtsauffassung doch keine einseitige Negation des Sinns des menschlichen Daseins im historischen Horizont ist, geht aus der ungewöhnlichen Antithetik zwischen der optimistischen und pessimistischen Lebensauffassung, die in den Balladenzyklus eingebaut ist, hervor. Diese Antithetik beruht auf Krležas eigenartigem epistemologischem Paradigma, das LASIĆ (1989, 39-40) als „antithetisches Kreisel“ bezeichnet. Es handelt sich um Krležas erkenntnistheoretische Einstellung, gemäß der er in seinen Werken jeder positiven These ihre negative Antithese gegenübergestellt, ohne daraus eine die entgegengesetzten Thesen aufhebende Synthese auszubauen. Im Balladenzyklus ist das Sinnbild der sich darin durchziehenden und insofern die Balladen thematisch einigenden These „das in den Adern des Menschen fließende Blut“, während die Antithese das Sinnbild des in der Geschichte gleichwohl immer wiederkehrenden „Blutvergießens“ bildet, wobei beide Thesen als nie aufhebbar postuliert werden. Auf diese Weise gelingt es Krleža, in den Balladen ein Gleichgewicht zwischen optimistischer und pessimistischer Geschichtsauffassung herzustellen, wobei zu einem beide Auffassungen als gleichwohl (un)berechtigt erscheinen und zum andere sich von Ballade zu Ballade derart auswechseln, dass zuletzt ein Oszillieren zwischen diesen zwei Polen als das Wesentliche am erdverbundenen So-Sein des Menschen innerhalb seines historischen Horizonts vorkommt. Dieses kreiselnde Oszillieren scheint am prägnantesten gerade in der Ballade „Khevenhüller“ dargestellt zu sein. Darin ist optimistisch, dass man überhaupt lebt; pessimistisch jedoch, dass man gerade so lebt; optimistisch, dass man doch irgendwie lebt; pessimistisch, dass man immer nur irgendwie lebt. Insofern halten sich bei Krleža die optimistische und

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pessimistische Lebensauffassung wie in einem sich rotierenden Kreisel die Waage, indem keine Auffassung Oberhand gewinnt. Dies bedeutet jedoch zugleich, dass es für Krleža keine die Antithetik überwindende Synthese gibt, die im historischen Ereignen des Menschen die Grundlage für den Ausbau eines humaneren Sozialen bilden würde. Denn immer wieder wird es wegen der unauslöschlichen Herkunft des Menschen aus dem „diluvialen Schlamm“ blutvergießende Täter und blutende Opfer geben, so dass sich in der Geschichte nie eine Phase ereignen wird, in der man die moralische Begründung der menschlichen Existenz leidenslos verwirklichen wird. Demzufolge scheint es, als ob nach Krleža der Mensch den historischen Gewalthorizont nie überschreiten wird, als ob er sich – wie bei Thomas Mann – immer wieder in den tiefen „Brunnen“ der Geschichte einzufinden hat,16 um dort aus dem blutigen Rollenspiel der Herrschenden und Beherrschten nie herauszukommen. Obwohl der Mensch noch in seiner Eiszeithöhle „seine blutige, bestialische, kannibalische Hand“ (KRLEŽA 1933, 15) an die Höhlenwand legte und somit den Schritt vom Gorilla zum Künstler unternahm (ebd., 16), hörte er nie auf, ein Gorilla zu sein. Gerade deshalb wird es in aller Ewigkeit um den Menschen so stehen, wie es seit eh und jäh stand: Das „Diluvial-Tellurische“ bzw. das „Gorillaartige“ in ihm wird ihn durch die Geschichte ständig begleiten, und zwar ungeachtet seiner Versuche, die Folgen einer solchen Herkunft im kulturellen Gewand zu verschleiern. Dies ereignet sich im Falle des Menschen so „wie [bei] jene[m] blutige[n] Gorilla, der in den südeuropäischen Höhlen von erfolgreicher Jagd, von dicken Bisons und fetten Wildschweinen träumte; denn alle Tiere träumen von reicher Beute, und dem Löwen ist (allem 16

Auf die „Brunnenhaftigkeit“ der Balladen weist, zwar in einem sprachphilosophischen Kontext, auch MANDIĆ (1968, 63-64) hin: „Die Sprache der Balladen ist ein tiefer Brunnen: Je tiefer man in ihn hineinblickt, desto stärker ertönt er über uns. In der Dichtersprache ertönen ihre Gründe. Unsere Aufgabe ist es, durch dieses Echo jene reine, ursprüngliche Stimme zu vernehmen. […] Das Wort ist also ein tiefer Brunnen. Die Dichtersprache zieht sich in der Tiefe zusammen. Indem der Dichter insbesondere das Schicksal seines Volkes erforscht, konzentriert er sich darauf, dieses Schicksal wirklich zu machen, wobei er sich so konzentriert, dass er immer auf der Spur des Wortes ist, welches die Sache selbst präsent macht. In der Dunkelheit des sprachlichen Vergessens leuchtet das Wort der Balladen wie eine ‚brennend’ Fackel‘“.

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Anschein nach) das liebste Symbol und das Idealbild die durchgebissene Kehle einer jungen, blutigen Gazelle“ (ebd.). Der Traum, dass es anders um den Menschen stehen wird, ist nur ein Widerschein „der gottesfürchtigen Nebelschleier, die aus Angst und Grauen, Wünschen und Illusionen bestehen“ (ebd.), die man dann in nicht profane Gewänder einhüllt, hoffend dadurch das ewige Menschliche in der Zeit mittels Abdrücke und Kopien aufzuhalten, die im Stofflichen dauerhafter seien als das menschliche Fleisch. Und dieses Menschliche ist in uns noch immer blutig von dem Eingeweide unserer Nächsten, die wir gemäß unserem tierischen Instinkt ermorden, sowie von den warmen Därmen der schwächeren Tiere, von denen wir uns als wahre Kannibale und Jäger ernähren: Chro-Magnonen und Westländer, Kannibale und zivilisierte Europäer, Herrscher über Maschinen und Schlachtschiffe und Nervengase, Artisten und Krieger. (Ebd., 16-17)

3.

Manns und Krležas Auseinandersetzung mit Nietzsches Gedankengut

3.1. Nietzsches Aufruf zum Tellurischen Wie oben angeführt, antwortet auf die in der Gegenwart der 1930er Jahre enthaltenen historischen Herausforderungen Krleža mit seinen Balladen, worin er am Beispiel der nordkroatischen Bauernschaft die Angewiesenheit des Menschen an seine ewige leidvolle antithetische Existenz im Tellurischen darstellt. Mann lässt sich in der Joseph-Tetralogie auf die Arbeit des mythischen Diskurses ein, um auf diese Weise zu einem neuen gegenwartsbezogenen Weg der Wirklichkeitsdiskursivierung vorzudringen. Beide Werke stellen jedoch u.a. das Ergebnis langjähriger NietzscheRezeption dar, auf die beide Autoren unterschiedlich reagieren und infolge dessen auch unterschiedliche Wege einschlagen, um den nihilistischzersetzenden Impetus von Nietzsches Gedankengut zu überwinden. Als eine der zentralen Schriften ihrer Rezeption ist Nietzsches poetischphilosophisches Werk Also sprach Zarathustra zu verstehen. Denn darin sind Nietzsches grundlegende Thesen zu seinem Menschenverständnis enthalten: Die prophetisch anmutenden Worte Zarathustras kreisen dort um

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das gedankliche Dreigestirn, das aus der Vorstellung über den Übermenschen, die Idee der ewigen Wiederkunft des Gleiches sowie jener von Amor Fati besteht.17 In der Vorrede des ersten Teils dieser Schrift begegnet man Zarathustra nach seinem zehnjährigem Verweilen im Gebirge, „[s]einer Weisheit überdrüssig, wie die Biene, die des Honigs zuviel gesammelt hat“ (NIETZSCHE 1999a, 9). Um sich der Wissensüberfülle zu entledigen, entschließt er sich, zu den Menschen „unter[zu]gehen“ (ebd.), wobei er unterwegs einem Einsiedler begegnet. Anstelle der Menschen, die „eine zu unvollkommene Sache“ (ebd., 10) sind, liebt dieser nur den Gott. Zarathustra wundert sich jedoch, dass dieser noch nicht wisse, „daß Gott tot ist“ (ebd., 11). Es ist Zarathustras einleitende, alle Werte auf den Kopf stellende Behauptung,18 wonach jeder Art von Metaphysik,19 und das heißt jeder jenseitigen Begründung der menschlichen Existenz, abgeschworen wird. Als Gegenchiffre zur metaphysischen Sinngebung bedient sich Zarathustra des Begriffs der „Erde“. Damit wird zum einen die tellurische Herkunft des Menschen ausgedrückt, zum anderen auf das irdische Leben als einzig wahren Wirkungshorizont des Menschen hingewiesen, worin das Menschliche keine metaphysischen Ideale zu begrenzen haben. Deshalb ruft auch Zarathustra dem auf dem Stadtmarkt versammelten Volk zu, es solle „der Erde treu bleib[en]“ (ebd.). Das kann es nur, wenn es das Menschensein im Übermenschen überwindet. Denn der Mensch „ist nur ein Seil, geknüpft zwischen Tier und Übermensch – ein Seil über einem Abgrunde“ (ebd., 13). Nietzsches Vorstellung vom Übermenschen stellt jedoch keine Evokation eines in der Zukunft neu herzustellenden menschlichen Evolutionsstadiums dar, 17

Zur Bedeutung dieses gedanklichen Dreigestirns sowie zu dessen zentrierender Anziehungskraft im Rahmen der Selbstverwandlung des Menschen als Genesenden in Zarathustra vgl. BAEK 1999, 60-66. 18 Zur Problematik der Entschlüsselung des Sinngehalts von Zarathustra vgl. NIEMEYER 2011, 61-62. Dabei wird hier Niemeyers Empfehlung Folge geleistet, „den Zarathustra im Kontext der Werke des mittleren, des späten, aber auch des frühen Nietzsche zu lesen und in die dort entwickelte Theoriesprache zu übersetzen“ (ebd., 62-63). 19 Hier wird dieser Begriff im Sinne von Kants Kritik der „die Grenzen der möglichen Erfahrung“ übersteigenden und insofern transzendentalen Erkenntnis, die „jenseits der Sinneserfahrung liegt“ (FILIPOVIĆ 1984, 336), verwendet.

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sondern eine in Kants Sinne regulative Idee: Ihr Zweck liegt in der Zurückführung des menschlichen Daseinssinns ins Irdische als die einzig wahre Ereignisform des Menschlichen. Folglich handelt es sich beim Übermenschen um eine Neuperspektivierung der menschlichen Sinngebung, wonach man den Blick vom besternten Himmel auf die Erde zurückzuwenden hat. Den Kern einer solchen Ausrichtung der menschlichen Existenz bildet der zweite Leitgedanke von Zarathustras Reden, jener über die ewige Wiederkunft des Gleichen. Diese wird in der „Rede über den Genesenden“ ausgesprochen, wo besagt wird, „daß alle Dinge ewig wiederkehren und wir selbst mit, und daß wir schon ewige Male dagewesen sind, und alle Dinge mit uns“ (ebd., 180). Dabei „komme [ich] ewig wieder zu diesem gleichen und selbigen Leben, im Größten und auch im Kleinsten, daß ich wieder alle Dinge ewige Wiederkunft lehre“ (ebd., 181). Diesen Gedanken, wonach sich alles Geschehene unausweichlich wiederholt und worin der aufklärerische optimistische Glaube an die zukünftige Vervollkommnung des Menschen zunichte gemacht wird, lässt Nietzsche im Paragraphen 341 seiner Fröhliche Wissenschaft durch den sich an den Leser unmittelbar wendenden Dämonen aussprechen: ‚Dieses Leben, wie du es jetzt lebst und gelebt hast, wirst du noch einmal und noch unzählige Male leben müssen; und es wird nichts Neues daran sein, sondern jeder Schmerz und jede Lust und jeder Gedanke und Seufzer und alles unsäglich Kleine und Grosse deines Lebens muss dir wiederkommen, und Alles in der selben Reihe und Folge – und ebenso diese Spinne und dieses Mondlicht zwischen den Bäumen, und ebenso dieser Augenblick und ich selber. Die ewige Sanduhr des Daseins wird immer wieder umgedreht – und du mit ihr, Stäubchen vom Staube!‘ (NIETZSCHE 1999b, 193-194).

Es ist ein Gedanke, der an Schopenhauers Vorstellung vom menschlichen Leben als Folge der Objektivierung des blinden Willens weiterwebt, gemäß der „das Subjekt des Wollens beständig auf dem drehenden Rade des Ixion [liegt], schöpft immer im Siebe der Danaiden, ist der ewig schmachtende Tantalus“ (SCHOPENHAUER 1977, 252). Dies bildet die Grundlage der pessimistischen Einsicht in die Beschaffenheit der menschlichen Existenz, die jede mögliche Form der Eschatologie zersetzt und zunichte macht. Es

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gibt kein Wegkommen vom „Rade des Ixion“, das sich ewig dreht und – Nietzsches Hinzufügung – immer wieder dasselbe, sowohl im Kleinen als auch im Großen, mit sich bringt. Es gibt keine Entwicklung, keine Hoffnung, kein Entrinnen aus dem Geworfensein des Menschen in den Schlamm des belebten Steinklumpens, den man Erde nennt. Als ob dieser Gedanke nicht schon genug schwer wäre, als ob er schon nicht genug Schwerkraft besitze, um den Menschen an die Erde zu binden, ihm den tellurischen und nicht den (inter)stellaren Sinn seiner Existenz vor Augen zu führen, verbindet Nietzsche diesen noch mit der Amor-Fati-Idee. Diese dient ihm jedoch, um Schopenhauers Pessimismus eine optimistische Wende zu geben: Trotz der Vorstellung vom Staubsein und Staubwerden als einzigem menschlichen Daseinshorizont hofft Zarathustra, den dionysischen Lebensoptimismus daraus zu schöpfen, indem er „immer mehr lern[t], das Notwendige an den Dingen als das Schöne sehen – so werde ich einer von denen sein, welche die Dinge schön machen. Amor Fati: das sei von nun an meine Liebe!“ (NIETZSCHE 1999b, 154) Folglich liegt das Pfand zur Überwindung des nihilistischen Schicksals gerade im Ja-Sagen als die einzig annehmbare Grundlage, anhand deren das Leben in irdischer Schönheit aufzubauen ist. Mit solchen Vorstellungen gewappnet, vor denen der „Tal-Mensch“ in metaphysische Daseinsbegründungen flüchtet, anstatt seine irdische Herkunft zum einzig wahren Maßstab seiner Existenz zu machen, tritt Zarathustra vor das Volk. Dieses fühlt sich aber in seinem selbstgenügsamen „Herdenglück“ (vgl. NIETZSCHE 1999a, 16), worin „jeder das Gleiche [will], jeder ist gleich, wer anders fühlt, geht freiwillig ins Irrenhaus“ (ebd.), wohl und bedarf Zarathustras Lehren nicht. Denn im metaphysischen Schlummer schläft es sich am muntersten. Enttäuscht erkennt Zarathustra, dass sein Gesprächspartner nicht die im „Tal“ verweilende Volksherde ist, sondern Mitschaffende, Miterntende und Mitfeiernde (vgl. ebd., 20). Wer diese sind, darauf deutet Nietzsche in der Darstellung der am Markt stattfindenden Seiltanzveranstaltung (vgl. ebd., 16-17). Auf einem zwischen zwei Türmen gezogenen Seil demonstriert ein Seiltänzer seine

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Fähigkeit. Hinter diesem erscheint auf dem Seil „ein bunter Gesell, einem Possenreißer gleich“ (ebd., 17), der diesen als „Lahmfuß, [...] Faultier, Schleichhändler, Bleichgesicht“ (ebd.) beschimpft.20 Zuletzt überspringt er ihn, so dass dieser vor Schrecken in die Tiefe fällt und stirbt. Es handelt sich um eine philosophische Parabel, deren symbolischer Gehalt den Kontext der nachfolgenden Reden Zarathustras bildhaft darbietet. In der Parabel symbolisiert der sich entlang des Seiles behutsam vordringende Seiltänzer den „Wissenschaftler“, der sich auf dem festgespannten Seil bis zum nächsten „Turm“ gemächlich vorkämpft. Sein vorsichtiges Vortasten auf den über den Abgrund ausgespannten Seil verkörpert die Arbeit der Wissenschaften im Ausbau ihrer vernunftgeleiteten Türme, die sich abseits des Abgrundes befinden und zu denen nur dieser schmalseilige Weg führt. Es ist das Sinnbild des wissenschaftlichen Betriebs, das durch Gedanken geradlinig von einem Gedanken(gebäude) zum anderen führt, wobei die „abgründigen Tiefen“ des Menschlichen darin nicht einbezogen, sondern vielmehr durch die Seilziehung über den Abgründen verflacht werden. Dieses Sinnbild enthält Nietzsches Kritik am wissenschaftlichen Betrieb, der sich nicht in die Abgründe des Menschlichen einlässt, sondern durch rationale bzw. sokratisch ausgerichtete Umdeutung des Menschlichen im Sinne des Animal rationale die Sinngebung der menschlichen Existenz verfehlt. Darin wird zum einen das Verständnis des menschlichen Schicksals als eines geradlinig fortschreitenden Ereignisses kritisiert, woraus der historische Optimismus seit der Aufklärung seine Kraft schöpft. Zum anderen wird darauf hingewiesen, dass in den Wissenschaften infolge des Ausbaus von wissenschaftlichen Gebäuden über den Abgründen des Menschlichen gerade die abgründige Beschaffenheit des Menschen nicht berücksichtigt wird. Aus demselben Turm kommt hinter dem Seiltänzer der Possenreißer, der wie jener auch ein nach der Wahrheit über den Menschen Suchende ist. Der Wissenschaftler versucht jedoch das Menschliche ins Korsett des Rationalen einzuzwängen, das ihn in seinem Vorwärtsscheiten am Seil 20

Zur Problematik des metaphorischen Gehalts dieser Gestalten vgl. JOISTEN 1994, 7983; ROTH-BODMER 1975, 18; PIEPER 2010, 10; GASSER 1992, 15-40.

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verlangsamt, weshalb ihn auch der „bunte Gesell“ als „lahmfüßiges Faultier“ beschimpft. Demgegenüber „hüpft“ und „tanzt“ dieser auf dem Seil furchtlos, weil er nicht durchs Rationale, sondern durch die Phantasie geleitet wird. Diese erlaubt ihm, die Schwerkraft zu überwinden und ungewöhnliche Kunststücke auf dem Seil vorzuführen, weshalb er auch den Seiltänzer so leicht überhüpft. Dabei stellt der bunte Possenreißer das Sinnbild des Künstlers dar, der − durch seine Phantasie der Schwerkraft enthoben − Zarathustras mitschaffender, miterntender und mitfeiernder Geselle ist. Darin äußert Nietzsche seine Vorstellung, dass sich dem Philosophen als Wahrheitsliebendem in seinem Schaffen nur der Schönheitsliebende d.h. der Künstler gesellen kann, „denn nur als ästhetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt“ (NIETZSCHE 1999c, 48). Folglich läge die Aufgabe der Neuschaffenden, den Menschen ihre tellurische Her- und Hinkunft zu offenbaren, um sie damit darauf vorzubereiten, sich in ihrem Leben auf die ewige Wiederkunft des Gleichen zu freuen, weil ihnen nur darin die Möglichkeit gegeben ist, aus sich und für sich immer wieder die ihnen zugehörige Daseinsform als ein schönes Dasein zu gestalten und somit zu Übermenschen zu werden. Da aber fürs Volk, und das heißt für die „Tal-Menschen“, die aus Zarathustras Höhe stammenden Wahrheiten nicht akzeptabel sind, weil diese seine Idole zugrunde richten (vgl. NIETZSCHE 1999a, 20), hat sich Zarathustra zum einen von den „letzten Menschen“ als Sinnbild der genügsamen, unbedachten Menschenherde abzuwenden, zum anderen tief im Wald den toten Seiltänzer bzw. die bisherige Wissenschaft zu begraben, um sich gefolgt nur von seinen Tieren – dem Adler und der Schlange – auf die Suche nach neuen Gefährten zu begeben (vgl. ebd., 20-21). Dies tut er auch in seinen Reden, indem er „neue Werte auf neue Tafeln“ (ebd., 20) schreibt, die für „Einsiedler [und] Zweisiedler“ (ebd., 21) bestimmt sind, die sich vor dem „Blitz des Übermenschen“ (vgl. ebd., 14) bei der Gestaltung des menschlichen Daseins als ein ästhetisches Phänomen nicht fürchten. Die Vorrede und zugleich die Einführung in Zarathustras Reden endet mit der Feststellung: „Also begann Zarathustras Untergang“ (vgl. ebd., 21). Es ist ein Untergang im Sinne des Eingehens in die Tiefen der menschlichen

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Abgründe, in die Beschaffenheit der menschlichen Existenz in Bezug auf ihre tellurische Herkunft. Diese abzumessen ist die Aufgabe Zarathustras Reden, die dann ein poetisch-philosophisches Vorbild für Nachschaffende nicht nur sein soll, sondern auch wird. So auch für Thomas Mann und Miroslav Krleža, indem sie sich in ihren Werken mit der Grundfrage auseinandersetzen, wozu die Kunst und wie diese auszusehen hat, wenn man sich in die von Nietzsche bestimmten Abgründe des Menschlichen begibt. 3.2 Manns Gegenentwurf zur romantisch-nihilistischen Diskursivierung der Wirklichkeit in der Joseph-Tetralogie Wie schon besprochen, ist der „Brunnen“ in Manns Joseph-Tetralogie das Symbol menschlicher Ver- und Gebundenheit an die spiralförmige Arbeit des mythischen Diskurses, die tief in die menschliche Geschichte hineinreicht. Dabei greift Mann nach Nietzsches Gedanken über die ewige Wiederkunft des Gleichen, die er in der Tetralogie exemplarisch auf die dort beschriebenen biblisch-historischen Konstellationen anwendet. In dieser Verschiebung der ewigen Wiederkunft des Gleichen von allen Lebensdingen auf die des mythischen Diskurses liegt auch Manns Überwindung von Nietzsches nihilistischer, alle Werte zersetzender Weltsicht, die jetzt nicht auf die Dinge, sondern in einer sprachphilosophischen Wende auf die Wirkung des Sprachdiskurses ausgerichtet ist. Denn nicht alle Dinge kommen wieder, sondern die Sprache, derer sich der Mensch bedient, bzw. der Diskurs als ein Sprachnetz, womit Dinge benannt und angeeignet werden. Die Sprache ist der „Herr“ des Brunnens und somit der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Insofern lautet die Grundfrage, mit der Mann Nietzsches Nihilismus in der Joseph-Tetralogie zu überwunden sucht, wie die Arbeit des Diskurses perspektiviert, und das heißt, welche Werte im Diskurs bewertet werden, welche zu entwerten und welche zu verwerten sind. Für Mann ist die Situation völlig klar: Im gegenwärtigen Stimmengewirr der mythischen Wirklichkeitsdiskursivierung gilt es, der Umdeutung der oben angeführten Leitideen von Nietzsche im Sinne der „Blut-und-BodenIdeologie“ entgegenzuwirken. Das Mittel dazu liegt darin, die Stimme des

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humanen Geistes im aktuellen Stimmengewirr aufs Neue erklingen zu lassen, um damit der nationalsozialistischen Ausdeutung der menschlichen Sinngebung einen Gegenmythos entgegenzustellen. Die Grundlage des neu zu entwerfenden, gegen die nationalsozialistische Vereinnahmung der aktuellen Wirklichkeit gerichteten Gegenmythos, den Mann auf den Grund des „Brunnens“ bzw. der spiral verlaufenden Geschichte wie ein raum- und zeitüberschreitendes Messgerät des Menschlichen legt, bildet die Gestalt des ersten oder des vollkommen Menschen, […] als ein Jünglingswesen aus reinem Licht, geschaffen vor Weltbeginn als Urbild und Inbegriff der Menschheit […]. Der Urmensch, heißt es, sei zu allem Anfange der erkorene Streiter Gottes im Kampfe gegen das in die junge Schöpfung eindringende Böse gewesen, sei aber dabei zu Schaden gekommen, von den Dämonen gefesselt, in die Materie verhaftet, seinem Ursprung entfremdet, durch einen zweiten Abgesandten der Gottheit jedoch, der geheimnisvollerweise wieder er selbst, sein eigenes höchstes Selbst gewesen sei, aus der Finsternis der irdisch-leiblichen Existenz befreit und in die Lichtwelt zurückgeführt worden, wobei er aber Teile seines Lichtes habe zurücklassen müssen, die zur Bildung der materiellen Welt und der Erdenmenschen mitbenutzt worden seien. (MANN 1933, 39)

Die von der formlosen und trägen Materie vereinnahmte „Seele“ des Urmenschen stieg – so Manns Mythos − hinunter in die materielle Unterwelt, wo sie, angeregt durch körperliche Genüsse, die Materie formte, jedoch sich zugleich, betäubt durch das Formspiel, ihrer selbst vergisst. Um sie zu retten, wird dieser ihr „geheimnisvolles Selbst“, worunter Mann den „Geist“ versteht, geschickt, dessen Aufgabe es ist, „der selbstvergessenen in Form und Tod verstrickten Seele das Gedächtnis ihrer höheren Herkunft zu wecken; sie zu überzeugen, daß es ein Fehler war, sich mit der Materie einzulassen und so die Welt hervorzurufen“ (ebd., 43). Würde die „Seele“ das einsehen, könnte sie sich „eines Tages völlig aus Weh und Wollust lös[en] und nach Hause schweb[en]“ (ebd.). In der Verliebtheit des „Geistes“ in die „Seele“ offenbart sich, dass sie einst Eins waren, was gemäß der Vorstellung von der ewigen Wiederkunft des Gleichen zu bedeuten hat, „daß sie einmal [auch] eins werden sollen“ (ebd., 48). Den Unterschied zwischen der „Seele“ und dem „Geist“ deutet Mann derart, dass es im Falle des „Geistes“ um das „Prinzip der Zukunft, [...

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handelt], während die Frömmigkeit der formverbundenen Seele dem Vergangenen gilt“ (ebd.). Jeder von ihnen − „die naturverflochtene Seele und der außerweltliche Geist“ (ebd.) − versteht aber nur sich selbst als Quelle des Lebens: Die „Seele“ wegen ihres Vergangenheits- und der „Geist“ wegen seines Zukunftscharakters. Dabei beschuldigen sie sich gegenseitig für die Entflechtung des Todes im Leben. Beide irren nach Mann, weil die Lösung in ihrer Vereinigung [liegt], nämlich in dem echten Eingehen des Geistes in die Welt der Seele, in der wechselseitigen Durchdringung der beiden Prinzipien und der Heiligung des einen durch das andere zur Gegenwart eines Menschentums, das gesegnet wäre mit Segen oben vom Himmel herab und mit Segen von der Tiefe, die unten liegt (ebd.).

Um das Ziel der Vereinigung der „Seele“ und des „Geistes“ als Performativ des durch Mann konstruierten neuen Mythos im „Hier“ und „Jetzt“ der aktuellen Wirklichkeit zu erlangen, muss sich vor allem der „Geist“ seiner ursprünglichen Aufgabe besinnen, wonach er Bote der Mahnung, das Prinzip der Anstoßnahme, des Widerspruchs und der Wanderschaft [ist], welches die Unruhe übernatürlichen Elendes in der Brust eines Einzelnen unter lauter lusthaft Einverstandenen erregt, ihn aus den Toren des Gewordenen und Gegebenen ins abenteuerlich Ungewisse treibt und ihn dem Steine gleichmacht, der, indem er sich löst und rollt, ein unabsehbar wachsendes Rollen und Geschehen einzuleiten bestimmt ist (ebd., 49).

Auf einen solchen Weg der Vereinigung anhand der Wiederbesinnung des „Geistes“ seiner Aufgabe begibt sich Joseph als Ernährer im vierten Teil der Tetralogie, wo er die Rolle des „Vermittlers“ zwischen der Lebens- und der Geisteswelt übernimmt. Indem er Pharaos Träume richtig deutet, wird er zum Aufseher über das „Ägypterland“ (vgl. MANN 1943, 1498-1501). In diese Rolle schlüpfend hat er den Samen des „Geistes“ ins Leben zu legen, um dadurch die „Seele“ vor ihrem zersetzenden Versinken in der Materie zu retten bzw. diese zu ihrer ursprünglichen Natur zurückzuführen, worin zugleich die geistige Herkunft der menschlichen „Seele“ bzw. der Menschheit bloßgelegt wird. Das Mittel der Vereinigung ist im vierten Teil der Tetralogie Josephs sozialwirtschaftliche Reform des „Ägypterlandes“. Diese besteht zum

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einen aus der Akkumulierung von Wirtschaftsgütern in den Händen der Zentralmacht, die zum anderen eine sozialgerechte Verteilung der akkumulierten Güter organisiert und überwacht. Das Ziel dieser Reform liegt in der Konsolidierung der innerpolitischen Situation durch sozialgerechte Distribution der Ressourcen, um dadurch zugleich die außenpolitische Position des Landes zu stärken. Auf diese Weise erlangt das „Ägypterland“ eine soziale Anziehungskraft, nach dessen sozialgerechtem Aufbau sich auch andere Staaten richten können. Als Vorbild dazu dienen Mann in der Gegenwart die Vereinigten Staaten von Amerika: In der Darstellung der Einwohner des „Ägypterlandes“ zeichnet sich der im Alltag der nordamerikanischen Bürger vorherrschende Utilitarismus und Pragmatismus ab, in der Gestalt von Echnaton als Verehrer des Atons, dieses neuen monotheistischen Lichtgottes, die pazifistische Außenpolitik des nordamerikanischen Isolationismus bzw. dessen Appeasement-Politik (vgl. KURZKE 1997, 253) und in Josephs Staatsreformen die innenpolitische New-Deal-Politik Roosevelts. Insofern bildet die gegenwartsbezogene und ihr verbundene Grundlage von Manns pseudohistorischem „Ägypterland“ die US-amerikanische interventionistische Sozialwirtschaftspolitik, welche die wirtschaftliche Erholung Nordamerikas in den 1930er Jahren ermöglichte. Demzufolge wird im abschließenden Teil der Tetralogie eine realitätsbezogene sozial-politische Utopie dargeboten. Der „Geist“ dieser Utopie liegt in der Werbung um die Idee der „Humanitas“ als eines mythisch-utopischen Entwurfes, in Anbetracht dessen geschichtlichzukünftigen Charakters sich nicht nur das Leben der in die Arbeit der mythisch-diskursiven Praktiken verfangenen Einzelnen, sondern auch das Leben ganzer Völker zu ereignen hat. Dabei kann eine solche Utopie der „Vergeistigung des Lebens“ von Einzelnen und ganzen Völkern nur auf einem Mythos gründen, und zwar jenem über die Rolle des Menschen als eines Vermittlers zwischen „göttlicher“ und „irdischer“ Welt, was mit Manns ins Historische gerückten und in der Tetralogie aufs Neue poetisch verarbeiteten Vorstellungen über die Rolle des Künstlers eng verbunden ist. Der Künstler ist nämlich dank seiner „geistigen“ Veranlagung im Stande, in seinen poetischen Entwürfen die den Alltagsmenschen an die aktuellen

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mythischen Diskursivierungspraktiken bindende Schwerkraft aufzuheben und diesen in seinen schwerelosen Werken auf die Wege der Humanisierung der eigenen Existenz hinzuweisen. Insofern stellt Manns Darstellung der Entwicklung der Joseph-Gestalt vom eingebildeten Auserwählten zum Volksernährer ein Mittel dar, den Menschen aus seiner Verfangenheit in die mythische Wirklichkeitsdiskursivierung herauszulösen. Eine solche Herauslösung aus dem Versinken im Stimmengewirr des „Brunnens“, worin sich der Mensch in seiner sich spiralförmig ereignenden Geschichte immer wieder einzugeben hat, bildet die eigentliche Problematik der Joseph-Tetralogie. Die Diskursivierung der Wirklichkeit kann nämlich grundsätzlich auf zwei Weisen erfolgen: auf jene, welche den Menschen zum Bösen, das Leben und die Seele Zerstörendem sowie auf jene, die zum Guten, das Leben und die Seele Bereicherndem führt. Dabei ist dem Menschen selbst überlassen, wie er der ewigen Wiederkunft des Gleichen bzw. der sich immer wiederholenden Diskursivierung seiner historischen Lebenskonstellationen entgegentreten und seine Rolle innerhalb des mythischen Stimmengewirrs gestalten wird. Das Entscheidende für Mann ist, dass man die humane Ausrichtung des menschlichen Daseins nicht aus den Augen verliert und sich deren als Maßstab des Herauskommens aus der je eigenen Verfangenheit im Mythischen zu bedienen hat. Demgemäß liegt der Joseph-Tetralogie Manns Absicht zugrunde, die mythologisierende Wirklichkeitsdiskursivierung der Nationalsozialisten anhand ihrer „Blut-und-Boden-Ideologie“ zu entmythologisieren, indem er die aktuelle Wirklichkeit pseudohistorisierend remythologisiert. Dabei steht im Hintergrund der Tetralogie die jahrelang schon andauernde Abrechnung des Autors mit der „romantischen Barbarei“, deren Abwandlung in Form nationalsozialistischer Mythomanie er hier seinen eigenen sozialliberalhumanen Mythos entgegenstellt. Ein solcher neue Mythos-Entwurf scheint nach dem Roman Zauberberg, dieser gewaltigen poetischen Verabschiedung Manns von Romantik bzw. von Nietzsches Vorstellung über die Lebensgestaltung durch das Leben

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selbst, die im blutigen „Donnerschlag“ des Ersten Weltkrieges mündete, erneut erforderlich zu sein, um in den 1930er Jahren einem neuen „Donnerschlag“ entgegenzuwirken. Diesmal überwindet Mann jedoch Nietzsches lebenszersetzenden Nihilismus, indem er nicht nur die Idee der Wiederkunft des Gleichen in die Arbeit des mythischen Diskurses verlegt, sondern auch die Amor-Fati-Idee, die bei Nietzsche den Menschen an die Forderung nach irdischer Lebensgestaltung bindet, ins Trachten nach der Verwirklichung der „Geist- und Seele-Vereinigung“ als den einzigen lebenserhaltenden Mythos umfunktioniert. Die Folge davon ist zugleich, dass die Problematik der Erdverbundenheit und Erdgebundenheit des Menschen, die Nietzsche in der Idee des Übermenschen als eines von allen metaphysischen Zielsetzungen Abgelösten ausspricht, mit der Verbundenheit und Gebundenheit des Menschen an seinen jeweiligen historischen Kontext bzw. an dessen Humanisierung verknüpft wird. Indem der Mensch an der humanen Gestaltung seines je eigenen historischen Horizontes mitwirkt, vollzieht er seine immer wiederkehrende Aufgabe, gerade in diesem Horizont die „Vereinigung des Geistes und der Seele“ immer wieder aufs Neue zu leisten.

3.3 Krležas poetisch-engagierte Vereinnahmung von Zarathustras Aufruf zum Tellurischen Wie Thomas Mann so lernt auch Miroslav Krleža Nietzsches Gedankengut schon in seiner Jugend, im Jahre 1912, (vgl. ŽMEGAČ 1999b, 83; VISKOVIĆ 1999b, 559) kennen und ist mit dessen Umwertung aller Werte, mit dem darin enthaltenen Kulturpessimismus und der sich daraus ergebenden Kritik des Historismus begeistert (vgl. STANČIĆ 1990, 17-18).21 Krleža rezipiert nicht nur die Gedanken dieses Philosophen, sondern bemüht sich − wie auch Mann – auf Nietzsches Herausforderung, „mit dem Hammer zu philosophieren“, in eigenen Werken zu antworten. Das sozialpolitische Gerüst dazu findet Krleža im dialektischen Materialismus 21

Nietzsches großen Einfluss auf Krleža dokumentiert auch eine Tagebuchnotiz aus dem Jahre 1917: „Es gibt Bücher, die wirklich als göttlicher Donner erscheinen. Aus heiterem Himmel. So offenbarte sich auch mir eines Tages Nietzsche und wirkte auf mich stärker als Schopenhauer ein.“ (KRLEŽA 1953, 314)

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als Antithese zu Hegels allmächtigem Weltallgeist: Im Weltall herrscht keine Vorsehung in Gestalt einer rhetorischen oder metaphorischen Form, wonach über Dinge nach einem höheren Plan des Allmächtigen aus der Himmelsperspektive verfahren wird, sondern umgekehrt – von unten, von der Erde gen Himmel wirkt der menschliche Verstand seit dem ersten Tag, als der Mensch auf seine menschliche Weise zu denken begann (KRLEŽA 1953, 453). Diese Perspektive von unten ist das Grundmerkmal von Krležas Schaffen, das sich durch alle seine Werke durchzieht und worin er sich eines Themas bemächtigt, das „bisher noch kein marxistischer Romancier gründlich behandelt hat: Das Individuum konfrontiert mit der Geschichte als zerbrechliches ‚Subjekt‘ in Angesicht der ‚zermalmenden Objektivität‘“ (MATVEJEVIĆ 1978, 12). Diese „Tal“-Perspektive, aus der heraus Krleža das „Menschliche, Allzumenschliche“ in Form des zerbrechlichen Individuums ins Visier nimmt und zum Ausgangspunkt seiner Arbeit macht, ist schon in seinem Frühwerk enthalten, so auch in der Parabel zu Nietzsches Zarathustra unter dem Titel Zaratustra i mladić (1914) [dt. Zarathustra und der Jüngling].22 Dort wird in Nachahmung des hochpathetischen Stils von Zarathustra, worin sogleich Krležas parodistische Distanz zu Nietzsche erkennbar ist, 23 die fiktive Begegnung eines goldhaarigen Jünglings mit Zarathustra in seinen Berghöhen beschrieben. Der Jüngling kommt dorthin mit einem auf seiner Schulter sitzenden Todesvogel, ergriffen von „qualvoller Sehnsucht, die tief war wie grüne, stille Gewässer voll Schlagen und salzigen Algen“ (KRLEŽA 1914, 301). Die sein Herz zerreißende Qual besteht daraus, dass ihm „das Leben flieht. Ein Hirsch müsste man sein, möchte man es 22

Dass es sich bei diesem kurzen Text um keine Versteigerung eines anstehenden Dichters handelt, sondern um einen Text, der in nuce zahlreiche stilistische und inhaltliche Merkmale von Krležas Schaffen enthält und insofern einer von seinen wichtigsten Jugendwerken ist, geht schon aus der generischen Charakterisierung des Textes hervor, wonach darin „Elemente eines Dramoletts (M. Maeterlinck, H. Hofmannsthal), der balladesken Poesie in Prosa, eines dialogischen Essays (O. Wilde, H. Bahr) und gewiss einen offenen Hinweis auf den literarischen Stoff“ d.h. auf Nietzsches Zarathustra (ŽMEGAČ 1999a, 533) enthalten sind. 23 Zu näheren Gattungsbestimmung und literaturhistorischer Verortung dieses Textes sowie zu seinen Parallelen zu Nietzsches Zarathustra vgl. VIDOVIĆ 2012.

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einholen!“ (ebd.), meint der Jüngling. Auf seine Bekundung des tief empfundenen Kummers über die Lebenskürze erwidert Zarathustra, dass er den Duft der Blumen im Tal roch! Ihr leichter Blütenstaub fliegt durch die Luft und vergiftet die Gedanken. Also sind deine Gedanken vergiftet! Der Todesvogel verspürte schon seine Beute und nahm auf deiner Schulter Platz. Vertreib ihn aber, indem du lachen und tanzen beginnst! (Ebd.)

Zarathustra meint, der Jüngling sei nicht nur jung, sondern ist „das, was du erzählst, alt! Du zerstörst und kennst nicht die Schaffensheiligtümer“ (ebd.). – Und wo sind deine Heiligtümer? fragte ihn der Jüngling mit höhnischer Stimme. – Du zündest Leichen voll Sterben am ewig wiederkehrenden Feuer an. Und ich, wäre ich ein Stern, wäre mir das ewige Tanzen um dieselbe Sonne langweilig. Und du, du tanzt in einem so kleinen Reigen zwischen Menschen und Übermenschen und schmunzelst noch darüber und freust dich, du graubärtiges Kind! Also du schnalzt mit der Feuerpeitsche, ziehst Puppen am Seil und denkst, du seist ein Halbgott. Sind denn das die Schaffensheiligtümer? Und ich? Ich will noch mehr. Und geht es nicht höher, so soll ich wieder zurückkehren, wo ich schon war… (Ebd., 301-302)

Zarathustra betrachtete den Jüngling eine Zeit lang, währenddessen „in ihm der gute Hirte und der gierige Fischer“ (ebd.) kämpften, „bis er doch zuletzt seinen Köder auswarf“: In deiner Seele ist es dunkel. Also fliegen dort die Nachtvögel des Todes. Du trägst in dir den Wurm, der dich zersetzt und kannst nicht das Wort des Lebens hören. Mit erloschenen Augen irrst du durch die Welt und es genügt dir nicht, was dir in Hülle und Fülle angeboten wird. Also du willst – mehr! Also du kannst höher klettern, mehr aber nicht finden… Mehr kannst du nicht finden, so spreche ich zu dir! Denn die Weisheit ist nicht im Klettern, sondern darin, was man in den Höhen findet. Auch der Rauch steigt nach oben, verflüchtigt sich jedoch dort. Ich sage dir also, du bist ein solcher Rauch, der sich verflüchtigen wird. (Ebd., 302)

Der Jüngling beißt aber in den Köder nicht, sondern wirft Zarathustra vor: − Worte sind das, Zarathustra, sagte der Jüngling, stolz sein Haupt erhebend wie ein Adler vor seinem Aufschwung, nur leere Worte. Und es gibt keine Wahrheit in diesen Leerheiten, nur bunte Geschichten und Dichterseufzer, an denen nur schöne Gefühle kleben bleiben! Und du bist alt und langweilig, gleich jenen aus den Tälern, und du bist, Zarathustra, auch in einem hohen Tal! Und ich? Ich lache. Ich lache über dich und über jene, die immer noch in den Tälern sind… (Ebd., 302)

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Als der Jüngling vor lauter Lachen in Tränen ausbricht, schlägt „der Todesvogel mit seinen aschgrauen Flügeln gegen seine Locken. […] Und es kam die Stunde und die schöne, tote, blutbespritzte Leiche tauchte in die Wellen des Wassers des Vergessens ein“ (ebd., 302). Die Parabel endet kurz danach damit, dass Zarathustra nach zehn Jahren in der Morgenröte vor die Sonne tretend feststellt: „Zweifel ist in meinen Gedanken!“ (ebd.) Die Parabel scheint auf Krležas genuine Nietzscheverarbeitung hinzuweisen, die auch später einen festen Bestandteil seines poetischphilosophischen Gerüsts bilden wird. Zentral ist der Vorwurf Krležas, dass Nietzsche auf seiner Suche nach der erdgebundenen und erdverbundenen Ausgestaltung menschlicher Existenz sein analytisches Gerüst an das eigene Gedankengebäude nicht anwendet. Denn derjenige, der die Wahrheit über die tellurische Herkunft des Menschen wiederendeckt und diese zum Vehikel seiner Philosophie gemacht hat, begibt sich in Zarathustra in die Höhen, weit weg vom Tellurischen, um dort sein eigenes „Gedankental“ auszuspinnen, wo seine Lehren nach Krleža zu „Leerheiten und bunten Geschichten“ ausarten, die bestenfalls nur „Dichterseufzer“ hervorrufen. Um den Menschen dazu zu bewegen, sich seiner Herkunft wieder bewusst zu werden, was Nietzsches Grundgedanke ist, scheint es jedoch erforderlich zu sein, ins Tellurische selbst hinunterzusteigen. Es ist die Grundforderung, die Krleža in der Gestalt des Jünglings Zarathustra entgegensetzt: Anstatt Gedankengebäude in den abgeschirmten Höhen zu bauen, hat man sich in die Niederungen des Menschlichen zu begeben, um dort im Rahmen einer die menschliche Existenz zerlegenden Analyse die Vorarbeit des Übermenschen zu leisten. Deshalb begibt sich auch der Jüngling in der Parabel zurück ins „Tal“, obwohl das Verweilen unter den „letzten Menschen“, der Menschenherde, – wie schon in Zarathustra angedeutet – lebensgefährlich ist. Denn in den Niederungen wartet auf den Wahrheitsliebenden der „Todesvogel“, worunter das Sinnbild des sich Gewöhnens ans flache, oberflächliche, genussorientierte Leben der „letzten Menschen“ im Tal zu verstehen ist, das jeden Gedanken an das Wahre zerfrisst, wovor Zarathustra zuletzt in die Höhen flieht. Durch den

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Beschluss, zurück ins Tal zu gehen, scheint sich der Jüngling selbst zum Tode zu verurteilen: Dieser besteht aus dem Versinken ins durch die Täler fließende und das Leben im Tal schmackhaft machende „Wasser des Vergessens“, welches das Glück der Herdenmenschen umspült und somit die Erinnerung an die Grundaufgabe des Wahrheitsliebenden ausspült. Gegen ein solches todgeweihte Verschwinden im genussvollen Durchschnittsleben der Herdenmenschen ist die einzige Waffe das, was Krleža im Nachhinein in Zarathustras Seele reifen lässt: Die Einsicht nämlich, dass jeder wahren Erkenntnis, sowohl jener in den Höhen als auch jener in den Niederungen, Skepsis zugrunde liegt. Der allumfassende, kompromisslose Zweifel gegenüber allem und allen scheint das einzige feste Fundament zu sein, worauf die kritisch-analytischen Darstellungen des menschlichen So-Seins aufzubauen sind. Daraus ist zu schließen, dass Krleža gegenüber Nietzsche der Meinung ist, dass sich der Wahrheitsliebende gerade in die Abgründe des Menschlichen zu begeben hat, in dessen blutig-materielles Sein hinunterzusteigen hat, weil sich nur dort das wahre, tellurische Wesen des Menschen ereignet und nur dort die Wahrheit über den Menschen zu finden ist. Alles andere wäre dem Ausbau eines metaphysischen und das heißt eines vom Irdischen abgelösten Gedankengebäudes ähnlich, was Krleža eben Nietzsches Zarathustra als Mangel vorwirft. Kritisch-engagiertes Bloßlegen des menschlichen Daseins anstatt aristokratischer Isolierung in geistigen Höhen scheint das Losungswort von Krležas Poetik zu sein. Die Grundlage einer solchen Bloßlegung bildet dabei die Skepsis, die in Krležas Händen zum Skalpell wird, womit er Nietzsches Arbeit fortsetzt, indem er im Finsteren der menschlichen Existenz poetische Vivisektion betreibt. Das einzig Gewisse, das dem Menschen dabei übrig bleibt, ist die von der Vernunft geleitete Skepsis gegenüber allen Wahrheiten − mögen diese auch aus welchen immer Höhen oder Tiefen stammen −, die vorgeben, das Rätsel der menschlichen Existenz gelöst zu haben. Alle solche „Wahrheiten“ sind immer wieder kritisch zu überprüfen, indem sie sezierend auseinandergenommen und – sofern unzulänglich befunden – verworfen werden.

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Darauf scheint auch die poetisch-engagierte Absicht des Balladenzyklus begründet zu sein. Dort wird darauf hingewiesen, dass es sich in der Geschichte um die ewige Wiederkunft dergleichen Existenz des Menschen handelt, aus der es kein Entfliehen gibt und kein Ausweg in eine andere Welt als gerade dieselbe irdische, die dem Menschen in der Gegenwart gegeben ist, führt. Das ewige „Hier“ und „Jetzt“ des tellurischen So-Seins des Menschen ist das einzige Gewisse, was dem Dichter als poetisches Material gegeben ist und was er zu (de)konstruieren hat, um im Nebel der Geschichte zum Menschlichen vorzudringen, dieses auszuleuchten und die Vorstellung davon, wie es war, ist und dem Anschein nach auch sein wird, an die Nachkommenden weiterzureichen. 4.

Manns Joseph-Tetralogie und Krležas Balladen als ein poetisches „Metaphysion“

Wie schon dargelegt, dient die Geschichte sowohl in Manns JosephTetralogie als auch in Krležas Balladenzyklus als Projektionsfläche, worauf beide Autoren ihre Vorstellungen vom Wesen des Menschlichen darzustellen versuchen. Dabei ist beiden der historische Kontext gemeinsam: Das in den 1930er Jahren immer stärker in den Vordergrund Treten der totalitären Regime in zahlreichen europäischen Ländern und die Anbahnung der daraus entstehenden blutigen Folgen. Darauf reagiert Mann damit, dass er der nationalsozialistischen Vereinnahmung des Sozialen durch die Blut-und-Boden-Mythologie den eigenen Mythos von der Notwendigkeit der „Vereinigung des Geistes und der Seele“ entgegenstellt. Darunter ist die Forderung nach einer solchen Diskursivierung des menschlichen Daseins zu verstehen, worin der im Netz diskursiver Praktiken verfangene Mensch den Weg zu seiner Rolle im diskursiven Stimmengewirr nicht nur zu finden, sondern diese Rolle auch zu verwirklichen hat. Insofern erblickt Mann die grundlegende Aufgabe des Menschen in dessen humanem Wirken, weil nur ein solches das Leben bereichert bzw. vermehrt, während inhumanes Wirken das Leben zerstört, weshalb es nach Mann als ungeistig zu verwerfen ist.

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Aus diesem Grund ist für Thomas Mann auch die poetische Produktion mit einem solchen sozialen Engagement aufs Engste verbunden, das der Aufdeckung der humanen Potentiale des Menschlichen verpflichtet ist. Dabei ist entscheidend, dass man die im gegenwärtigen historischen Horizont wirkenden unterschiedlichen Diskursivierungspraktiken durchschaut und sich über diese erhebt, um in deren Stimmengewirr den je eigenen, das Leben bereichernden Weg zu finden. Dies tut auch Joseph in der Tetralogie, indem er die durch den mythischen Diskurs an ihn vermittelte Rolle des Auserwählten bei Seite legt und seine wahre Aufgabe in der Rolle des „Volksernährers“ erblickt. Es ist eine Rolle, deren Grundlage in der Vermittlung zwischen dem Himmlischen und dem Irdischen, zwischen süßen Träumen und bitterer Realität, liegt, um mit „Segen von oben“ und mit „Segen von unten“ ausgestattet den lebensfördernden Weg innerhalb des eigenen historischen Horizontes anzutreten und diesen womöglich darin auch zu erweitern. Damit sprich Mann Nietzsches Aufforderung an, sich der Erdgebundenheit und Erdverbundenheit des Menschen zu besinnen, was aber in der Tetralogie nicht in Zarathustras aristokratisch-isolierte Höhen führt, wie das noch der Fall in Manns Roman Der Zauberberg war, sondern in die Niederungen der menschlichen Existenz. Diese stellen in der Tetralogie den wahren Handlungsort des Menschlichen dar, weil sich nur dort aus dem ins Tellurische versunkenen „Menschlichen, Allzumenschlichen“ eine Existenzform herausbilden kann, die weder im „Nicht-Heroischen“ noch im „Heroischen“ ausschließlich begründet ist, sondern das Humane vermittelnd in der Mitte zwischen diesen zwei Polen steht. Als Prototyp einer solchen Vermittlung bedient sich Mann in der Tetralogie wiederum der Künstlergestalt, anhand deren die Notwendigkeit des poetischen Traumes von der humanen Entwicklung des Menschen aufs Neue aufgerollt wird. Dabei besteht die in der Tetralogie enthaltene gegenwartsbezogene utopische Hoffnung daraus, dass der Mensch seinem historischen Kontext mit „Geist“ begegnen wird, worunter die Verwirklichung jener humanen Ansätze des Menschen im Geschichtlichen zu verstehen ist, welche die

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„Seele“ des Einzelnen auf seinem Pfad des Zusammenlebens im Sozialen leiten wird. Um dieser Grundabsicht willen entwirft auch Mann die JosephGestalt als Sinnbild eines im mythischen Stimmengewirr zuerst irrenden und dann doch human wirkenden Menschen. Beinah parallel zu Mann entwickelt auch Krleža in seinem Balladenzyklus am Beispiel des nordkroatischen Bauernvolkes seine Vorstellungen von der ewigen Wiederkunft des Gleichen. Ausgehend vom Verständnis der menschlichen Existenz als einer primär durch Qual und Pein bestimmten Daseinsform, womit Krleža auf die sich im 20. Jahrhundert vermehrenden historischen Schrecknisse reagiert, entwickelt er ein Geschichtsverständnis, wonach der Mensch seine Herkunft aus dem „diluvialen Schlamm“ nie überwinden wird. Dabei handelt es sich − wie auch bei Thomas Mann − um die von Nietzsche entlehnte Vorstellung vom zyklischen Geschichtsverlauf, in dem sich aber – gegenüber Thomas Mann – der Mensch in seinem SoSein nie ändern wird. Denn, wie tief bzw. hoch auch der „Brunnen“ ist, wie viele Generationen dort drinnen auch erscheinen mögen, der Mensch bleibt seiner qual- und peinvollen Existenz auf immer verschrieben. Als Folge davon entwirft Krleža in Balladen keinen tröstenden poetischen Traum bzw. Mythos, sondern verweist − wie in der Ballade „Khevenhüller“ – darauf, dass den grundlegenden Rahmen der Existenz, solange der Mensch lebt, und das heißt solange in seinen Adern Blut fließt und er folglich bluten kann, Qual und Pein ausmachen. Diese sind unauslöschlich, solange die Gattung Mensch bzw. das Leben auf der Erde selbst nicht ausgelöscht ist. Bis dahin bleibt für Krleža der Mensch an seine tellurische Herkunft unwiderruflich gebunden, weil das Tierische bzw. das Triebhafte seines Wesens in allen geschichtlichen Situationen über sein Untierisches, und das heißt über seine „Unnatur“ als vernunftbegabtes Wesen, immer wieder triumphiert. Dabei ist das Verhältnis auch zwischen diesen zwei Polen im Sine von Krležas epistemologischem Paradigma als ein „antithetisches Kreisel“ zu verstehen: Das ewig präsente Tierisch-Triebhafte im Menschen verbindet sich in der Geschichte immer wieder mit dessen Gegenpol, dem UntierischVernünftigen, und zwar nicht um die Triebhaftigkeit des Menschen durch

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Vernunft zu zügeln, sondern öfters die menschlichen Vernunftanlagen als Mittel der Befriedigung des Tierisch-Triebhaften zu missbrauchen. Es scheint nach Krleža, als ob sich der Mensch nach seiner vernunftgeleiteten Emporhebung aus „dem diluvialen Schlamm“ durch das Triebhafte derart leiten lässt, dass er in den „Schlamm“ wieder zurückfällt, ohne jedoch darin liegen zu bleiben, weil ihn der untierisch-vernünftige Gegenpol immer wieder dazu anstachelt, sich trotz allem erneut zu erheben und somit den ewigen Gang zwischen dem Tierisch-Triebhaften und UntierischVernünftigen fortzusetzen. Insofern kreist der Mensch nach Krleža in seiner Geschichte immer wieder um dieses Herauskommen aus und Hinuntersinken ins Tellurische, deren zyklische Wiederholung kein Ende nimmt. In diesem Sinne wird der Mensch in Krležas Balladen gemäß Nietzsches Forderung bis unter die Haut entblößt, indem auf seine Triebhaftigkeit als den wahren Grund seiner Erdverbundenheit und Erdgebundenheit verwiesen wird. Dabei entzieht Krleža dem Menschen jede Hoffnung auf ein Herauskommen daraus, indem er ihn in seinen Werken im ewigen Kreisen um sein bipolares, tierisch-untierisches Wesen utopie- und syntheselos schweben lässt. Ein Beispiel dafür ist wiederum die Ballade „Khevenhüller“, wo die menschliche Existenz auf ihr bloßes Faktum des Bestehens zurückgedrosselt wird. Alles darüber hinaus Greifende scheint nur Trug und Lug zu sein, der dann zu Mythosophemen entartet, aus denen das Geschichtlich-Neblige entsteht. Beide poetische Welten, sowohl Manns als auch Krležas, beruhen jedoch auf metaphysischen Annahmen sowohl über den Geschichtsverlauf als auch über das Wesenhafte am Menschen. Beiden Autoren ist Nietzsches Vorstellung vom Geschichtlichen eigen, wonach sich das So-Sein bzw. die Lebenskonstellationen des Menschen im zyklischen Verlauf der Geschichte wiederholen, was eine die Erfahrung des Menschen übersteigende und insofern metaphysische Annahme ist, die in ihren pessimistischen Folgen lebenszersetzend ist. Um diesen Nihilismus der ewigen Wiederkehr des Gleichen im Geschichtlichen aushalten zu können, spinnt Mann in der Tetralogie den

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utopischen Traum von humaner Sendung des Menschen in Form der Idee von der „Vereinigung des Geistes und der Seele“ aus, worin er Nietzsches nihilistisches Gedankengut zu überwinden versucht. Demgegenüber bleibt Krleža der Erdgebundenheit und Erdverbundenheit von Nietzsches Gedankengut treu, indem er in seinen Balladen keine hoffnungstragende Synthese anbietet, sondern bei der Darstellung der Geworfenheit des Menschen in sein schlammig-tellurisches Dasein bleibt. Dabei entblößen beide Autoren in ihren Werken das Menschliche. Thomas Mann tut das, indem er es auf die Opposition zwischen Geist-Seele zum einen und dem Tellurischen zum anderen reduziert, in deren Rahmen die Aufgabe des Menschen daraus besteht, seine „Seele“ mittels des „Geistes“ aus der Verfangenheit ins Irdische herauszulösen, um den Weg der Humanisierung des je eigenen historischen Horizontes einzuschlagen. Dabei kommt die zweite wichtige metaphysische Annahme Manns zum Vorschein, nämlich die utopische Vorstellung davon, dass dem Menschen überhaupt eine humanisierende Aufgabe zugedacht sei. Bei Krleža bleibt die Entblößung des Menschlichen seinem antithetischen Kreisel verhaftet. Auch bei ihm ist das Wesen des Menschen bipolar aufgebaut, indem er auf das Tierisch-Triebhafte zum einen und auf das Untierisch-Vernünftige zum andern als die Grundzüge des Menschlichen hinweist. In der Darstellung des antithetischen Kreiselns dieser zwei Pole um die tellurische Her- und Hinkunft des Menschen überwiegt bei Krleža jedoch das Tierisch-Triebhafte, das den Menschen immer wieder in den „diluvialen Herkunftsschlamm“ zurückwirft. Dennoch scheint auch Krleža, zwar nicht so optimistisch wie Mann, an die Möglichkeit der Humanisierung menschlicher Existenz im jeweiligen historischen Horizont zu glauben. Dieser Glaube ist aber minimal und beruht nur auf der Tatsache, dass der Mensch − trotz allen seinen geschichtlichen Gräueltaten – noch immer existiert. Anhand der metaphysischen Annahmen über den zyklischen Verlauf der Geschichte und über die bipolare Struktur des menschlichen Wesens bauen beide Autoren in ihren Werken eine Art poetischen „Metaphysions“ auf, der wie das „Gymnasion“ in der Antike seine Funktion darin hat, dass man

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den Menschen, aller „Kleidung“ entblößt, sich in seinen Fähigkeiten einzuüben lässt. Dieses Einüben der geistigen Fähigkeiten bleibt jedoch in den Werken beider Autoren ihrer metaphysischen Annahme von der humanisierenden Aufgabe des Menschen verhaftet. Denn, ob und inwiefern diese Aufgabe dem tatsächlichen Gang des Menschen durch seine Geschichte entspricht, bleibt offen, insbesondere bedenkt man all die Erfahrungen, die man in der Geschichte der Menschheit gemacht hat. In Bezug darauf stellt sich die Frage, ob sich überhaupt die humanen Ansätze im menschlichen Wesen zu ernstzunehmenden geschichtstragenden Kräften entwickeln können? Besonders wenn man wie Ulrich Horstmann den Menschen als ein „Untier“ versteht, dem vor allem die „Lust am Untergang“ (HORSTMANN 2004, 12) eigen ist.24 Dabei meint Horstmann, im Falle der Gattung „Mensch“ handle sich um „Parias und Entartete, eine evolutive Fehlform, die sich in einem Spasmus der Vernichtung selbst ad absurdum führen und zurücknehmen wird“ (ebd., 68). Denn „mit dem Anlaufen der philosophischen Sinnmaschine im 6. vorchristlichen Jahrhundert“ (ebd., 17) habe der Mensch den Pfad des anthropozentrischen Gattungsnarzissmus eingeschlagen. Auf diesem habe er sich dank der Vernunft über die Natur erhoben, sich selbst zum eigentlichen Ziel des Gesamtbelebten auf der Erde erklärt, womit er zum „Untier“ wurde, zu einem sich selbst im Belebten als ein fremdes Körper fühlenden Wesen, das sich dem Gesamtbelebten immer wieder entgegen- und widersetzt. Da stellt sich die Frage, ob sich ein solches Wesen in seinem anthropozentrischen Rauschzustand nicht zu einer Waffe entwickelt, die letztendlich den Untergang des Belebten auf dem Planeten Erde verursachen wird? Von den archaischen Völkerwanderungen über die unzähligen Gemetzel im Mittelalter bis zu den großen neuzeitlichen Kriegen wie dem Dreißigjährigen Krieg, Ersten und Zweiten Weltkrieg – alle diese Blutbäder, in denen der Mensch in seinem geschichtlichen Gang badete –, stellen Bekundungen dar, in denen die 24

In seinem zwei Jahre nach Sloterdijks Kritik der zynischen Vernunft erschienen Buch Das Untier, „in dem mit Theoretikern wie Montaigne, Schopenhauer, Freud u. Foucault die Einschätzung untermauert wird, dass die evolutionäre Entwicklung auf die Selbstvernichtung der Menschheit zulaufe, erörtert H.[orstmann, Anm. des Verfassers] die philosophisch-anthropolog. Basis, auf der er mit schwarzem Humor u. unpathet. Skepsis sein literar. Gesamtwerk gestaltet“ (KILLY/KÜHLMANN 2009, 591).

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humanistischen Prämissen des noch aus der Antike herrührenden Anthropozentrismus ihre barbarische Widerlegung erfahren (vgl. ebd., 21) bzw. das Humane als Maßstab des menschlichen Wesens immer wieder desavouiert wird. Geht man von dieser extrem pessimistischen und vielleicht doch nicht so unberechtigten Vorstellung vom Menschen als einer Gattung aus, deren letztendliche Leistung daraus besteht, das Belebte durch Anwendung der eigenen, hochtechnifizierten Vernunftkultur auszulöschen und damit den Planeten Erde zu seiner ursprünglichen unbelebten Form zurückzuführen, dann bleibt Manns Vorstellung von der „Vereinigung des Geistes und der Seele“ zwecks Verwirklichung der lebensbereichernden Humanisierung des je eigenen historischen Horizontes nur eine nie einzulösende metaphysische Annahme des „anthropofugalen Denkens“ (vgl. ebd., 102). Es ist ein Denken, das in seiner anthropozentrischen Ausrichtung die Hoffnung aufrecht erhält, dem Menschen sei im Belebten doch eine das Materielle überschreitende Aufgabe zugedacht, und zwar eine, die in seinem eigenen Wesen verankert sei und die man zuletzt als eine humane identifiziert. Was aber, wenn diese Aufgabe eigentlich in dem das Gesamtbelebte Zerstörenden liegt? Was, wenn die Gattung „Mensch“ nur eine Instrument der Selbstzerstörung des Belebten in dessen zyklisch stattfindender Selbstentfaltung ist? Aus dieser Perspektive scheint es sich bei der Vorstellung vom Menschen als einem humanen Wesen um eine den menschlichen Erfahrungshorizont transzendierende und insofern metaphysische Annahme über die Zielsetzung des Geschichtlichen zu handeln, die in ihrer humanen Ausprägung einem Wunder näher steht als den Realien der menschlichen Existenz. Eine solche Diagnose der geschichtlichen Entwicklung des Menschen scheinen auch die Ereignisse im gegenwärtigen historischen Horizont zu bestätigen: Wird denn in der Gegenwart nicht eine dem TriebhaftTierischen verschriebene Form der menschlichen Kultur entwickelt, worin sich das Triebhaft-Tierische des Menschen durch globale Kapitalisierung der menschlichen Existenz des Untierisch-Vernünftigen bemächtigt, um die Hybris der Hab- und Machtgier des anthropozentrischen Denkens und Seins maßlos weiterzutreiben? Man möchte über jede mögliche Grenze

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leben. So ist zu fragen, ob im allumgreifenden, auf Genuss und Egozentrik ausgerichteten Netz der hochtechnifizierten Kultur der Traum von der humanen und das heißt sich selbst einschränkenden Existenz noch erheblich ist, geschweige denn möglich? Sind die soziosymbolischen Hierarchien in der Gegenwart nicht schon so ausgelegt, dass in ihnen der Mensch und das Menschliche keine Frage mehr sind, sondern eine Antwort, die man ad acta gelegt hat? Ist nicht zuletzt zu fragen, ob in Anlehnung an Nietzsche nicht nur der Gott, sondern auch der Mensch tot sei und man völlig vergessen hat, dass Nietzsche zugleich auf die schweren Folgen dieser Gottestötung hingewiesen hat, indem er die Frage nach der Fähigkeit stellt, eine solche Tat selbstverantwortend zu tragen: Wir haben ihn getötet – ihr und ich! Wir alle sind seine Mörder! Aber wie haben wir dies gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? Müssen nicht Laternen am Vormittage angezündet werden? Hören wir noch nichts von dem Lärm der Totengräber, welche Gott begraben? Riechen wir noch nichts von der göttlichen Verwesung? – auch Götter verwesen! Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir haben ihn getötet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besaß, es ist unter unsern Messern verblutet – wer wischt dies Blut von uns ab? Mit welchem Wasser könnten wir uns reinigen? (NIETZSCHE 1999b, 125-126)

Ans Irdische gebunden scheint man auf bestem Wege zu sein, das sich immer wiederkehrende So-Sein in uns und um uns zu verscherzen. Denn im gegenwärtigen Stimmengewirr des „Brunnens“ scheint man in dem von Hybris geleiteten Ausgriff nach neuen, durch die allumgreifende Vertechnifizierung des menschlichen Lebens vermittelten Mythemen dazu bereit zu sein, die humane Menschenkonstruktion gleichwohl wie jene theologische ehemals als überflüssig über Bord zu werfen. Da erscheinen Manns und Krležas Werke als eine Mahnung und Aufforderung, sich der Frage nach dem Wesentlichen am Menschen zu besinnen. Dabei ist Manns Besinnung jene optimistischere, weil diese in der Geworfenheit des Menschen in den je eigenen historischen Horizont

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doch eine Möglichkeit zur humanen Selbstbe(s)tätigung des Menschen erblickt. Diese wird als vermittelnde Rolle des Künstlers dargeboten, der in seiner poetischen Diskursivierung der Wirklichkeit dieselbe abzumessen, ihre inhumanen Defizite festzustellen und somit das Licht des Humanen in tellurischer Dunkelheit anzuzünden hat. Insofern ist bei Mann die letzte Hoffnung an die künstlerische Betätigung des Menschen gebunden, deren grundlegende Aufgabe in der von Nietzsche stammenden Aufforderung liegt, die menschliche Existenz als eine schöne zu rechtfertigen. Deren Schönheit besteht bei Mann gerade in seinem Hinweis auf die Notwendigkeit der humanen Gestaltung des Lebens, die trotz allem Inhumanen aufrechtzuerhalten sei. Demgegenüber desillusioniert Krleža in seinen Balladen sogar die Vorstellung von der Künstlergestalt. Ausgehend von der allumgreifenden Verwurzelung des Menschlichen im Tierisch-Triebhaften als seiner primordialen Grundeigenschaft, erblickt er darin auch das Künstlerische angesiedelt: Zwar scheint der Künstler über die Fähigkeit zu verfügen, die Nacht zu erhellen, lebt jedoch „[i]n lichtloser Schenke, zu stockfinstrer Stunde“ (KRLEŽA 1936, 147), wo er „aus dem gähnenden Schlunde, / in Hirn und Gedärm eine blutende Wunde, / vereinsamt, wie die sterbende Hunde, [nur aufheulen]“ (ebd.) kann. Insofern rezipiert Krleža auch die Rolle des Künstlers im Rahmen seines „antithetischen Kreisels“ völlig illusionslos, wobei er das Bild vom „bespuckten Pionier“ entwirft, wie er sich selbst sein Leben lang fühlte: Denn heute noch ist der Poet Pionier, gepeinigt, verschmäht, wie ein tollwüt’ges Tier. Auch heut’ wird sein Wirken mit Spucke quittiert, das anders es wär’, das ist noch nie passiert. (Ebd., 124)

BIBLIOGRAPHIE Primärliteratur HORSTMANN, ULRICH (2004). Das Untier. Konturen einer Philosophie der Menschenflucht. Warendorf: Hoof. KRLEŽA, MIROSLAV (1914). „Zaratustra i mladić“. In: Suvremenik 9 (1914), 301-302.

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Tihomir Engler The metaphysical horizons of history in Mann’s four-part novel Joseph and in Krleža’s Ballads of Petrica Kerempuh mirrored in the reception of Nietzsche Summary The paper examines and compares the understanding of history in Thomas Mann’s fourpart novel Joseph with the one in Miroslav Krleža’s Ballads of Petrica Kerempuh. The introductory part of the paper provides the background of the writing processes together with the reactions of the two authors to the historical context in which both works were created. Furthermore, the paper then explores the understanding of history in the abovementioned works based on the authors’ attitude with the premise that their attitudes are the result of their metaphysical perception of history as cycle. This results in creating a poetic „Metaphysion“, the roots of which are present in Nietzsche’s nihilistic thoughts. Mann and Krleža attempt to overcome these nihilistic thoughts in their works. These attempts by Mann come in form of an artistic Humanitas-myth, the main idea of which is intermediation between the tellurian and the spiritual. With Krleža on the other hand, this attempt stumbles on the fact that Man is rooted in his „diluvial“ origin which questions any kind of spiritualization of human existence. Key words: Thomas Mann, Miroslav Krleža, understanding of history, four-part novel Joseph, Ballads of Petrica Kerempuh, reception of Nietzsche

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CAMILL HOFFMANN, EIN JUDE ZWISCHEN TSCHECHEN UND DEUTSCHEN, UND SEIN NACHLASS IM LITERATURARCHIV MARBACH AM NECKAR Jan Čapek Universität Pardubice (jan.capek@upce.cz) Zusammenfassung Der Lyriker und Diplomat Camill Hoffmann, geboren 1878 im böhmischen Kolín, aufgewachsen in den zwei Sprachen seines Landes, wurde zu Anfang des 20. Jahrhunderts mit zwei Bänden volksliedartiger Gedichte bekannt: Adagio stiller Abende (1902) und Die Vase (1910). Er war Journalist der Zeitung Die Zeit in Wien, Feuilletonredakteur an den Dresdner Neuen Nachrichten und Gründer der Prager Presse. Nach Masaryks Wunsch hatte Hoffmann 1920 den Posten des Presseattachés an der Tschechoslowakischen Botschaft in Berlin übernommen, wo er bis 1938 blieb und als Vermittler der tschechischen Kultur sowie Brückenbauer zwischen der tschechischen und deutschen Welt wirkte, genauso wie viele seiner österreichisch-tschechoslowakischer Landsleute jüdischer Herkunft, deren kurze Geschichte in den Ländern der böhmischen Krone ebenfalls dargestellt wird. Er übersetzte belletristische Werke sowie Sachliteratur ins Deutsche, schrieb weiter Gedichte, veröffentlichte sie jedoch nicht mehr. 1942 mussten sich Hoffmann und seine Frau dem Transport nach Theresienstadt anschließen und am 28.10.1944, am Jahrestag der Gründung der Tschechoslowakei, wurde der tschechische Jude deutscher Sprache mit dem letzten Zug aus Theresienstadt nach Auschwitz abtransportiert und sofort vergast. 1999 bekam das Literaturarchiv Marbach am Neckar von seiner Tochter Edith Yapou aus Jerusalem einen kleinen Teil seines Nachlasses, 2002 kam dazu dank dem ehemaligen Attaché der Amerikanischen Botschaft in Prag, Herrn Ralph S. Saul, vom Depositum der Handschriftenabteilung der Chicago University Library als Stiftung ein größerer Teil des Nachlasses mit zahlreichen wertvollen Manuskripten. Stichwörter: Camill Hoffmann, tschechisch-deutscher Kulturkontakt, Geschichte der Juden in Europa, Judenverfolgung, Theresienstadt, Auschwitz, Literaturarchiv Marbach am Neckar, T. G. Masaryk, Eduard Beneš, Juden als Vermittler zwischen nationalen Kulturen, Holocaust.

1. Camill Hoffmann ist eine der weniger bekannten und trotzdem interessantesten Persönlichkeiten der Prager deutschen Literatur. Als Lyriker, Diplomat, Übersetzer, Mentor und Mittler begleitet er die Phase der Prager deutschen Literatur. Seine literarischen Werke beschränken sich im Wesentlichen auf die zwei Gedichtbände Adagio stiller Abende und Die

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Vase, der eine 1902, der andere 1910 erschienen. In den weiteren Lebensjahrzehnten schreibt er eher für sich selbst, veröffentlicht Glossen und Feuilletons, aber vor allem übersetzt er ins Deutsche, vermittelt zwischen der tschechischen und deutschen Literatur und nach seiner Entscheidung für die Politik im Jahre 1920 schrieb er zwar weiter Gedichte, veröffentlichte sie aber nicht mehr. In der Literaturgeschichte ist sein Name eher marginal und unauffällig, er gehörte jedoch zu den geistigen, politischen und kulturellen Protagonisten seiner Zeit, zu den wenigen, die alle wichtigen Ereignisse des gesamten Zeitraums zwischen 1894 und 1939 miterlebt und politisch, diplomatisch und teilweise auch künstlerisch mitgestaltet haben. Literaturarchiv Marbach am Neckar verfügt über einen relativ großen Teilnachlass von Camill Hoffmann – mehr als 400 Exemplare von unterschiedlichen Texten. 1999 hat Dr. G. Meyer, Leiter der Handschriftenabteilung vom Deutschen Literaturarchiv Marbach am Neckar, von der Tochter Camill Hoffmanns, Frau Edith Yapou in Jerusalem, einen kleinen Restnachlass ihres Vaters erworben. Ein größerer Teil war jedoch nach der Ermordung Hoffmanns und seiner Frau Irma in Böhmen geblieben und eine Freundin Hoffmanns hat Ende der 40er Jahre Papiere und Dokumente aus seinem Nachlass einem jungen Attaché an der amerikanischen Botschaft in Prag, Herrn Ralph S. Saul (heute in Philadelphia) übergeben. Herr Saul hat den Teilnachlass 1995 als Depositum der Handschriftenabteilung der Chicago University Library zur Verfügung gestellt. Als er davon hörte, dass Hoffmanns Tochter Papiere, die sich noch in ihrem Besitz befunden hatten, nach Marbach weitergeleitet hatte, entschloss er sich, das Depositum aus Chicago abzuziehen und als Stiftung dem Literaturarchiv Marbach zu schenken. Diesem Wunsch hat Herr Dr. Meyer im Jahre 2002 in Zusammenwirken mit der Leiterin der Handschriftenabteilung Chicago, Frau Alice Schreyer, entsprochen. Den Kern dieses Teilnachlasses bildet die Redaktionskorrespondenz des Feuilletons der Wiener Wochenzeitschrift Zeit und der Inhaltsreichtum und materielle Wert des großen Pakets mit zwei Archivschachteln, das im Archiv Marbach angekommen ist, war unerwartet groß. Die Neuerwerbung wurde als „Erwerbung des Monats“ bezeichnet, weil sie umfangreiche Mappen mit Briefen und Werkmanuskripten von namhaften

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Persönlichkeiten beinhaltete. So waren darin z.B. Otto Julius Birnbaum, Lovis Corinth (mit einem Manuskript Der Künstler und seine Stellung in der Gesellschaft vom Mai 1908), Theodor Däubler, Richard Dehmel, Marie von Ebner-Eschenbach, Walter Hasenclever (mit dem Manuskript seines expressionistischen Dramas Menschen), Hermann Hesse, Hugo von Hofmannsthal (mit zahlreichen Briefen, dem Manuskript des Essays Die unvergleichliche Tänzerin, dem Manuskript des Aufsatzes über Richard Muther, mit einer handschriftlichen Szene aus dem Jedermann und vor allem dem Autograph der berühmten Verse zum Gedächtnis des Schauspielers Josef Kainz), und weiter Detlef von Lilliencron, Alfred Mombert, Heinrich Mann (mit den Handschriften zweier früher Novellen: Die Branzilla und Die Ehrgeizige), Arthur Schnitzler, Hans Thoma, Jakob Wassermann, Stefan Zweig usw. Auch unter den Namen, die nur mit jeweils wenigen oder einzelnen Briefen vertreten sind, finden sich sehr bedeutende: Franz Schreker, Arnold Schönberg, Pfitzner, Reger, Leoš Janáček, Maurice Maeterlinck, Frans Verhaeren, Frank Wedekind und viele andere.

2. Camill Hoffmann wurde am 31. Oktober 1878 im böhmischen Kolín in einer jüdisch-deutschen Familie geboren und gehörte so später zu jenen Prager Juden, die durch ihre Zweisprachigkeit sowie ihre Position zwischen den Nationalitäten zu Grenzgängern, Brückenbauern und Vermittlern zwischen der deutschen und tschechischen Kultur wurden. Auch Hoffmann ist zweisprachig aufgewachsen, beherrschte das Deutsche und Tschechische, wie es damals für solche Familien typisch war, denn bis 1918 blieb Deutsch in allen Bereichen des öffentlichen Lebens der österreichischen Monarchie die dominante Sprache. Bereits unter Karl IV. (1316-1378) wurde die deutsche Schriftsprache in den amtlichen Verkehr Böhmens eingeführt. Im Jahre 1784 wurde Latein als Unterrichtssprache der Prager Universität aufgegeben und verlor an Bedeutung. An seine Stelle traten die Sprachen der böhmischen Länder: Tschechisch und Deutsch. Das Nebeneinander der beiden Sprachen und Kulturen sowie die Tatsache, dass es immer Deutsche und Tschechen gab, die die Sprache

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ihres Nachbarvolkes gut beherrschten, führten zu einer gegenseitigen Befruchtung, die Prag um 1900 zu einem kulturellen Zentrum in Europa machte. Eine höhere Bildung war noch lange Zeit ausschließlich in Deutsch möglich und erst Mitte des 19. Jahrhunderts hatte sich diese Lage verändert. Deutsch blieb jedoch die einzige Kommandosprache in der k. u. k. Armee, man durfte sich nicht einmal beim Appell in der eigenen anderen Landessprache melden. Eine militärische oder amtliche Karriere war nur mit aktiven Sprachkenntnissen möglich, sämtliche Staatsangestellten mussten Deutsch gut beherrschen, was manchmal zur Unterdrückung der eigenen nationalen Identität führen konnte, wie z. B. Jaroslav Hašek in seinem Buch „Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk“ zeigte: Oberleutnant Lukasch war der Typus eines aktiven Offiziers der morschen österreichischen Monarchie. Die Kadettenschule hatte ihn zu einer Amphibie erzogen. Er sprach in Gesellschaft deutsch, schrieb deutsch, las tschechische Bücher, und wenn er in der Einjährigfreiwilligenschule vor lauter Tschechen unterrichtete, sagte er ihnen vertraulich: „Seien wir Tschechen, aber es muss niemand davon wissen. Ich bin auch Tscheche.“ Er betrachtete das Tschechentum als eine Art Geheimorganisation, dem man besser von weitem ausweicht.1

Hoffmann eignete sich literarische Kenntnisse sowohl der tschechischen als auch der deutschen Dichtung an und es entspricht der Betrachtung Johannes Urzidils in Bezug auf die Entstehung der Prager deutschen Literatur, dass seine frühe Lyrik eher von christlichen, denn von jüdischen Bildmustern geprägt ist. In Prag lernt Hoffmann den etwa gleichaltrigen Paul Leppin kennen und bewundert jene neue deutschsprachige Literatur, an deren Anfang Rainer Maria Rilke steht. Er schließt sich der antireaktionären Künstlergruppe Jung Prag an. Mit Mühe besteht er das Abitur und geht nach einjährigem Militärdienst nach Wien und volontiert in einem Verlag. Seit 1902 ist er Feuilletonredakteur der linksliberalen Tageszeitung Die Zeit, gehört zum Kreis um Hugo von Hofmannsthal und veröffentlicht seine erste Gedichtsammlung Adagio stiller Abende. Die Gedichte Hofmanns stehen im Gegensatz zum Expressionismus, sie sind heimatverbunden, wehmütig und bieten Rückzug und Zuflucht. Zwischen seiner ersten Lyrik, dem Adagio stiller Abende und der Vase, 1

Hašek, Jaroslav: Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk. Dietz Verlag, Berlin 1962, S. 166.

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stehen acht Jahre. Die frühesten Gedichte des zweiten Buches schlagen Brücken in die Vergangenheit, es erklingen Volksweisen, die Lieder der Heimat („Die Furchen ziehen durchs Ackerland wie Runen einer Gotteshand“). Die Erkenntnis von der brutalen Realität der Welt, die „wahr ist wie der Tod“, schlägt das lyrische Ich nieder, das schwere Rad der Tagesfron geht darüber hinweg und bricht es. Aus der Hilflosigkeit dessen, der am Boden liegt, in Schmutz und Wunden, stöhnt die Verzweiflung. Es klagt der Schmerz um das Verlorene: das Adagio stiller Abende ist wie das Orgelspiel von tausenden Bäumen verklungen. „Was folgten für trostlose Tage! Kindheit und Liebe und Glück sind nur eine Sage, die im Herzen flackert wie ein karges ewiges Licht!“ („Die Glocken“). Freundschaften verbinden ihn mit Stefan Zweig und Hermann Hesse, dem er von der unbefriedigenden Situation in der Redaktion berichtet. Im Jahr 1913 wechselt Hoffmann mit seiner Familie nach Dresden, arbeitet für verschiedene regionale sowie überregionale Zeitungen und berichtet über Kunst, Literatur und Theater der Stadt. Mit Kriegsausbruch 1914 wird Hoffmann wegen Unabkömmlichkeit in der Redaktion der Dresdner Neuen Nachrichten vom Kriegsdienst befreit. 1918 schließt er sich kurzfristig der revolutionären „Sozialistischen Gruppe der Geistesarbeiter“ an, sieht aber nach dem Scheitern der Revolution für sich und die Familie in Dresden keine Perspektive mehr. Seiner sozialistisch-pazifistischen Lebensauffassung bleibt er jedoch treu. Nach der Gründung der Tschechoslowakischen Republik wechselt Hoffmann 1919 wiederum nach Prag und wird von Präsident T. G. Masaryk, den er aus der Wiener Zeit kennt, zum Vertragsbeamten in der Presseabteilung des Ministerratspräsidiums ernannt und damit beauftragt, ein deutschsprachiges Regierungsblatt zu gründen, um auch die deutsche Minderheit für die Ideale des neuen Staates zu gewinnen. Camill Hoffmann entwarf das Konzept der Zeitung Prager Presse als Organ des nationalen Ausgleichs, stellte die notwendigen Beziehungen zu deutschen Schriftstellern her und trug auf diese Weise dazu bei, dass die literarischen Seiten der Zeitung zu den besten der deutschsprachigen Blätter Prags wurden. Denn auf diesem Gebiet gab es in Prag eine große Konkurrenz – z.B. die im Jahre 1876 für die deutschsprachige Bevölkerung Prags gegründete liberale Tageszeitung

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Das Prager Tagblatt, dessen Kulturteil auch dank Egon Erwin Kisch, Franz Kafka, Franz Werfel, Roda Roda, Johannes Urzidil, Max Brod oder Alfred Polgar einen hohen literarischen Anspruch erhob. Der Wunsch, die deutsche Bevölkerung für den neuen Staat zu gewinnen, war notwendig, denn die Deutschen waren zwar hinter den Tschechen die zweitgrößte Bevölkerungsgruppe (die Tschechen bildeten mit 6,85 Millionen Einwohnern 50,3%, die Deutschen mit 3,12 Millionen 22,9%), aber das Land wurde Tschechoslowakei genannt, obwohl die Slowaken nur die drittgrößte Bevölkerungsgruppe waren (mit 1,91 Millionen lediglich 14% der Einwohner), wobei Deutsch als Amtssprache abgeschafft wurde, und zwar auch auf den Gebieten mit vorwiegend deutscher Bevölkerung. Damit verschlechterte sich das Verhältnis der Deutschen zu den Tschechen in Jahren 1918-19, das seit 1848 spannungsvoll gewesen war, noch mehr. Schon am Ende des 19. Jahrhunderts standen nämlich in den böhmischen Ländern zwei sprachlich unterschiedliche Kulturen gleichwertig nebeneinander. 1882 wurde die Karl-Ferdinand-Universität in Prag in eine deutsche und eine tschechische geteilt, neben der alten, gemeinsamen „Königlich-Böhmischen Gesellschaft der Wissenschaften“ entstanden in den neunziger Jahren noch zwei weitere, national definierte Akademien – die tschechische „Kaiser-Franz-Joseph-Akademie der Wissenschaften, Literatur und Kunst in Prag“, die 1890 gegründet wurde, und die „Gesellschaft zur Förderung deutscher Wissenschaften, Kunst und Literatur in Böhmen“, die im darauffolgenden Jahr entstand. Auch alle wichtigen Vereine gab es sowohl in tschechischer wie in deutscher Version – wie z.B. neben den Universitäten ebenfalls technische Hochschulen, Theater, Opern, Bälle, Fußballvereine, Banken, Tennisturniere usw. Diese nationale Spaltung in der Kultur und anderen Lebensbereichen setzte sich anschließend in der Zwischenkriegszeit fort, wo zu den berühmtesten Repräsentanten böhmischer Kultur in erster Linie deutsch sprechende Prager Juden wie Camill Hoffmann gehörten, obwohl sie 1921 nur 1,3 % der tschechoslowakischen Bevölkerung bildeten (180 000). Es handelte sich also um eine ganz kleine Minderheit, jedoch mit einer großen Bedeutung. Diese Diskrepanz zwischen der kleinen Menge und der großen Bedeutung liegt einerseits an der Fremdheit der jüdischen Mitbewohner

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inmitten des mitteleuropäischen Christentums, andererseits an ihrem wirtschaftlichen Potenzial. Die religiöse Fremdheit brachte mit sich, dass die Juden in Gemeinden organisiert waren, die einen überörtlichen Zusammenhang sowie einen städtischen Charakter hatten. Dies bedeutet, dass die Juden seit dem Mittelalter nicht wie die christliche Gesellschaft außerhalb der Städte herrschaftlich organisiert waren, sondern in einem anderen Kreis, der jeden als Gleichen mit Gleichen verbindet, während die Menge der mittelalterlichen Bevölkerung auf dem Lande bis ins 18. Jahrhundert hinein eben herrschaftlich organisiert war. Und darüber hinaus waren die Juden ein wichtiges wirtschaftliches Element, das man erst sehr vermisste, wenn man es aus eigener Initiative vernichtet oder vertrieben hatte, wie z.B. in Spanien des 15. und 16. Jahrhunderts. 3. Die jüdischen Gemeinden hatten auch im Mittelalter immer ihre Bildung sowie das Privileg, nach ihrem Recht leben zu können und von eigenen Richtern gerichtet zu werden. Im frühen Mittelalter des 11.-12. Jahrhunderts gab es in Böhmen einen lebhaften Sklavenhandel, wobei die Sklavenhändler vornehmlich Wikinger und Juden waren. Darüber hinaus sind die Juden in Böhmen auch durch Geschäfte mit Luxuswaren (Seide, Brokat, Gewürze usw.) reich geworden und später (vom 13. Jahrhundert) widmeten sie sich ebenfalls dem Kreditgeschäft und vermittelten Kredite als kleine oder große Gläubiger. Damit wurden viele reich und die damaligen Herrscher brauchten sie. Deswegen sind sie von den Adeligen auch geschützt worden. Seit den Kreuzzügen wurden in vielen westeuropäischen Ländern die Juden als Feinde Christi verfolgt und manchmal auch ermordet (infolgedessen kamen wahrscheinlich auch viele nach Mitteleuropa). Es fanden Pogrome statt, und 1348-49 beschuldigte man Juden bei einer schlimmen Verfolgungswelle, die Brunnen vergiftet und damit die Pest in Europa verursacht zu haben. Es gab nur zwei Zeitgenossen, die sich gegen diese Hetze gewandt haben. Neben Papst Clemens VI. war es Karl IV. Und während in Mitteleuropa zwei Drittel der jüdischen Gemeinden vernichtet worden sind, wurde Böhmen dank Karl IV. verschont, genauso wie Schlesien und Luxemburg. Bis Mitte des 14.

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Jahrhunderts waren die Juden in Deutschland, in Mitteleuropa im Großen und Ganzen sicher, während sie schon lange zuvor aus England, Frankreich und Spanien vertrieben worden waren. Deutschland war ihr Ziel- oder Transitland nach Polen, Galizien, Wolhynien. Dort lebten sie im relativen Wohlstand, doch bereits 1646 brach mit dem Aufstand des Kosakenhetmans Bohdan Chmelnyzkyj und dem folgenden Einfall der Schweden die Katastrophe über das polnisch-litauische Judentum herein. Ihr fielen mehr als 700 Gemeinden und ungezählte Tausende von Juden zum Opfer, während viele andere in den westlichen Ländern Zuflucht suchten. Der einstige Wohlstand der Juden war vernichtet, vielen von ihnen gingen zum Handwerk über, daneben entwickelte sich ein breites jüdisches Proletariat. Mystische Strömungen zerrissen die geistige Einheit des Volkes. Die bedeutendste davon ist der bis heute fortwirkende Chassidismus, dessen Anhänger das ostjüdische Wesen in Sitte und Brauch, Sprache und Volksdichtung am getreuesten bewahren.2

Die organisierten weiter andauernden brutalen Pogrome gegen die Juden führten zu massiven Auswanderungen der Juden, viele davon reisten in westliche Gebiete, also auch nach Böhmen aus. In Prag lebten seit dem Mittelalter die Juden in der Prager Altstadt in der Nähe der deutschen Kaufleute hinter der Teynkirche, später entstand um die Altneu-Synagoge das jüdische Ghetto. Das Viertel war gut organisiert, mit eigenem Rat und eigenem Bürgermeister, mit einem Rabbi, der zugleich Richter war (der berühmteste Rabbiner war Löw, der legendäre Golem-Schöpfer, eigentlich Judah Löw oder Jehuda ben Bezal´el Löw in der Zeit des Rudolf II.). Die Genehmigung, in Städten zu leben, war jedoch nicht umsonst. Schon seit dem 16. Jahrhundert gab es einige Bitten an den König um die Erlaubnis, jüdische Mitbürger vertreiben zu dürfen. Die Juden standen unter dem Schutz der Könige und die ließen sich das immer gut bezahlen. So mussten sich die Juden ständig auf die Macht ihres Geldes verlassen. Für die Könige, Fürsten und andere Herrscher sowohl in Böhmen und Mähren, als auch in Deutschland entwickelte sich der Judenschutz zu einem lukrativen Geschäft. Darüber hinaus waren die Juden auch gewissenhafte Steuerzahler, trotzdem hatten sie nie die gleichen Rechte wie die christlichen Untertanen. 2

Aschenbrenner, Viktor; Birke, Ernst; Kuhn, Walter; Lemberg, Eugen: Die Deutschen und ihre östlichen Nachbarn, Verlag Moritz Diesterweg, Frankfurt am Main, Berlin, Bonn, München 1967, S. 140-141.

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Im 18./19. Jahrhundert entwickelten sich in der österreichischen Monarchie auch in kleinen Städten sowie im ländlichen Raum kleine bürgerliche Unternehmen, wie z.B. Brauereien oder kleine Manufakturen. Oder hat man neue Maschinen eingeführt, also kleine kapitalistische Formen geschaffen. Dazu brauchte man Kapital, Geld, Kredite und dafür sorgten die Juden. Und gerade in diesem Moment verkündete der österreichische Kaiser Joseph II. sein Toleranzpatent (am 13. und 27. 10.1781 für die deutschen und böhmischen Provinzen), womit er eine freiere Ausübung einiger bis jetzt verbotenen Religionen ermöglichte und dann mit der nächsten Fassung vom Januar 1782 erließ er österreichischen Juden die Kopfsteuer, hob die jüdischen Ghettos auf und gestand ihnen Gewerbefreiheit zu. Diese Maßnahmen erlaubten ihnen besonders eine größere Mobilität und anschließend den Umzug in die großen Städte – also vor allem nach Prag, Brünn und Olmütz, eine gewisse bürgerliche Gleichberechtigung sowie die Möglichkeit, die christlichen Schulen zu besuchen und damit eine einfachere Eingliederung in die nichtjüdische Gemeinschaft. Die Kehrseite dieser Prozesse war, dass manche Juden aus ihrer religiösen Lebensgemeinschaft heraustraten und das Judentum verließen. Die gleiche Ausbildung war also ein wichtiger Faktor für die Assimilierung der Juden in Österreich (nach 1867 Österreich-Ungarn), genauso wie allgemeine Wehrpflicht, die dann auch die Juden betraf. Der letzte entscheidende Faktor für ihre zunehmende Eingliederung war die wirtschaftliche und akademische Entwicklung – es gab viele jüdische Schüler, Ingenieure, Hochschullehrer, Unternehmer und besonders die böhmische Zucker– und Textilindustrie verdankt jüdischen Unternehmern die schnelle Entwicklung. Eine Parallele lässt sich außerdem zu Deutschland ziehen und so gelangte man etwa 1930 zum Höhepunkt des wirtschaftlichen und kulturellen Einflusses der jüdischen Bevölkerung, der zum prozentuellen Anteil der Juden an der ganzen Bevölkerungsanzahl in einem krassen Gegensatz stand und im europäischen Rahmen keinem anderen Land entsprach. Diese Entwicklung wurde jedoch brutal unterbrochen. Zwar gab es in Österreich bzw. in der Tschechoslowakei zu dieser Zeit einzelne (manchmal eher akademische) antisemitische Ansätze – getragen von Einzelpersonen wie z.B. Georg von Schönerer sowie Karl Hermann Wolf, da tauchte in Deutschland der Nationalsozialismus als

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Form des militanten Antisemitismus auf, die dann später in den schlimmsten Genozid der Menschheit überging. Dass man sich darauf schon vorher vorbereitet hatte, lässt sich dem Stichwort „Juden in Deutschland“ in der deutschen Enzyklopädie „Wissen der Welt“ aus dem Jahre 1938 entnehmen: Juden in Deutschland, die Lage der J. in Deutschland hat sich seit 1933 mit der nationalsozialistischen Regierungsübernahme entscheidend gewandelt. Das durch die verstärkte ostjüd. Einwanderung und die marx. Revolution von 1918 begünstigte Eindringen der Juden in alle maßgebenden Stellen des öffentlichen Lebens stand zu ihrem tatsächlichen Bevölkerungsanteil in krassem Mißverhältnis (bei einem jüd. Anteil von etwa 1% der Gesamtbevölkerung Deutschlands waren z.B. in der Reichshauptstadt 54 % der Rechtsanwälte, 48 % der Ärzte, 68 % der städt. Wohlfahrtsärzte, 80 % der selbständigen Börsenbesucher usw. Juden!). Diese Überfremdung von unheilvollsten Auswirkungen für das deutsche Volk, forderte zu Gegenmaßnahmen heraus. Die deutsche Rassengesetzgebung garantiert den Juden die Freiheit der Religionsübung sowie die Wirkungsmöglichkeit im Handel und in den freien Berufen, soweit nicht kulturelle Belange betroffen sind. Um aber den Deutschen eine einwandfreie Gestaltung des öffentlichen Lebens durch Deutsche Beamte zu gewährleisten, entfernte das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933 (§ 3) alle Beamten nichtarischer Abstammung, ausgenommen die jüd. Frontkämpfer und Angehörige kriegsgefallener Juden; die Entlassung erfolgte in Ehren und unter Belassung der Pension. Durch gesetzl. Bestimmungen wurden im Sept. 1935 die Rechte d. J. i. Deutschland grundsätzl. geregelt.3

In den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts hatte man jedoch von dieser grausamen Zukunft noch keine Ahnung, man versuchte auf verschiedenen Ebenen die tschechische und die deutsche Welt in der Tschechoslowakei zu verbinden und gerade auf diesem Gebiet engagierten sich viele jüdische Autoren und Journalisten. Ihre Familien hatten sich zwar meistens den gesellschaftlich höher angesehenen Deutschen zugewandt, die nationalen Streitigkeiten zwischen Tschechen und Deutschen, antisemitische Ansätze, genetisch verankerte Erfahrungen mit Pogromen und Verfolgungen sowie das Gefühl der Heimatlosigkeit trugen dazu bei, dass sie die beiden gegeneinander stehenden Welten verbinden konnten. Darüber hinaus wurde damals in vielen jüdisch-deutschen Familien ein großer Wert darauf gelegt, dass man auch Tschechisch beherrschte. Zu erwähnen ist auch der außergewöhnlich hohe Anteil der deutsch sprechenden Einwohner in Prag. 3

Wissen der Welt. Otto Beckmann, Verlag Braunschweig, 1938. S. 1239-40. Der Text ist in der ursprünglichen Orthographie.

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Während seit der Mitte des 19. Jahrhunderts die jüdische Bevölkerung in Böhmen stets mit einem Anteil von weniger als 2% vertreten war, bekannten sich in der böhmischen Metropole der Jahrhundertwende bereits nahezu 30 % der deutsch sprechenden Einwohner zum jüdischen Glauben, im Jahre 1921 dann rund 40 % und 1930 sogar über 46 %, also etwa 10 % aller Prager (vgl. Míšková, Alena: Von Schönerer zum Genozid? In: Die Juden im Sudetenland. Ackermann-Gemeinde 2000. S. 65).

4. Camill Hoffmann war ein typischer Vertreter dieser Generation der jüdisch-deutschen Journalisten aus Böhmen und bereits ein Jahr nach Erscheinen der Prager Presse wurde er Vertragsbeamter der Presseabteilung in der neu gegründeten tschechoslowakischen Botschaft in Berlin, wo er sein Amt bis 1938 ausübte und es dazu nutzte, Mittler zwischen Deutschen und Tschechen zu werden, und zwar als tschechoslowakischer Staatsbürger deutsch-jüdischer Herkunft. Während die deutsche Literatur und die deutsche Musik in Prag ausreichend bekannt und auch von Staatspräsident Masaryk selbst verehrt wurden, wollte er Berlin mit der tschechischen Musik und Dichtung bekannt machen. Daneben war er bestrebt, die Ansichten der maßgebenden Staatsmänner der Tschechoslowakei der deutschen Öffentlichkeit näherzubringen. 1923 erschien in seiner Übersetzung das Buch Weltrevolution, Erinnerungen und Betrachtungen 1914 bis 1918 von T.G. Masaryk, ein Werk, das für das Kennenlernen der Politik und Taktik, der Einstellung gegenüber den Zentralmächten, des Panslawismus und der Entstehung der Tschechoslowakischen Republik als ein Standardwerk bezeichnet werden kann. Ebenfalls in deutscher Übersetzung Hoffmanns kam der Band von Eduard Beneš Der Aufstand der Nationen. Der Weltkrieg und die tschechoslowakische Revolution heraus, der die Masaryksche Publikation ergänzt. Die letzte von Hoffmann in deutscher Sprache herausgegebene Ausgabe trägt den Titel Masaryk erzählt sein Leben. Es ist aus Gesprächen entstanden, die der auch in Deutschland wohlbekannte tschechische Schriftsteller Karel Čapek mit dem Präsidenten über Politik, Religion, Kunst, Literatur, Erziehung und viele andere Probleme führte und

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schriftlich fixierte. Und umgekehrt machte Hoffmann durch Essays und Empfehlungen auch die deutsche Kultur den Tschechen bekannter: hier sind Musil, Döblin, Mehring, Piscator, Brecht oder Zweig zu nennen, wobei einige davon häufige Gäste bei ihm waren, ganz zu schweigen von den vielen deutschen Autoren aus Prag, für die der Diplomat oft genug die erste Anlaufstelle in Berlin darstellte. Anfang des Jahres 1932 beginnt Hoffmann ein Tagebuch zu führen, dass er bis 1939 lose fortsetzt. Nach dem Reichstagsbrand notierte er: „In der politischen Geschichte ist selten ein grandioseres Verbrechen inszeniert worden.“ Viele seiner Freunde gehen bereits ins Exil, Camill Hoffmann aber, seinem Beruf verpflichtet, bleibt und verhält sich so sehr diplomatisch, dass er von Hitler 1937 sogar das Deutsche Olympische Ehrenzeichen zweiter Klasse erhält. Doch auch für ihn und seine Familie wird das Leben immer bedrohlicher. Im September 1938 besiegelt das Münchner Abkommen das baldige Ende der Tschechoslowakei. Zwei Tagebuchnotizen vom September des Jahres: Das Undenkbare geschieht, das alte Königreich Böhmen wird verstümmelt, weil der Westen um jeden Preis den Frieden erkaufen will. …Keine Arbeit mehr, im Amt nur Diskussionen, ob dann noch die diplomatischen Beziehungen abgebrochen werden, ob man uns abtransportieren werde, die Frauen sind seit Tagen abgereist…die Koffer sind dreiviertel gepackt.4

Die Tochter Hoffmanns lebt bereits seit 1934 in London. Seine Frau und Hoffmann selbst haben zum Zeitpunkt des Novemberpogroms 1938 schon eine Wohnung wiederum in Prag gemietet – gegen den Rat von Freunden, die zur Ausreise drängen. An seine Tochter schreibt er nach dem Einmarsch der deutschen Truppen im März 1939: Keinesfalls ist uns allen mit dem Ruf gedient: Nur hinaus! Eigentlich kann man doch gar nicht, selbst wenn man wollte...Wir haben hier das Notwendige zu leben und wollen Dir die Misere so lange ersparen, als es geht…Nach den vielen

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Sudhoff, Dieter: Wandern zwischen den Welten. Vom Leben und Sterben des Prager Dichters und Berliner Diplomaten Camill Hoffmann. In: Binder, Hartmut (Hg.): Brennpunkt Berlin. Prager Schriftsteller in der deutschen Metropole, Bonn 1995. S. 128.

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Erfahrungen und mit den vielen Jahren wird man „abgeklärter“ und mag mehr riskieren, weil man weniger zu riskieren hat.5 (Ebd. 130)

Der Kriegsausbruch machte eine Flucht ins Ausland schließlich unmöglich. Aus den Erinnerungen an Camill Hoffmann von Elias Hurwicz aus dem Jahre 1947 geht hervor, wie Hoffmann Hitler und den Nationalsozialismus unterschätzte: Bei einer Audienz, die ich 1930, dank der Vermittlung Hoffmanns, bei Masaryk und Benesch hatte, konnte ich mich davon überzeugen, wie sehr er in Prag als der rechte Mann am rechten Platze betrachtet wurde. Aber gerade diese Wertschätzung macht mir seine politische Achillesferse um so fühlbarer: er hat weder die Tragweite des Nationalsozialismus in Deutschland selbst noch dessen Bedeutung für das Schicksal der Tschechoslowakei richtig erkannt. In Gesprächen, die ich von Zeit zu Zeit mit ihm führte, pflegte er auf die angeblich wachsende Unzufriedenheit mit Hitler hinzuweisen, wobei er besonders die deutschen Katholiken sowie den sinkenden Außenhandel des Deutschen Reiches in Fels führte und den Schluss zog, dass der Sturz des neuen deutschen Regimes in nicht allzu ferner Zeit zu erwarten sei. Ich zweifle nicht daran, dass er in seinen Berichten nach Prag dieselben Ansichten entwickelte. Aber noch mehr! Als Hitler das Sudetenland besetzte, meinte Hoffmann, nun würde er Halt machen, denn in den übrigen Teilen der Tschechoslowakei sei ja das deutsche Element nur in der Minderheit.6

5.

Hoffmann blieb also zwangsweise im von deutschen Truppen besetzten Prag und hinterließ wertvolle Zeugenaussagen über die Zeit sowie über den Anfang der Judenverfolgung. Das undatierte mit der Hand geschriebene Manuskript Die Juden unter Tschechen, etwa vom Sommer oder Herbst 1939, beweist zwar sein historisches Wissen, aber auch seine damalige politische Naivität: Man beeilt sich sehr im „Protektorat“ Böhmen und Mähren mit der Verdrängung der Juden aus dem öffentlichen Leben, aus der Wirtschaft, den akademischen Berufen, überall. Wozu das Dritte Reich sechs Jahre gebraucht hat, sollen die Tschechen in ein paar Monaten durchführen, und zwar ohne dass bisher die entsprechenden Rassengesetze vorliegen. Alles unter dem Druck des Dritten Reiches. Sind die Juden schon aus den staatlichen und städtischen Aemtern des „Protektorats“ verschwunden, so machen auch die „Arisierung“ der Banken, Industriegesellschaften und Geschäften rapide Fortschritte. Die Flucht der Juden 5

Ebd. 130. Elias Hurwicz: Erinnerung an Camill Hoffmann, Berliner Hefte für geistiges Leben–2, 1947, S. 952-953.

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aus dem Protektorat – ihre Zahl erreicht nicht einmal ein Prozent! – hat sofort nach dem Einmarsch Hitlers eingesetzt und wird momentan nur dadurch unterbrochen, dass die deutsche Geheime Staatspolizei, die sich in den grösseren Städten des Protektorats etabliert hat, den Juden die Ausreise nicht bewilligt und eine Kontrolle vorbereitet, die den in Deutschland getroffenen finanziellen Massnahmen für Auswanderer ähnlich sein wird. Man weiss, dass im Dritten Reich alle antisemitischen Aktionen nur Sache der Nationalsozialistischen Partei, nicht der Bevölkerung waren und sind. Von den Tschechen kann man erst recht versichern, dass sie im Durchschnitt keine Antisemiten sind. Das hat sich auch nicht geändert, obwohl die tschechische Presse genötigt ist, die judenfeindlichen Berichte der deutschen Presse zu übernehmen und in den öffentlichen Kundgebungen davon geredet wird, die Nation müsse von „fremden Elementen gesäubert“ werden. Die Entwicklung des tschechischen Volkes im 19. Jahrhundert und vor allem die humanistische Schule, in die es von Masaryk genommen wurde, schliessen eine judenfeindliche Gesinnung aus. Soweit es unter den tschechischen Nationalisten überhaupt antisemitische Strömungen gegeben hat, so haben sie ihren Grund darin, dass die Juden in Prag und manchen Gegenden – allerdings vor dem Hitler-Regime in Deutschland – mit dem Deutschtum sympathisiert und es unterstützt haben. Das ist natürlich ein Grund, den die Nazis niemals zugeben, geschweige denn anerkennen werden. Es ist aber Tatsache, dass die deutschen Institutionen in Prag, das deutsche Theater, die deutsche Universität, in den letzten Jahrzehnten, schon in oesterreichischer, dann in tschechoslowakischer Zeit, unhaltbar gewesen wären ohne die finanzielle, politische und kulturelle Hilfe der Juden. Die Juden von heute sehen ein, dass der Vorwurf der tschechischen Nationalisten berechtigt war, denn von mancher Position, die den Deutschen durch die Sympathie der Juden geschaffen wurde, wird nun der tschechische Boden angegriffen. Es war aber nur ein geringer, wenn auch vermögender Teil der Juden, der in Böhmen und Mähren diese falsche Haltung einnahm. Der grössere Teil stellte sich auf den Standpunkt des jüdischen Nationalismus (Zionismus) und ein noch grösserer Teil bekannte sich zum Tschechentum. Es ist ein kühnes Unterfangen, im Raum der ehemaligen oesterreichisch-ungarischen Monarchie eine rassische Politik durchsetzen zu wollen. In keiner Gegend Europas haben sich die Rassen so viel gemischt wie hier. Eigentlich konnte man einst die Aufgabe der oesterreichisch – ungarischen Monarchie darin erblicken, dass sie den Zusammenstoss der Rassen auffing und Deutsche, Slawen und Italiener unter einem Dach vereinigte. Der verstorbene deutsche Minister in der Tschechoslowakei, W. Spina, sprach mit Recht von der „Symbiose“ der Völker in den Ländern der Böhmischen Krone. Die Bevölkerung Oesterreich – Ungarns war ein Mischvolk, die Tschechoslowakei war auch darin der richtige Erbe der Monarchie, und wie schon sich Deutsche und Tschechen seit Jahrhunderten gemischt haben, geht am deutlichsten aus den unzähligen deutschen Familiennamen hervor, die es unter den Tschechen gibt, und ebenso aus den unzähligen tschechischen Familiennamen, die unter den Sudetendeutschen vorkommen. Wer die Parteiliste der ausländischen Nazis durchblickt, stösst auf so viele tschechische Namen, dass es geradezu grotesk erscheint, wenn die Nazis die Rassenreinheit auf ihr Programm schreiben und sich gar für Germanen ausgeben. Im alten Oesterreich – Ungarn wurden Beamten und Offiziere so viel in andere Gegenden versetzt, als woher sie stammten, und heirateten Frauen anderer

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Nationalität, dass von einer Reinheit des Volkstums nicht gesprochen werden kann. In der Tschechoslowakei war es nicht viel anders. Seit tausend Jahren gab es in den Ländern des heutigen „Protektorats“ keine scharfe ethnographische Grenze… Die Juden nun leben länger als tausend Jahre unter diesen sich mischenden Tschechen und Deutschen. Die berühmte fast tausendjährige Synagoge in der Prager Altstadt steht als Denkmal des jüdischen kulturellen Anteils an Böhmen da. Die Juden sind eng verknüpft mit der Geschichte von Böhmen. Sie waren hier nicht nur Bankleute, Kaufleute und Gelehrte, sondern auch Bauern und Handwerker. Wie gering der Antisemitismus der tschechischen Bevölkerung ist, beweisen die vielen Mischehen, die im 19. Jahrhundert und seither immer mehr auf dem Gebiet der Tschechoslowakei geschlossen wurden. Hier die Nürnberger Gesetze durchführen, hiesse noch mehr Tragödien veranlassen als im Dritten Reich.7

Nachdem Camill Hoffmann bereits im März 1939 erstmalig von der Gestapo über seine Berliner Zeit verhört worden war, ist das Ehepaar Hoffmann 1940 und 1941 gezwungen, zweimal die Wohnung zu wechseln. Seine Furcht überbrückt er mit der Arbeit an einem Buch über die böhmische Geschichte. Nach weiteren Verhören werden Hoffmann und seine Frau Irma im April 1942 ins Ghetto Theresienstadt deportiert, im Sommer 1944 verschlechtert sich beider Gesundheitszustand, doch glaubt sich Hoffmann „durch seine guten Beziehungen zur tschechischbürgerlichen Lagerelite und zum jüdischen Ältestenrat geschützt.“8 Für den 28. Oktober 1944 hatte sich jedoch die SS etwas Besonderes ausgedacht. Der 28. Oktober ist nämlich der Nationalfeiertag der von den Nazis zerstörten Tschechoslowakischen Republik. Und gerade an diesem Tag wurden vom Bahnhof des Konzentrationslagers Theresienstadt aus tschechische Prominente abtransportiert. Unter den für das Gas bestimmten Prominenten ist auch der Freund Masaryks, der fast 66jährige Camill Hoffmann mit seiner Frau. Es ist der letzte Transport, der nach Auschwitz geht. Zurück bleiben Gedichte, verfasst vom ehemaligen Presseattaché an der tschechoslowakischen Botschaft in Berlin, wie z. B. das kursiv geschriebene Manuskript von Camill Hoffmann im Literaturarchiv in Marbach: 7

Hoffmann, Camill: Die Juden unter den Tschechen. Undatiertes Manuskript von Camill Hoffmanns Nachlass, Marbach am Neckar. Der Text ist in der ursprünglichen Orthographie. 8 Sudhoff, Dieter: Wandern zwischen den Welten. Vom Leben und Sterben des Prager Dichters und Berliner Diplomaten Camill Hoffmann. In: Binder, Hartmut (Hg.): Brennpunkt Berlin. Prager Schriftsteller in der deutschen Metropole, Bonn 1995. S. 141.

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Der Ungeliebte Eingegraben in seinen Kummer Dem kranken Tier gleich im Höhlengrund, Das Herz voll Angst, die Augen ohne Schlummer, Zählt der Ungeliebte die Zeit, Stund um Stund. Der Tage sieben vergehen, Bettler mit unnützen Händen, Der Nächte sieben, schwarz wie ein Krähenzug, Thränen der Einsamkeit fliessen von den Wänden, Auf dem Tische säuert der Wein im Krug. Eisblumen wachsen von seinem Hauch an den Scheiben, Der Winter ist seines Herzens einzige Jahreszeit, Wenn Frost die Bäume zerbricht und Schneewolken treiben, Wenn vor dem Fenster der Schnee sich häuft wie Berge von Leid. Der Ungeliebte späht, wie die Wolkenschatten sich ändern, Ihn lockt es lang nicht mehr, mitzuziehn, Die Sonne friert über allen Meeren und Ländern, Nirgendwo grünt die gute Heimat für ihn. Er sucht im Herzen den Thau einst trostreicher Wiesen, Verschollen weht ein Duften vorbei, Die Mutter liebte nicht Rosen, sie liebte diesen Hauch von Salbei. Kein Heimweh brennt seine Brust, kein Stern versengt seine Schläfe, Verlangen zerschfleischt ihn, der reissende Bär, Ach, dass ihn einmal ein Menschenaug träfe! Ach, dass ein Augenstern über ihm wär! Der Aschenregen schwarzer Verzweiflung verdunkelt das Zimmer, Der Ungeliebte stürzt in die Knie und fleht, Er fleht um ein Lächeln, den einzigen gnädigen Schimmer Des Menschengesichts, das ewig durch seine Träume weht. Er weiss, das Leben währt lang und endlos das Alter, Und Trübsal nährt gut den Docht des schwankenden Lebenslichts, Wann dämmert endlich der Tag, an dem der einsame Falter Der Seele entflattert ins Nichts?9

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Hoffmann, Camill: Getipptes Manuskript, Literaturarchiv in Marbach, Nr. 2002.33.26. Der Text ist in der ursprünglichen Orthographie.

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Jan Čapek Camill Hoffmann, a Jew between the Czechs and the Germans, and his estate at the Literary Archive in Marbach am Neckar Summary A poet and a diplomat Camill Hoffmann, born in Kolín in 1878, mastering both languages of his homeland – Czech and German, entered the literature by two Germanwritten books of poetry, following folk themes: Adagio stiller Abende (1902) and Die Vase (1910). He worked as a journalist for Die Zeit in Vienna and as a literary reviewer in the Dresden newspaper Dresdner Neue Nachrichten. After the World War I, at Masaryk’s request, he founded the German-written newspaper Prager Presse and, from 1920 to 1938, he acted as a press attaché at the Czechoslovak Embassy in Berlin. At the same time, he acted as an intermediary between German and Czech culture and literature; he translated significant literary and political works into both languages and put them into awareness on both sides of the Czech-German border just like many of his Austro-Czechoslovak Jewish compatriots, whose brief history is presented in the lands of Bohemian Crown also. Since the occupation of the Sudeten borderlands, he lived in Prague; in 1942, he and his wife were transported to Terezín and two years later, on the 28th October 1944, he was transported to Polish Oświęcim where he was, as a citizen of Jewish nationality, murdered in a gas chamber immediately. In 1999 the Literary Archive in Marbach am Neckar got a small part of Hoffmann`s inheritance from his daughter Edith Yapou from Jerusalem. In 2002, thanks to the former attaché of the USA Embassy in Prague, Mr. Ralph S. Saul, another gift followed. This time, it came from the repository of the Chicago University Library`s Manuscript Department, which contains a large number of valuable manuscripts. Key words: Camill Hoffmann, Czech-German culture contact, history of Jews in Europe, persecution of Jews, Theresienstadt, Oświęcim, Literary Archive in Marbach am Neckar, T. G. Masaryk, Eduard Beneš, Jews as intermediaries between national cultures, Holocaust.

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IV. KAPITEL: (Mit einem FuĂ&#x; noch immer) im 20. Jahrhundert



INTERKULTURALITÄT IM WERK VON STEN NADOLNY, SAŠA STANIŠIĆ UND FATIH AKIN Daniela Čančar (danielacancar@gmail.com)

Zusammenfassung Das Aufeinandertreffen der Kulturen thematisieren die Romane von Sten Nadolny und Saša Stanišić und der Film von Fatih Akin. Der Roman Selim oder Die Gabe der Rede von Sten Nadolny schildert die Geschichte des redegewandten Türken Selim, der sich durch Sprach- und Kulturbarrieren seinen Weg in einer neuen Umgebung bahnt und auf diesem Weg zufällig dem deutschen Rhetorikstudenten Alexander begegnet. Fatih Akins Spielfilm Auf der anderen Seite erzählt ebenfalls die Geschichte von unterschiedlichen Begegnungen zwischen Deutschen und Türken. Die Figuren haben auf ihrem Weg zahlreiche Hürden zu beseitigen. Sie kämpfen mit Unwissenheit, Vorurteilen, Zwängen der Gesellschaft und der Familie, mit Ehre und Korruption und legen sich mit Typen aus dem Untergrund an. Im Roman Wie der Soldat das Grammofon repariert von Saša Stanišić finden sich Motive sowohl aus Nadolnys Roman als auch aus Akins Film wieder. Der junge Aleksandar flieht mit seiner Familie in den Westen, wo er sich mit seinen Erinnerungen an das Leben in der Stadt an der Drina, dem er durch den Ausbruch des Bosnien-Krieges gewaltsam entrissen wurde, und seinem größten Talent, dem Erfinden von Geschichten, eine neue Heimat ersinnt. Das Erzählen von Geschichten, als Überlebensstrategie in der Fremde Deutschlands, haben der Bosnier Aleksandar und der Türke Selim aus Nadolnys Roman gemeinsam. Zehn Jahre nach der Flucht reist Aleksandar als Erwachsener in seine Heimat. Ähnlich wie der türkischstämmige Germanistikprofessor Nejat aus Akins Auf der anderen Seite macht er sich auf die Suche nach zurückgelassenen Spuren. Die vorliegende Arbeit geht den unterschiedlichen Erfahrungen der Protagonisten mit der fremden und der eigenen Kultur auf die Spur. Schlüsselwörter: Interkulturalität, interkulturelle Literaturwissenschaft, Migrationsfilme, Weltkino, Sten Nadolny, Saša Stanišić, Fatih Akin

Interkulturalität und interkulturelle Literaturwissenschaft In der heutigen Gesellschaft ist die Interkulturalität zu einem aktuellen Begriff geworden. So erläutern die Literaturwissenschaftlerinnen Olga ILJASSOVA-MORGER und Elke REINHARDT-BECKER (vgl. S. 7), dass das interkulturelle Verstehen in Zeiten, in denen Entfernungen immer schneller schrumpfen und Grenzen zunehmend verwischen, in denen dennoch nationale, religiöse und ethnische Konflikte weiterhin bestehen, zu einem

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hoch brisanten Thema geworden ist. Im weitesten Sinne bezeichnet der Begriff „Interkulturalität“ die Begegnung zwischen Menschen aus unterschiedlichen Kulturen. Eine entscheidende Rolle in dieser Begegnung spielt die Kommunikation, der Umgang mit Menschen aus anderen Ländern und Kulturen, auch Vorurteile und Machtansprüche werden sichtbar gemacht. Den Schwerpunkt der interkulturellen Literaturwissenschaft sehen die Theoretikerinnen Anna KOCHANOWSKANIEBORAK und Ewa PŁOMIŃSKA-KRAWIEC (vgl. S. 10) in Projekten zur Überwindung von Fremdheit sowie in der Erforschung von Strategien zur Übersetzung einer Kultur in die Sprache, den Code einer anderen Kultur. Wie der deutsche Literaturwissenschaftler Michael HOFMANN in seinem Werk zur interkulturellen Literaturwissenschaft auslegt, sind die Forschungsgebiete der interkulturellen Literaturwissenschaft nicht unumstritten und einfach zu definieren (vgl. HOFMANN 2006, S. 7). Dabei ist laut der von Carmine CHIELINO herausgegebenen Schrift Interkulturelle Literatur in Deutschland. Ein Handbuch (2000) das literarische Phänomen der interkulturellen Literatur beinahe so alt wie die deutschsprachige Literatur selbst (vgl. S. 51). Dass dieses Phänomen ab Mitte der fünfziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts immer präsenter wird, hängt mit den großen Einwanderungswellen zusammen, wie mit der Einwanderung aus dem Mittelmeerraum (ab 1955), dem politischen Exil aus Osteuropa (ab 1968), Lateinamerika (ab 1973) und aus den Ländern des Nahen Ostens wie Libanon, Syrien und Iran (1970er Jahre), mit einer intensivierten Repatriierung deutschstämmiger Familien aus Ost- und Südosteuropa (ab 1985) sowie mit der Einwanderung aus dem fernöstlichen und dem schwarzafrikanischen Kulturraum (vgl. CHIELINO, S. 51). Eine weitere Auswanderungswelle in den deutschsprachigen Raum fand infolge der Balkankriege anfangs der 1990er Jahre statt. Die Gegenstände der interkulturell orientierten Literaturwissenschaft sind laut der Studie von ILJASSOVA-MORGER und REINHARDT-BECKER (vgl. S. 7) vielfältig und reichen von der Erforschung kulturspezifischer Fremdund Eigenbilder, der Forschung über Identität und Differenz, über den Einfluss kultureller Unterschiede auf die Produktion und Rezeption literarischer Werke bis hin zur Erweiterung bestehender Konzepte der Literaturwissenschaft durch die interkulturelle Dimension. Die

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interkulturelle Literaturwissenschaft bezieht „sich auf Bilder des Fremden in der deutschen Literatur und deren Bezug zu Selbstdefinitionen der Deutschen im Kontext der Begegnungen, die nicht ohne Perspektiven von Macht und Herrschaft zu denken sind“, führt HOFMANN (2006, S. 7) in seinem Handbuch zur interkulturellen Literaturwissenschaft an. In seiner Erläuterung betont HOFMANN (2006, S. 8) auch den Stellenwert der interkulturellen Prozesse und der interkulturellen Kompetenz, die als Folge der Globalisierung zu einer Schlüsselkompetenz werden und die Aufgabe haben, „gegen die Ökonomisierung der internationalen Beziehungen Widerstand zu leisten und die Auseinandersetzung mit den Kulturen zu fördern.“ Laut HOFMANN (2006, S. 8) geht es in der interkulturellen Literaturwissenschaft um die Auseinandersetzung mit fremden Kulturen, um die Begrenztheit eigener Perspektiven, um die kritische Betrachtung der eigenen Verhaltensmuster und um das Akzeptieren des Fremden. Daraus geht hervor, dass die interkulturelle Literaturwissenschaft ein breites Forschungsfeld umfasst und sie beschreibt ganz allgemein eine Forschungssituation, die sich aufgrund der unterschiedlichen Kulturzugehörigkeit ihres Gegenstandes (fremdsprachige Literatur) und ihrer Forschungssubjekte mit Kulturunterschieden und Kulturgrenzen konfrontiert sieht. (LESKOVEC, S. 9)

In der Komparatistik und in den unterschiedlichen nationalen Literaturwissenschaften haben sich verschiedene Forschungsrichtungen entwickelt, die eng miteinander verbunden sind. Zu den wichtigsten zählt u.a. die interkulturelle Germanistik, die sich seit den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts als Teilbereich der Germanistik etabliert hat, die sich als Schnittstelle zwischen Muttersprachen- und internationaler Germanistik versteht und ihr Forschungsinteresse ist in der Außenperspektive auf die deutsche Kultur und in der Erforschung ihrer Rezeption begründet (vgl. LESKOVEC, S. 9). Ähnlich wie Michael HOFMANN hebt auch die Literaturtheoretikerin Andrea LESKOVEC (vgl. S. 13) die Frage nach der Funktion von Literatur in interkultureller Kommunikation hervor und spricht in diesem Zusammenhang von einem Potenzial literarischer Texte, welches sich auf das Einüben interkultureller Kompetenzen auswirkt. Die interkulturelle Literaturwissenschaft definiert Norbert MECKLENBURG (S.

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13) in seinem Buch Das Mädchen aus der Fremde. Germanistik als interkulturelle Literaturwissenschaft wie folgt: Interkulturelle Literaturwissenschaft gab und gibt es überall dort, wo Literaturwissenschaftler bei ihrer Arbeit Kulturunterschiede bedenken und über Kulturgrenzen hinausdenken. Solch ein Denken entspricht zwei Erfahrungen: Das eine ist die Erfahrung einer Pluralität der Kulturen, das andere die Erfahrung Kulturen überschreitender Literatur.

Auch hier gilt die Literatur als Verbindungselement zwischen den Kulturen, deren Aufgabe es ist, eine Sensibilität für kulturelle Unterschiede zu entwickeln und die Pluralität der Kulturen zu wahren. Fremdheit, Migration, Toleranz, Reiseerfahrung, Ringen mit einer fremden Sprache, Gewinnung einer neuen Identität, Auseinandersetzung mit der eigenen Vorgeschichte, Aufeinandertreffen unterschiedlicher Kulturen, Erinnerung an die Heimat als Hauptthemen der interkulturellen Literaturwissenschaft nehmen auch in den hier behandelten Werken von Sten NADOLNY, Saša STANIŠIĆ und Fatih AKIN einen wichtigen Platz ein. Sten Nadolny: Selim oder die Gabe der Rede Der deutsche Student Alexander aus Sten NADOLNYS Roman Selim oder Die Gabe der Rede (1990) ist bei der Bundeswehr und möchte ein Meister der Redekunst werden. Der ehemalige Ringer Selim kommt Anfang 1965 mit einer Gruppe seiner türkischen Landsleute mit einem Sonderzug aus Istanbul nach Deutschland, um in der Kieler Werft zu arbeiten. Selim beherrscht die deutsche Sprache zwar nicht, ist aber der geborene Erzähler. Selim lehnt sich gegen die schlechten Arbeitsbedingungen auf einem Schiffskutter auf, macht verschiedene Stationen durch Deutschland, übt zahlreiche Berufe aus, lernt viele Frauen kennen, versucht, große Geschäftsideen umzusetzen und kommt schließlich nach Berlin, wo aus der zufälligen Begegnung mit Alexander eine lebenslange Freundschaft entsteht. Da Selim beim Versuch, die Tochter einer Freundin von ihrem Zuhälter zu befreien, in Notwehr ein Mitglied der Bordellmafia tötet, muss er für einige Jahre ins Gefängnis und wird schließlich in die Türkei abgeschoben. Alexander besucht Selim im Gefängnis und kümmert sich

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liebevoll um seinen Freund, dem er später auch in die Türkei folgt. Dort nimmt ein Streit der beiden Freunde ein tragisches Ende. Die beiden Hauptfiguren, Alexander und Selim, begegnen sich schon in dem Sonderzug von Istanbul nach Kiel als Alexander in Bayern in den Zug steigt. Die Begegnung bleibt wegen der Sprachschwierigkeiten jedoch flüchtig. Das Leben der beiden jungen Männer wird zunächst parallel beschreiben, „zwei nebeneinander existierende Welten“ (BRIX, S. 171) werden im ersten Teil des Romans präsentiert. Erst zwei Jahre und zweihundert Buchseiten später begegnen sich 1967 Alexander und Selim wieder. Selim ist selbstbewusst und geht mit seiner Situation als Fremder in Deutschland äußerst spielerisch um. Durch sein phantasievolles und witziges Erzählen, hält er denjenigen Deutschen, die ihn danach fragen, ob man in der Türkei schon mit Autos auf der Straße fahre, ironisch einen Spiegel vor. Selim erwidert, in seiner Heimat gäbe es nur Kamele, die sich auf riesigen, breiten Bahnen bewegen, die viel größer sind als alle Autobahnen. Selim fehlt es nicht an Phantasie und auch nicht an Träumen. Er hat viele Pläne für die Zukunft und wie man ganz reich werden kann, bleibt dabei aber der natürliche und sympathische junge Mann, dem das kühle Kalkulieren für den materiellen Erfolg fremd bleibt. Erfolg und Reichtum hat er trotzdem: „Selim war an Träumen reicher als Onassis an Schiffen.“ (NADOLNY, S. 86) Hilda SCHAUER (vgl. S. 73) misst in ihrer Studie zum Werk von Sten NADOLNY der Thematik des Umgangs mit dem Fremden im Roman Selim oder Die Gabe der Rede eine sehr wichtige Rolle bei und zwar verfahre der Autor so, dass Deutschland aus der Perspektive der Türken, die Türkei dagegen aus der Perspektive der Deutschen betrachtet wird. In der von Birgit BRIX (vgl. S. 52) vorgelegten Studie Sten Nadolny und die Postmoderne werden einige interkulturelle Aspekte des Romans Selim oder Die Gabe der Rede erwähnt. BRIX spricht von einem Versuch, das Verhältnis zwischen Deutschen und Türken von Stereotypen und Voreingenommenheiten zu befreien oder von der Möglichkeit, einen Dialog über den Umgang mit der anderen Kultur zu eröffnen, aber auch von aktuellen Themen, die im Roman aufgegriffen werden, wie beispielsweise das Thema der Überfremdung der Bundesrepublik. Auch der

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versteckte Fremdenhass wird thematisiert und der Erzähler hält die folgende Bemerkung fest: „Überhaupt hielt man die Türken mehr oder weniger für Barbaren, versicherte aber stets, daß man dagegen nichts einzuwenden hätte.“ (NADOLNY, S. 166) Dabei hebt die NadolnyForscherin hervor (vgl. BRIX, S. 173), dass der Autor durch deutlichen Witz und Humor den Themenkomplex Deutsche und Türken spielerisch darstellt, wie das Beispiel mit den geschmälzten Maultaschen zeigt (vgl. NADOLNY, S. 166), die den Türken wider Erwarten wirklich gut schmeckten und zu ihrer Integration beitragen sollten. Die Frage nach der Integration und dem Zusammenleben mit Angehörigen der islamischen Kultur und Religion genießt angesichts der Tatsache, dass die Türkinnen und Türken die größte in Deutschland lebende Minderheit ausmachen, wie der Theoretiker Michael HOFMANN (2009, S. 43-44) in seiner Schrift zu deutsch-türkischen Konstellationen ausführt, einen hohen Stellenwert. In NADOLNYS Roman ist die Freundschaft zwischen dem Deutschen Alexander und dem Türken Selim ein durchaus prägendes Beispiel des einfachen und unkomplizierten Zusammenlebens. Die beiden Freunde sprechen ihre Andersartigkeit, obwohl sie schon vom Charakter her grundverschieden sind, niemals aus und gerade ihre Andersartigkeit ist dasjenige Element, was sie so innig verbindet und gilt für beide als Bereicherung: Alexanders „deutsche“ Zurückhaltung und Selims „türkische“ oder „südländische“ Offenheit. Gerade für die heutige Zeit, als islamfeindliche Debatten immer häufiger ausgetragen werden, ist NADOLNYS Roman ein großartiger Beitrag zur menschlich warmen Verständigung mit dem Anderen und Fremden. Dass es sich hier um eine Art (Seelen-)Verwandtschaft handelt beschreibt auch die NadolnyForscherin Hilda SCHAUER in Anlehnung an Nadolnys autobiografische Schriften. Sie erwähnt einen Freund des Autors, der in Nadolnys autobiografischem Text den Namen Haluk trägt, denselben Namen wie Selims Sohn aus dem gleichnamigen Roman. Über diesen Freund hält Nadolny fest, „dass er ihn keineswegs als Türken oder Fremden, sondern eher wie einen Verwandten wahrgenommen habe.“ (SCHAUER, S. 77) Die Figur des Selim stellt NADOLNY absichtlich idealistisch dar, was dazu führt, dass der Leser sich gleich auf das erste Lesen hin mit Selim anfreundet und dem Fremden gegenüber grundsätzlich positiv eingestellt ist. Der Leser

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versetzt sich in Selims Sichtwinkel über die Deutschen und kann somit das Eigene kritisch betrachten und hinterfragen: Er stellt seinen Romanhelden positiv dar, denn er will nicht die Überlegenheit der Deutschen beweisen, sondern eher das Eigene objektiv sehen, und wenn notwendig, aus dem fremden Bild über die Deutschen lernen und eigene Gedanken, Sichtweisen korrigieren. (SCHAUER, S. 79-80)

Selim und Alexander sind bei ihrer ersten Begegnung der anderen Kultur gegenüber nicht ohne Vorurteile. Als der Sonderzug mit den türkischen Gastarbeitern in einer Stadt namens Rosenheim hält, steigt Alexander in seiner Bundeswehruniform in den Zug. Die jungen Türken beobachten die einsteigenden Fahrgäste und äußern Bemerkungen wie „komische Leute“ oder „warum steht er, wenn er sitzen kann?“ (NADOLNY, S. 44) Selim bemerkt durch den Blick aus dem Fenster meterlange, leuchtende Eiszapfen, feste Straßenschilder mit dicken Ausrufezeichen, blitzend weiße Kirchtürme und denkt sich das Seine: Wer es hier ein Leben lang aushielt, mußte widerstandsfähig und irgendwie gläubig sein. Die Deutschen, das wußte jeder, waren die meiste Zeit mit Arbeiten, Heizen und Schneeschaufeln beschäftigt. Keine Leute, die viel redeten, und alle riesig und blond wie die Teufel. Wenn sie doch einmal Zeit hatten, dann lasen sie. (NADOLNY, S. 45)

Schon bei der ersten Betrachtung der jungen Männer denkt Alexander, sie seien Arbeiter und wohl nicht die Besten und Klügsten, wenn sie nach Deutschland kommen um zu arbeiten. Alexander bemerkt, dass sie einander verblüffend ähnlich sehen, doch das größte Interesse an den Altersgenossen aus der Türkei weckt bei dem deutschen Rhetorikstudenten die Art und Weise, wie sie miteinander sprechen (NADOLNY, S. 48): Einer von den Glattgesichtigen beantwortete Fragen und erzählte etwas. Er gab sich dabei offenbar wenig Mühe, brummte mit gerunzelter Stirn, räusperte sich, unterbrach, um eine Zigarette anzuzünden – er wirkte fast unkonzentriert. Oft fiel ihm aber plötzlich etwas ein, und er lachte im voraus, während die anderen auf die Pointe warten mußten. Auffällig war, daß er bei jedem Wort ihre Aufmerksamkeit hatte, vielleicht erzählte er Märchen, so waren ja die Orientalen.

Die Leichtigkeit, mit der dieser junge Türke erzählte und dabei seine Zuhörer im Bann seiner Geschichten hielt, wird der Deutsche, der sich mit

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so viel Mühe die Kunst der Rhetorik anzueignen versucht, bei seinem späteren Freund Selim umso mehr schätzen. Das Talent des Erzählens erweist sich für Selim als eine wichtige Überlebensstrategie, auch in seinen schwierigsten Momenten in Deutschland gilt: „Redend und erzählend suchte er sich durch diesen Weltuntergang hindurchzuretten.“ (NADOLNY, S. 125) Obwohl Selim, trotz sprachlicher Schwierigkeiten, gerne auch in Deutsch erzählte, sehnt er sich nach der ihm vertrauten Ausdrucksweise (vgl. NADOLNY, S. 182), denn in der Verwendung der fremden Sprache fühlte Selim sich lahm und schwerfällig und sagt, dass es für ihn immer nur eine Sprache auf der Welt geben wird, in der er sich wie ein Fisch im Wasser fühlen wird. Die Literaturwissenschaftlerin Angela FITZ (vgl. S. 145) hält in ihrer Interpretation des Romans Selim oder Die Gabe der Rede fest, dass Selims und Alexanders Bemerkungen nationale Stereotype zeigen – den Orient als Hochburg der Märchenerzähler und die Deutschen als Inbegriff von Fleiß und Ordnung. Auch der türkische Arbeiter Ömer macht ähnliche, durch Vorurteile geprägte Bemerkungen über die Deutschen, die er bei seiner Arbeit in der Werft beobachtet, indem er sie als „[d]iszipliniert, pünktlich und vorschriftsmäßig“ (NADOLNY, S. 69) charakterisiert. An einer Stelle davor beschreibt der Erzähler Ömers Wahrnehmung der Deutschen mit den folgenden Worten: Die Deutschen hatten wenig Bedarf an Lächeln und Sprechen, auch untereinander verständigten sie sich mehr durch Arbeit. Ömer bewunderte das. Sie waren hart. [...] Aber den Kaffee in der Zehnuhrpause benutzten auch sie nur zum Händewärmen. (NADOLNY, S. 68-69)

Dies mag sowohl bedeuten, dass der deutsche Kaffee so schlecht war, dass man ihn nicht zum Trinken, sondern nur für das Händewärmen gebrauchen konnte als auch dass auch die Deutschen, so hart sie von außen hin erscheinen, ebenfalls ein Bedürfnis nach Wärme haben. Dass die zurückhaltenden Deutschen nicht in der Lage sind, sich zu freuen und Feste zu feiern, ist ein weiteres Vorurteil, dass in Selims Ansicht zum Ausdruck gebracht wird, als der Erzähler seine Beobachtungen über das Weihnachtsfest schildert:

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Weihnachten war ein religiöses Fest, und Selim war neugierig darauf, wie die Deutschen es feierten. Alle in der Bar waren fein angezogen, einige sogar mit Krawatte, und man schöpfte Punsch mit der Kelle. Sonst geschah nichts. (NADOLNY, S. 141)

Davon, dass es – aus der Sicht der Türken – den Deutschen an Gastfreundschaft und Herzlichkeit fehle, zeugt auch der Satz: „Er erwartete eine Einladung zum Essen, aber sie kam nicht.“ (NADOLNY, S. 175) In diesem Roman ist auch die Vorstellung jener Menschen präsent, die Deutschland als das Land des materiellen Wohlstandslands erleben und in der Bundesrepublik ihren Traum vom Glück zu verwirklichen suchen. Auch Selim träumt davon, in Deutschland reich zu werden: Ich werde dieses Land erobern, dachte Selim. Ich kann schuften, aber vor allem kann ich etwas Eigenes gründen, ein Geschäft. [...] Selim wollte genug Geld haben, um auch noch andere reich zu machen. Er wollte das große Los sein für seine Freunde. [...] Das war auch die Geschichte, die er erzählen wollte: wie einer allein durch Kraft und gute Ideen reich werden konnte. Das wollte er erst erzählen, dann vollbringen, dann wieder erzählen. (NADOLNY, S. 43)

Für den Erfolg im reichen Westen steht für Selim nicht nur das Materielle im Vordergrund, denn er betont, dass er zuerst erzählen möchte, was er später vollbringen wird. Den Höhepunkt der interkulturellen Verständigung bietet die Schlussszene des Romans. Zu Selims Geburtstag in der Türkei reisen fast alle seine deutschen Freunde an, es wird ein griechisches Amphitheater gebaut, sowohl türkische als auch deutsche Musik gespielt. Saša Stanišić: Wie der Soldat das Grammofon repariert Der „Fähigkeitenzauberer“ Aleksandar Krsmanović aus Saša STANIŠIĆS Roman Wie der Soldat das Grammofon repariert (2006) erzählt in diesem melancholisch-traurigen Buch Geschichten aus seiner Kindheit, Geschichten über das Heranwachsen in der bosnischen Stadt Višegrad, den Kriegsausbruch, beschreibt Ausschnitte aus dem Leben seiner nach Deutschland geflüchteten Familie. Das Buch ist erfüllt von Erinnerungen an eine Stadt, einen Fluss, an die Menschen, denen das Buch gewidmet ist. Nach zehn Jahren in Deutschland reist Aleksandar, nun als erwachsener Mann, in seine Heimatstadt zurück. Er hat Listen gemacht: Menschen und

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Orte, Schritte, Kneipen, Straßen, sogar Gerüche stehen auf dem Papier. Er sucht die Punkte von seiner Liste nacheinander auf, in der Hoffnung, alles Verlorene so vorzufinden, wie in Zeiten, als alles gut war. Den Roman Wie der Soldat das Grammofon repariert bezeichnet Boris PREVIŠIĆ (vgl. S. 199) in seinem Artikel „Poetik der Marginalität: Balkan Turn gefällig?“ als exemplarischen Beitrag der deutschsprachigen Literatur von Immigranten aus Ex-Jugoslawien. Im Frühjahr 1992 wird Aleksandars Familie auseinandergerissen. Der Krieg bricht ein. Das Vertraute bricht entzwei. Aleksandar spielt in der neuen Heimat seine Pubertät vor, um den Eltern keine zusätzlichen Sorgen zu bereiten. Die Geschichte von STANIŠIĆS Romanhelden deckt sich in vielen Aspekten mit seiner eigenen Geschichte. Als vierzehnjähriger Junge erlebte Saša STANIŠIĆ die Belagerung seiner Heimatstadt Višegrad durch serbische Truppen und flüchtete, obwohl er keinen falschen Namen trägt, mit seiner Familie nach Deutschland. In der neuen Heimat macht ihm sein schriftstellerisches Talent das Leben leichter. In dem Roman Wie der Soldat das Grammofon repariert lebt, genau wie der Autor, auch der IchErzähler Aleksandar in einer Art Zwischenraum. In einem Raum zwischen den in der Heimat zurückgelassenen Menschen und Erinnerungen und zwischen dem Leben in einem neuen Land. Für die Literaturwissenschaftlerin Joanna FLINIK (vgl. S. 105 und 111) sind es gerade diese Zwischenräume, das Leben zwischen den Kulturen und Mentalitäten, dem Fremden und dem Vertrauten, die Autoren nichtdeutscher Herkunft eine Chance ermöglichen. In Zeiten der Globalisierung wird die Migration zur Normalität und ein Leben in Zwischenräumen nimmt die Qualität einer normalen modernen Existenz an. Der sogenannten Migrantenliteratur kommt eine wichtige Vermittlerrolle zu, weil sich durch die Lösung von Herkunftsorten neue Blickwinkel auf die eigene Kultur erschließen, wie FLINIK (vgl. S. 106) in ihrem Beitrag erläutert. Zum einen geht daraus hervor, dass der Wechsel des Lebensortes die Perspektive eröffnet, über bestimmte Grenzen hinauszudenken, zum anderen ist für solche Autoren der Bezug zu bestimmten Orten besonders wichtig und hat starken Einfluss auf ihre Identität. Neben dem Begriff „Zwischenraum“ erwähnt die Literaturwissenschaftlerin Aglaia BLIOUMI (vgl. S. 37) in ihrer Schrift über Kulturtransferforschung auch die Begriffe

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„Dritter Ort“ und „Dritter Raum“, wobei diese Begriffe keinesfalls geografische Bedeutung haben, sondern als Kontaktzone zwischen den Kulturen zu verstehen sind. So verfährt auch STANIŠIĆ in seinem Roman. Die räumliche Distanz ermöglicht seinem Helden einen umfassenden Blick auf die Kriegsgeschehnisse, mit einer starken Gebundenheit an Erinnerungen aus dem Ort, den er verlassen musste. „Ich bin ein Gemisch. Ich bin ein Halbhalb. Ich bin Jugoslawe – ich zerfalle also.“ (STANIŠIĆ, S. 54) Diese Äußerung führt vor Augen, dass die Erzählerfigur des Aleksandar Krsmanović sich in einem Zwischenraum bewegt, in einem Gemisch aus Kulturen, sowohl im eigenen Land als auch in der neuen Heimat und mit dem Gefühl ringt, „dass man nie im Leben entfernter sein könnte von einem Zuhause.“ (STANIŠIĆ, S. 145) In einem Brief an Asija, ein Waisenmädchen, das er zu Beginn des Krieges kennenlernt, spricht Aleksandar von den Integrationsschwierigkeiten der Familie im Westen (STANIŠIĆ, S. 138): „Asija, wir schlafen alle in diesem kleinen Zimmer und sind alle eine Spur wütender als zu Hause, auch in den Träumen.“ Er selbst hat es dabei am leichtesten: Er freut sich für fünf Nationalmannschaften. Er erschafft sich mit dem Schreiben von Geschichten eine eigene Welt, in der er sich am wohlsten fühlt, obwohl er immer wieder an den Krieg in der Heimat denken muss: „Ich lese und liebe das Lesen, der Tod ist ein Meister aus Deutschland, er ist gerade ein Weltmeister in Bosnien.“ (STANIŠIĆ, S. 147) Auch hat er in Deutschland einen neuen Lieblingsbuchstaben, in dem gleich zwei „s“ untergekommen sind und wünscht sich, Alekßandar Krßmanović oder Alexander zu heißen. Eine solche Bemühung um Integration schildert der Autor nicht ohne Ironie und Humor. Von Witz ist auch die folgende Stelle durchsetzt, an welcher der Erzähler in dem Brief an Asija von seiner Oma berichtet: Nena Fatima hält sich am besten. Sie kocht für uns alle und badet lang, und ich sehe ihr keinen Kummer an. [...] Sie hat sich mit den Kassiererinnen im Supermarkt angefreundet und bringt ihnen jeden Tag Kaffee an die Kassen. Dafür darf sie Dinge klauen, die weniger als fünf Mark kosten, und die Kassiererinnen tun so, als würden sie es nicht bemerken. (STANIŠIĆ, S. 141)

Für die deutschsprachige Migrantenliteratur ist die Darstellung des Gegensatzes zwischen dem Heimischen und dem Fremden charakteristisch

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(vgl. FLINIK, S. 107). Bereits am Anfang seines Prosawerkes betont STANIŠIĆ diesen Gegensatz als er den Jungen Aleksandar über seinen Onkel Bora sprechen lässt: „Er ist Gastarbeiter, sage ich. Ich wundere mich zwar, dass es Orte gibt, wo Gäste arbeiten müssen, bei uns lässt man einen Gast nicht einmal abwaschen [...].“ (STANIŠIĆ, S. 37) Es ist nicht nur der Gegensatz zwischen dem Eigenen und dem Fremden, STANIŠIĆ widmet sich in seinem Roman auch der Problematik der innerbosnischen Konflikte, die sich Anfang der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts anbahnten: So eine Musik in meinem Dorf! Sind wir hier in Veletovo oder in Istanbul? Sind wir Menschen oder Zigeuner? Unsere Könige und Helden sollt ihr besingen, unsere Schlachten und den serbischen Großstaat! Miki geht morgen in die Waffen und ihr stopft ihm am letzten Abend mit diesem türkischen Zigeunerdreck die Ohren? (STANIŠIĆ, S. 46)

Die Idylle des friedlichen Zusammenlebens im eigenen Land geht verloren und bald kommt der Krieg. Gewaltsam wird das zerstört und als fremd aufgezwungen, was den Menschen bis vor Kurzem noch als gleichermaßen eigen und vertraut war. Edin, der beste Freund des Erzählers, gehörte nun zu den anderen (vgl. STANIŠIĆ, S. 106), heißt es im Roman. Die oben erwähnten Schlachten fanden erneut statt. Auch hier bestehen autobiografische Bezüge, denn als Sohn einer Bosniakin und eines bosnischen Serben hatte der Autor solche Hassreden möglicherweise am eigenen Leib erfahren, worauf die folgende Stelle im Text hindeuten könnte: „[...] es ist an der Zeit, dass wir den Ustaschas und den Mudschaheddin die Stirn bieten, es gibt dafür die Ohrfeige, es gibt verstohlene Blicke zu meiner Mutter und meiner Nena Fatima.“ (STANIŠIĆ, S. 53) Der Roman Wie der Soldat das Grammofon repariert schildert die Berührungen zwischen den Kulturen, das Schweben zwischen dem Eigenen und dem Fremden, zwar geschieht dies aus der Distanz, gewährt dem Leser dennoch oder gerade deswegen den Einblick in die intimsten Ereignisse aus dem Leben des Romanhelden.

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Fatih Akin: Auf der anderen Seite Die türkisch-deutsche Filmproduktion findet seit Ende der 1990er Jahre einen wahren Durchbruch unter dem Begriff „Neues Deutsches Kino“, das von einer neuen Generation von jungen Türken, vor allem aus Berlin und Hamburg, gedreht wird (vgl. GÖKTÜRK, S. 339). Zu dieser neuen Generation von Filmemachern gehört, als einer der berühmtesten, der in Hamburg geborene Fatih AKIN. Durch ihn erlebte das Migrationskino eine entscheidende Wende, nicht zuletzt durch die Gründung von AKINS eigener Produktionsfirma Corazón International und seinen Einsatz als Produzent türkischer Filme. Die finanzielle Unabhängigkeit räumte, im Gegensatz zu den Bedingungen in der ersten Phase des deutsch-türkischen Kinos, AKIN und anderen Filmemachern mehr Freiheit bei der Themenwahl ein, so Maha EL HISSY (2012, S. 205) über die Themenwende innerhalb des von Migranten geprägten deutschen Films. War das deutsch-türkische Filmschaffen in der Zeit vor 1990 stärker von den Elementen „eines Kinos der Fremdheit und des Elends“ (NEUBAUER, S. 199) geprägt, so kreisen auch neuere Filme um die Themen wie kulturelle Entfremdung, ein Leben im Gefängnis, Tod und Identitätsverlust (vgl. NEUBAUER, S. 199). Diese Themen spielen auch in AKINS Film Auf der anderen Seite (2007) eine zentrale Rolle. Auf der anderen Seite zeigt die Protagonisten zwischen (beinahe) zwei Kontinenten, zwei Kulturen, zwei Staaten und zwei Sprachen. Hingerissen zwischen Heimat und Fremde, Heimat in der Fremde und Fremde in der Heimat. Die Wege der Helden aus AKINS Film kreuzen sich zufällig oder verlaufen, wie vom Schicksal bestimmt, immer wieder aneinander vorbei. Durch die parallel verlaufenden Geschichten in Deutschland und in der Türkei wird die Verflechtung der beiden Kulturen als Selbstverständlichkeit dargestellt, wodurch nationale und ethnische Grenzen aufgehoben werden, wie Maha EL HISSY (2009, S. 179) in ihrer Arbeit über Fatih AKINS Filme Gegen die Wand und Auf der anderen Seite erklärt. Jedoch deutet EL HISSY darauf hin, dass der Parallelverlauf der einzelnen Geschichten in der Rezeption deutsch-türkischer Filme insgesamt eher „von der Koexistenz als von der Interaktion der Kulturen“ (2012, S.

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206) zeugt und dass die meisten Figuren zwischen den beiden Kulturen schweben. Das Schweben und die Grenzen zwischen den Kulturen werden in AKINS Filmen immer wieder thematisiert. In Auf der anderen Seite wird die Grenze zwischen der deutschen und türkischen Kultur in der Handlung um Ali, Yeter und Nejat zum Ausdruck gebracht. Nach Ricarda STROBEL (vgl. S. 156) geht es dabei um ethnisch markierte soziale Werthaltungen, wie den engen Familienzusammenhalt und die traditionellen Rollenerwartungen an die Frau. Die Prostituierte Yeter (Nursel Köse) zieht zu ihrem Freier Ali (Tuncel Kurtiz), dem Vater des Hamburger Germanistikprofessors Nejat (Baki Davrak). Für Ali ist Yeter eine billige Haushälterin und Sexualobjekt. Als sie sich gegen die schlechte Behandlung wehrt, erschlägt Ali seine gekaufte Lebensgefährtin im Alkoholrausch. Die Verstorbene hat eine Tochter in der Türkei zurückgelassen. Nejat macht sich in Istanbul auf die Suche nach Yeters Tochter Ayten (Nurgül Yeşilçay), die als politische Aktivistin von den türkischen Behörden verfolgt wird und inzwischen in Deutschland Unterschlupf gefunden hat. Nejats Aufbruch in die Türkei symbolisiert die Abwendung von seinem Vater. In diesem Zusammenhang konstatiert STROBEL (vgl. S. 156), dass Nejat damit einerseits den türkischen Familiensinn verwirft und andererseits Yeters Tochter durch die Finanzierung ihres Studiums helfen will, sich von den repressiven Rollenerwartungen zu befreien. Parallel zu dieser Handlung verläuft in Bremen Aytens Suche nach ihrer Mutter. Ayten verlässt, weil sie bereits eine selbstbewusste Frau ist und sich von Männern nicht bevormunden lässt, das Versteck bei ihren gleichgesinnten Landsmännern in Hamburg und schlägt sich alleine durch. Als sie um etwas Geld für ein Essen in der Studentenmensa bittet, begegnet sie Charlotte (Patrycia Ziolkowska) – der Beginn einer tragisch endenden Liebesgeschichte. Ayten wird verhaftet, ihr Antrag auf Asyl abgelehnt. Sie wird in die Türkei abgeschoben und in ein Gefängnis gebracht. Lotte reist nach Istanbul, um sich für Aytens Freilassung einzusetzen und es gelingt ihr, eine Besuchserlaubnis zu bekommen. Nach dem Gefängnisbesuch wird Lotte auf der Straße erschossen, der Schuss kam aus der von Ayten versteckten Pistole. „Lottes Tod hängt zwar mit der politischen Aktivität Aytens zusammen, ist aber

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letztlich ebenso ein Zufall, eine Verkettung unglücklicher Umstände wie Yeters Tod.“ (STROBEL, S. 156) Von Freude und Tragik sind auch alle anderen Begegnungen in diesem Spielfilm durchzogen. Um Lottes sterbliche Überreste nach Deutschland zu überführen, reist ihre Mutter Susanne, gespielt von Hanna Schygulla, in die türkische Metropole und lässt sich in der Wohnung des Literaturdozenten Nejat nieder, in dem Zimmer, das zuvor Lotte gemietet hatte. In Istanbul hat Nejat einen Buchladen von einem Deutschen übernommen. Susanne und Nejat wechseln in ihren Gesprächen knappe Sätze, denn um einander zu verstehen, bedürfen sie keiner langen Rede. Bei ihrem Treffen mit Nejat fragt ihn Susanne danach, woher er wusste, dass sie die Mutter von Lotte ist. Darauf erwidert er (AKIN, 01:30:04): „Sie sind der traurigste Mensch hier.“ Sie verbindet Einsamkeit und Traurigkeit über den Verlust eines geliebten Menschen. Ein Beweis dafür, dass menschliche Gefühle eine universelle Sprache sprechen und in jeder Kultur gleich wahrgenommen werden. In ihren Ausführungen über den Film Auf der anderen Seite hält STROBEL (vgl. S. 156) fest, dass die Todesfälle von Yeter und Lotte Nejat und Susanne in einer sehr versöhnlichen Situation zusammengeführt haben, in der sie sich angesichts des Minaretts am türkischen Opferfest auf die alttestamentarischen Gemeinsamkeiten islamisch-türkischer und christlichdeutscher Kultur besinnen. Die Grenzen erscheinen damit als aufgelöst, und der Weg ist frei zur Aussöhnung Nejats mit seinem Vater und Susannes mit Ayten (als Stellvertreterin der eigenen Tochter). Der Schritt „auf die andere Seite“ der trennenden Grenzen zwischen den sozialen und politischen Werthaltungen und zwischen den Generationen erscheint möglich. (STROBEL S. 156)

Susanne hat ihre Tochter durch eine Gewalttat verloren, Nejat hat sich von seinem Vater wegen einer Gewalttat abgewendet. Mit derselben Maschine wie Lottes Mutter kommt Nejats Vater nach Istanbul, denn Ali wurde nach seinen Gefängnisjahren in Deutschland in die Türkei ausgewiesen. Die Wege der Menschen kreuzen sich hier wieder, ohne sich zu berühren. Susanne ist entschlossen, dem Wunsch ihrer Tochter nachzugehen und Ayten aus dem Gefängnis zu holen. Zur gleichen Zeit macht Nejat sich auf zu einem Fischerdörfchen am Schwarzen Meer, um seinen Vater zu suchen. Ayten kommt frei und wird in Nejats Buchladen von Susanne mütterlich umarmt, obwohl Susanne der jungen Türkin bei ihrer ersten

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Begegnung nicht zugeneigt war. Susanne hat in ihr einen Tochterersatz gefunden, Ayten findet in Susanne die verlorene Mutter. Bezeichnend für Auf der anderen Seite ist hier das Motiv des Reisens, das „zu den wichtigsten wiederkehrenden Themen und Motiven im transnationalen Kino“ (EL HISSY 2012, S. 207) gehört. Für alle Protagonisten bedeutet die Reise einen Neuanfang, sie symbolisiert die Suche nach dem Verlorenen, nicht nur in Bezug auf die Identität und die Kultur, sie ist die Hoffnung auf das Ankommen, die Versöhnung und das Loslassen (wie im Fall von Susanne). Das Thema der Interkulturalität ist in den letzten Jahrzehnten nicht nur in der Literatur brisant, sondern gerade auch das deutschsprachige Kino beschäftigt sich mit der Frage von Integrationsmöglichkeiten, mit der Andersartigkeit der Kulturen, mit Minderheiten in Deutschland und ist um die Förderung der multikulturellen Gesellschaft bemüht. Die deutschtürkische Film- und Literaturproduktion hat primär auch eine vermittelnde Funktion, hält Özkan EZLI (vgl. S. 208) in dem Aufsatz über Fatih AKINS Filmschaffen fest. In dieser Hinsicht stellt die Germanistin Deniz GÖKTÜRK (S. 331) in ihrem Beitrag „Migration und Kino – Subnationale Mitleidskultur oder transnationale Rollenspiele?“ in dem von Carmine CHIELINO herausgegebenen Sammelband Interkulturelle Literatur in Deutschland. Ein Handbuch (2000) einige wichtige Fragen, mit denen sich auch die Kritik beschäftigt: Welche Nationalität hat beispielsweise ein Film, der in Hamburg spielt und dort unter deutscher Regie produziert ist, in dem jedoch türkische Schauspieler türkisch-deutsche Dialoge sprechen und türkische Milieus darstellen? Ist ein solcher Film dem deutschen oder dem türkischen Kino zuzurechnen? Macht er Aussagen über die deutsche oder die türkische Kultur oder über beide?

Für diese Art von Filmen hat sich u.a. auch der Begriff „Weltkino“ durchgesetzt, der die Universalität von Mobilität und Diversität betont (vgl. GÖKTÜRK, S. 331-332). „Dieses Kino unterscheidet sich oft wesentlich vom herkömmlichen deutschen Kino, indem es different vom Leben in zwei Kulturen erzählt, von kulturellen Wechselwirkungen und Konflikten“, erklärt Jingqian KONG (S. 115) in ihrem Buch über deutsche Migrationsfilme. Dafür steht das Beispiel der Beziehung zwischen Lotte

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und Ayten. Lotte entflieht den Zwängen und Vorstellungen ihrer Mutter und Ayten löst sich für Lotte aus den Klauen der Untergrundbewegung, der sie angehörte. Mit dem Schicksal von Ayten wird in Auf der anderen Seite auf die Problematik der Illegalität und Heimatlosigkeit hingewiesen. Migranten, Exilanten und Asylanten werden somit zu wandernden Grenzgängern, die sich als Nomaden an verschiedenen Orten niederlassen müssen (vgl. EL HISSY 2012, S. 208-209). Auf ihrem Weg durchläuft Ayten verschiedene Stationen, an denen sie eher widerwillig aufgenommen wird und auch die Schlussszene, die sie zwar in inniger Umarmung mit Susanne zeigt, lässt offen, ob Ayten ihren Ort gefunden hat oder ob sie erneut aufbrechen wird zu einem neuen Hafen. Bei der Darstellung der Helden in Fatih AKINS Filmen möchte KONG (vgl. S. 183) betonen, dass seine Figuren nie auf ihre ethnischen Abstammungen fixiert sind, sondern dass sie eher im Sinne des Konzeptes der Hybridität zu verstehen sind, dass AKINS Figurenensemble bikulturelle Erfahrungen und multiple Identitäten prägen. Das Lebensgefühl des Regisseurs AKIN selbst ist von der Existenz in einem Raum zwischen den Kulturen geprägt (KONG, S. 183): „Sein Reichtum besteht darin, dass er sowohl die Türkei als auch Deutschland distanziert betrachten kann.“ KONG führt weiterhin an (vgl. S. 184), AKIN interessiere sich nicht vordergründig für Differenzen und Konflikte zwischen den Kulturen, sie seien als Teil des Alltags einfach gegeben. Die Literaturwissenschaftlerin Maha EL HISSY (2009, S. 170) spricht von einer „auffälligen Gelassenheit, mit der sich AKINS Figuren in und zwischen den Welten bewegen.“ Auch Özkan EZLI (S. 210) schreibt in seinem Beitrag, dass im Zentrum des Interesses von deutsch-türkischen Regisseurinnen und Regisseuren der zweiten Generation, anderes als etwa in den Migrationsfilmen der 1970er oder 1980er Jahre, „offene Formen des Zusammenlebens in einer hybriden, urbanen Gesellschaft“ stehen. Des Weiteren erläutert EZLI (vgl. S. 211), dass die Komplexität des deutschtürkischen Alltags in dem Film Auf der anderen Seite besonders anschaulich dargestellt wird, denn der Film erzählt nicht nur deutschtürkische Geschichten, sondern auch transnationale, transkulturelle, universelle Geschichten über Leben und Tod, Liebe und Freundschaft, Schicksal, Bindungen, Verluste. „Ein türkischer Germanistikprofessor aus Deutschland landet in einer deutschen Buchhandlung in der Türkei.“

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(AKIN, 00:36:27) Nach Ansicht von Maha EL HISSY (2009, S. 183) ist dies „nicht nur als Beispiel für Mobilität, sondern auch für Heimatlosigkeit zu betrachten.“ Nejat fühlt sich in beiden Kulturen daheim und ist fest mit ihnen verwurzelt. Für STROBEL (vgl. S. 149-150) ist dies ein weiterer Beweis, dass AKINS Filme transnational und transkulturell sind, denn seine Figuren sind in multiethnischen Milieus angesiedelt und seine Handlungsräume an Orte unterschiedlicher Länder gebunden. Auch die Figur von Ayten zeugt von einem ähnlichen Schicksal. Zwar hat sie Schwierigkeiten, sich sowohl in der türkischen als auch in der deutschen Gesellschaft zurechtzufinden – in der Türkei kämpf sie gegen Unterdrückung der Menschenrechte, in Deutschland gegen Vorurteile –, aber sie findet dennoch ein Stück Liebe, Heimat und Zuhause in Susanne, ihrer deutschen (Ersatz-)Mutter.

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Daniela Čančar Interculturality in the Work of Sten Nadoly, Saša Stanišić and Fatih Akin Summary The clash of cultures is the topic of the novels by Sten Nadolny and Saša Stanišić and also in the movie by Fatih Akin. The novel Selim or The Gift of Speech (Selim oder Die Gabe der Rede) by Sten Nadolny tells the story of the eloquent Turk Selim who forces his way through language and cultural barriers into a new environment and who accidentaly on this way encounters the German rhetoric student Alexander. Fatih Akin’s movie The Edge of Heaven (Auf der anderen Seite) also tells the story of different encounters between Germans and Turks. The protagonists have to overcome many obstacles on their way. They struggle with ignorance, prejudice, constraints of society and family, with honor and corruption and pick a fight with some guys from the underground. In the novel How the Soldier Repairs the Gramophone (Wie der Soldat das Grammofon repariert) by Saša Stanišić there are motifs from Nadolny’s novel as well as from Akin’s movie. The young Aleksandar and his family fled to the West, where he devises a new home with his memories of life in the city on the Drina, from which he was snatched by force of the outbreak of the Bosnian war, and his greatest talent, inventing stories. Storytelling, as a survival strategy in a foreign Germany, ist what the Bosnian Aleksandar and the Turk Selim from Nadolny’s novel have in common. Ten years after escaping Aleksandar travels as an adult to his homeland. Similar to the Turkish-born professor of German Nejat from Akin’s The Edge of Heaven, he goes in search of traces left behind. The present work goes to the track of different experiences of the protagonists with the foreign and their own culture. Key words: interculturality, intercultural literary studies, migration movies, world cinema, Sten Nadolny, Saša Stanišić, Fatih Akin

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IM DIENSTE DER ERINNERUNG – BERNHARD SCHLINKS DER VORLESER UND NICOL LJUBIĆS MEERESSTILLE IM VERGLEICH Dina Džindo Jašarević (djine133@yahoo.de) Zusammenfassung Bernhard Schlinks Der Vorleser und Nicol Ljubićs Meeresstille sind Romane, die gegen das Vergessen und Verdrängen kämpfen. Es sind Romane, die zurückschauen und die Erinnerung an eine schreckliche Zeit in die Erzählung aufgenommen haben. Beide berichten sie von Krieg, der eine vom Zweiten Weltkrieg, der andere vom Bosnien-Krieg (1992-1995); und sie berichten von zwei Geschichten, in denen es um Schuld und Sühne, Recht und Gerechtigkeit geht. In der Arbeit wird der Versuch unternommen, die Romane miteinander zu vergleichen im Bezug auf die geschichtliche Problematik, wie Verbrechen zu erinnern seien. Die Analyse folgt den von Reinhart Koselleck formulierten Fragen: Wer ist zu erinnern? Was ist zu erinnern? und Wie ist zu erinnern?, die allerdings noch durch eine zusätzliche (von Aleida Assmann) ergänzt werden: Wer erinnert sich? So wurde ein Blick auf Täter und Opfer auf beiden Seiten geworfen. Nur durch die Erinnerung an Täter und Opfer kann das Schweigen durchbrochen werden und der Weg für die Wahrheit geebnet werden. Stichwörter: Bernhard Schlink, Nicol Ljubić, Erinnerung, Täter, Opfer, Schuld, Unschuld, Gerechtigkeit, Schweigen

I. Wie sollte man jenes Wogen in den Menschen beschreiben, das von stummer, tierischer Angst bis zu selbstmörderischer Begeisterung, von den niedrigsten Trieben der Blutgier und des hinterhältigen Raubes bis zu den höchsten Taten des Märtyrertums reichte, in denen der Mensch über sich selbst hinauswuchs und für einen Augenblick die Sphären höherer Welten berührte, in denen andere Gesetze galten? Niemals wird das ausgedrückt werden können, denn wer es anschaute und überlebte, der verstummt für immer, und die Toten können ohnehin nicht sprechen. Das sind Dinge, die man nicht ausspricht, sondern vergisst. Denn vergäße man sie nicht, wie könnten sie sich dann wiederholen? (Ivo Andrić, Die Brücke über die Drina, in Nicol Ljubić Meeresstille 2010, S. 129)

Viele Menschen teilen das gleiche oder zumindest ein ähnliches Schicksal. Ihr Leben ist geprägt durch Erinnerungen an Krieg und Vernichtung, an Mord und Terror, an Trauer und unsagbares Leid. Die einen müssen mit

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eigenen Erinnerungen fertig werden, die anderen kennen nur überlieferte. Manche glauben daran, dass sich die Geschichte nicht wiederholt, dass Menschen aus Fehlern lernen und die Zukunft anders gestalten. Doch die Fakten zeigen uns etwas Anderes. Die Geschichte, so scheint es, wiederholt sich doch und zwar immer und immer wieder. Wie anders könnte es zu deuten sein, dass ein halbes Jahrhundert nach den nationalsozialistischen Verbrechen auf dem gleichen Kontinent, nur unweit entfernt, ähnliche Verbrechen stattfanden (die Einmaligkeit des Holocaust soll hier nicht in Frage gestellt werden)? Folter, Mord, Vertreibung, sexueller Missbrauch, um nur Einiges zu nennen. Die Welt hatte vergessen, was fünfzig Jahre zuvor geschehen war. Sie hatte vergessen, dass sie „Nie wieder Auschwitz!“ geschworen hatte. Elie Wiesel, Überlebender der Deportationen in die Konzentrationslager Auschwitz und Buchenwald, sprach am 5. Juni 2009 genau dieses Thema an: Kann ich ihm [dem Vater] jetzt sagen, dass die Welt ihre Lektion gelernt hat? – Da bin ich mir nicht so sicher. [...] diese Welt zu einem besseren Ort zu machen, wo die Menschen aufhören, Krieg gegeneinander zu führen – jeder Krieg ist absurd, ist bedeutungslos, einander zu hassen und das zu hassen, was am anderen Menschen anders ist, anstatt ihn zu respektieren. Aber die Welt hat ihre Lektion leider nicht gelernt. [...] Wir haben gesagt: „Nein, wir müssen doch versuchen, weiterhin an eine Zukunft zu glauben, weil die Welt ihre Lektion gelernt hat.“ Aber das hat die Welt eben leider nicht. Hätte die Welt ihre Lektion gelernt, hätte es kein Kambodscha, kein Ruanda, kein Darfur und kein Bosnien gegeben. Wird die Welt je lernen? (http://www.buchenwald.de/en/913/, eingesehen am 13.04.2013)

Zwanzig Jahre nach dem Krieg steht in Bosnien-Herzegowina noch immer eine Frage im Raum. Wie soll man sich an den Krieg und die Verbrechen erinnern? Eine Frage, die selbst Deutschland ein halbes Jahrhundert nach dem Zweiten Weltkrieg noch immer nicht eindeutig beantwortet hatte. Zu Recht deutete Reinhart Koselleck, im Hinblick auf die nationalsozialistischen Verbrechen, in seinem Aufsatz Formen und Traditionen des negativen Gedächtnisses darauf hin, dass wir vor einer geschichtlichen Problematik stehen, wie Verbrechen zu erinnern seien. Wenn Koselleck vom negativen Gedächtnis spricht, dann meint er entweder das Negative im Gedächtnis, dessen Inhalt irgendwie unwillkommen und verachtenswert ist oder negativ in dem Sinne, dass das Gedächtnis sich weigert, das Negative überhaupt zu erkennen. So wird es

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verdrängt und fällt der Vergessenheit zum Opfer (Reinhart Koselleck in Volkhard Knigge und Norbert Frei (Hgg.) 2002, S. 21). Weiterhin unterscheidet er primäre und sekundäre Erfahrungen. Primäre gehören einzig und allein den Betroffenen selbst; sie formen deren Erinnerungen und sind unverrückbar. Dagegen sind die Erfahrungen der Nachgeborenen oder Zeitgenossen nur sekundär: Die in den Leib gebrannte Erfahrung der absurden Sinnlosigkeit läßt sich, als Primärerfahrung, nicht in das Gedächtnis anderer oder in die Erinnerung nicht Betroffener übertragen. [...] Und deshalb sei festgehalten, daß unser Gedächtnis, gemessen an den genuinen Erfahrungen der Opfer, zwar negativ präformiert, aber nur sekundär und historisch aufbereitet bleibt. Unsere Erfahrungen sind nicht die der von uns Umgebrachten oder der Überlebenden. Diese negative Differenz bleibt immer das Leitmotiv unserer Erinnerung. (ebd., S. 24ff.)

Bei der Beschäftigung mit dieser Differenz melden sich Probleme, auf die Koselleck mit drei Fragen eingeht: Wer ist zu erinnern? Was ist zu erinnern? Wie ist zu erinnern? Ergänzt werden diese drei Fragen zusätzlich mit einer von Aleida Assmann gestellten Frage und zwar: Wer erinnert sich? (Aleida Assmann 2006, S. 63). Im Zentrum dieser Arbeit befinden sich zwei literarische Texte: Bernhard Schlinks Der Vorleser und Nicol Ljubićs Meeresstille. Schon oft wurde dem deutschen Autor kroatischer Abstammung Nicol Ljubić die Frage nach einer gewissen Ähnlichkeit mit Schlinks Vorleser gestellt, auf die er allerdings selber nie gekommen wäre, so der Autor in einem Interview. Generell läge es nicht in der Natur des Autors seine Werke mit Werken anderer Autoren zu vergleichen, schon gar nicht mit einem Roman von Schlink, der weltweite Berühmtheit erlangte (http://doznajemo.com/2012/06/04/nicol-ljubic-autor-hit-romana-bonacaje-tuga-jos-jedne-uspjesne-knjige-na-njemackom-jeziku-o-bosanskoj-temiratovi-su-uvijek-ljudske-tragedije/, eingesehen am 21.03.2013). Doch bei näherer Betrachtung kommt man nicht darum herum, die beiden Romane

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miteinander in Beziehung zu setzen, denn sowohl Ljubićs als auch Schlinks Roman berichten über die (Un)Möglichkeit einer Liebe in der Nachkriegszeit, die an der verbrecherischen Vergangenheit scheitert; beide berichten sie von einem Prozess, in dem es um die Frage nach Schuld und Unschuld, nach Recht und Gerechtigkeit geht. Bei ihren Schilderungen handelt es sich um sekundäre Erfahrungen, da keiner von ihnen von den Kriegsereignissen unmittelbar betroffen war; sie erinnern sich an eine vom Krieg dominierende Nachkriegszeit und versuchen sich somit an einer Aufarbeitung der Vergangenheit. Die vergleichende Analyse der Werke soll spezifische Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausarbeiten, indem sie den drei bzw. vier Fragen Kosellecks und Assmanns folgt, um die Bedeutung der Konstruktion von Erinnerung und die verschiedenen Perspektiven, aus welchen die literarischen Texte erzählt werden, miteinander zu verknüpfen und näher zu beleuchten. II. Die erste Frage, die Kern- und Ausgangspunkt zugleich ist, ist die Assmansche: Wer erinnert sich? Bevor überhaupt geklärt werden soll, woran, an wen und wie erinnert werden soll, muss zunächst gefragt werden, wer diese Erinnerungsarbeit leistet, also wer derjenige ist, der sich an Krieg und Verbrechen erinnert. Assmann geht davon aus, dass es fünf verschiedene Typen von Menschen gibt, die sich erinnern und die sich in drei Gruppen zusammenfassen lassen: Sieger und Verlierer, Opfer und Täter und die Figur des Zeugen. In der ersten Gruppe der Sieger und Verlierer geht Assmann von einem Sieger- und einem Verlierergedächtnis aus. Werden Siege eher als Niederlagen erinnert? Davon ist wohl auszugehen. Doch nicht nur ruhmreiche Siege wandern ins nationale Gedächtnis. Häufig ist die Erinnerung an Unrecht und Leiden viel präsenter, damit der Zusammenhalt der Gruppe gestärkt wird. Als prominentes Beispiel führt die Autorin hier die Serben an, die sich an die Niederlage im Kosovo gegen das Osmanische Reich dadurch erinnern, „dass sie die damals gefallenen Helden in ihren nationalen Heiligenkalender eingeschrieben haben und damit jährlich rituell kommemorieren.“ (A. Assmann, S. 65) Der Unterschied zwischen

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Siegern und Verlierern läuft eigentlich auf die Frage hinaus, wer die Geschichte schreibt: Sieger oder Verlierer? Auch hier ist wohl davon auszugehen, dass es die Sieger sind. Reinhart Koselleck meint jedoch, dass die Geschichte nur kurzfristig von Siegern gemacht wird; längerfristig gehört sie aber ohne Zweifel den Besiegten (R. Koselleck in A. Assmann, S. 69). Und auch Peter Burke hat den Unterschied zwischen Geschichte schreiben und Geschichte erinnern folgenderweise erläutert: „Schon oft hieß es, die Sieger hätten die Geschichte geschrieben. Und doch könnte man auch sagen: Die Sieger haben die Geschichte vergessen. Sie können sich´s leisten, während es den Verlierern unmöglich ist, das Geschehene hinzunehmen; diese sind dazu verdammt, über das Geschehene nachzugrübeln, es wiederzubeleben und Alternativen zu reflektieren.“ (A. Assmann, S. 70) Die Begriffe Täter und Opfer sind schwierige Begriffe, zumal der Opferbegriff zusätzlich noch eine ambivalente Seite hat. Seit dem Zweiten Weltkrieg hat sich dieser Begriff in eine aktive und eine rein passive Variante gespaltet, die verschiedene Formen von Gedächtnis aufweisen. Deshalb spricht Assmann auch hier von einem heroischen und einem traumatischen Opfergedächtnis. Während das Opfergedächtnis um öffentliche Anerkennung bemüht ist, ist das Tätergedächtnis im Gegenteil um Unsichtbarkeit bemüht. Die Schuld wird folglich abgewehrt, um das Gesicht zu wahren. Tabuisierung, Abwehr und fehlende Anerkennung sind die Folgen dieser Strategie der Gesichtswahrung (ebd., S. 82). Die Figur des Zeugen spielt bei der Rollenzuschreibung die zentrale Rolle, so Assmann. Sie unterscheidet vier Grundtypen von Zeugenschaft: der Zeuge vor Gericht, der historische Zeuge, der religiöse Zeuge und der moralische Zeuge. Der Zeuge findet in dieser Arbeit allerdings keine sonderliche Beachtung, da er sich ausschließlich auf Überlebende, also direkt Betroffene bezieht, was weder die Autoren noch Protagonisten in ausgewählten literarischen Werken sind. Da wir nun feststellen konnten, wer den Prozess des Erinnerns überhaupt vollzieht, bleibt noch die Frage auf die beiden hier zu untersuchenden Romane zu lenken. Wer erinnert sich in Schlinks Vorleser und wer in

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Ljubićs Meerestille? Bevor die Aufmerksamkeit einzig und allein auf die Werke gerichtet wird, muss noch auf die Frage nach den Autoren selbst und ihren Perspektiven geantwortet werden. Schlink ist Jahrgang 1944 und zählt heute zu der sog. 2. Generation der Nachgeborenen. Das bedeutet, dass seine Eltern direkte Zeugen der nationalsozialistischen Herrschaft und des Zweiten Weltkrieges waren und daher zur eigentlichen Tätergeneration zählen. Wenn hier von Tätergeneration gesprochen wird, dann meint man damit die sog. erste Generation, die nach Michael Kohlstruck all diejenigen waren, die 1933 volljährig waren oder es bis 1945 geworden sind. Das Wichtigste dabei ist, dass bei dieser Generation eine Möglichkeit individueller Schuld besteht im Unterschied zur zweiten oder dritten Generation, die für nationalsozialistische Verbrechen nicht verantwortlich ist (Michael Kohlstruck 1997, S. 76). Schlink besitzt keinerlei eigene Erinnerungen an diese Zeit. Dies hat ihn aber nicht davon abgehalten, auch zur Erinnerungskultur Deutschlands beizutragen. Volker Hage meint, Schlink habe mit dem Vorleser „eine mögliche Abwehr gegen den «Wortlaut der Erinnerung» in die Erzählung aufgenommen“ (Volker Hage 1999, S. 308). Eigentlich ist Schlink Jurist, der zuvor als Autor von Kriminalromanen bekannt war. Und er ist einer der Aufbegehrenden der Studentenrevolte der 68er. Das nationale Gedächtnis der Deutschen ist nach 1945 nicht nur ein Verlierergedächtnis gewesen, sondern auch ein Tätergedächtnis. Die Deutschen als Verlierernation waren zu dem Zeitpunkt nicht bereit, einer Forderung nach Reue, Bekehrung und Re-Education zu entsprechen (A. Assmann, S. 67f.). Doch genau dies wurde von ihren Kindern gewollt. Sie forderten eine Auseinandersetzung mit den Eltern, die ihnen aber nur selten gewährt wurde. Stattdessen herrschte Schweigen. Den Kindern blieb nur die Scham, von der sie sich nicht befreien konnten. Michael Berg, der IchErzähler in Schlinks Roman rekapituliert seine Gefühle und Gedanken zur Zeit der Studentenrevolte und meint zur vermeintlichen Kollektivschuld: Sie galt nicht nur dem, was im Dritten Reich geschehen war. Daß jüdische Grabsteine mit Hakenkreuzen beschmiert wurden, daß so viele alte Nazis bei den Gerichten, in der Verwaltung und an den Universitäten Karriere gemacht hatten, daß die Bundesrepublik den Staat Israel nicht anerkannte, daß Emigration und Widerstand weniger überliefert wurden als das Leben in der Anpassung – das

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alles erfüllte uns mit Scham, selbst wenn wir mit dem Finger auf die Schuldigen zeigen konnten. (Bernhard Schlink 1997, S. 161)

Schlink schildert genau die Jahre und Jahrzehnte nach der Katastrophe und zwar aus dem Blickwinkel eines Täterkindes. All das überträgt er auch auf seinen Protagonisten, Michael Berg, der auch zur 68er-Generation gehört und sich zum Juristen entwickelt. Am Anfang der Erzählung ist Michael fünfzehn Jahre alt. Er erkrankt an Gelbsucht. Zu Hilfe kommt ihm eine etwa doppelt so alte Frau, mit der Michael eine Liebesbeziehung eingeht, die schon bald sein ganzes Leben dominieren wird. Der erste Teil des Romans endet mit dem plötzlichen Verschwinden der Frau namens Hanna Schmitz. Im zweiten Teil trifft er sie wieder. Berg ist Zuschauer im Gerichtssaal und Student der Rechtswissenschaft; sie die Angeklagte in einem KZ-Prozess. Hanna, seit 1943 bei der SS, bis Frühjahr 1944 Aufseherin in Auschwitz und dann in einem Außenlager bei Krakau, ist offenbar für den Tod mehrerer hundert Frauen in einer brennenden und verschlossenen Kirche verantwortlich. Anders als die Anderen hört er hin und quält sich mit dem Gedanken, ob Hanna tatsächlich eine Bestie ist. Dabei erinnert er sich selbst an die Zeit, als Hanna ihn geschlagen hat. Doch die Romankonstruktion ist anders, als manch einer erwartet hätte: Berg kommt hinter Hannas Geheimnis: Sie kann weder lesen noch schreiben. Und das behält sie für sich, obwohl ihr die Höchststrafe droht, die sie eigentlich mit der Offenbarung ihres Geheimnisses hätte verhindern können. Schwierig wird es hier zwischen jenen, die schuldig sind und jenen, die mit der Sache nichts zu tun haben, wie Michael, zu unterscheiden. Hanna, als Täterin am Massenmord beteiligt, schämt sich für ihr persönliches Manko, aber nicht dafür, dass sie so viele Menschen auf dem Gewissen hat? Volker Hage hat dies so kommentiert: „Es kann nichts anderes heißen, als daß diese Täterin nicht einmal annähernd verstanden hat und versteht, was damals geschehen ist. Hannas Unfähigkeit zu lesen ist wörtlich und gleichermaßen im weiteren Sinne zu verstehen: Sie kann sich, was sie erlebt und mitverursacht hat, nicht buchstabieren.“ (V. Hage 1999, S. 305) Michael dagegen ist hin- und hergerissen zwischen seinen Gefühlen für Hanna und der Tatsache, dass er eine Mörderin liebt(e). Er möchte das Unmögliche schaffen: verstehen und gleichzeitig verurteilen.

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Ich wollte Hannas Verbrechen zugleich verstehen und verurteilen. Aber es war dafür zu furchtbar. Wenn ich versuchte, es zu verstehen, hatte ich das Gefühl, es nicht mehr so zu verurteilen, wie es eigentlich verurteilt gehörte. Wenn ich es so verurteilte, wie es verurteilt gehörte, blieb kein Raum fürs Verstehen. Aber zugleich wollte ich Hanna verstehen; sie nicht zu verstehen, bedeutete, sie wieder zu verraten. Ich bin damit nicht fertiggeworden. Beidem wollte ich mich stellen: dem Verstehen und dem Verurteilen. Aber beides ging nicht. (Schlink, S. 151f.)

Nach dem Tod Hannas hat Michael den Entschluss gefasst, ihre Geschichte aufzuschreiben. Dass die aufgeschriebene Geschichte tatsächlich die richtige ist, beweist er damit, dass diese eben geschrieben wurde und die anderen nicht. Er kommt von der Vergangenheit nicht los, auch wenn er sich das so sehr wünscht. Zuerst wollte ich unsere Geschichte schreiben, um sie loszuwerden. Aber zu diesem Zweck haben sich die Erinnerungen nicht eingestellt. Dann merkte ich, wie unsere Geschichte mir entglitt, und wollte sie durchs Schreiben zurückholen, aber auch das hat die Erinnerung nicht hervorgelockt. Seit einigen Jahren lasse ich unsere Geschichte in Ruhe. Ich habe meinen Frieden mit ihr gemacht. […] Trotzdem finde ich es manchmal schwer erträglich. Vielleicht habe ich unsere Geschichte doch geschrieben, weil ich sie loswerden will, auch wenn ich es nicht kann. (ebd., S. 206)

Kurz zusammengefasst lautet die Antwort auf die Frage Wer erinnert sich in Schlinks Vorleser so: Der Protagonist Michael Berg erinnert sich an eine besondere Episode aus seinem Leben, durch die sein ganzes Leben geprägt wurde. Er ist der nachgeborene Sohn einer Familie aus der ersten Generation. Sein Gedächtnis ist das Verlierer- und gleichzeitig auch das Tätergedächtnis. Er kann im wörtlichen Sinne aber kein Täter sein, trotzdem fühlt er eine gewisse Kollektivschuld, die nicht nur aus der Vergangenheit resultiert, sondern auch das Ergebnis der Ereignisse aus seiner Gegenwart ist. Er fühlt sich schuldig aufgrund seiner Liebe zu einer wahren Täterfigur. Im Unterschied zu Schlink ist Nicol Ljubićs Leben und Geschichte nicht mit dem Zweiten Weltkrieg verbunden, sondern mit dem (bisher) letzten Krieg auf europäischem Boden, mit dem Bosnienkrieg (1992-1995). Ljubić wurde 1971 in Zagreb geboren und wuchs in Schweden, Russland, Griechenland und Deutschland auf. Heute arbeitet er als erfolgreicher

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Journalist und Autor in Berlin. Sein Vater, ein Kroate, hatte Jugoslawien lange vor dem Krieg verlassen und arbeitete als Flugzeugtechniker im Außendienst. Doch er hatte ihm niemals die kroatische Sprache beigebracht und auch sonst hatte Ljubić gar keinen Kontakt zum Heimatland des Vaters. Vom Krieg habe Ljubić aus dem Fernsehen erfahren und sich erst sehr spät dafür interessiert: Letztendlich ist es fast so, dass ich mich dafür ein bisschen schäme, dass ich einfach diese fünf Kriegsjahre so unbeteiligt beobachtet habe, obwohl ein Teil meiner Familie nach wie vor in Kroatien lebt - also es war jetzt nicht so, dass sie im Krieg wirklich gefährdet waren, aber sie lebten in der Region -, und trotzdem war mir das alles so weit weg und auch so fremd. Und vielleicht war das auch ein Grund der Motivation, dieses Buch zu schreiben. (http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/profil/1411494/, eingesehen am 22.03.2013)

Es hieß anfangs in den Rezensionen zum Roman Meeresstille, er zeichne sich durch eine raffinierte Romankonstruktion aus, die den Leser nachdenklich stimmt. Ljubić schaffte das, was nur sehr wenigen gelingt: er schuf einen emotionalen Spannungsbogen zwischen persönlichem Glück und Verbrechen gegen die Menschlichkeit (http://www.nzz.ch/aktuell/startseite/auf-den-spuren-des-balkankriegs1.6785988, eingesehen am 02.04.2013). Die männliche Hauptfigur Robert, aus dessen Perspektive die Geschichte fast durchgehend erzählt wird, glaubt in Ana sein persönliches Glück gefunden zu haben. Sie lernen sich kennen im gegenwärtigen Berlin. Sie ist Studentin der Germanistik, Robert schreibt an seiner Dissertation an der Universität. Auch er hat, wie der Autor selbst, kroatische Vorfahren. Ana dagegen ist bosnische Serbin aus Višegrad, die ihre Heimat inzwischen verlassen hat und nach Belgrad gezogen ist. Doch über ihre quasi (gemeinsame) Vergangenheit schweigen sie sich aus. Robert hat keinen Bezug zu Kroatien und Ana hat ein Geheimnis. Dazu spricht sie nicht gern über ihre Vergangenheit in den Kriegsjahren. Ein jeder würde hier vermuten, sie habe wahrscheinlich ein Kriegstrauma erlitten und kann noch nicht darüber sprechen. Doch so einfach macht es sich die Geschichte auch hier nicht. Ana hat mit ihrer Vergangenheit nicht abgeschlossen und sie kann den Prozess des Loslösens auch nicht vollziehen. Während sich Berg mit den Fragen nach Schuld und Sühne auseinandersezten muss, weil er eine Täterin als Geliebte hatte,

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vertritt Ana die Fragen familiär. Ihr Vater, ein angesehener Anglistikprofessor und Shakespeare-Experte war angeblich an einem Verbrechen beteiligt, in dem 42 bosnische Muslime auf qualvolle Weise ums Leben gekommen sind. Und jetzt sitzt er in Den Haag, wo ihm der Prozess am Kriegsverbrechertribunal gemacht wird. Ana dagegen möchte das Bild des liebevollen und aufmerksamen Vaters wahren und blendet seine (kriminelle) Vergangenheit komplett aus. Die Liebe zwischen Robert und Ana gerät dadurch an einen Punkt, wo es für beide nicht mehr weitergehen kann. Robert ist hin- und hergerissen zwischen seinen verzweifelten Gefühlen für Ana und der Frage der Moralität. Er kann nicht von ihr lassen, auch nach Wochen kann er es nicht. Dass er nach Den Haag gefahren ist, war letztlich der verzweifelte Versuch eines Verstehens. Er hatte Angst, ihren Vater zu sehen. Weil er Angst davor hatte, er könnte aus Liebe zu Ana, einen Mann, der zweiundvierzig Menschen in den Tod geführt hatte, in Schutz nehmen und so das eigene moralische Empfinden hintergehen. (Nicol Ljubić, S. 83).

Letztlich reist Robert auch nach Sarajevo und Višegrad, spricht mit Anwohnern und Zeugen, versucht weiterhin die Gründe für Anas Verschweigen zu begreifen. Ihm wird bewusst, dass der Krieg die Realität und Wahrnehmung von Gerechtigkeit korrumpiert und am Ende nur eine Generation innerlich kaputter Menschen zurücklässt Auf die Fragen nach Schuld und Unschuld, Faktizität und Konstruktion ist er nicht im Stande zu antworten und durch seine persönliche Befangenheit wird deutlich, dass der Mensch bei Bedarf mit der Wahrheit flexibel umzugehen weiß (http://www.nzz.ch/aktuell/startseite/auf-den-spuren-des-balkankriegs1.6785988, eingesehen am 02.04.2013). Ljubić gelingt mit Meeresstille ein Roman, der die Beziehungen zwischen Krieg, Schuld und Sühne ausarbeitet und die Verletzungen der Seele der Opfer und der Angehörigen auf beiden Seiten beleuchtet, so dass die Seiten verschwimmen und unklar bleibt, bei wem die Schuld liegt, wer sühnen muss und wer und auf welche Weise betroffen ist (http://www.leselupe.de/blog/2010/03/01/nicol-ljubicmeeresstille/, eingesehen am 15.04.2013).

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Auch hier soll zum Ende dieses Abschnittes das Wichtigste nochmal zusammengefasst werden: Robert reflektiert Erinnerungen an sein privates Liebesglück und an die Szenen des Kriegsverbrechertribunals in Den Haag. Mit der Vergangenheit hat er nicht viel zu tun. Dies ändert sich, als er Ana kennen lernt, die sehr an der Vergangenheit hängt. Ana ist die Tochter einer Täterfigur. Durch Roberts Liebe zu ihr werden die Fragen nach Schuld und Sühne und moralischem Unbehagen aufgeworfen. Nachdem ein Versuch unternommen wurde in Schlinks Vorleser und Ljubićs Meeresstille, auf die von Assmann gestellte Frage Wer erinnert sich zu antworten, soll nun auf die zweite, von Koselleck gestellte, Frage näher eingegangen werden: Wer ist zu erinnern? oder anders gesagt, an wen soll man sich künftig erinnern? Auch hier könnte man von der Assmanschen Theorie ausgehen und sagen an Täter und Opfer oder an Sieger und Verlierer. Koselleck selbst meint, dass es eigentlich schwierig sei, auf diese Frage zu antworten. Täter und Opfer dürfen sich nicht gegenseitig ausschließen, denn es handelt sich um ein gemeinsames Geschehen, das von den Tätern jedoch hervorgerufen wurde. Seine These lautet: Täter und ihre Taten müssen in die Erinnerung miteinbezogen werden. Man darf nicht nur der Opfer allein erinnern (R. Koselleck, S. 26). Das gilt insbesondere für die Deutschen. Die politische Verantwortung, die die deutsche Nation trägt, führt dazu, dass Täter und Opfer gemeinsam erinnert werden. Nur wer sich seiner Taten, seiner Täter in der Verwandtschaft und seiner Toten erinnert, ist im Stande sich an die Opfer zu erinnern. Schlinks Vorleser gedenkt weniger der Opfer, als der Täter und ihrer Taten selbst. Dadurch wird das Leid der Opfer ausgeklammert und die Sicht der Täter in den Vordergrund gerückt. Für viele Leser und Kritiker ist diese Sicht auf Täter unzumutbar gewesen, besonders im Hinblick auf Hannas Analphabetismus, der als Entschuldigung für ihre Taten gedient haben soll. Hanna soll sich vor Gericht für zweierlei Verbrechen verantworten: die regelmäßige Selektion weiblicher Insassen in einem Außenlager von Auschwitz und den Tod von über sechshundert Frauen, die in einer Kirche umkamen, als diese von einer Bombe getroffen wurde und ausbrannte. Das

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einzige Opfer, das zu Wort kommt, ist „die Tochter“, neben ihrer Mutter die einzige Überlebende. Sie hat ein Buch über ihre Zeit im Lager geschrieben und sagt nun als Hauptbelastungszeugin aus. Und so wird hier eine Täterin mit ihrer Tat konfrontiert. Als Hanna auf die doch ganz simple Frage, auf welche Weise sie die Selektionen der nach Auschwitz zu schickenden Frauen vorgenommen habe, antworten soll, verstrickt sie sich in schon oft gehörte Platitüden: „Haben Sie nicht gewußt, daß Sie die Gefangenen in den Tod schicken?“ „Doch, aber die neuen kamen, und die alten mußten Platz machen für die neuen.“ „Sie haben also, weil Sie Platz schaffen wollten, gesagt: Du und du und du mußt zurückgeschickt und umgebracht werden?“ Hanna verstand nicht, was der Vorsitzende damit fragen wollte. „Ich habe… ich meine… Was hätten Sie denn gemacht?“ (Schlink, S. 106f.)

Ernestine Schlant vergleicht Hanna hier mit anderen Mördern in vielen ähnlichen Prozessen und stellt Gemeinsamkeiten fest: „Sie behandelten Menschen wie Sachen und entledigten sich ihrer wie Sachen.“ (Ernestine Schlant 2001, S. 263) Der zweite Hauptanklagepunkt bezieht sich auf die nicht aufgeschlossenen Türen der brennenden Kirche. Die Angeklagten hätten dadurch, dass sie die Türen nicht aufschlossen, verhindern sollen, dass sich das Feuer auf umliegende Häuser ausbreitet und die gefangenen Frauen flüchten. Im SSArchiv wurde ein Dokument gefunden, dass belegt, dass die Wächterinnen Befehl hatten zurückzubleiben. Doch die Glaubwürdigkeit des Dokuments wird von den Angeklagten bestritten und so wird Hanna beschuldigt, dieses gefälscht zu haben. Da Hanna nicht zugeben will, dass sie Analphabetin ist, gesteht sie, fälschlicherweise, das Dokument geschrieben zu haben. Nun wird hier auch auf die oft angesprochene Opferrolle Hannas aufmerksam gemacht. Ihr Geständnis, meint Schlant, bedeutet nichts Anderes, als dass in solchen Prozessen die „Unschuldigen“ verurteilt werden und die Schuldigen dagegen freigesprochen (E. Schlant, S. 263). Sowohl Schlink als auch Ljubić machen darauf aufmerksam, dass nicht immer Recht und Gerechtigkeit in Prozessen herrschen und das Institutionen wie das Gericht manchmal auch voreingenommen handeln. Auch Michael fragt sich, ob die Verurteilung und Bestrafung einiger weniger alles sein sollte, was so einen

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Prozess ausmacht (Schlink, S. 101). Ist Hanna ein Opfer der Justiz? Oder hat sie etwa doch ihre „gerechte“ Strafe bekommen? Gibt es überhaupt „gerechte“ Strafen für solch schlimme Verbrechen? Es gibt Fragen, auf die es keine Antworten gibt, hat ein deutscher Schriftsteller mal gesagt. Koselleck mag hier wohl recht haben, wenn er behauptet, dass man sich der Opfer nur dann erinnern kann, wenn man sich zuerst an Täter und ihre Taten erinnert. Indem man sich zuerst vergegenwärtigt, welche Verbrechen Hanna und andere Täter begangen haben, ist Einfühlung, Mitleid und Trauer, welche die Mitscherlichs bei den Deutschen so vermisst haben, möglich. Anders als im Vorleser wird der Angeklagte in Ljubićs Meeresstille Zlatko Šimić am Ende von der Anklage des Mordes freigesprochen. Die Anklage konnte nicht nachweisen, dass der Angeklagte sich an einem kriminellen Unternehmen zur Ermordung eingesperrter Muslime beteiligt hat. Dabei hatte die Anklage eine Zeugin geliefert, die als Einzige überlebt hat. Hier wird (wie vorher schon angedeutet) die Absurdität einer Instanz gezeigt, die eigentlich für Gerechtigkeit steht, dafür, dass Täter wirklich zur Verantwortung gezogen werden. Sie hat aber lediglich eine symbolische Funktion. Der Versuch, die Täter zu verurteilen, ist zwar vorhanden, doch es scheint immer wieder, dass solche Institutionen nicht das einhalten, was sie versprechen. Stattdessen werden Zeugen zusätzlich gequält und gedemütigt. Man sollte aber stets vor Augen haben, warum Zeugen in solchen Prozessen überhaupt aussagen: Sie kämpfen gegen das Verdrängen und das Vergessen. So sagt einer der Zeugen in Ljubićs Roman: „Ich sitze hier, damit niemand vergessen kann. Solange es Menschen gibt, die erzählen, bleibt die Erinnerung wach und die Hoffnung, dass die Schuldigen bestraft werden. Wer schweigt, der hilft ihnen.“ (Ljubić, S. 34f.) Robert weiß nicht recht, was er glauben soll. Ist Anas Vater wirklich schuldig? Sagen die Zeugen die Wahrheit? Wie kann es sein, dass so ein angesehener Professor und Shakespeare-Kenner solch schlimme Verbrechen begangen haben soll (auch Berg hadert mit sich und will es so recht nicht wahrhaben, was er über Hanna erfährt). Und was hat Šimićs Vergangenheit damit zu tun? Ähnlich wie im Vorleser wird auch hier

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versucht, das Verhalten des Täters durch das persönliche Schicksal zu entschuldigen. Während es bei Hanna der Analphabetismus ist, ist es bei Zlatko der Umstand, dass sein damals sechzehnjähriger Sohn vor dem Krieg tragisch bei einem Skiunfall ums Leben gekommen ist. Hat das Leid ihn so sehr verrückt gemacht, dass er sich selbst dermaßen hätte vergessen haben können und nun so viele Menschen auf dem Gewissen hat? Robert weiß es nicht, und er wird es auch nicht erfahren. Genauso wenig der Leser. Denn viele der bohrenden Fragen bleiben auch hier unbeantwortet, bleiben am Ende offen. Genau wie Schlink bleibt auch Ljubić sprachlos und findet nicht die richtigen Worte, um das zu erklären, was man vielleicht überhaupt gar nicht erklären kann. Und Ana? Was hat sie gewusst? Was hat sie selbst erlebt? Auch das sind Fragen, die Robert quälen. Ana dagegen fühlt sich selbst eher als Opfer. Interessanterweise wird ihr Berlin-Aufenthalt durch ein Stipendium für Nachkommen von SSOpfern finanziert. Denn ihre Großmutter war von den Nazis als Zwangsarbeiterin nach Leipzig deportiert worden. Sie fühlt sich in der Gesellschaft stigmatisiert. Als Angehörige eines „Tätervolkes“ glaubt sie, dass alle in ihr nur einen Nachkommen des Tätervolkes sehen und keine eigenständige Person. Dabei versucht sie, als Roberts Geliebte wahrgenommen zu werden und nicht als die Geliebte, die aus Serbien kommt und einen Mörder als Vater hat. Und Robert fragt sich selbst, während er als Zuschauer im Gerichtssaal sitzt und den Prozess gegen Anas Vater verfolgt, ob er womöglich in Ana nur die Tochter eines Täters sieht. „Und er? Ist er als Zuschauer ein Teil dieser Welt, die sich gegen die ihre verschworen hat? Nein, das kann sie nicht gedacht haben, er hat sich doch nicht gegen sie verschworen, er hat sie geliebt, er liebte sie, er täte alles für sie. Ana, das kann doch nicht sein.“ (Ljubić, S. 78) Ljubić selbst lässt einen Historiker im Roman über Serbien sagen: „Serbien ist wahrscheinlich das einzige Land in Europa, das keine Katharsis erlebt hat. Es lebt seit fast zwanzig Jahren mit dem Schuldkomplex, von der Welt isoliert. [...] Sie müssen sich mal vorstellen, was das für die jungen Menschen in Serbien bedeutet, die noch heute dafür büßen müssen.“ (ebd.) Der Autor versucht hier eine Verbindung zu Deutschland und den 68ern herzustellen. Im Gegensatz zu Deutschland ist aber Serbien noch nicht bereit (gewesen) für die wichtige Frage der Jüngeren an die Älteren: Was

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habt ihr gemacht im Jugoslawienkrieg? In einem Interview berichtete Ljubić, dass er einige Jugendliche bei seinem Besuch auf dem Balkan gefragt hatte, ob sie sich mit ihren Eltern mal auseinandergesetzt haben und sie geantwortet haben, dass das in den Familien oft ein Thema ist, über das allerdings nicht geredet wird. (http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/thema/1238553/, eingesehen am 02.04.2013). Einen nationalen Ansatz zur Versöhnung sieht Ljubić nicht und so wird es wahrscheinlich noch etliche Jahre dauern, bis die Aussicht auf ein unbeschwertes persönliches Glück nicht nur Illusion ist. Die vorletzte Frage, um die es hier weiterhin gehen soll, ist die Frage Was ist zu erinnern? Koselleck hat darauf eine einfache Anwort gegeben: „das Unausdenkliche denken zu müssen, das Unaussprechbare aussprechen lernen und das Unvorstellbare vorzustellen versuchen.“ (R. Koselleck, S. 29) Was Koselleck damit meint, ist dem 1996/97 erschienenen Titel von Anita Lasker-Wallfisch entnommen: Ihr sollt die Wahrheit erben. Für Koselleck ist es die Wahrheit, die für alle Toten und Vorgänge gilt, die zu erinnern wir verpflichtet sind (ebd.). In den hier zu untersuchenden Romanen ist mit Wahrheitsfindung gemeint: das Brechen des Schweigens, denn das Schweigen ist die Unterdrückung der Wahrheit. Nur wenn die Angeklagten ihr Schweigen brechen, kann die Wahrheit ans Licht kommen. In beiden Romanen ist von Geheimnissen die Rede. In Schlinks Vorleser ist Hannas Geheimnis der Analphabetismus und ihre Tätigkeit im Lager; in Ljubićs Meeresstille ist Anas Geheimnis die Tatsache, dass ihr Vater des Mordes an zweiundvierzig Menschen angeklagt ist. Hanna und Ana verbergen ihre Geheimnisse, die Abgründe des Unaussprechbaren sind und das persönliche Glück der beiden Frauen zerstören. Weder Hanna noch Ana schaffen es, ihr Schweigen zu brechen. Dieses Unterdrücken der Wahrheit wird von den Partnern der beiden Frauen als Verrat gekennzeichnet. Schweigen als Verrat, so sieht es Schlant, reicht über die persönliche Dimension ins Politische: Die Prozesse, die in den Romanen dargestellt werden, haben das Ziel, das Schweigen der Angeklagten zu brechen. Doch beide Romane zeigen, dass auch bei öffentlichen Verhandlungen der Verbrechen persönliche Anteilnahme oder Reue der Täter nicht vorhanden ist. Somit bleibt der Prozess des

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Schweigens als Unterdrückung der Wahrheit auch weiterhin bestehen (E. Schlant, S. 261). Die letzte Frage Wie ist zu erinnern? hat Koselleck in vier Punkten erörtert. Diese wird hier nur der Vollständigkeit halber angeführt und kurz erläutert; sie dient weniger der vergleichenden Analyse der beiden Romane, als mehr dem Aufruf zum Nachdenken und dem Nicht-Vergessen aller Verbrechen vergangener Jahrzehnte. Die erste Weise des Erinnerns ist die moralische. Wenn man ein Urteil über die Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes fällt, dann lautet es: Unrecht. Deshalb muss auch eine moralische Verurteilung folgen. Das Problem dabei ist, dass diese Moral aber nichts an der Vergangenheit ändern kann, denn wir können nicht mehr ändern, was passiert ist. Das moralische Urteil ist nötig, aber es reicht nicht, um zu verstehen oder zu erklären, was passiert ist (R. Koselleck, S. 29f.). Der zweite Ansatz ist derjenige der Wissenschaft, denn jene versucht die fehlende Moral von damals zu erklären. Als dritte Möglichkeit führt Koselleck den religiösen Memorialkult ein. Da aber nicht alle derselben Religion angehören, ist demzufolge die religiöse Aufarbeitung unzureichend. Schließlich bleibt noch die Möglichkeit des Gedenkens durch die ästhetische Variante, sprich Denkmäler. Ästhetische Lösungen sind nur dann möglich, wenn sie die Unbeantwortbarkeit selber thematisieren und den Zuschauer oder Leser zum Denken nötigen (ebd., S. 31f.). Sowohl Schlinks Vorleser als auch Ljubićs Meeresstille sind Romane, die die Erinnerung wachhalten wollen und daher gegen das Vergessen und Verdrängen kämpfen. Sie erinnern uns an die Zeit, in der Menschen im Stande waren, anderen Menschen Unvorstellbares anzutun. Sie berichten von zwei verschiedenen Kriegen, doch gleichzeitig berichten sie von gleichen Schicksalen. Denn in Kriegen werden am Ende alle zu Opfern. Und auch die nächsten Generationen sind davon betroffen. Auch Michael und Ana werden zu Opfern, denn sie schaffen es nicht, sich von der Elterngeneration zu lösen und werden so in ihre Schuld hineingezogen (Hanna gilt hier stellvertretend für die Elterngeneration). Die heutige Erinnerung an Täter und Opfer ist das, was uns prägt und was uns, den

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Nachgeborenen, von der damaligen Zeit bleibt. Denn nur durch Erinnerungen bekommen wir die Möglichkeit, das Schweigen zu brechen und über Schuld zu sprechen. Mit dem Versuch der Beantwortung der von Koselleck und Assmann gestellten Fragen sollte in den beiden Romanen herausgearbeitet werden, was Schlink und Ljubić bei der Beschäftigung mit der Vergangenheit im Sinne einer Erinnerung an sie für wichtig halten. Beiden geht es unter anderem um die Darstellung der folgenden Schwerpunkte: Recht und Gerechtigkeit, Vergangenheitsbewältigung und Zeitgeschichte. Beide schreiben aus einer ähnlichen Perspektive: Sie sind nicht Zeitzeugen des Geschehens gewesen (sie können sich nicht auf eigene Erinnerungen stützen, ihre Ausgangssituation ist jedoch nicht dieselbe), sondern schildern das Nachher, den Schatten der Vergangenheit, der sich über das Leben der Menschen ausbreitet. Mit den Fragen wer, was und wie sind gleichzeitig die wichtigsten Punkte der Erinnerungskultur angesprochen worden und sie geben einen Überblick über das, was jede Nation, jedes Land, das einen Krieg durchlebt hat, in der Zukunft beachten sollte. Denn Zukunft braucht (auch) Erinnerung!

BIBLIOGRAPHIE ASSMANN, ALEIDA, Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München: C. H. Beck, 2006. HAGE, VOLKER, Propheten im eigenen Land. Auf der Suche nach der deutschen Literatur. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1999. KOHLSTRUCK, MICHAEL, Zwischen Erinnerung und Geschichte: Nationalsozialismus und die jungen Deutschen. Berlin: Metropol-Verlag, 1997.

Der

KOSELLECK, REINHART, „Formen und Traditionen des negativen Gedächtnisses“. In: KNIGGE, VOLKHARD / NORBERT FREI (Hgg.), Verbrechen erinnern. Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord. München: C. H. Beck, 2002, S. 2132. LJUBIĆ, NICOL, Meeresstille. Hamburg: Hoffmann und Campe Verlag, 2010 (EBook).

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SCHLANT, ERNESTINE, Die Sprache des Schweigens. Die deutsche Literatur und der Holocaust. München: C. H. Beck, 2001. SCHLINK, BERNHARD; Der Vorleser. Zürich: Diogenes Verlag, 1997. http://www.buchenwald.de/en/913/ (eingesehen am 13.04.2013). http://doznajemo.com/2012/06/04/nicol-ljubic-autor-hit-romana-bonaca-je-tuga-josjedne-uspjesne-knjige-na-njemackom-jeziku-o-bosanskoj-temi-ratovi-su-uvijek-ljudsketragedije/ (eingesehen am 21.03.2013). http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/profil/1411494/ (eingesehen am 22.03.2013). http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/thema/1238553/ (eingesehen am 02.04.2013). http://www.leselupe.de/blog/2010/03/01/nicol-ljubic-meeresstille/ (eingesehen am 15.04.2013). http://www.nzz.ch/aktuell/startseite/auf-den-spuren-des-balkankriegs-1.6785988 (eingesehen am 02.04.2013).

Dina Džindo Jašarević In the duty of remembrance – A Comparison of Bernhard Schlink's Der Vorleser and Nicol Ljubić's Meeresstille Summary Bernhard Schlink's Der Vorleser and Nicol Ljubić's Meeresstille are novels that fight against forgetting and repression. They are also novels that look back at the traumatic past, on the memories that have become a part of the narrative. Both novels are reminiscences of the war, one of the Second World War, the other of the Bosnian war (1992-1995), and both tell stories of guilt, redemption, law and justice. This paper presents an attempt to compare these two novels in relation to the historical issue concerning remembrance of the crimes. The analysis will follow Reinhart Koselleck questions from his essay The forms and traditions of negative memory: Who to remember? What to remember? and How to remember? Another question will be added that was formulated by Aleida Assmann: Who remembers? In this manner the analysis will be directed towards the perpetrators and victims on both of the sides. Only through remembrance of the victims and the perpetrators can the silence be broken and the doors of truth open. Key words: Bernhard Schlink, Nicol Ljubić, memory, perpetrators, victims, guilt, innocence, justice, silence

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DIE WIEDERAUFNAHME VON PETER WEISS’ DRAMATISIERUNG DER REVOLUTION IN IVANA SAJKOS EUROPA Stephanie Jug Josip-Juraj-Strossmayer-Universität Osijek (sjug@ffos.hr) Zusammenfassung Der deutsch-schwedische Schriftsteller Peter Weiss und die kroatische Schriftstellerin Ivana Sajko entspringen beide dem europäischen Kulturkreis. Der Beitrag rekapituliert die wichtigsten Interpretationsansätze in Bezug auf das Revolutionsthema für Marat/Sade und erprobt diese an demselben Drama. Die gewonnenen Erkenntnisse dienen als Grundlage für den Vergleich zwischen den Dramatisierungen des Revolutionsthemas in Marat/Sade (1964) und in Sajkos Monolog Europa (2004). Als das Schlüsselmoment in Marat/Sade stellt sich der Akt des Zweifelns heraus. Das vollkommene Fehlen dieses Momentes, unterstützt durch andere dramaturgische Mittel, führt zu einem ähnlichen Resultat in Europa: der Absage an dem Einseitigen der Ideologie und dem Appell an die Gesellschaft, eine mentale Revolution auszuüben. Beide Dramen äußern eine Kritik an allgemeinen Verhältnissen und an der Passivität des Volkes. Die dramatischen Konflikte entstehen um die moralische und ethische Grenzsetzung. Stichwörter: Drama, Revolution, Ivana Sajko, Theater, Peter Weiss, Europa

1. Einführung Den deutsch-schwedischen Schriftsteller Peter Weiss und die kroatische Schriftstellerin Ivana Sajko trennt eine Lebensgeneration. Der europäische Kulturkreis ist ihnen aber gemeinsam. Beide sind zudem Zeugen und aktive Kritiker der Nachkriegszeit, Weiss innerhalb der deutschen Nachkriegsliteratur, Sajko als Vertreterin der jungen experimentierfreudigen kroatischen Dramatikerinnen (vgl. RAFOLT 9). Beiden gelang der internationale Durchbruch mit einem Drama – Weiss mit Marat/Sade1, das 1964 uraufgeführt wurde, und Sajko mit der Trilogie Arhetyp: Medea, Bombenfrau, Europa, die aus drei Monologen besteht, und die 2008 ins Deutsche übersetzt wurde. In der vorliegenden Arbeit wird nur der dritte Teil ihrer Trilogie bearbeitet, der 2004 entstand. 1

Der vollständige Titel lautet Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats dargestellt durch die Schauspielergruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade. In dieser Arbeit wird die verkürzte Form Marat/Sade benutzt.

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Eine allgemeine Verbindung zwischen Peter Weiss und Ivana Sajko zu ermitteln, hat sich als nicht allzu schwer erwiesen. Die kroatische Dramatikerin hat sich weiterhin nicht nur in einem persönlichen, künstlerischen, sondern auch in einem dramaturgisch-theoretischen Sinne mit Peter Weiss‘ Schaffen beschäftigt. Sajko hat so in ihrer Masterarbeit (2005) die Rolle und Funktion des Wahnsinns in Weiss‘ Drama Marat/Sade untersucht. Auf Basis dieser Arbeit veröffentlichte die Autorin Prema ludilu (i revoluciji). Čitanje, eine Art theoretische Grundlage ihres Schreibens, die zwischen einem Tagebuch, einem Textbuch für moderne Dramaturgie und Philosophie und einem literarischen Roman schwebt.2 Der vorliegende Beitrag sucht dagegen eine tiefere Verbindung zwischen Werken von Weiss und Sajko aufzudecken. Es wird nach der formalen und inhaltlichen Aufnahme eines Motivs gesucht. Indem rekapituliert wird, wie Weiss die Französische Revolution in Marat/Sade bearbeitete, bietet sich die Grundlage um mögliche Ansätze, Erweiterungen und Ideen zu erkennen, die Sajko von Weiss geerbt hat. 2. Begriffserklärung und Interpretationsansätze Der zentrale Begriff ‚Revolution‘ wird hier in zwei seiner weiten, dem Wörterbuch entnommenen Bedeutungen gebraucht, und zwar als eine radikale Veränderung der bestehenden politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse und als eine umwälzende, bisher Gültiges, Bestehendes verändernde, grundlegende Neuerung, tiefgreifende Wandlung. Die Handlung von Marat/Sade wird in einer Heilanstalt ausgetragen, wo der Regisseur, de Sade, die Ermordung des französischen aufklärerischen Revolutionärs, Jean Paul Marat, durch Charlotte Corday inszeniert. In Europa baut sich dagegen eine Frauengestalt in ihrem Monolog auf, von der im Patriarchat objektivierten Hausfrau zur Rächerin und Beschützerin, die sich selbst als eine mächtige moderne Weltanschauung konstituiert. 2

Übersetzung: “In Richtung Wahnsinn (und Revolution). Eine Lesung“. Mehr über die Spezifik dieser Monographie in: Jug, Stephanie, Novak, Sonja, „Antipoetika Ivane Sajko: Što ludilo, revolucija i pisanje imaju zajedničko?“. In: Sic – časopis za književnost, kulturu i književno prevođenje. Jg. 5, Nr. 2, 2015. DOI: 10.15291/SIC/1.5.LC.9

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Nach dem Revolutionsthema wird in den Texten sowohl auf der offensichtlichen inhaltlichen Ebene als auch auf der eher angedeuteten Form-Ebene der Werke gesucht. Die Zusammenfassung der für diesen Beitrag bedeutendsten Interpretationsansätze wird um diesen zentralen Begriff gebildet.3 Peter Weiss‘ Gesamtwerk hat revolutionäre Charakteristiken, da es ein „Werk der Grenzüberschreitung“ ist (MAYER S. 11). Nach Meyer ist Weiss‘ Theater politisch aktuell und herausfordernd, weil es danach strebt, den Guckkastenrahmen zu verlassen und den Geschichtsprozess „unmittelbarer, ohne den illusionären Umweg über Helden und Fabel, darzustellen“ (S. 51). Manfred JAHNKE (S. 61) nennt diesen Vorgang in Marat/Sade einen frontalen Angriff auf das Publikum. Das Publikum wird herausgefordert und spielt eine aktivere Rolle als im traditionellen Theater. Das Interessante an Weiss‘ Technik ist, dass er dieses Wirken gerade an der Grenze von Tradition und dieser neuen ‚Expansion‘ des Theatralischen in die Wirklichkeit entwickelt. Sein Drama hat zwar eine traditionelle Form, mit einem Prolog, Akten und Szenen, aber es hat keine eindeutige, nachvollziehbare oder chronologische Handlung. Carl PIETZCKER erklärt, wie Form und Inhalt des Stückes aus einem „Kampf um die Grenze“ (A S. 51) entstehen. Der Ort, an dem das Stück spielt, der Badesaal einer Heilanstalt, ist an sich ein Motiv der Grenze zwischen der sogenannten normalen Gesellschaft und des Ausgegrenzten, Ausgestoßenen, des Irren, was Michel FOUCAULT ausgiebig in Der Wille zum Wissen veranschaulicht. Nach Foucault entstehen feste Grenzen gerade im Zeitalter der Aufklärung, dessen Höhepunkt, vor allem im Sinne der sozialen Entwicklung, die Französische Revolution darstellt. Marat/Sade ist ein Spiel um die Grenze, und ein Spiel um die Grenze ist immer revolutionär, weil es die eingegrenzte Ordnung thematisiert und letztendlich in Frage stellt.

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Der geschichtliche Hintergrund der beiden Werke (für Weiss die Zeit vor den Studentenbewegungen und für Sajko der Eintritt Kroatiens in die Europäische Union) wird im Artikel nicht näher behandelt, da eine Diskussion über die jeweiligen politischen und gesellschaftlichen Umstände der Entstehung der beiden Werke von dem hier vorgelegten Thema zu sehr wegführen würde.

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Weiterhin erkennt Mayer (S. 50) auf der inhaltlichen Ebene einen Kampf gegen Herrschaftsbeziehungen in der Gesellschaft. Dieser Kampf wird nicht in Form einer physischen Auseinandersetzung auf der Bühne ausgetragen. Dass dieser Kampf kein offensichtlicher ist, erkennt HABERMAS (S. 123), als er in den Kern der Handlung die Enthüllung eines Verdrängungsprozesses stellt. Das Unerledigte der Geschichte wird aufgegriffen und wandelt das bisher bestehende Verständnis der Geschichte und der Aktualität. Das Subjekt der Handlung sind nicht die sprechenden Rollen, wie Marat, de Sade oder Corday, sondern das meist stumme und unberechenbare Volk (ibid). Die dualistisch strukturierte, tragende Rollenkonstellation des Stückes (Marat vs. de Sade) ist für die meisten Forscher nur oberflächlich präsent, da de Sade eine übergeordnete Rolle des Regisseurs (des Autors) einnimmt. Karlheinz BRAUN (A S. 9) spricht daher von der Rolle de Sades ‚im Doppelspiel‘ – unentschlossen zwischen Marats blutiger Revolution und totalitären Systemen, die den Einzelnen gleichzeitig bedrohen und ihm Sicherheit und Ordnung gewähren (9). Im Zentrum ist demnach eher der persönliche Konflikt innerhalb de Sade, der in Charenton „als eine Projektion der Weltgeschichte“ (BRAUN B. S. 139) inszeniert wird. Von weiteren dramaturgischen Mitteln, die das Revolutionsthema in Marat/Sade prägen, betont BRAUN (A S. 11) die Rolle Cordays, die mithilfe von Ideologie aus einer manipulierten Rachesüchtigen zu einer Heiligen wird. Carl PIETZCKER (B S. 68) erkennt sie als Domina, die in einem sadistisch-masochistischen Verhältnis zu de Sade steht. Es ist ein Verhältnis von Ohnmacht und Dominanz, Lust an Macht und Abhängigkeit von Leid. Ein Verhältnis, das gleichzeitig vor dem Publikum nach Veränderung und Neugestaltung strebt, während es als unbewusstes zwischenmenschliches Band ans Licht kommt. Die Revolution wird also als Notwendigkeit und als Übel dargestellt, da sich zwischenmenschliche Beziehungen ändern müssen, obwohl sie sich wieder auf denselben Stützen (und auch Schwächen) aufbauen. Das Resultat ist eine vielfältige Interpretation der Geschichte. Wie Weiss selbst betont, versinkt die ganze Geschichte in einen undeutlichen und karikaturistischen Graubereich, weil nur so Realität dargestellt werden

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kann: „Oft stellt sich gerade in den Halbwahrheiten und in der Ambivalenz die heutige Welt dar.“ (WEISS S. 91). Nach Tomislav ZELIĆ (S. 84) ist Marat/Sade gekennzeichnet durch allegorische Polykontexturalität. Getreu der Wirklichkeit gibt es keine geschichtlich-soziale Lösung, die zwischen den gegenübergestellten Spielern vermittelt (HABERMAS S. 123). Weiss hat jedoch in diesem Drama eine dramaturgisch-technische Lösung für sich gefunden – Die endlosen Möglichkeiten der Deutung und die Leerstellen zwischen eingegrenzten Gegensätzen: In anderen Worten, eine Situation schaffen, die Zweifel hervorruft. Ein Thema ist die Notwendigkeit der gesellschaftlichen Veränderung, das Gegenthema dazu: die Pleiten der erreichten Systeme. Ein Thema ist die ungeheuerliche Vielfalt, das äußerst erweiterte Bewußtsein, das Gegenthema: das Mikroskopische, die winzigen Variationen im kleinsten Detail. Ein Thema ist die nüchterne aufklärende Schilderung allgemeingültiger Vorgänge, das Gegenthema: das Unbestimmbare und Fließende aller Vorgänge und die autistische Traumwelt. Ein Thema ist die Gegenüberstellung von Personen, die aus wiedererkennbaren Milieu-, Familien- und Berufsverhältnissen stammen, das Gegenthema: das Auftreten von Automaten oder Lebewesen, für die die konventionellen Ordnungen nicht gelten. Ein Thema ist der absolute Augenblick (als konsequenteste Bezeichnung der „heutigen Welt“) in dem durch Improvisation (Psychodrama, Happening, Rollenspiel) etwas Unvorbereitetes, Unberechenbares entsteht, das Gegenthema: die Aktualisierung einer der unzähligen Vergangenheiten, mit denen die Gegenwart überladen ist. (WEISS 1967 S. 91)

Von der anfänglichen, offensichtlichen Auseinandersetzung mit dem Erbe der Französischen Revolution kommt man so letztendlich zu einem revolutionären Akt auf der Bühne – der Absage an Eindeutigkeit und am Festlegen der Grenzen. Die Aufführung selbst wird zum Akt des Zweifelns, der den von de Sade gezeigten Rollen fehlt. Die bisher aufgelisteten und von den jeweiligen Forschern oder dem Autor hervorgehobenen Charakteristiken werden weiterhin anhand des Dramentextes Marat/Sade geprüft und erweitert. 3. Das Revolutionsthema in Marat/Sade Gleich in der zweiten Szene des ersten Aktes, dem Prolog, wird von einem veränderten Weltbild gesprochen: Direktor: Als moderne und aufgeklärte Leute sind wir dafür daß bei uns heute

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die Patienten der Irrenanstalt nicht mehr darben unter Gewalt sondern sich in Bildung und Kunst betätigen und somit die Grundsätze bestätigen die wir einmal im feierlichen Dekret der Menschenrechte für immer geprägt. (WEISS 1978 S. 12)

Es wird ein neues Zeitalter präsentiert, das sich nach revolutionären Wandlungen in der Gesellschaft herauskristallisierte. Die Aufklärung, als erste Epoche der Neuzeit, wird in einer psychiatrischen Klinik von ihrem Leiter proklamiert. Modern und aufgeklärt sollen die neuen Menschen sein, wobei diejenigen, die es nicht sind, in Charenton eine Art Kur durchgehen, bis sie sich an die Veränderung anpassen. Das Ausgegrenzt-Sein wird zur Anfangssituation jeder der internierten Personen, unter welchen sich auch de Sade befindet. Die Grenze wird zur Spielfläche. Gegen Gewaltmaßnahmen und für Bildung, Kunst und Menschenrechte setzen sich die aufgeklärten Leiter des Volkes ein, dessen Vertreter Direktor Coulmier mit seiner Familie ist. Bis zum Ende des Stückes wird jedoch klar, dass der Direktor mit Gewalt und Zensur die Freiheit seiner Insassen eingrenzt, und zwar jedes Mal als er entscheidet, dass de Sades Aufführung zu aggressiv gegen das aufgeklärte Staatssystem spricht: „Herr de Sade / so geht das nicht / das können wir nicht Erbauung nennen“ (S. 33). Dieses Beispiel könnte sowohl ein Beispiel für Michel FOUCAULTS aufklärerische restriktive Ökonomie sein: „Sie bildet einen Teil jener Politik der Sprache und der Rede, die teils spontan, teils geplant – die gesellschaftlichen Neuverteilungen des klassischen Zeitalters begleitet hat.“ (S. 23-24) Wenn de Sade die Revolution als verloren bezeichnet, meint er gerade die rasche Neuentstehung eines Unterdrückungsapparates, der den früheren monarchistischen ersetzt hat: Einmal sprachst du von den Obrigkeiten in deren Händen die Gesetze zu Unterdrückungsinstrumenten werden Oder willst du daß einer über dich bestimmt und über deine geschriebenen Worte und dich zwingt zu dieser Arbeit oder zu jener und dir neue Ordnungen vorspricht wieder und wieder bis du sie im Schlaf nachsprechen kannst (S. 112)

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In diesem Lichte enthüllt auch Foucault die Zeit ab dem 17. Jahrhundert als das „Zeitalter der Unterdrückung“ (S. 23), oder das Zeitalter der „großen Unterwerfung“ (S. 24). Es ist aber auch ein Zeitalter der großen sprachlichen Reinigung, die Foucault anhand des intensivierten und manipulierten Diskurses über Sex und den Körper zeigt (S. 24-26). Dementsprechend lehnt sich die Familie Columier nicht gegen sexuell aufgeladene Angriffe Duperrets auf Corday auf, sondern gegen die Sprache, genauer gegen Roux‘ Ansprachen an das Volk: Coulmier springt auf Sollen wir uns so etwas mit anhören wir Bürger eines neuen Zeitalters wir die den Aufschwung wollen (S. 61)

Diese ‚hygienischen Maßnahmen‘ beeinflussen nicht nur die Vorgänge auf der Bühne, sondern auch die formale Ebene der Bühne. Da der Diskurs über die Französische Revolution in einem Badesaal verläuft, ist zu schließen, dass die Sprache über die geschichtlichen Begebenheiten eine Reinigung durchläuft, um mit einer illusionären Vision der Geschichte zu resultieren. Weiss dagegen zeigt nicht das Gereinigte, sondern den von Juckreiz geplagten Marat in der Badewanne, d. h. er zeigt den Reinigungsprozess, der nicht chronologisch noch notwendigerweise logisch verläuft. Dadurch versucht der Autor einen Enthüllungsprozess in Gang zu setzten – wie schon HABERMAS bemerkte (S. 123) –, der gegen das Theater als Illusion vorgeht. Der frontale Angriff auf das Publikum vollzieht sich jedoch auf mehreren Ebenen. Erstens, durch die Hervorrufung des Zweifels beim Beobachter der beiden, Weiss‘ und de Sades, Aufführungen und durch Verfremdungseffekte, wie Ansprachen an das Publikum: „Verehrtes Publikum / Zusammengesetzt aus allen Ständen / weist über das Publikum“ (S. 16). Die entgegengesetzten Rollen, de Sade und Marat, sprechen nicht aus der gleichen Zeit- oder auch Theaterebene, da de Sade in einer dialogischen Beziehung zu Marats Leben und Ermordung steht, die er szenisch bearbeitet. Der ganze Text ist auf der Oberfläche trotzdem eine Diskussion

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der beiden. In ihrem Kern steht der Unterschied zwischen einem erbarmungslosen Revolutionär, der versucht die Illusion am Leben zu halten, und einem apathischen Zweifler, der glaubt die menschliche Existenz und Unveränderlichkeit durchschaut zu haben: Patient [...] ein irrsinniges Tier ist der Mensch [...] Kein Käfig hilft keine Fesseln helfen ich wühle mich doch hinaus (S. 46)

Marats Gegenspielerin, Corday, wird wie eine Marionette über die Bühne geschoben, um das Vorhaben zu erfüllen. Eine Somnambule, die in einem längst verlorenen Traum lebt. Sie wird zur erotischen Domina manipuliert und dient dem Volk als Werkzeug der Ermordung. Von einer rachesüchtigen Mörderin erhebt sie sich selbst zu einer Heiligen: „Ich tötete einen um tausende zu retten / und sie zu befreien aus ihren Ketten“ (WEISS 1978 S.133, Vgl. BRAUN A S. 11). Weiss dient sie vor allem als symbolische Darstellung der sadistisch-masochistischen Beziehungen innerhalb der Gesellschaft, die sich einer Geschichte der wechselnden Unterdrückungsregimes beugt. In der Szene Sade unter der Peitsche (Cordays Peitsche) versucht de Sade Marat die Augen zu öffnen, indem er ihm erklärt, wohin seine Revolution führt: zu einem Versiechen des einzelnen zu einem langsamen Aufgehen in Gleichförmigkeit zu einem Absterben des Urteilsvermögens zu einer Selbstverleugnung zu einer tödlichen Schwäche unter einem Staat dessen Gebilde unendlich weit von jedem einzelnen entfernt ist und nicht mehr anzugreifen ist (WEISS 1978 S. 72)

Das Volk, das also die aktivste Rolle spielen sollte, da es die geschichtlichen Prozesse formt, ist entweder stumm oder tritt in Form eines dreiköpfigen Chores der Sänger (Rossignol, Kokol und Polpoch) auf, der teilweise von anderen Patienten Verstärkung bekommt. Ihre Sprache ist im oben beschriebenen Sinne ‚gereinigt‘ und ‚hygienisch‘. Sie nennen

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beispielsweise die Revolution, den ersten großen Sieg (S. 18), um am Ende des Stückes Napoleon in blinder Erregung zu erwarten: Und selbst wir Internierten sind nicht mehr gekettet und für immer ist die Ehre unseres Landes gerettet und um Politik brauchen wir uns nicht mehr zu streiten denn einer ist da um uns alle zu leiten um den Armen zu helfen und auch uns Kranken und diesem einen haben wir alles zu verdanken diesem einzigen Kaiser Napoleon der glorreich beendete die Revolution (S. 135)

Die meiste Zeit benehmen sie sich wie hilflose Kinder, die auf eine starke und sichere Führung warten, weshalb sie durch das Spiel immer wieder Marat drängen, sie weiterzuführen: „Rossignol / naiv, das Spiel ernst nehmend / Väterchen Marat wie hast du dich zerkratzt / paß auf daß du unsere Revolution nicht verpatzt“ (S. 20). Auch wenn sie gegen das bestehende gesellschaftliche System sprechen, sind sie nicht im Stande etwas dagegen zu unternehmen: „Jetzt sind die nächsten dran unser Blut zu saugen / Papierfetzen werfen sie uns hin / die Geld vorstellen solln/ und nur zum Arschabwischen taugen“ (S. 21) Ihre Worte verblassen und sie wenden sich rasch und leichtgläubig dem neuen Anführer zu. Sie repräsentieren dadurch die Erstickte Unruhe, wie die sechste Szene des ersten Aktes von Marat/Sade heißt, und das Produkt der Revolution, wie es de Sade beschreibt (S. 72) – eine Masse ohne Verantwortungsgefühl. Weiss‘ Bearbeitung der revolutionären (und vor allem nachrevolutionären) Zustände lässt schließen, dass sich jede von Ideologie geleitete politische Handlung, auch wenn sie Neues und Besseres verspricht, doch wieder in tyrannische Verhältnisse verwandelt, mit anderen Grenzen und anderen Unterdrückungsmechanismen. Der tyrannisch auftretende Marat (Vgl. S. 25) bezeugt dies, ohne sich dessen vollkommen bewusst zu sein: „Einmal dachten wir daß ein paar hundert Tote genügten / dann sahen wir daß tausende noch zu wenig waren“ (S. 26). Diese Erkenntnis wird auf die für den Autor aktuelle Geschichte erweitert, indem de Sade eine traurige Bilanz zieht: Unsere Inquisition macht uns schon keinen Spaß mehr obgleich wir eben erst begonnen haben Unsere Morde haben kein Feuer

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weil sie zur täglichen Ordnung gehören Ohne Leidenschaft verurteilen wir kein schöner individueller Tod mehr stellt sich uns dar nur ein anonymes entwertetes Sterben in das wir ganze Völker schicken könnten in kalter Berechnung (S. 37)

Die Anspielung auf den Holocaust und andere technisch beförderten Massenmorde zeugt von den vielfältigen Möglichkeiten der Interpretation, d. h. von mehreren Ebenen der Deutung. Die offensichtliche Deutung ist die um die Französische Revolution, während andere, aktuellere oder allgemeinmenschliche, auf der impliziten Ebene auftreten. Diese Undeutlichkeit, Halbwahrheit und Ambivalenz werden eingesetzt, weil eine einseitige Deutung in Ideologie führt, wie de Sade einsieht: „Um zu bestimmen, was falsch ist und was recht ist / müssen wir uns kennen / Ich / kenne mich nicht“ (S. 44). Die wechselhafte Weltanschauung ist die einzig mögliche, in Hinsicht auf „die veränderlichen Wahrheiten der eigenen Erfahrung“ (S. 45). Dramaturgisch kann dieser Zustand nur durch das Hervorrufen von Zweifel nähergebracht werden: „Es war unsere Absicht in den Dialogen / Antithesen auszuproben / und diese immer wieder gegeneinander zu stellen / um die ständigen Zweifel zu erhellen.“ (S. 133) Das revolutionäre Verhalten ist, die Grenzen und Vorschriften anzuzweifeln, und nicht der Einseitigkeit zu verfallen. Die Freiheit des Menschen ist daher vor allem auf einer metaphysischen, mentalen Ebene zu erreichen, außerhalb der hygienisch gesäuberten Diskurse: „mein Leben ist die Imagination / Die Revolution / interessiert mich nicht mehr“ (S. 48), beteuert aus diesem Grund de Sade. 4. Das Revolutionsthema in Europa Sajkos Europa, im Text auch Mama genannt, trägt einen Monolog vor. Neben ihr treten noch ihre im Chor sprechenden Kinder auf. Wie bei Weiss findet sich eine zweiteilige, entgegengesetzte Rollenkonstellation innerhalb der grundlegenden Handlung: Mama beendet alle Verbindungen mit dem heimkehrenden Gatten und übergibt ihn dem Gericht. Dieser Monolog ist

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ihre letzte Rede an ihn. Der Oberst spricht nicht und erscheint nicht einmal auf der Bühne. Nur eine Seite, die Sichtweise Europas, wird dem Publikum unterbreitet. Der Konflikt ist nur ein erzählter, ohne seine physische Austragung auf der Bühne. Die ganze Rede, unterstützt von den Ausrufen der Kinder ist an das Publikum adressiert, das sich im technischen Sinne außerhalb des Gespielten befinden sollte. So erreicht die Autorin eine ähnliche Wirkung wie Weiss: einen frontalen Angriff aufs Publikum und einen Bruch mit der theatralischen Illusion. Der Monolog ist zugleich eine Bestätigung der Dominanz der Sprecherin. In einem Monolog wird logischerweise eine Seite der Geschehnisse dem Publikum enthüllt. Obwohl nur Europas Vision der Wahrheit bekannt ist, wird sie von allen Beteiligten (von den Kindern) als einzig richtige und gültige verkündet. Der Chor dient nicht nur als berichtende Instanz, sondern als eine bestätigende, bekräftigende und sogar glorifizierende Instanz: Sie kommt auf dem weißen Stier dahergeritten. Sie glänzt wie mit Joghurt übergossen. Ihre üppigen Brüste wippen im Rhythmus des Trabs. Sie hält sich an den Stierhörnern fest, die scharf sind wie unsere Bajonette. Kaltblütig beobachtet sie den Horizont. Aus der entgegengesetzten Richtung nähern sich langsam die dezimierten Einheiten, angeführt vom Oberst. Sie werden noch eine Weile brauchen, bis sie da sind. Die Reiterin prüft unsere Helme und Panzerhemden: Kopf hart – Brust undurchdringlich. BEREIT ZUR MILITÄRINTERVENTION. IMMER AN DER SEITE DER SIEGER. Wir begrüßen sie: MAMA! (SAJKO 2008 S. 59-60)

Die epische Form der dramatischen Sprache wird bei Sajko bis zu ihren Grenzen potenziert und resultiert, wie im letzten Beispiel, in langen Beschreibungen der Handlung. Während bei Weiss der Dialog noch in Ansätzen bewahrt wird, zerstört ihn Sajko vollkommen. Dies wird noch aus der Tatsache ersichtlich, dass die Sprache so ‚gereinigt‘ und ‚hygienisch‘ ist, dass sich für Zweifel und Dialoge einfach kein Platz findet. Der einzige Diskurs, der im Text herrscht, ist der der Siegerin: „KEIN DURCHGANG! / WIR WARTEN AUF BEFEHLE. / BEWAFFNET UND GESPANNT / MAMA WEISS, WAS ZU SAGEN UND ZU TUN IST.“ (S. 61) Diese Situation ist wiederum das Resultat hygienischer Maßnahmen, die

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symbolisch mit den bei Weiss beschriebenen aufklärerischen gleichgestellt werden können: Sie erinnert sich gut an die Worte ihrer Großmutter, die ihr als junges Mädchen geraten hatte: ‚Ein jeder kehr vor seiner Tür.‘ Und sie hat gekehrt, gekehrt, gekehrt, gekehrt, gekehrt, gekehrt, gekehrt, und immer weiter gekehrt, sauber gemacht, gewaschen, ausgemistet und Neues geschafft. Und es gab viel Müll. Aber erst als sie den Stier gezähmt hatte, dessen vulgäre Sprache und rückständige Ansichten überhaupt nicht zu ihrem neuen Image passten, konnte sie aufatmen und ein neues Leben beginnen. (S. 61)

In Europa findet sich keine konkrete Ausgangssituation. Durch allgemeine kulturelle Referenzen wird nur angedeutet, um welche geschichtlichen Epochen es sich handeln könnte. Die Zeit vor der großen Wende wird als eine Zeit der Kriege und Ausbeutung beschrieben, die sich zu einer mörderischen Orgie entwickelte: „Aus der großen Armee wurde ein Haufen Metzger. Die anderen waren desertiert oder tot. Statt spektakulär zur Front aufzubrechen, schlich man sich verstohlen aus der Stadt. Die Regierung schwieg. Die Zeitungen schwiegen. Auch das Fernsehen schwieg.“ (S. 81) Nach diesem katastrophalen Höhepunkt der Zerstörung, in dem die ganze Welt in Flammen aufging, bietet sich für Europa eine Möglichkeit der Flucht und des Neuanfangs, in dem sie die alte Lebensweise verneint und verurteilt und eine neue Moral verkündet. Wie in Marat/Sade wird ein Reinigungsprozess beschrieben. Das hygienische Weiß verdeckt den ‚Müll‘ der Geschichte und kennzeichnet die Zugehörigkeit zur neuen Weltanschauung. Der Oberst wird dagegen als unhygienischer und unerwünschter Besucher empfunden, der aus der Ordnung ausgeschlossen werden muss. Wie in Marat/Sade handelt es sich um die Prophezeiung eines neuen, besseren Zeitalters. Die Referenzen auf die Aktualität sind nicht eindeutig, können aber relativ leicht entziffert werden. Diese neue Ordnung deutet beispielsweise auf die gesellschaftlichen (und vor allem gesetzlichen) Veränderungen innerhalb der Europäischen Union: Ihre Absicht stand im Einklang mit der neuen Epoche: mit der Modernisierung der Wirtschaft, mit der Liberalisierung der Gesellschaft, mit der Gleichberechtigung der Geschlechter und Rassen, mit der Neuordnung der Justiz und mit der Gründung internationaler Gerichte, mit der Auswertung der Ökologie und dem Tragen von Kunstpelzen, mit der multikulturellen Exotik und den humanitären Initiativen des Militärs. (S. 62)

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Außerdem wird noch der Blitzkrieg erwähnt, das anonyme Sterben oder andererseits traditionelle und mythologische Bedeutungen des Begriffes Europa. Dazu kommen noch intertextuelle Referenzen. Mama wird mit Brechts Mutter Courage oder Homers wartender Penelope verglichen. Der Text bewegt sich so auf mehreren zeitlichen und gesellschaftskritischen Ebenen durch häufige Metaphern, visuelle Bilder und allusive Redewendungen und bricht dadurch nicht nur mit der szenischen Illusion, sondern weist auf die Relativität einer Deutung und die Wiederholbarkeit von gesellschaftlichen Phänomenen hin. De Sade hat seine persönliche Krise in die Weltgeschichte projiziert. Dementsprechend mischt das Mädchen Europa von Zeit zu Zeit ihre persönliche Lebensgeschichte in die Handlung ein. Zuerst war sie ein objektiviertes, schüchternes Opfer: „Deine Beute lag vor dir. Du hast uns ausgiebig und offensichtlich gemustert – wie Pferde für dein Gestüt.“ (S. 69) danach die Gattin des Oberst, in einer sadistisch-masochistischen Ehe: „Hast du mich gefickt oder geschlagen?“ (S. 71) Am Ende ist sie die Rächerin und Retterin: Ich gab ihnen wirtschaftliche Sicherheit, politische Überzeugungen und Munition. Ich habe ihnen erklärt, dass du kein großer Mann bist und auch kein großer Krieger, sondern ein banaler politischer Fehler. Und die Regierung sagte dasselbe. Die Medien auch. Wir wuschen uns alle die Hände. Ich brauchte eine Armee, Oberst, und sie brauchten eine Mama. (S. 96)

Die persönliche Unsicherheit wird in Form politischer Entscheidungen kompensiert. Überdies wird Europa durch den Akt der ‚Reinigung‘ hygienisch weiß (S. 63) und macht sich selbst damit zur Heiligen, wie Corday. Die Subjektivität der eigenen Erlebnisse erlaubt den Heldinnen, ihre Entscheidungen auf eine bestimmte Weise zu interpretieren. Durch ihr dominantes Auftreten als Verführerin und Mutter erreichen sie, dass ihnen keiner widerspricht. Andererseits konstituiert sich die Frauenrolle durch ihren Monolog als ein politisch und geographisch determiniertes Phänomen. D. h. Europa ist nicht nur eine Frau, sondern eine Union und ein Kontinent. Überdies wird sie durch den Monolog zu der dominanten Weltanschauung: „Es wurde ein radikaler Bruch mit dem alten System. / VEHINDERN, RECHTLICH

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REGELN UND VERGESSEN! / Die Strategie für das nächste Jahrhundert wurde verabschiedet. / Wir werden aufhören, Kriege zu führen und anfangen einzukaufen! / Du kommst in diesen Plänen nicht vor.“ (S. 90) Diese neue Ordnung, wie de Sade in Marat/Sade befürchtete, ist wieder auf Unterdrückung und Eingrenzung aufgebaut. Europa gibt zu, dass sie über ihre Vergangenheit gelogen hat (S. 89). Ihre Kinder schreien Warnungen an Außenstehende: „UND WEM ES BEI UNS NICHT GEFÄLLT, / DEM STEHT DER WEG OFFEN IN DIE RESTLICHE WELT / WENN ER ZURÜCK MÖCHTE, WIRD DAS NICHT GEHN / WEIL AUF UNSEREM HAUS ALARMANLAGEN STEHN“ (S. 91) Die angeblich freie neue Gesellschaft hat feste, undurchdringliche Grenzen. Was bei Weiss noch ein Spiel um die Grenze war, ist bei Sajko die weiterführende Befestigung des Eingegrenzten und Ausschließung der Außenstehenden. Europa beschönigt weiterhin die Zensur, die in ihrer neuen Ordnung per Gesetz in Kraft ist: In Artikel 10 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte, ergänzt durch Protokoll 11, ist festgehalten, dass das Recht auf freie Rede gewissen Formalitäten, Einschränkungen und Strafen unterworfen werden kann, die gesetzlich vorgeschrieben und notwendig für eine demokratische Gesellschaft sind, und zwar im Interesse der nationalen und öffentlichen Sicherheit sowie der territorialen Integrität, darüber hinaus zur Prävention von Unruhen und Kriminalität und zur Aufrechterhaltung von Gesundheit und Moral, zum Schutz der Integrität und zur Verhinderung der Verbreitung vertraulicher Informationen. (S. 65)

Die von Vernunft geführte und systematisch organisierte Ausgrenzung, die in Marat/Sade zu erkennen ist, hat sich in Europa seit langem vollzogen. Geblieben ist die ‚erstickte Unruhe‘, d. h. ein unmündiges, hilfloses Volk, ohne eigene Stimme und ohne eigene Meinung: „MAMA: Ruhe! Haltet euch den Mund und stopft euch die Ohren zu.“ (S. 97) Die Kinder – das Volk, das der Träger von gesellschaftlichen Veränderungen sein sollte – sind zum Gehorsam und Schweigen erzogen worden, wie Europa hier zugibt: „ich ersetzte ihnen sowohl die Glieder als auch die Eltern als auch das Hirn.“ (S. 95) Sie vertrauen der neuen Anführerin blind, ohne den Wunsch nach oder die Perspektive auf eine individuelle Entwicklung und mentale und gesellschaftliche Mündigkeit.

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Wie Marat vom Helden zum Opfer des Volkes wurde, so ist auch der Oberst ein Opfer der neuen Ansichten: „So läuft das Oberst – die Wahrheiten ändern sich gemeinsam mit den Interessen.“ (S. 90) Jedoch anders als bei Weiss, der durch de Sade den Zweifel in die Geschichtsschreibung einzubringen versuchte, spricht Europa keine Selbstzweifel aus. Da sie einen Monolog führt und ihre Vergangenheit nach Wunsch umschreiben kann, ist zu schließen, dass im Text der Akt des Zweifelns an ihren Worten absichtlich ausgelassen wurde, um auf seine Notwendigkeit zu verweisen. Dies könnte ein weiterer dramatischer Aufruf (und Angriff) Sajkos ans (aufs) Publikum sein: der Versuch eine (vor allem mentale) Reaktion zu bewirken. De Sade erstellt aus seiner Position des Zweiflers seine Bilanz der menschlichen Entwicklung. Europa erstellt ihre Bilanz selbst und gibt somit den allgemeinen Ton der Dominanz an, der den ganzen Text beherrscht: „ICH BIN EIN KULTURDENKMAL DER NULLTEN KATEGORIE / EINE VERDAMMTE WIEGE DER ZIVILISATION / [...] ICH BIN DIE RECHTMÄSSIG GEWÄHLTE MISS WORLD / ICH WÜNSCHE FRIEDE AUF ERDEN / UND GESANG IN MEINEN REIHEN“ (S. 59) Europas Monolog ist ein Bewusstseinsprozess, in dem auf verschiedenen ideologischen Stützen, in einer dafür günstigen gesellschaftlichen Situation, ein tyrannisches System durch ein neues ersetzt und in ansprechende Parolen eingewickelt wird. Die gezeigte Grenze ist kein Spielraum wie bei Weiss, sondern eine Befestigung der entstehenden Ordnung. Der Drang von außen bleibt stumm und erfolgslos, während drinnen nur eine Stimme und ihr im Chor erscheinendes Echo geduldet werden. 5. Schlusswort Zwischen der Entstehung von Marat/Sade und Europa liegen 40 Jahre. In Hinsicht auf die Erkenntnis, dass Ivana Sajko von Peter Weiss gelernt und geerbt hatte, war es überaus interessant zu sehen, wie das Revolutionsthema am Anfang des 21. Jahrhunderts erneut dramatisiert wurde. Die Ähnlichkeiten finden sich aber nicht in der allgemeinen Handlung der beiden Texte oder in einer übernommenen dramatischen

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Form. Sie liegen viel tiefer, in behutsam eingefügten Details, die durch die vorliegenden Analysen zu Lichte kamen. Während Marat/Sade eine noch relativ feste und traditionelle dramatische Form, mit Akten, Szenen und einer (obwohl nur oberflächlichen) soziologisch-geschichtlichen Rollenkonstellation hat, ist Europa ein Monolog, der das Publikum direkt anspricht. Um den ‚Angriff auf das Publikum‘ zu verwirklichen, versuchte Weiss die gewählte Dramenform so weit wie möglich zu öffnen: durch das Vermeiden der szenischen Illusion, durch Ansprachen an das Publikum und letzten Endes, durch das Theaterim-Theater-Experiment. Sajko ging einen Schritt weiter und formte ihr Spiel als eine direkte Anrede an das Publikum, womit sich der Bereich der Bühne automatisch verbreitete und das Publikum noch direkter in das Spiel eingezogen wurde. Weiss ging von einer konkreten geschichtlich-kulturellen Situation aus, die er durch die Augen einer von persönlichen Konflikten geplagte Person darstellte, um sie durch aktualisierende Momente zeitlos und allgemeingültig zu machen. Sajko geht dagegen von keiner konkreten Situation aus, sondern von fragmentären zeitlosen Momenten und fügt dann Allusionen auf konkrete geschichtliche oder kulturelle Phänomene hinzu. Beide erreichen das gleiche Ziel: die szenische Schilderung der Wiederholbarkeit der geschichtlichen Prozesse. In beiden Werken wird daher kein konkreter Staat in einem konkreten Zeitalter kritisiert, sondern allgemeingültige Verhältnisse und durch Ideologien gestützte Weltanschauungen. Die Kritik bezieht sich vor allem auf das Volk, das sich als Träger der Handlung als unzuverlässig, unfähig und politisch und gesellschaftlich unmündig zeigt. In beiden Werken hat es kindhafte Charakterzüge und ist abhängig von starken und entschlossenen Anführern. In Marat/Sade ist das Verhältnis von Marat zum Volk wie das eines Vaters zu seinen Kindern dargestellt. In Europa dagegen ist es eine Mutter, die ihre Kinder in Sicherheit wiegt. In beiden Werken verrät das Volk ihre ehemaligen Anführer, die es früher genauso verehrt hatte und läuft leichtgläubig in die

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Arme der neuen Anführer, in Erwartung, dass diese ihre Versprechen einhalten. Während Weiss‘ Dialoge starke epische Züge aufweisen, ist Sajkos Monolog eine beschreibende und nacherzählende Rede, die vom Chor der Kinder vervollständigt wird. Die Schilderungen der revolutionären Vorgänge werden in beiden Fällen nur sprachlich wiedergegeben und nicht inszeniert. Dies zeugt von der großen Gefahr, auf die Foucault hingewiesen hatte, als er bemerkte, dass der Diskurs gereinigt werden kann, um das Volk zu überzeugen, einer Ideologie zu verfallen. In beiden Werken wird dieser Prozess von der moralischen und ethischen Grenzsetzung begleitet. Das Betreten der Grenze bedeutet, sich der Gefahr des AusgestoßenWerdens auszusetzen. Weiss‘ Drama spielt um diese Grenze. Sajkos Monolog dagegen hat diese Grenze außerhalb des Publikums gestellt, womit die Besorgnis erweckt wird, dass das Publikum gleichwertig mit dem gezeigten unmündigen Volk ist. Die Grenze ist so weit von der Bühne entfernt, dass die Stimme von Außerhalb nicht mehr gehört werden kann. Das Gefühl des Dominiert-Werdens und des Unterdrückt-Seins, das in der Heilanstalt Charenton klar zum Vorschein kommt, wird in Europa zur allgemeinen Atmosphäre, die auch das Publikum bedrückt. In beiden Werken wird der Begriff ‚Revolution‘ in Frage gestellt und relativiert. Einerseits wird die Revolution als eine Notwendigkeit gezeigt, anderseits bietet sie Raum für Manipulation. In Marat/Sade hat Marat das tyrannische feudalistische System abgeschafft, um selber mordlustig seine neue Ordnung zu bewahren. Nach ihm kommt Napoleon, der über ganz Europa herrschen möchte. In Europa wird der Oberst als ausgedienter kampfsüchtiger Soldat enthüllt und ausgewiesen, um eine neue Ordnung zu begrüßen, die sich rühmt Humanismus, Toleranz und Gerechtigkeit zu verbreiten. Es stellt sich jedoch heraus, dass auch diese auf Lügen basiert und manipulierbar ist. Die Neuordnungen erweisen sich als Schein. In beiden Werken vollzieht sich keine tiefgreifende Wandlung, da die Natur der zwischenmenschlichen Beziehungen in jeder neuen Ordnung und hinter jeder neuen Weltanschauung dieselbe bleibt.

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In Marat/Sade wird der Akt des Zweifelns eingeführt, der das Volk befreien könnte. Es ist eine mentale Revolution, die als einzige akzeptable übrig bleibt. De Sade ist zwar in Charenton eingeschlossen, aber er nimmt an den Geschehnissen nicht teil, sondern regiert die Szene selbst. Er wird zwar immer aufgrund seiner menschlichen Natur (wie unter Cordays Peitsche) leiden, aber er ist der einzige dessen Wiederstand bis zum Ende das Gegenpol des Handelns bietet und der durch seine Kunst Neues und Freies schafft. In Europa findet sich kein Moment des Zweifelns an den Worten der dominierenden Ordnung im Text, was die Aktivität ins Publikum verschiebt. Der Zweifel soll somit innerhalb des stummen Partners, des Rezipienten des Monologs erweckt werden. Sowohl Marat/Sade als auch Europa sind somit politisch aktuell und herausfordernd, was die Schlussfolgerung zulässt, dass Ivana Sajko Peter Weiss‘ Erbe erfolgreich eingelöst hat. BIBLIOGRAPHIE BRAUN, KARLHEINZ (A), „Vorwort“. In: Materialien zu Peter Weiss‘ ‚Marat/Sade‘, hg. Karlheinz Braun. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1967, S. 7-14. BRAUN, KARLHEINZ (B), „Schaubude – Irrenhaus – Auschwitz. Überlegungen zum Theater des Peter Weiss“. In: Materialien zu Peter Weiss‘ ‚Marat/Sade‘, hg. Karlheinz Braun. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1967, S. 138-155. FOUCAULT, MICHEL, Der Wille zum Wissen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2012. HABERMAS, JÜRGEN, „Ein Verdrängungsprozess wir enthüllt“. In: Materialien zu Peter Weiss‘ ‚Marat/Sade‘, hg. von Karlheinz Braun. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1967, S. 122-126. JAHNKE, MANFRED, „Von der Revolte zur Revolution“. In: Peter Weiss, hg. Heinz Ludwig Arnold. München: Text+Kritik 1982, S. 48-65. JUG, STEPHANIE, NOVAK, SONJA, „Antipoetika Ivane Sajko: Što ludilo, revolucija i pisanje imaju zajedničko?“. In: Sic –časopis za književnost, kulturu i književno prevođenje. Jg. 5, Nr. 2, 2015. DOI: 10.15291/SIC/1.5.LC.9 MAYER, HANS, „Rede auf Peter Weiss“. In: Peter Weiss, hg. von Heinz Ludwig Arnold. München: Text+Kritik 1982, S. 10-56. PIETZCKER, CARL (A), „Grenze und Grenzüberwindung. Überlegungen zur literarischen Form“. In: Germanica. Jg. 7, 1990, S. 49-55. PIETZCKER, CARL (B), „Das reglose und das erregte Gesicht. Ein Motiv des Marat/Sade psychoanalytisch betrachtet“. In: Äthetik Revolte Widerstand. Zum literarischen Werk von Peter Weiss. Lüneburg: zu Klapen Verlag 1990, S.57-88. RAFOLT, LEO, „Suvremena hrvatska drama ili o kakvome je to odbrojavanju riječ?“. In: Odbrojavanje. Antologija suvremene hrvatske drame, hg. LeoRafolt. Zagreb: Zagrebačka-slaviskička-škola 2007, S. 7-27. SAJKO, IVANA, Prema ludilu (i revoluciji). Čitanje. Zagreb: Disput 2006.

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SAJKO, IVANA, “Europa”. In: Archetyp: Medea, Bombenfrau, Europa. Frankfurt am Main: Verlag der Autoren 2008, S. 57-104. WEISS, PETER, „Dies hier ist Bühne“. In: Materialien zu Peter Weiss‘ ‚Marat/Sade‘, hg. Karlheinz Braun. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1967, S. 90-92. WEISS, PETER, Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats dargestellt durch die Schauspieltruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1976. ZELIĆ, TOMISLAV, „Die Aporien des Postmodernen Neoavantgardismus im Geschichtsdrama Marat/Sade von Peter Weiss“. In: Zagreber Germanistische Beiträge. Jg. 19, 2010, S. 83-100.

Stephanie Jug The Revitalization of Peter Weiss’ Revolution Theme in Ivana Sajkos Europe Summary The work of Swedish-German writer Peter Weiss and the work of Croatian writer Ivana Sajko share the European cultural setting. The paper summarizes the most important interpreting views on revolution and its representation in Weiss’ Marat/Sade which then serve as basis for the comparison of representations of revolution in Marat/Sade and in Sajkos monologue Europe. As it turns out, the key moment in Marat/Sade is doubt. The complete absence of this moment and the presence of other dramatic implements lead to the same result in Europe: the rejection of the one-sidedness of ideologies and the wakeup call to society to exercise a mental revolution. Both dramas criticize the overall situation and the passivity of the masses. The dramatic conflicts arise around moral and ethical borders. Key words: Drama, Revolution, Ivana Sajko, Theatre, Peter Weiss, Europe

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KRIEGSALLTAG IN LITERARISCHER DARSTELLUNG BEI ZORAN FERIĆ UND BORIS DEŽULOVIĆ Renate Hansen-Kokoruš Karl-Franzens-Universität Graz (renate.hansen-kokorus@uni-graz.at)

Zusammenfassung Der Krieg im ehemaligen Jugoslawien stellt auch heute noch eines der wichtigsten Themen in der bosnischen, kroatischen und serbischen Literatur dar, wobei unterschiedliche Zielsetzungen und Poetiken auszumachen sind. Der Beitrag untersucht – unter den Aspekten der Komposition, Figuren- und Raumkonzeption sowie der Motive auf ihre Darstellung des Krieges – zwei ähnlich strukturierte Texte aus der neuen kroatischen Literatur, von Zoran Ferić und Boris Dežulović, die jede Kriegspathetik durch ihre Ausrichtung auf den Kriegsalltag der Soldaten unterlaufen. Die dabei zugrunde liegenden individuellen und kollektiven Identitätszuschreibungen überlagern sich in komplexer Weise. Der Versuch, die kollektiven kriegerischen Konfrontationen zu durchbrechen, scheitert, da sich die gegenseitigen stereotypen Wahrnehmungen als hartnäckiger erweisen. Stichwörter: Kriegsdarstellung, Literaturwissenschaft, zeitgenössische kroatische Literatur, Komposition, Figurenanalyse, Raum, Identität, Zoran Ferić, Boris Dežulović

In Zeiten großer gesellschaftlicher Umwälzungen, aber auch in Krisen, Katastrophen und Kriegen entsteht der Eindruck, unmittelbar an geschichtlichen Vorgängen teilzuhaben und Zeitzeuge zu sein. Wenn der Einzelne Geschichte in ihrem Verlauf als unausweichlich erfährt, die Existenz menschlichen Lebens radikal in Frage gestellt ist, wird die Zugehörigkeit zu einer größeren Gemeinschaft als schicksalhaft und negativ wahrgenommen. Der Krieg im ehemaligen Jugoslawien war ein solches Ereignis, das das jüngere Geschichtsbild nachhaltig prägte. Was im kollektiven Gedächtnis Europas verbalisiert und dokumentiert, literarisiert, visualisiert und in Museen ausgestellt wurde und im kommunikativen Gedächtnis als Erfahrung älterer Generationen galt, bekam durch die Kriege in Ex-Jugoslawien Ende des 20. Jahrhunderts plötzlich wieder neue Aktualität. Damit kehrte ein Weltwissen zurück, das bereits als historisch oder vergangen betrachtet und im europäischen Raum nur mit den älteren Generationen in Verbindung gebracht wurde, die einen Weltkrieg erlebt hatten. Während gerade die Generation nach 1945 mit der erfolgreichen

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Überwindung von Krisen zunehmende politische Stabilität als Ergebnis eines Lernprozesses aus der Geschichte vermittelte, erschütterten die Kriege nach dem Zusammenbruch Jugoslawiens dieses Gefühl der Sicherheit grundlegend. In der kroatischen, bosnischen und serbischen Literatur der beiden letzten Jahrzehnte ist der Krieg eine allgegenwärtige Thematik, die sich auf das Bedürfnis gründet, das Erlebte niederzuschreiben, traumatische Kriegserlebnisse zu verarbeiten, das Gedenken an die Opfer vor dem Vergessen zu bewahren und einem Lesepublikum das Unvorstellbare vorstellbar zu machen. Mit der Kriegsthematik eng verbunden sind schicksalhafte Erfahrungen schockierender, Angst einflößender oder traumatischer individueller und kollektiver Erlebnisse, die künstlerisch verarbeitet werden. Diese betreffen die teilweise oder vollständige Vernichtung der gewohnten, sicheren Lebensumstände im familiären, sozialen und nationalen Kontext und verursachen eine tiefe Entwurzelung des Menschen aus diesen Kontexten. In der literarischen Verarbeitung sind große Unterschiede je nach Land, Betroffenheit und Autorenpoetik zu beobachten: Einerseits werden traumatische Kriegserlebnisse thematisiert und es steht das Bestreben im Vordergrund, dieses Grauen literarisch zu verarbeiten, geeignete narrative Formen zu finden und so darstellbar und vorstellbar zu machen. Dabei fällt in den letzten Jahren auch eine beginnende kritische Auseinandersetzung mit den Kriegsursachen und den damit verbundenen Ideologien auf.1 Andererseits werden die frustrierenden Erfahrungen der Nachkriegsgesellschaft im Übergang vom Sozialismus zur Zivilgesellschaft mit Problemen wie Korruption, sozialer Verelendung, Kriegsgewinnlertum, Nationalismus oder neoliberaler Wirtschaftspolitik zum Gegenstand meist pessimistischer literarischer Darstellung (v.a. in der serbischen Literatur). Gerade bei jüngeren Autorinnen und Autoren lässt sich aber auch eine Hinwendung zu Sujets beobachten, die neben der heutigen Lebenswelt in den Transitionsgesellschaften auch unpolitische Themenverfolgen, mit aktuellem, oft persönlichem Zeitbezug wie Liebessujets, Selbstfindung, Generationsproblemen u.a. Diesen Eindruck bestätigen literarische 1

Damit setzt sich auch der zeitgenössische Film auseinander, vgl. No Man’s Land von Danis Tanović, Gori vatra von Pjer Žalica, Turneja von Goran Marković, Ničiji sin von Arsen Ostojić, um nur einige zu nennen.

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Anthologien wie Pokaži koliko me cijeniš2, Bun(t)ovna p(r)oza3oder FakJu4, aber auch anlässlich der Schwerpunktländer Kroatien und Serbien bei der Leipziger Buchmesse erschienene deutschsprachige Anthologien von Kurzprosa aus beiden Ländern, die einen Überblick über das aktuelle literarische Schaffen vermitteln und somit eine gewisse Repräsentativität beanspruchen.5Auch andere zeitgenössische Sujets lassen in der Literatur aber – der zeitgenössische Film bestätigt dies – die Kriegsthematik mit Hintergründen und Folgen fast immer zumindest durchscheinen. Dabei werden auch neue narrative Verfahren erprobt, worauf Kazaz 20046aufmerksam macht, der, gefolgt von Beganović, zwei grundsätzlich unterschiedliche Richtungen in der Literaturunterscheidet, die Kriegstraumata verarbeiten: Zum einen verweist er auf eine lange, bis in die kroatische Renaissance zurückreichende Tradition, das Monströse der Kriegsideologie darzustellen und zu entlarven, wonach je nach Autorenpoetik Antiutopisches, Dekonstruktion des Heldenmythos oder eine Mythologie der alltäglichen kleinen Dinge in den Vordergrund rückt. Dem gegenüber sieht Kazaz die sog. Exilliteratur, die den Begriff der Heimat, der Heimatlosigkeit, Identität und des Todes ins Zentrum stellt. Der Krieg im ehemaligen Jugoslawien stellt in der Literatur eines der meist behandelten Themen dar. Julijana Matanović, Literaturwissenschaftlerin und Autorin, verzeichnet daher in ihrem umfangreichen Artikel zum kroatischen Kriegsroman so viele Titel allein zum Thema Vukovar, dass sie eine eigene Monografie erforderlich machen würden (Matanović 2004, 95). Die Zeitschrift Hefte aus Sarajevo/Sarajevske sveske, die einen transnationalen Ansatz im postjugoslawischen Diskurs vertritt, widmete 2004dem Thema Kriegsliteratur mit der Nr. 5 eine eigene Ausgabe, deutschsprachige Publikationen wie die von Beganović/Braun(2007) gehen intermedialen 2

Hg. von M. Vuković Runjić. Zagreb: Vuković&Runjić, 2004. Hg. von N. Veličković. Sarajevo: Književna radionica Omnibus, 2002. 4 Hg. von K. Lokotar, V. Arsenijević. Belgrad: Rende, 2001. 5 Vgl. dazu Angela Richter (Hg.): Der Engel und der rote Hund. Kurzprosa aus Serbien. Berlin: Noack & Block2011. Nenad Popović (Hg.): Kein Gott in Susedgrad. Neue Literatur aus Kroatien. Frankfurt/M. 2008. Neue Rundschau 2010, Nr. 3 ist ganz der Literatur Serbiens gewidmet. 6 Der pointierte Artikel von Kazaz (2004) erschien 2007 in deutscher Übersetzung. Hier wird wegen der Nachlässigkeiten in der Übersetzung auf das Original Bezug genommen. 3

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und interdisziplinären Aspekten zum Thema des Kriegs im ehemaligen Jugoslawienaus verschiedenen Perspektiven nach. In Borissova/Frank/Kraft (2009), die ausgewählte Kriegsnarrative in Europauntersuchen, sind zwei Beiträge dem Phänomen in postjugoslawischen Literaturen gewidmet. Andere Publikationen wie die von Gansel/Kaulen (2011) thematisieren zwar auch den Jugoslawienkrieg, aber aus der Perspektive der deutschen – oder besser transnationalen – Literatur, da dort auch Autoren behandelt sind, die als Migranten aus diesem Raum die Kriegsereignisse in deutscher Sprache und nicht in ihrer Muttersprache verarbeiten. Den besten Überblick über die bosnische Literatur, die den Krieg der 90er zum Thema hat, bietet Kazaz, der das Phänomen auch transnational kontextualisiert, kategorisiert und literaturhistorisch einordnet. Bis heute liegt aber zu diesem äußerst umfangreichen Thema keine Übersicht über die bosnische, kroatische und serbische Literatur vor und in diesem Rahmen kann eine solche Aufgabe nicht bewältigt werden. Daher wird sich die folgende Untersuchung auf einen kleinen Ausschnitt subversiver Texte mit Kriegsthematik beschränken. Von den vielen Aspekten wie der Unvorstellbarkeit von Kriegsgräueln, Traumaverarbeitung, Suche nach Gerechtigkeit, Bestrafung von Kriegsverbrechen, dem Leben von Opfern und Tätern nach den Kriegsverbrechen im Alltag, Vergangenheitsbewältigung und vielem mehr wird hier der Kriegsalltag im Leben der Soldaten ausgewählt. Dies bietet sich an, weil am Thema des Kriegsalltags grundsätzliche Einstellungen zum Krieg formuliert und Kriegspathetik hinterfragt werden. Die Analyse thematischer und kompositioneller Aspekte in zwei ausgewählten Werken soll erhellen, wie Krieg und Kriegsalltag literarisch verarbeitet werden. Zwei Autoren einer Generation (Ferić geb. 1961, Dežulović geb. 1964), deren literarisches Debut in den 90er Jahren erfolgte, haben Texte vorgelegt, die bei großer Unterschiedlichkeit im Sujet überraschende kompositionelle und inhaltlichkonzeptionelle Parallelen aufweisen. Die zwei Werkestellen die Erlebnisse von Soldaten zweier verfeindeter Seiten in den Mittelpunkt: der Roman Jebo sad hiljadu dinara (Scheiß auf die tausend Dinar7, 2005) von Boris Dežulović und die Erzählung Otok na Kupi (Die Insel in der Kupa) aus der 7

Der Roman liegt nicht in deutscher Übersetzung vor, daher sind alle Zitate daraus hier und im Weiteren von mir übersetzt.

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im Jahr 2000 erschienenen Erzählsammlung Anđeo u ofsajdu (Engel im Abseits) von Zoran Ferić, die im gleichen Jahr mit dem sehr angesehenen Ksaver-Šandor-Gjalski-Preis ausgezeichnet wurde. Beide Texte stellen den Kriegsalltag von Soldaten in den Mittelpunkt der Darstellung. Wegen des fehlenden „vaterländischen Engagements“ und des Unterlaufens des offiziellen politischen Kriegsdiskurses in Kroatien waren diese Werke einerseits dem Vorwurf des Verrats kollektiver kroatischer Interessen ausgesetzt, andererseits erfreuten und erfreuen sich beide Werke beim Publikum großer Beliebtheit. Das Buch von Ferićwurde2000, 2001, 2006 und 2012 sowie 2010 auch als Hör-CD8 (gelesen von Pero Kvrgić) publiziert, gleich nach seiner Erstveröffentlichung im Jahr 2000 erschien es in deutscher Übersetzung. Der Roman von Dežulović erlebte bislang sechs Auflagen und ihm wird für die Kriegsthematik in der kroatischen Literatur eine ähnlich ungewöhnliche Rolle zugesprochen wie dem Film No Man's Land von Danis Tanović (vgl. Pogačnik 2005). Beide Werke treten mit der Darstellung der Kriegssituation ohne jegliche Einführung und Kontextualisierung gleich am Anfang in medias res. Dies verfolgt offenbar das Ziel, den Leser sofort ins Geschehen hineinzuziehen und ihm keine Möglichkeit zur Distanz zu lassen. So heißt es bei Ferić: „Die Front war über den Fluss gekommen… […] Auf dem Weg, den die Front genommen hatte, lagen zahlreiche Leichen. Der Feind hatte seine Leichen nicht mitgenommen, und wir hatten keine Zeit, sie zu begraben.“(Ferić2000b,45)9 Auch Dežulović lässt seinen Roman mit einem längeren Dialog anheben, in dem der Ich-Erzähler die unmittelbare Konfrontation und die Angst verrät: „Ich bin nervös, stell dir vor, nur weil wir uns hinter der Frontlinie befinden, mitten in einem Minenfeld, du kannst nicht vor und nicht zurück, zweihundert Meter von den Türken10 entfernt,

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Verlegt bei Astarta Plus, Zagreb 2010. „Front je išao preko rijeke ... [...] Na putu kuda je prošao front bilo je dosta leševa. Neprijatelj nije preuzimao svoje mrtve, a nije bilo vremena da ih zakopavamo [...]“ (Ferić 2000a,S. 130) 10 Gemeint sind die gegnerischen Moslems. 9

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weil wir nicht über die Ruštica können, weil unser Kenwood den Geist aufgegeben hat...“11 Als weitere Gemeinsamkeit beider Texte kann gelten, dass als Kompositionsprinzip die Gegenüberstellung gewählt wird, die der militärischen Ausgangssituation entspricht; diese Konstellation wird zwar zeitweise überwunden, doch am Ende herrscht wieder die Konfrontation vor. In beiden Werken stehen sich die gegnerischen Seiten in kleinen Gruppen von jeweils 3 (Ferić) bzw. 6 Soldaten (Dežulović) gegenüber, die sich bei der Wahrnehmung des Eigenen und des Fremden an den verbreiteten Stereotypen orientieren. Während der homodiegetische Erzähler bei Ferić vom „Feind“ („neprijatelj“) spricht, von „denen auf der anderen Seite“ („onima tamo“) oder er sie kurz „SIE“12(„ONI“13) nennt, wählen die Figuren bei beiden Autoren in ihrer direkten Rede mit „Tschetnik“, „Ustascha“ oder „Türke“ unter Rückgriff auf politisch-historische Bezeichnungen unzweideutige Zuordnungen. Nicht immer wohnen diesen Benennungen die in diesen Kontexten oft üblichen pejorativen Konnotationen inne und siewerden nur stellenweise als Schimpfwörter verwendet. Die metonymischen Kollektivbezeichnungen und Vorstellungen vom kollektiven Anderen wiechen einer Individualisierung der einzelnen Figuren, die namentlich (Dežulović) oder durch Zuschreibungen von Eigenschaften durch den Erzähler (Ferić) voneinander unterschieden werden. Dadurch wird die kollektive Identitätszuschreibung zunehmend von der individuellen Identität überlagert, ohne jedoch ganz ausgeblendet zu werden. Als zentrales Moment beider Texte ist das gegenseitige Beobachten und Belauern der jeweils gegnerischen Soldaten in Situationen des Kriegsalltags auszumachen, wobei diese, isoliert von hierarchischen Entscheidungsabläufen, auf sich selbst gestellt sind. Da sie keine Befehle entgegennehmen können, sind sie in den ausgewählten Situationen auch keine Ausführenden und müssen ganz auf ihre eigene Beobachtungsgabe und Menschen11

„Nervozan sam, zamisli, samo zato što se nalazimo iza linija, usred minskog polja, ni tamo, ni vamo, dvjesto metara od Turaka, što ne možemo preko Ruštice, što se pokvario kenvud ...“ (Dežulović, 15) 12 Ferić 2000b,S. 50. 13 Ferić 2000a,S. 41. Großschreibung im Original und in der Übersetzung.

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kenntnis vertrauen. Dem geringsten Detail im Verhalten der gegnerischen Seite wird große, ja überlebenswichtige Bedeutung beigemessen; dabei stehen Alltagshandlungen im Vordergrund. In Ferić’ Erzählung besuchen drei kroatische Soldaten drei serbische, um mit ihnen gemeinsam zu trinken und einen Wels zu essen, den einer von ihnen gerade gefangen hat. Dabei beobachten sie sich pausenlos gegenseitig argwöhnisch. In dem Roman von Dežulović nehmen sich zwei feindliche Brigaden (der HVO und der Armee Bosniens und der Herzegowina14) in einem verlassenen Dorf gegenseitig ins Visier. Irritationen rufen bei den Soldaten nicht nur das verminte Gelände, die Abgeschnittenheit vom Stab und die kryptischen, unterbrochenen Nachrichten über das Walkie-Talkie hervor, sondern auch die Unsicherheit über Fremdes und Eigenes, darüber, wer Freund und wer Feind sei. Beide Brigaden haben nämlich die geheime Aufgabe, die gegnerischen Stellungen zu umgehen und sie von hinten anzugreifen. Daher tragen sie nicht die eigenen, sondern jeweils die Uniformen der Gegenseite. Die Raumsemantik unterstreicht in beiden Texten die Grundkonstellationen der Unsicherheit durch die Relativierung der Begriffe „Grenze“ und „Zugehörigkeit“ und durch die Infragestellung ihrer Bedeutung. In Ferić’ Erzählung markiert der Fluss Kupa die Front und Grenze, aber die Soldaten treffen sich auf einer Flussinsel, die nach offiziellen Angaben überhaupt nicht existiert und die man von der erhöhten Stellung ihrer Einheit aus nicht sehen kann: „Ich mußte darandenken, wie sie uns in der Schule beigebracht hatten, daß die Kupa die Grenze zum Balkan bildet. Von Inseln war überhaupt nicht die Rede gewesen. An solch ruhigen Abenden, wenn sich die Armeen ausruhten, sah es so aus, als ob uns der Krieg nichts anging.“ (Ferić2000b,47)15 Auch der Kommentar des Anführers betont die Irrealität des Ortes, wenn er auf die Frage, wohin sie fahren, antwortet: „Wo ihr sicher noch nie gewesen seid!“ (Ferić2000b,51)16 Die Insel ist ein Ort 14

Der Autor verleiht dem Roman durch das Vorwort den Nimbus eines authentisch verbürgten Ereignisses, was aber als Verfahren der gezielten quasi-historischen und faktografischen Irreführung des Lesers gelten muss. 15 „Razmišljao sam o tome kako su nas u školi učili da je Kupa granica Balkana. Nikakve otoke nisu spominjali. Nikakve otoke nisu spominjali. Za ovako mirnih večeri, međutim, kad su se vojske odmarale, izgledalo je kao da nas rat ne dodiruje.“ (Ferić 2000a, 131) 16 „Tamo gdje sigurno niste bili!“ (Ferić 2000a, 135)

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des Dazwischen, der ideale Ort der Utopie und einer möglichen besseren Gemeinschaft und gesellschaftlichen Lebensform. Als utopische Verortung trägt die Insel die Merkmale des Nichtexistenten ebenso wie des Unmöglichen, Unerfüllbaren, aber Erträumten. Dies trifft auch in diesem Fall zu, denn den Karten nach existiert diese Insel überhaupt nicht. Nur an einem solchen Ort kann es zu einer Begegnung kommen, die gemeinhin als unmöglich gilt. Das „private“ Treffen von Soldaten verfeindeter Armeen kann nur hier, in aller Heimlichkeit stattfinden und eröffnet die Vorstellung des Utopischen, des idealen Zusammenlebens. Der militärischen Logik läuft ein solches Treffen zuwider, wäre damit doch die Vorstellung gegenseitiger Feindschaft grundsätzlich in Frage gestellt. Allerdings sind die vordergründig friedlichen Absichten, wie sie für Alltagshandlungenangenommen werden können, die menschlichen Grundbedürfnissen entspringen, bereits zuvor substantiell unterminiert. Als zentrales Motiv fungiert hier in diesem Zusammenhang das gemeinsame Mahl, das kulturell mit Aussöhnung und Friedensabsicht konnotiert ist. Das gemeinsame Abendessen an diesem unwirklichen Ort beruht auf Tötungshandlungen, die für die beteiligten Figuren nicht gleich ersichtlich sind; ein friedliches Zusammenleben lassen sie daher als unmöglich erscheinen: Ein so großer Fischkann – das wissen verschiedene Figuren – zu dieser Jahreszeit nur mit einem Köder aus Menschenfleisch, Leichen getöteter und zurückgelassener Soldaten, gefangen werden. Außerdem tragen die kroatischen Soldaten Stiefel getöteter serbischer Gegner, häufig mit deren Initialen im Futter, die die Herkunft bzw. die Namen ihrer einstigen Besitzer verraten (z.B. „ZIKA, KRALJEVO 1991“; Ferić 2000b, 45) oder mit Verfluchungen an die potentiellen späteren Besitzer gerichtet sind: “USTASCHA! GEBE GOTT, DASS SIE DIR DAS BEIN ABSCHNEIDEN, WENN DU DIESEN STIEFEL ANZIEHST“ (Ferić 2000b, 46)17. Der aggressive Milan, der auf unergründliche Weise alle wunden Punkte der anwesenden kroatischen Soldaten kennt, führt die Idee der Aussöhnung ad absurdum, die auf der Idee des gemeinsamen Essens beruht, dem deutlich erkennbar biblische Anspielungen auf das Abendmahl Christi mit seinen Jüngern zugrunde liegen. Feindselig blickt er auf den Fisch – er kennt das Geheimnis – und 17

„USTAŠO! DA BOG DA TI ODSJEKLI NOGU AKO OBUJEŠ OVE ČIZME!” (Ferić 2000a, 37) Das Zitat erscheint im Original und in der Übersetzung in Großbuchstaben.

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unterdrückt die christliche Dimension dieses Symbols, indem er das gemeinsame Mahl zu verhindern versucht. Am Ende der Erzählung wird er nachträglich, d.h. nach der Rückkehr der kroatischen Soldaten auf ihre Seite, aufgrund eines entglittenen seltsamen Werkzeugs, das zum Ausstechen der Augen dient, als „Schlächter“ entlarvt. Auch wenn klar ist, dass ein solcher Versuch einer internen, privaten Aussöhnung, fern aller militärischen und politischen Optionen, keinen dauerhaften Erfolg haben kann – übrigens ein Ende, das mit seiner Pathetik und ideologischen Tendenzhaftigkeit im literarischen Sinne keinesfalls überzeugend gewirkt hätte –, ist der Text nicht eindimensional und stereotyp. Die Figuren werden in kurzen Zügen individualisiert und sind nicht nach dem Schema positiver vs. negativer Figuren vereinfacht. Züge des pathologischen Bösen finden sich auf beiden Seiten, wie die Figur Milans zeigt, aber auch die Leos, eines ehemaligen Fremdenlegionärs, der ebenfalls solche Erfahrungen des Kriegshandwerks gemacht hat. Beide Seiten haben auch „Grenz“figuren, d.h. Figuren, die sich zwischen den Lagern bewegen und vermitteln; damit gibt es auch Signale gegenseitigen Verständnisses. Eine solche Position nimmt auch der namenlose personale Erzähler ein, der, obwohl er als einer der kroatischen Soldaten seinen Kameraden nahesteht und durch Distanz zu den serbischen Soldaten, z.T. auch durch Angst vor ihnen gekennzeichnet ist, wenn er Schuld auf beiden Seiten erkennt. Statt einer sich wiederholenden Opfer-Täter-Logik wird die Vision einer göttlichen Vergeltung im Letzten Gericht präsentiert, wenn Leou.a. an Hemingways berühmte Erzählungen The Old Man and the Sea und The Short and Happy Life of Francis Macomber anschließt: – Das ist ja wie bei Hemingway – sagte Leo. – Ich meine, der Fisch. – Ich habe die irre Erzählung bei Hemingway gelesen – sagte ich. – Der alte Papa Hemingway kommt nach seinem Tod vor den Gerichtshof der Tiere. Tiere aus seinen Erzählungen. Sie sind alle von seinen Jägern und Fischern erlegt worden. Den Vorsitz haben der Schwertfisch, den der alte Mann gefangen, und der Löwe, den der unglückliche Francis Macomber geschossen hat. – Über uns wird dieser Wels am Jüngsten Tag zu Gericht sitzen – sagte Leo. (Ferić2000b,49)18 18

„- Ovo je kao kod Hemingwaya – rekao je Leo. – Mislim na ribu. - Čitao sam otkačenu priču o Hemingwayu rekao sam. – Stari papa Hemingway poslije smrti dospijeva pred sud životinja. To su životinje iz njegovih priča. Sve su ih ulovili njegovi lovci ili ribari. Sudom predsjedavaju sabljarka što ju je ulovio onaj starac i lav kojeg je načeo nesretni Francis Macomber.

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Ferić’ Erzählung zeigt die ganze Palette von Unsicherheiten, Ängsten, Abneigungen gegen die anderen. Zugleich thematisiert sie als zentrales Anliegen die potentielle Annäherung feindlicher Lager in ihrem Alltagsleben, fernab jeder Ideologie, und spielt diese Möglichkeiten durch. Die banale Tatsache, dass jeder Mensch essen muss, wird zum Ansatzpunkt für ein Aufbrechen der Gegensätze genutzt, und so unterstreicht die Erzählung, dass im Krieg selbst die alltäglichsten Dinge wie ein Fisch oder Kleidung nicht wertneutral sind: An allem kann das Merkmal des Todes haften. Da weder Dinge noch Menschen eindimensional dargestellt werden, sind Schuld und Opferrolle nicht schematisch verteilt. Trotz ihres optimistischen Anflugs endet die Erzählung pessimistisch; die versuchte Annäherung und Versöhnung im Kleinen gelingt nur vordergründig und die sich ankündigende Katastrophe wird nur durch den schnellen Aufbruch der kroatischen Soldaten von der Insel verhindert. Traditionelle Symbole wie z.B. solche des Christentums (der Fisch, das gemeinsame Abendmahl als Symbol der Gemeinsamkeit und Liebe) enthalten die utopische Vision eines friedlichen Zusammenlebens, doch sind sie durch die Kriegsrealität mit gegenteiliger Semantik aufgeladen. Die Raumrelationen im Roman von Dežulović sind völlig anders, aber nicht weniger bedeutsam für die Sinnkonstituierung des Textes. Beide Brigaden sind in einem verlassenen Dorf gefangen, an symbolgeladenen und mythischen Orten: Die Kroaten haben sich, als Angehörige der bosnischen Armee verkleidet, auf dem alten serbischen Friedhof verschanzt, während die Bosnier, in den Uniformen der kroatischen HVO, den legendären Muzerferbeg-Turm besetzt haben, einen Ort sexueller Initiationen. Die Orte sind also untrennbar mit den Konnotationen von Eros und Thanatos besetzt, und niemand kann seinen Ort verlassen, ohne von der gegnerischen Brigade bemerkt zu werden. Da beide Brigaden von jeder Kommunikation mit ihren Stäben abgeschnitten sind, spielt die Thematik der Ausführung bzw. einer evtl. Verweigerung von Befehlen keinerlei Rolle. Jede Brigade ist auf sich allein gestellt und muss für sich entscheiden. Beide Brigaden sind völlig inhomogen, bunt gewürfelte Gruppen von jungen Männern, die aus den unterschiedlichsten Motiven bei der Armee gelandet sind. Den bizarrsten - I nama će na sudnjem danu suditi ovaj som – rekao je Leo.“ (Ferić 2000a, 40)

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Grund benennt der Titel Scheiß auf die tausend Dinar: Pakos Warten auf das Wechselgeld am Kiosk (die tausend Dinar) war eine Fehlentscheidung mit fataler Folge, denn dadurch fehlte ihm genau die Zeit, um vor der Einberufung zur Armee ins Ausland zu fliehen. Der satirisch-groteske Roman, dessen Handlungszeit zwölf Stunden umfasst, entwickelt in seinem ersten Teil ein Panorama der Figuren, die als Individuen präsentiert werden: mit Erlebnissen aus ihrer und der Vergangenheit ihnen nahestehender Personen, die ihre Entwicklung wesentlich beeinflusst haben und ihnen teilweise schmerzhaft in Erinnerung geblieben sind. Die aktuelle Handlung umfasst die Einzelwahrnehmungen und strategischen Überlegungen der Soldaten während der gegenseitigen Belagerung. Nachdem sich beide Seiten der jeweils anderen auf tragikomische Art ergeben und das in dieser Situation fast wieder desavouieren, ist der zweite Romanteil ihrem Zusammentreffen in dem Turm mit der schlussendlichen Katastrophe gewidmet, in der sich alle in einer Situation hochgeputschter Emotionen und fataler Kettenreaktion gegenseitig umbringen: In dieser Situation, die keinen Spielraum zum Nachdenken lässt und eine sofortige Entscheidung erfordert, erweist sich der Rückfall in stereotype Handlungsmuster als fatal. Die Figuren werden durch eine narrative Strategie der indirekten Charakterisierung profiliert. So entlarvt Žagor, im zivilen Leben Biologielehrer, die Sinnlosigkeit der Namensgebung von Armeeeinheiten wie z.B. „Grüne Witwe“, „Schwarzer Puma“ usw. Robi, ein begeisterter Filmfan, sucht in Filmanalogien nach Lösungen für die Probleme im wahren Leben, der Fußballspieler Ćumur (dt. „Koks, Holzkohle“) lebt in der Vergangenheit und im Bewusstsein, nur durch einen Zufall eine große Karriere verfehlt zu haben, und Cigo (kolloquial für „Zigeuner“) löst den für alle tödlichen Schusswechsel durch eine Banalität aus, weil seine Kalaschnikov, mit der er sich am Fußkratzt, losgeht. Die Figuren werden durchgängig nicht nur unpathetisch charakterisiert, an ihnen wird das Kriegsheldentum dekonstruiert: Morž (dt. „Walross“) fällt beim Anblick von Blut in Ohnmacht, und die angeblichen Vukovar-„Helden“ Čep (dt. Stöpsel) und Papac haben an den Kämpfen um die ostslawonische Stadt gar nicht teilgenommen. Die „Kriegstrophäen“, abgeschnittene Ohren vermeintlich von Serben, Zeichen erträumter „Kaltblütigkeit“, hat sich der ängstliche Čep gekauft. Der Roman zeigt den Krieg und den Alltag in zwei Dimensionen: als extrem angespannte Situation im Kriegsalltag, in der die kleinste falsche Entscheidung lebensgefährliche

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Folgen nach sich ziehen kann, und in ausgewählten, aber entscheidenden Erinnerungen an das Zusammenleben im einstigen friedlichen Alltag der Vorkriegszeit. Dass es ausgerechnet zwölf junge Männer sind, ruft die Allusion an die biblische Zahl der Jünger und das Abendmahl auf, symbolisiert also Aussöhnung und Vergebung. Ihre jeweilige Nationalitätszugehörigkeit verblasst hinter den Spitznamen (Pako,Žagor, Vili, Robi, Čep und Papac auf der einen, Đo, Cigo, Ćumur, Jaser, Morž und Hunta auf der anderen Seite). Zwar wird die Herkunft der Namen ausführlich erklärt, aber weder mit ihrer ethnischen Herkunft noch mit politischen Überzeugungen verbunden. Während im ersten Romanteil in einer Kombination von Außen- und Innenperspektive gezeigt wird, wie sich jeder Einzelne in einer so komplizierten Situation verhält, welche Gefühle, Ängste und Unsicherheiten er entwickelt, konzentriert sich der zweite Teil auf jene dramatisch zugespitzten Momente, die die Gruppe einen oder trennen. Gemeinsam ist ihnen die gleiche expressiv-vulgäre Männersprache mit typischen Verschleifungen (z.B. đe, jesil, izgubit) sowie vielen deftigen Flüchen. Viele von ihnen haben, unabhängig davon, auf welcher Seite sie kämpfen, gemeinsame Bekannte und manche teilen sogar intime Erlebnisse, die aber dann aus ganz unterschiedlichen Perspektiven wiedergegeben werden. Weitere verbindende und trennende Motive sind Frauen als Sexualobjekte (die legendäre „Blinde Žuža“ und Sonja Amazona, die spätere Turbo-FolkSängerin) und der Fußball. Die narrative Darstellung trägt so der Perspektivenvielfalt und dem Zerfall einer einheitlichen Wahrnehmung Rechnung. Die Figuren sind somit nicht aufgrund politischer oder ideologischer Standpunkte polarisiert, sondern aufgrund gegenteiliger Weltwahrnehmungen und Bewertungen derselben Ereignisse. So sind sie Rivalen im Werben um Sonja, als Anhänger rivalisierender Fußballclubs und sie kennen die zurückliegenden Ereignisse aus wesentlich unterschiedlichen Perspektiven des selbst Erlebten, Gehörten, Gesehenen oder des Weitererzählten. Aus derartigen alltäglichen Erlebnissen erwächst eine größere Gegnerschaft als aus den militärischen Aufgaben. Die Figuren selbst haben weder militärische Ziele, noch sind sie in der Lage, solche zu erkennen. Einer der letzten, schon vom Grauender sich ankündigenden Katastrophe geprägten Sätze, der verzweifelt ein Besinnen auf die Menschlichkeit, jenseits aller Unter-

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schiede fordert und den Überlebenswillen formuliert, lautet: „Mensch, Leute, wir sind doch alle von hier, wir sind doch Menschen!“ 19 Die Antwort auf die Frage nach den Ursachen für die Handlungen ist nicht monokausal und eindimensional angelegt: Nicht eine unmittelbare Ursache, sondern eine ganze Kettenreaktion, eine Vielzahl miteinander verzahnter und nacheinander auftretender Motive löst die Katastrophe aus. Individuelles Fehlverhalten ist ein Schuldfaktor, doch erst durch die Verkettung mit kollektiven (Kriegs-)Ideologien kann jeder individuelle Schritt fatale Konsequenzen haben. Der Autor präsentiert alle, die dabei ihr Leben lassen, als Opfer. Dem kataklystischen Bild des zusammenstürzenden Muzerferbeg-Turms ist einzig die Option des Überlebenwollens jedes Einzelnen, unabhängig von Nationalität, Religion, Ideologie, Charakter, Intellekt oder sozialem Status, gegenübergestellt. Beide Texte vermeiden jeden pathetischen Modus bei der Thematisierung des Krieges und des Kriegstodes, wozu gerade die ungeschminkte Alltagsdarstellung entscheidend beiträgt. So berühren und verschränken sich kollektive und individuelle Geschichte auf unmittelbarste Weise. Die Kriegsideologie lässt die einzelnen Soldaten seltsam unberührt, der Krieg verkehrt bisherige Erfahrungen und eröffnet existentielle Grundfragen. Der Soldat ist Individuum und zugleich Teil desnationalen Kollektivs, weshalb persönliche Handlungenauch auf der Ebene des Kollektivs folgenreiche Konsequenzen haben. Die behandelten Texte entwickeln die Kriegsthematik aus der Sichtweise der Soldaten und destabilisieren die Vorstellung der Konfrontation. Der Begriff der Grenze, der Eigenes und Fremdes trennt, verliert an Bedeutung, dafür wird die Vorstellung von Identität der Figuren im Sinne einer Gruppenidentität immer diffuser, individuelle Identität erfährt eine Aufwertung, und doch sind beide, individuelle und kollektive, auf komplexe Weise miteinander verbunden.

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„Ljudi, naši smo, ljudi.“ (Dežulović, 214)

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BIBLIOGRAPHIE BEGANOVIĆ, DAVOR: "Das Trauma des Kriegers." Zwischen Apokalypse und Alltag. Kriegsnarrative des 20. und 21. Jahrhunderts. Hg. Von Natalia Borissova, Susi Frank und Andreas Kraft. Bielefeld: transcript, 2009.201-220. DEŽULOVIĆ, BORIS: Jebo sad hiljadu dinara. Beograd: V.N.Z., 2007. FERIĆ, ZORAN: Anđeo u ofsajdu. Zagreb: Naklada M.D., 2000a. FERIĆ, ZORAN: Engel im Abseits: zehn Erzählungen. Übers. D. Olof. Wien/Bozen: Folio Verlag, 2000b. FRANK, SUSI: "Einleitung: Kriegsnarrative." Zwischen Apokalypse und Alltag. Kriegsnarrative des 20. und 21. Jahrhunderts. Hg. von Natalia Borissova, Susi Frank und Andreas Kraft. Bielefeld: transcript, 2009. 7-39. KAZAZ, ENVER: "Szenen des gängigen Schreckens." Krieg sichten. Zur medialen Darstellung der Kriege in Jugoslawien. Hg. von Davor Beganović und Peter Braun. München: Fink, 2007.85-102. KAZAZ, ENVER: "Prizori uhodanog užasa."Sarajevske sveske, Nr. 5 (2004): 137-165. MATANOVIĆ, JULIJANA: „Od prvog zapisa do ‚povratka u normalu‘ (jedna moguća priča o hrvatskom ratnom romanu).” Sarajevske sveske, Nr. 5 (2004): 93-124. POGAČNIK, JAGNA: "Boris Dežulović‚ Jebo sad hiljadu dinara‘." Jutarnji list, 29.09.2005.

Renate Hansen-Kokoruš Literary presentation of everyday life in war in the texts of Zoran Ferić und Boris Dežulović Summary The war in the former Yugoslavia even today is one of the most important topics in Bosnian, Croatian and Serbian literatures, but with different artistic aims and poetics. Under aspects of composition, literary figures, conception of space and motifs the article analyzes two similarly structured literary texts from recent Croatian literature, written by Zoran Ferić and Boris Dežulović, which undermine war pathos by representing everyday life of soldiers. Collective and individual identity discourses cross over in a complex way. The attempt to break the collective war confrontation is in vain, because the reciprocal stereotypical perceptions of each other are very persistent and difficult to change. Key words: presentation of war, literary studies, recent Croatian literature, composition, analyses of figures, space, identity, Zoran Ferić, Boris Dežulović

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V. KAPITEL: (Mehr oder weniger) postmoderner Karneval des 21. Jahrhunderts



DAS BILD DER DEUTSCHEN ESSEKER IN IVANA ŠOJAT-KUČIS UNTERSTADT UND IN LYDIA SCHEUERMANN HODAKS HEUTE LIEST NIEMAND MEHR DIE GOTISCHE SCHRIFT Sonja Novak Josip-Juraj-Strossmayer-Universität Osijek (snovak@ffos.hr) Zusammenfassung Die deutschen Esseker sind eine ethnische Gruppe von deutschsprachigen Einwohnern der Stadt Osijek, die von den Wiener Handwerkern und nach Osijek umgesiedelten schwäbischen Zuwanderern stammen. Am Beispiel von zwei zeitgenössischen kroatischen (dramatisierten) Texten, Ivana Šojat-Kučis Unterstadt (Roman und dramatisierter Text) und Lydia Scheuermann Hodaks Novelle Heute liest niemand mehr die gotische Schrift (die als Basis für ein Monodrama mit dem Titel Zeit für sich diente), werden Bilder der Deutschen und des Deutschtums bzw. literarische Gestalten von deutschen Essekern, sowie ihre Funktionen, Wirkungsräume und Möglichkeiten in den nach dem Unabhängigkeitskrieg Kroatiens entstandenen Texten untersucht. Die Analyse bestätigt, dass die beiden Autorinnen am Beispiel des Bildes der deutschen Nationalminderheit in Kroatien, dargestellt in der Geschichte zweier Familien, zeigen, wie unentbehrlich es heutzutage ist, über Kriegstraumata zu reden, um sie bearbeiten und bewältigen zu können. Dabei wird klar, dass sich die Begriffe Opfer, Schuld - Unschuld, Fremde/Andere - Eigene auf alle im Krieg beteiligten ethnischen Gruppen beziehen. Stichwörter: Esseker Deutsche, Imagologie, Deutschtum, Ivana Šojat-Kuči, Unterstadt, Lydia Scheuermann Hodak, zeitgenössische kroatische Texte

1.

Einführung

Die zeitgenössische kroatische Literatur kennt zahlreiche Beispiele der Thematisierung des Schicksals der Deutschen in den Nachkriegszeiten in Kroatien (1945 und 1990er Jahren), meist in Kurzgeschichten und Romanen, von denen hier nur einige der Letzteren genannt werden: Ljudevit (Ludwig) Bauers Perlen für Karoline oder Boris Bruckners Kreuzweg (Biserje za Karolinu ili Križni put Borisa Brucknera, 1997), Don Juans große Liebe und der kleine Balkankrieg (Don Juanova velika ljubav i mali balkanski rat, 2002), Heimatland, Vergessenheit (Zavičaj, zaborav,

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2010), Pavao Pavličićs Glückskomitee (Odbor za sreću, 2004) und Neun Denkmäler (Devet spomenika, 2006) oder Ante Rilovićs Kepovi (2006). Die vorliegende Arbeit befasst sich mit der Rolle und der Funktion des Bildes von literarischen Gestalten der Esseker Deutschen und des Deutschtums in zwei nach dem Unabhängigkeitskrieg Kroatiens1 19911995 in Kroatien entstandenen Texten, Ivana ŠOJAT-KUČIS Unterstadt und Lydia SCHEUERMANN HODAKS Danas više nitko ne čita goticu (Heute liest niemand mehr die gotische Schrift), deren Schwerpunkt die Deutschen in Osijek und seiner Umgebung sind. Die Deutschen sind seit Jahrhunderten in Kroatien anwesend. Die Ankunft und der Aufenthalt von Deutschen auf diesen Gebieten hatten einen sozialen und kulturellen Austausch zwischen den einheimischen Einwohnern und den Einsiedlern zur Folge. Der deutsche Einfluss begann schon mit der Ankunft der ersten Deutschen im 13. und 14. Jh und wurde intensiviert im Osten Kroatiens zur Zeit der Habsburgischen Monarchie. Die kulturelle Identität von Slawonien und Baranja, und insbesondere der Stadt Osijek hat sich größtenteils seit dem 19. Jh. bis zum Zweiten Weltkrieg unter dem Einfluss kroatisch-germanisch-jüdischer Kultur entwickelt. (MILARDOVIĆ, S. 35) Osijek bekam die Merkmale einer multiethnischen, multikulturellen und vielsprachigen Stadt. Die intensiven Kontakte mehrerer deutscher Dialekte mit den nicht-germanischen Sprachen auf dem engen Gebiet der Stadt resultierten sogar in der Entwicklung einer besonderen Stadtsprache bzw. eines Dialekts, welches 'Esseker-Deutsch' genannt wird.2 Diese besondere essekerische Sprache 1

Die Übersetzung „Unabhängigkeitskrieg“ bezieht sich auf den Krieg in den 1990er Jahren (genauer gesagt zwischen 1991 und 1995), den man in Kroatien „Domovinski rat“ nennt. In zahlreicher Sekundärliteratur sowie in den Medien kommen oft auch andere Übersetzungen vor, wie z. B. „Heimatkrieg“ oder „Vaterlandskrieg“. Die Übersetzung des Begriffs „Domovinski rat“ ist etwa problematisch, da es sich dabei um einen Befreiungskrieg von serbischer Aggression und Kampf gegen Versuche Serbiens, sich einen großen Teil kroatischen Territoriums zu annektieren, aber auch gleichzeitig und den Krieg für die Unabhängigkeit und den Ausgang Kroatiens aus Jugoslawien handelt.

2

Das Essekerische (Essek = Osijek) ist unter Einflüssen des Kroatischen, Jiddischen, Türkischen und Ungarischen auf die Orthographie, Lexik, Phonetik und Grammatik

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kommt im Text von Šojat-Kučis Roman Unterstadt und in dessen Dramatisierung regelmäßig vor. In so einer multikulturellen Stadt wie Osijek ist es unvermeidbar, dass jede ethnische Gemeinschaft die eigene Identität und Kultur pflegt und sich von anderen Gemeinschaften demzufolge unterscheidet. So werden die unterschiedlichen Gemeinschaften gegenüber einander als „die Anderen“ betrachtet. Manfred BELLER (S. 21) definiert das Bild des Anderen als eine Darstellung fremder Länder, Völker und Kulturen in der Literatur, wobei die Autoren „direkt aber auch metaphorisch ihr Urteil [...] über alles, was ihnen am Aussehen, der Rasse, der Religion, den Sitten und sozialen Verhältnissen anders, fremd, vom Eigenen verschieden und bemerkenswert vorkommt“ zum Ausdruck bringen. Genau dieser Aspekt des Andersseins kommt zwischen den sich in Kriegszustand befindenden unterschiedlichen ethnischen, religiösen oder sozialen Gruppen besonders zum Vorschein. Das Verhältnis zwischen den Deutschen und Kroaten hat eine lange Geschichte. Schon die frühe Neuzeit brachte die deutsche und die kroatische Nation wenigstens im politischen Sinne durch die Angliederung Kroatiens an Österreich (im 16. Jh.) zusammen. In diesem Arrangement, d.h. innerhalb der österreichisch-ungarischen Monarchie blieb Kroatien bis zum Ende des Ersten Weltkrieges, in dem die Kroaten (und bosnischherzegowinische Muslime) auf deutscher Seite kämpften. Mit dem Zerfall der Habsburgischen Monarchie am Ende des Ersten Weltkrieges fanden entstanden. Mit dieser besonderen Sprachweise hat sich besonders intensiv Velimir Petrović, der bekannte Osijeker Germanist beschäftigt. Seine folgenden Arbeiten über das Essekerische sollen hier erwähnt werden: PETROVIĆ, VELIMIR, „Die essekerische Mundart.“ In: Begegnung in Pécs/Fünfkirchen: Die Sprache der deutschsprachigen Minderheiten in Europa. Hrsg. von Wild, Katharina. Pécs: Janus-Pannonius-Universität, 1994. S. 19–32; PETROVIĆ, VELIMIR, „Die essekerische Sprechart – dojmljiv odraz osječke stvarnosti.” In: Književni Osijek. Hrsg. von Marijanović, Stanislav. Osijek: Pedagoški fakultet Osijek, 1996, S. 107–122; PETROVIĆ, VELIMIR, „Zu den Merkmalen des Essekerischen“. In: Über Grenzen hinweg … Hrsg. von Getto, Lidija / Gottlieb, Gunther / Rosenberger. Augsburg, 1998, S.167–184; PETROVIĆ, VELIMIR, Essekerisch. Das Osijeker Deutsch. Wien: Edition Praesens, 2001; PETROVIĆ, VELIMIR, Esekerski rječnik / Essekerisches Wörterbuch. Zagreb: FF Press, 2008. Petrović arbeitete auch als Ratgeber für das Essekerische bei der Dramatisierung und Aufführung von Unterstadt in Osijek 2012.

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sich die in Kroatien angesiedelten Einwohner aller Nationalitäten, darunter besonders viele Deutschen im kroatischen Donaugebiet, in einem neu gegründeten Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen, das später Jugoslawien genannt wurde. Mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges und als das Deutsche Reich Jugoslawien, damit auch Kroatien, den Krieg im April 1941 erklärte, wurden die zwei Nationen über Nacht zu Feinden, mit Ausnahmefällen von Kollaboration. Man unterschied aber schon immer zwischen dem Eigenen und dem Anderen/Fremden, dem Schuldigen und dem Unschuldigen, den Kriegsverbrechern und den Opfern. Die zeitliche Ebene, die in den zwei Werken betrachtet wird, ist die Nachkriegszeit in Kroatien, d.h. die 1990er Jahre, aber die Ereignisse, die beschrieben wurden brechen die zeitlichen Grenzen und die Gestalten erzählen ihre langen Familiengeschichten, damit aber auch die Geschichte und das Bild der deutschen Minderheit in Osijek. Der methodologische Zugriff zur Alteritätsforschung hat sich als ein eigener Forschungsbereich in vielen Wissenschaftszweigen herausgebildet, somit auch als komparatistische Imagologie, so Valerie POPP (S. 23). Dabei ist es aber schwer die Begriffe Stereotyp, Klischee, Vorurteil, Bild/Image exakt abzugrenzen (POPP, S. 34f). Doch in den zwei vorliegenden literarischen Werken ist es den Autorinnen gelungen, die nationalen Wahrnehmungen der einen Gruppe gegenüber der anderen nicht vom negativen Standpunkt abzubilden. Nach POPP (S. 24) ist zu schlussfolgern, dass „im Spannungsfeld von Identität und Alterität jedes Bild von einer fremden Nation in einem reziproken Verhältnis steht zu dem Bild über die eigene Nation“. So dient das Bild der deutschen Esseker in den zwei vorliegenden Werken dazu, ein Schicksalsbild einer ethnischen Gruppe zu zeigen, die für alle sich im Krieg befindenden ethnischen Gruppen gelten könnte. Dabei muss man betonen, dass in diesem Falle das Wort Bild „einen neutraleren Standpunkt“ (POPP, S. 35) als die Begriffe Stereotyp oder Vorurteil zu haben scheint, was auch die vorhandene Analyse beweist. Genau deshalb wird der Gebrauch von Begriffen wie Täter, Opfer, Identität, Schuld versus Unschuld usw. in der Analyse allgemein verwendet, da sie auch eine allgemein geltende Funktion haben, bzw. sie

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beziehen sich nicht exklusiv auf die eine besondere ethnische Gruppe, sondern wegen dem subjektiven Reziprozitätsprinzip auf jede.

2.

Ivana Šojat-Kučis Unterstadt

Ivana ŠOJAT-KUČI wurde 1971 in Osijek, Kroatien geboren. Nach einem langen Aufenthalt in Belgien lebt und arbeitet sie heute wieder in ihrer Geburtsstadt. Sie ist als Schriftstellerin und literarische Übersetzerin aus dem Englischen und Französischen ins Kroatische tätig. Im Jahr 2000 veröffentlichte sie ihren ersten Gedichtband Hiperbole. Diesem folgten weitere Gedichtbände, aber auch Kurzgeschichten, Essays sowie 2009 der Roman Unterstadt (Originaltitel). Kurz nach seiner Veröffentlichung gewann Unterstadt eine ganze Reihe von wichtigen kroatischen Literaturpreisen, wie z. B. den Vladimir Nazor-Preis, den Gjalski-Preis und den Ivan und Josip Kozarac-Preis. Der Roman wurde auch zum Finalisten des regionalen Meša Selimović-Preis-Wettbewerbs, womit er ein großes Interesse bei Lesern hervorrief. Kurz zusammengefasst, beschäftigt sich Unterstadt mit dem Schicksal der Deutschen in Osijek im 20. Jahrhundert, indem über das Schicksal der Familie Schneider/Pavković über vier Generationen berichtet wird. ŠOJATKUČI hat sich dabei entschieden, das Schicksal von vier Frauen dieser Familie in den Vordergrund zu stellen: der Ur-Großmutter Viktorija, der Großmutter Klara, der Mutter Marija und der Tochter Katarina. In einem Interview mit Tatjana Mautner für Die Deutsche Welle erklärt ŠOJAT-KUČI im Interview mit MAUTNER, dass eigentlich die Frauen diejenigen waren, die in den Kriegszeiten alleine geblieben sind und ihre Kinder großgezogen haben und die Zukunft gestalten mussten, während die Männer als Kanonenfutter in die Schlachten in alle Weltrichtungen geschickt [wurden]. Sie mussten für ihre Heimatländer Kriege führen, und kehrten entweder tot in Särgen oder psychisch zerstört zurück. Derartige Eruptionen des Bösen kann ein Mensch nicht unverändert und unbeschadet überstehen. Nach Schlamm, Dreck und Blut, nach Galizien und nach dem Kreuzweg, nach all den toten Menschen in

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den Massengräbern und nach dem Unabhängigkeitskrieg wird der Mensch anders.3

Unterstadt wurde durch den Prozess der Dramatisierung mit Teilen aus Miroslav Krležas Drama U logoru (Im Lager) und mit dem Stoff aus den wissenschaftlichen Arbeiten des Historiographen Vladimir GEIGER bereichert. Die Freilichtaufführung des Stückes fand am 29. Juni 2012 in Osijek statt und eröffnete den Osijeker Kultursommer. Die Rezeption des breiten Publikums sowie auch die Rezensionen der Kritik waren ausgezeichnet. Das Stück erhielt den Publikumspreis des Portals www.teatar.hr für die Aufführung des Jahres 2012. Es wurde in sechs Kategorien für den Preis der kroatischen Schauspielerzunft (Nagrada hrvatskog glumišta) nominiert, wobei es den Preis für die allgemein beste dramatische Produktion gewann, während Zlatko Sviben zugleich den Preis als bester Regisseur erhielt. Danach erfolgten Einladungen zu Gastspielen an Dubrovniker Sommerspielen, nach Split und Pula, aber auch ins Ausland, wie z. B. nach Belgrad und Pforzheim. Die positive Rezeption beim Publikum zeigt die Reife und die Bereitschaft, sich mit den Themen wie Krieg, Schuldfragen, Opfer, Nationalismus, verführende Ideologien, Kriegsverbrechen, usw. auseinanderzusetzen. Katarina, die Tochter, kehrt nach achtzehn Jahren nach Osijek zurück und erfährt, dass ihre Mutter Marija gerade noch während Katarinas Zugfahrt gestorben ist. Sie reagiert eher gleichgültig auf die Nachricht und man erfährt, dass sie ein etwas angespanntes, zeitweise scheinbar gar kaltes Verhältnis zu ihrer Mutter hatte. Sie lehnt es ab, sie aufgebahrt zu sehen oder sich von ihr vor der Beerdigung zu verabschieden. Katarina fühlte sich ihr ganzes Leben lang von ihrer Mutter ungeliebt und isoliert, da man in ihrem Haus über nichts redete. Man schwieg über alles, 3

„Muškarce su neprestano slali kao meso za topove. Na sve strane. Ratovali su za carstva, za domovine i počesto su se vraćali, ako ne mrtvi, u ljesovima, a onda poremećeni. Čovjek nužno biva poremećen nakon erupcije zla. Ne možeš ostati isti nakon blata, krvi, gnoja, nakon Galicije. Ne možeš ostati isti nakon Križnoga puta, nakon ljudi bačenih u jarke, strijeljanih i nakon Domovinskog rata.” Aus dem Kroatischen von Sonja Novak.

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und sie bekam Ohrfeigen von ihrer Mutter für die einfachsten Fragen über die Familienmitglieder, die sie ihrer Mutter aus purer Kinderneugier stellte. Deshalb ist sie unglücklich aufgewachsen und wurde immer wütender auf ihre Mutter, von der sie auch weggelaufen ist, sobald sich eine Gelegenheit dazu ergab. Als ihre Rückkehr ins und ihr Aufenthalt im Elternhaus in der Osijeker Unterstadt langsam die durch die Gespräche mit Jozefina ausgelösten Familiengeheimnisse und die ganze Geschichte dieser deutschen Familie in Osijek enthüllt, verändern sich Katarinas Gefühle und Einstellung gegenüber ihrer Mutter. Sie begreift nämlich, dass ihre Mutter nur versuchte, sie vor unnötigen Sorgen und Leiden zu schützen. In dieser jahrzehntelangen Chronik einer Esseker deutschen Familie, die in einer einzigen Nacht aus dem Gedächtnis der Familienfreundin Jozefina ausbrach, fand Katarina, was sie ihr Leben lang gesucht hat: ihre wahre Identität. Und sie lernte den Rest ihrer Familie kennen. Die freie Entscheidung über die eigene Identität und deren Gestaltung ist das Recht jeder autonomen Person. Katarina fühlte, dass das ihr nicht ermöglicht wurde und hielt dafür ihre Mutter und ihre Erziehung für schuldig. Katarina fühlte, dass ihr ihre Mutter ihre wahre Identität geheim gehalten hatte. Die nationale, aber auch die persönliche Identität, d.h., die Identität des Einzelnen wird durch einen ständigen Austausch und durch die Kommunikation mit Anderen gebildet und realisiert. In diesem Sinne behauptet MENNEL (S. 179) Folgendes: „Each person’s self is formed by a reflexive process, in which our perception of how others see us plays a paramount part [...] individual self-images and group we-images are not separate things.“ Leider sind diese „we-images“ auch teilweise Resultate von Ettiketierungen von Anderen. Für ein Kind sind alle Menschen gleich, aber dann, als man aufwächst, werden den Menschen, wie ŠOJAT-KUČI es in ihrem Autorinnen-Blog erklärt, „von außen unsichtbare Eigenschaften jenseits der Hautfarbe“ zugeschrieben. Sie erklart ihre eigene Erfahrung folgendermaßen: Die Menschen erhielten eine nationale, religiöse, politische und soziale Zugehörigkeit. Sie wurden dumm, verbohrt, geizig, faul und allerlei sonst. Nach

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und nach verschanzten sie sich in Schubladen, machten mich wahnsinnig, verwirrten mich. (ŠOJAT-KUČI, Autorinnen-Blog4)

Katarinas Rückkehr kann somit als das Ergebnis und die Folge eines Impulses nach Selbstsuche betrachtet werden, da sie ziemlich jung von zu Hause und von der eigenen Mutter weggegangen ist. Sie wusste gar nicht, warum sie genau an diesem Tag ihre Koffer packte und sich in den Zug nach Osijek setzte: Ich weiß nicht warum ich an diesem Freitag nach der Arbeit, etwa um drei Uhr, eilig meine Sachen zu packen begann, warum ich meine Kleidung wahllos in den Rollkoffer legte, der noch seit meiner letzten Reise nach Wien verstaubt unter dem Fenster lag. Ich weiß gar nicht warum ich mich letztendlich doch entschied diesen Zug zu nehmen, der schon jahrelang vom Gleis 1 immer um siebzehn Uhr und fünf Minuten aus Zagreb nach Osijek fährt.5 (ŠOJAT-KUČI, S. 5)

Etwas trieb sie unbewusst auf die Suche nach der eigenen Identität. Es fällt auch auf, dass Katarina paradoxerweise nur Kroatisch spricht, und bei allen anderen Charakteren überlappen sich das Kroatische und das Deutsche, bzw. das Essekerische. Bald erfährt Katarina, dass sie eigentlich Deutsch ist und dass ein großer Teil ihrer Familie im Lager Krndija und Valpovo entweder das Leben verlor oder aus dem Lager und aus dem Zweiten Weltkrieg entmenschlicht zurückkehrte. Katarinas Mutter Marija hat das Lager überlebt, ihre Schwester Elza jedoch nicht. Katarinas Großvater Peter ist im Zweiten Weltkrieg verschollen. Ihr Ur-Großvater Rudolf began nach seiner Rückkehr aus dem Ersten Weltkrieg zu trinken und Geld zu verschwenden, Karten zu spielen, seine Frau und seine Familie zu vernachlässigen, um sich letztendlich das Leben zu nehmen, indem er sich im Schrank des Familienhauses erhängte. ŠOJAT-KUČI erklärt in dem Interview mit MAUTNER, dass

4

http://www.literaturportal-bayern.de/blog?task=lpbblog.default&id=91 „Ne znam zašto sam se tog petka po povratku s posla oko tri sata počela užurbano pakirati, nasumično trpati odjeću u kufer s kotačićima koji je još od posljednjeg posjeta Beču prašnjav čučao ispod prozora. Ne znam zašto sam naposljetku ipak odlučila sjesti na taj vlak koji već godinama s prvog perona, uvijek u sedamnaest i pet polazi iz Zagreba prema Osijeku.“ Aus dem Kroatischen von Sonja Novak.

5

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wir alle eigentlich eine solche Familie haben, die ihre Geheimnisse in den Kellern oder auf den Dachböden verbirgt, und die zu einem bestimmten Zeitpunkt in der eigenen Geschichte einige Erniedrigungen erlebt hat. [...] Das 20. Jahrhundert ist zweifellos voll von Ereignissen, die auf jede Familie tiefe Spuren hinterlassen haben. Und eigentlich erlebt jede Familie diese große Geschichte auf ihre eigene, persönliche Art und Weise. Letztendlich gab es drei Kriege, von denen unsere Familien getroffen waren. 6

Durch die Erlebnisse der verschiedenen literarischen Gestalten der Esseker Deutschen dieser Familie nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg sowie nach dem Heimatskrieg in Kroatien zeigt ŠOJAT-KUČI, dass sich die Familie als Basiseinheit der Gesellschaft mit den offenen Wunden auch offen auseinandersetzen muss. Dies literarische Verfahren ist am eindeutigsten zu sehen durch die Einführung der Gestalt von Katarinas Großmutter. Katarinas Großmutter Klara spielte eine wichtige Rolle in Katarinas Leben. Sie war die seltsame, aber warmherzige Großmutter, die Katarina Fragmente aus der Familiengeschichte erzählte, aber Katarina war zu jung, um diese verstehen zu können. Seltsam war die Großmutter, weil sie ihre traumatischen Erfahrungen aus dem Lager nie wirklich verarbeiten und überwinden konnte. Überall sah sie ihr schon lange totes Töchterchen Elza: KLARA: Nein! [...] Ich muß sie retten! [...]... deine Schwester... Wir müssen sie retten... Was bist du für eine? [...] Leute?! (ruft) Leute... Leute... Hilfe... Hilfe... mein Kind, mein Kind... meine Elzi, Leute... was seid ihr für Menschen, gebt mir mein Kind... meine Elza...7 MARIJA: Muta, holt tajn koušn!8 (ŠOJAT-KUČI, Dramatisierung, S. 11)

Klaras Geschwister, Greta und Adolf, sind dagegen zwei Gestalten, die – besonders in der Dramatisierung – den tragischen hegelschen Konflikt abbilden. Nach HEGEL (S. 308f) besteht der tragische Konflikt 6

„Svi mi zapravo imamo jednu takvu obitelj koja je tajne malo sakrila po podrumima, tavanima, koja je pretrpjela poniženja u nekom od razdoblja svoje povijesti [...] Dvadeseto stoljeće nedvojbeno je puno zbivanja koja su duboko ostavila traga na svaku obitelj. I zapravo svaka od njih svu tu veliku povijest proživljava na svoj osobni način. Imamo tri rata koja ih pogađaju.“ Aus dem Kroatischen von Sonja Novak.

7

Im Original sind diese Zeilen auf Deutsch.

8

Essekerisch für „Halte deine Gosche!“

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darin, daß innerhalb solcher Kollision beide Seiten des Gegensatzes für sich genommen Berechtigung haben, während sie andererseits dennoch den wahren positiven Gehalt ihres Zweckes und Charakters nur als Negation und Verletzung der anderen, gleichberechtigten Macht durchzubringen imstande sind und deshalb in ihrer Sittlichkeit und durch dieselbe ebensosehr in Schuld geraten.

So stehen hier Adolf und Greta, Klaras Bruder und Schwester, auf zwei einander entgegengesetzten Seiten: Adolf auf der Seite des Führers des Dritten Reichs und des Nazionalsozialismus, und Greta, Großmutters verrückte Schwester, wie Katarina sie nennt, hat sich den Partisanen angeschlossen. ŠOJAT-KUČI weist keiner Seite die Schuld zu, sondern führt das Attribut der kollektiven Schuld ein und schreibt es allen radikalen politischen Ideologien zu, die im Laufe der ganzen Geschichte der Menschheit Konflikte und Kriege verursacht hat. Sie erhebt die Stimme im Namen der Opfer auf beiden Kriegsseiten und gegen jegliche Form von Gewalt. In ihrem Blog schreibt ŠOJAT-KUČI: Der Zweite Weltkrieg, jeder Krieg, sogar der „allerkleinste“, hinterlässt tiefe Wunden, bleibende Narben, die wir hartnäckig kollektiv hinter den Schleiern eines scheinbaren Vergessens verstecken. Als könnte sich all das nicht wiederholen, endlos oft wiederholen. Bloß mit anderen Menschen, die „anders“ sind in den Viehwaggons und vor den Erschießungskommandos. Wir machen uns vor, in der Welt würden nicht nach wie vor jene vorwärts marschieren, deren Phantasie sich vom Szenario einer Massenexekution anregen lässt. (ŠOJAT-KUČI, Autorinnen-Blog)

Durch diese Kritik möchte ŠOJAT-KUČI die Notwendigkeit der interkulturellen Sensibilität betonen, besonders in einer Stadt wie Osijek, in der wie auf einer großen Bühne Diktaturen, Absolutismen, Demokratien und Totalitarismen ihren Vorhang aufgehen und wieder zugehen ließen, in der sie ihre jeweiligen Inszenierungen aufstellten, die Schauspieler zum Schafott schickten und ihre jeweiligen Trends aufzwangen. In einer Stadt, die wohl den bestmöglichen Weg durch die kollateralen und direkten Dummheiten der „großen Geschichte“ gewählt hat: Sie nahm von allem das Beste und sicherte so ihr Überleben. Wie eine Erinnerung, die neben uns her läuft, auch dann, wenn wir sie nicht an der Hand halten. Während wir über die Straße gehen. (ŠOJAT-KUČI, Autorinnen-Blog)

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Den Anschein, dass alles Geschriebene nicht nur ausgedacht ist (GEIGER, 391), erzeugt die geschickte und kunstvolle Einbindung und Verknüpfung von Fakten und Fiktion im Werk. Den größten Unterschied zwischen dem Roman und der Dramatisierung betont Sanja NIKČEVIĆ in ihrer Rezension für Vijenac. NIKČEVIĆ glaubt, der Regisseur Zlatko Sviben hätte absichtlich die politischen Aspekte des Romans in der Dramatisierung betont und das Brechtsche Mittel des Verfremdungs-Effekts benutzt. Nach NIKČEVIĆ (vgl. S. 27) schloss er die im Roman ständig hervorgerufenen Emotionen und die stets präsente Wärme aus und realisierte ein ausschließlich politisches Brechtsches Schauspiel, das dem Publikum die bekannte Botschaft schickt: „Glotzt nicht so romantisch!“. Doch konnten die Emotionen aus der Dramatisierung nicht wegbleiben, denn die Massentragödie der Kriegssituationen wurde durch den Einsatz von Elementen des griechischen Chors realisiert, den die Gestalten der deutschen Männer und Frauen im Lager Krndija repräsentieren. Dadurch hebt Sviben die Ungerechtigkeiten der Partisanen hervor und potenziert bei Zuschauern eine kathartische Wirkung. ŠOJAT-KUČI benutzt das Bild der Esseker-Deutschen und beschreibt deren Schicksal in Slawonien nach dem Zweiten Weltkrieg in ihrem Werk, um ihre Kritik am Schweigen und Ignorieren von Ungerechtigkeiten und Gewalt zu äußern, die von allen Kriegsteilnehmern ausgeübt werden. Gerade deshalb ist ihr Werk immer aktuell und kann auch als universaler Vorwurf gegen alle Kriege und deren Folgen betrachtet werden. TUNJIĆ (vgl. S. 33) merkt an, dass diese Botschaft, wonach kein Verbrechen gegen Menschen amnestiert und keine Ideologie gerechtfertigt werden kann, Unterstadt zu einem universalen Werk macht, das jede Form von Partikularismus und jede Art von Politisierung überwindet. 3. Lydia Scheuermann Hodaks Heute liest niemand mehr die gothische Schrift Lydia Scheuermann Hodak ist Diplom-Betriebswirtin, Übersetzerin und Dolmetscherin. Sie fing an zu schreiben während des kroatischen

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Unabhängigkeitskrieges in den 1990-ern. Sie lebt und arbeitet als Dolmetscherin und freie Schriftstellerin in Osijek. Sie hat mehrere Theaterstücke, Erzählungen und Romane geschrieben. Bekanntere Romane sind die ins Deutsche und Ungarische übersetzten Die Schlange um den Hals (Zmija oko vrata,1999) und Die Schlange um den Hals II (Zmija oko vrata II, 2000) sowie der zunächst auf Deutsch geschriebene und anschließend ins Kroatische übersetzte Roman Die Frau im Seidenhemd. Ihre bekannten Theaterstücke sind Marijas Bilder (Slike Marijine, 1995), Eva ist nicht Adam (Eva nije Adam, 1993), Ich bin in Eile, meine Masseuse kommt (Žurim, dolazi mi moja maserka, 1996) und Leichen im Keller (Kosturi u ormaru, 2004). Dabei ist Marijas Bilder das bekannteste ihrer Stücke und wurde ins Deutsche, Englische, Farsi, Russische, Rumänische, Französische und Spanische übersetzt und in Theatern auf vier Kontinenten aufgeführt. Das Kroatische Nationaltheater in Osijek hat geplant, das Monodrama Zeit für sich (Vrijeme za sebe) im Mai 2013 aufzuführen und in das Repertoire der kleinen, sogenannten Nachtszene aufzunehmen, was jedoch bis zum Zeitpunkt der Herausgabe dieses Sammelbandes (Sommer 2018) noch nicht realisiert worden ist. Das Monodrama basiert auf der in der Sammlung Frezije erschienen Novelle Heute liest niemand mehr die gothische Schrift (Danas više nitko ne čita goticu), die hier analysiert wird. Eines sonnigen Tages, während des Unabhängigkeitskrieges Kroatiens, erscheint im Büro einer Deutschübersetzerin ein jüngerer Mann, der nach Deutschland emigrieren möchte. Er hatte am Tag zuvor angerufen und einen Termin am späten Nachmittag erbeten, um mit der Übersetzerin alleine zu sein. Zusätzlich zur Übersetzung von Dokumenten, bittet er sie, ihm etwas Zeit zu widmen und seine Lebensgeschichte anzuhören. Es stellt sich jedoch heraus, dass es ihm eigentlich am wichtigsten ist, etwas über seine Familiengeschichte herauszufinden. Er braucht jemanden, der ihm das in handgeschriebener gothischen Schrift geschriebene Tagebuch seiner Mutter vorliest. Als er kam, stellte er sich als Johann Gross vor und betonte, dass er seinen Namen geändert hatte. Früher hieße er so, aber nicht immer und jetzt hieße

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er wieder so. (vgl. SCHEUERMANN HODAK, S. 22) Jetzt braucht er eine begläubigte Übersetzung seiner Dokumente, wobei er bei der Übersetzerin auf Genauigkeit und einer pedantischen Übersetzung ohne Fehler oder Korrekturen besteht. Am Anfang verlangt er von ihr die vom Staat ausgefertigte Bestätigung über ihren rechtlichen Status als Gerichtsdolmetscherin. Außerdem ist er stets abwechselnd fast arrogant und dann wieder nett und freundlich. Solches Benehmen ist am Anfang seltsam, aber bald wird es klar, dass ihm der Erwerb von Staatsangehörigkeit und die Umsiedlung nach Deutschland sehr wichtig sind und er möchte nichts dem Zufall überlassen. Er gibt in einem Moment auch zu, dass er Angst hat vor allem, was mit dem Staat, mit der Verwaltung oder mit den Ämtern zu tun hat, da er schon so oft von ihnen enttäuscht worden ist. Der Grund, warum er auf Genauigkeit – oder genauer: Wahrheit – in seinen Dokumenten besteht, ist das Gefühl, dass man endlich die Wahrheit über die historischen und politischgesellschaftlichen Erreignissen auf diesem Gebiet laut sagen muss: „Ich möchte sicher sein, dass die Formulare die Wahrheit und nur die nackte Wahrheit enthalten. Wenn ich nicht ganz sicher wäre, dass sie nur die Wahrheit enthalten, würde ich auch das bekennen, dessen ich eigentlich nicht schuldig bin.“9 (SCHEUERMANN HODAK, S. 30) Da es sich herausstellte, dass die Übersetzung doch einen Fehler enthielt, wollte Johann zum zweiten Mal kommen. Wieder wollte er spät am Nachmittag kommen und wieder wollte er mit der Übersetzerin alleine sein. Auf keinen Fall durfte sie nur das eine Blatt mit dem Fehler in der Übersetzung korrigieren. Er verlangte von ihr, alles neu aufzuschreiben. Eigentlich wollte er in dieser Zeit mit ihr sprechen. In diesen Gesprächen wurde seine Lebensgeschichte enthüllt – so wie auch die Geschichte von Katarinas Familie in den Gesprächen mit Jozefina. Johann bat die Übersetzerin, das in gotischer Schrift geschriebene Tagebuch seiner Mutter zu lesen und füllte die Lücken, da das Tagebuch nicht sehr umfangreich war. Seine Mutter wurde in einem Lager im Norden 9

„Ja moram biti siguran da je u formularima istina, gola istina i samo istina, jer kad ne bih bio potpuno siguran u istinu, priznao bih i ono za što nisam kriv.“ Aus dem Kroatischen von Sonja Novak.

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von Bačka geboren und als man die Deutschen aus den Lagern freigelassen hat, ist sie alleine geblieben, da ihre ganze Familie ums Leben gekommen war. Sie wurde ins Haus eines dörflichen Parteisekretärs aufgenommen, da sie niemand mitnehmen wollte. Sie hat nur Deutsch verstanden und war zu schwach, um Dienstmädchen zu sein und niemand wollte ein deutsches Kind umsonst nähren. (vgl. SCHEUERMANN HODAK, S. 35) Dieser Parteisekretär war eigentlich Johanns Vater, der seine Mutter heiratete und Johann einen neuen Namen gab, obwohl er immer in der Öffentlichkeit behauptete, er sei nicht sein Vater und die Heirat sei nur aus Mitleid erfolgt. Aber das Tagebuch seiner Mutter enthüllte die Wahrheit zusammen mit allen Qualen und Leiden, die seine Mutter im Haus des Parteisekretärs durchlebt hat. Die waren so grausam, dass die Übersetzerin sie ihm gar nicht vorlesen wollte und sich stattdessen damit entschuldigte, dass sie die handgeschriebene gotische Schrift eigentlich doch nicht lesen kann. SCHEUERMANN HODAKs Bild der Volksdeutschen, dargestellt durch die Gestalt von Johanns Mutter und Johann selbst, ist das einzige vollkommen positive nationale Bild im Text. Seine Mutter wird als eine geduldige, fürsorgliche und mutige Person beschrieben, die ihr traumatisches Schicksal mit Würde trägt. Johann, in dessen Dokumenten steht, dass er eigentlich Serbe ist, fühlt sich eigentlich Deutsch, so wie seine Mutter es ist, und möchte deshalb nach Deutschland emigrieren, da er sich hier unsicher und unwohl fühlt. Trotzdem sind auch teilweise positive Bilder von einheimischen Einwohnern zu finden, wie das Beispiel von den Eltern des Parteisekretärs zeigt. Sie wurden als ein altes, gutherziges Ehepaar gezeigt, das nicht nur unter der Landkonfiszierung in den späten 1940-ern, sondern auch unter der Entscheidung ihres eigenen Sohnes litt. Wie auch bei ŠOJAT-KUČI liegt hier die Schuld nicht einseitig nur bei den Partisanen im Zweiten Weltkrieg. Es werden auch Ereignisse aus der neuren Vergangenheit, aus dem Unabhängigkeitskrieg Kroatiens gezeigt. Johann erzählt nämlich wie er aus Baranja nach Ungarn und dann nach Deutschland weggegangen ist, als der Krieg ausbrach, und zwar weil er von seinem langjährigen Freund Mikloš/Nikola „verlassen worden ist“

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(SCHEUERMANN HODAK, S. 37). Die gleiche Kritik an allen politischen Ideologien, die zu Gewalt und Kriegen führen, wie bei ŠOJAT-KUČI, kommt zum Vorschein auch in SCHEUERMANN HODAKs Werk durch die Geschichte über Johanns Rückkehr nach Osijek. Gleich nach seiner Rückkehr nach Baranja wurde er von der sogenannten „krajinska milicija“10 verhaftet. Er wurde verhaftet, da in seinen Dokumenten als Nationalität „Serbisch“ angegeben war und deshalb hätte er nicht reisen dürfen. Das haben sie ihm tagelang mit „Füßen, Stäben, Fäusten ... auf jede mögliche Weise zu erklären versucht“11 (SCHEUERMANN HODAK, S. 37). Er musste in diesem Gefängnis zwei Wochen bleiben und wurde während dieser Zeit ständig geschlagen, aber auch vergewaltigt. Als er es doch schaffte, nach Osijek zu kommen, passierte ihm fast das Gleiche, da die kroatische Armee glaubte, er sei „Tschetnik“ und bestimmt einer von denen, die Osijek angegriffen hatten. Die Kriegsverbrechen der beiden am Konflikt beteiligten Seiten beschreibt SCHEUERMANN HODAK auf gleiche Weise, mit gleichen Worten. Wenn Johann über die serbischen Soldaten spricht, sagt er Sie sperrten mich für zwei Wochen ein, sie haben mich geschlagen, einige haben mich wie eine Frau missbraucht, mehrmals. Ich weiß nicht, wie lange ich das noch ausgehalten hätte, aber dann hatten sie vermutlich genug davon und ließen mich frei. 12 (S. 38)

Fast das Gleiche erzählt er wenn er über die kroatischen Soldaten spricht: Sie sperrten mich für zwei Wochen ein [...] sie haben mich nicht wie eine Frau missbraucht, sie haben mich nur geschlagen, Tag und Nacht, mit Füßen, Stäben,

10

„Krajinska milicija“ war eine serbische paramilitäre Einheit, die im Unabhängigkeitskrieg Kroatiens in den 1990-ern Jahren in den von Serbien besetzten Gebieten tätig war und ihr Unwesen trieb.

11

„Rekli su mi puno puta, i danju i noću, nogama, batinama, šakama... rekli su mi na sve moguće načine.“ Aus dem Kroatischen von S. N.

12

„Držali su me u zatvoru dva tjedna, tukli su me, neki su me zlostavljali kao ženu, više puta. Ne znam koliko bih izdržao, ali onda im je valjda dosadilo pa su me ipak pustili.“ Aus dem Kroatischen von S. N.

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Fäusten. Ich weiß nicht wie lange ich noch ausgehalten hätte, aber dann hatten sie vermutlich genug davon und ließen mich frei.13 (SCHEUERMANN HODAK, S. 39)

Damit will die Autorin zeigen, dass die beiden Seiten im kroatischen Unabhängigkeitskrieg bzw. während der Aggression Belgrads auf Republik Kroatien Verbrechen unterschiedlicher Grade begangen haben. Ob die kroatische Seite gegen das Deutsche war oder gegen das vermeintlich Serbische beim Deutschen in dieser Situation? Die Brutalität im Krieg scheint kulturelle Indifferenz gegenüber allen fremden Kulturen zu zeigen.14 Der / die / das Andere / Andersartige ist im Krieg sehr oft Feind aller „einheimischen“ Mehrheitsgruppen und „berechtigtes“ Ziel für Anwendung der Gewalt.

4.

Schlusswort

Culture-Clash und Mischung von Kulturen und verschiedenen Ethnizitäten ist heutzutage präsenter als je zuvor. Dabei ist die Apostrophierung anderer Kulturen als primitiv oder kriegslüstern sowohl im literarischen bzw. kulturellen als auch im gesellschaftlich-historischen Diskurs auch oft zu finden. Der Grund dafür ist die Tatsache, dass die eigene kollektive Identitätskonstruktion durch Verhältnisse mit Anderen erfolgt und demzufolge ohne den Anderen nicht möglich ist. 13

„Držali su me u zatvoru dva tjedna [...] tukli su me i danju i noću, nogama, batinama, šakama. Ne znam koliko bih izdržao, ali onda im je valjda dosadilo pa su me ipak pustili.“ Aus dem Kroatischen von S. N.

14

Der Unterschied zwischen den zwei Berichten von Johann über das Benehmen von Soldaten weist auf, dass serbische Brutalität viel extensiver war und sogar Sexualgewalt zwischen Männern umfasste. Über die konkreten Gräueltaten im Unabhängigkeitskrieg Kroatiens, aber auch generell über Missbrauch von Soldaten im Krieg wurde viel geschrieben, wird aber in dieser Arbeit als Thema nicht bearbeitet. Über dieses Thema im Allgemeinen z. B. in folgenden Werken: SIVAKUMARAN, SANDESH, „Sexual Violence Against Men in Armed Conflict“. In: The European Journal of International Law, 2007, S. 253-276; TAKŠEVA, TATJANA, "Genocidal Rape, Enforced Impregnation, and the Discourse of Serbian National Identity." In: Comparative Literature and Culture, 2015, URL: http://dx.doi.org/10.7771/1481-4374.2638, letzter Zugriff am 25. August 2016; GEBHARD, MIRIAM, Als die Soldaten kamen: Die Vergewaltigung deutscher Frauen am Ende des Zweiten Weltkriegs, 2015, usw.

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Selbstverständlich mißt sich der Mensch, um sich selbst zu erkennen, an den anderen Menschen; es scheint eine der ganzen Menschheit zugehörige/eigene Eigenschaft zu sein, dass sie sich in verschiedene Völker und kulturelle Modalitäten ausdifferenziert. Der Vergleich des Eigenen mit dem Fremden bringt im Geist der Menschen und in seinem Medium, der Literatur, die Bilder sowohl der Identität als auch der Alterität hervor. (BELLER, S. 39)

Leider wird manchmal das Identifizieren von Anderen/Fremden in der Literatur durch Klischeeisierung gekennzeichnet. Die andere Nation, Rasse oder Religion ist als Stereotyp dargestellt und das Andere, d.h. die Anderen werden oft mit dem Bösen verwechselt. Sie sind nicht immer die Bösen, jedoch auch nicht immer die Guten. Doch das Erkennen und Annehmen des Anderen trägt zur Gestaltung und Formung eigener Identität bei. Das Akzeptieren von Anderen und deren Unterschiede im Gegensatz zu uns selbst sind wichtige Prozesse in der Selbstrealisierung – und/jedoch nicht das Etikettieren oder Generalisieren. Nach BELLER (S. 39) ist allgemein [...] festzustellen, dass die Ansichten, Meinungen und Urteile der einen über die anderen die Vorstellungen und Gegenbilder auf einer breiten Skala sprachlicher Formeln und literarischer Bilder prägen. Die Bilder und Klischees unserer sogenannten „kulturellen Identität“ sind in jedem Fall Einbildungen sowie Abstraktionen des gesellschaftlichen Kontexts und literarische Fiktionen, die man nicht mit den historischen Ursachen, aus denen sie abgeleitet wurden, verwechseln darf.

Beiden kroatischen Autorinnen gelang es in den zwei analysierten Werken, von Stereotypen frei zu bleiben. Bei ŠOJAT-KUČI bestand das Ziel nicht darin, das Böse oder das Gute zu identifizieren, etikettieren oder visualisieren. Sie wollte vielmehr aufzeigen, dass es in jedem Krieg sowie auch in der Nachkriegszeit, an beiden Seiten unschuldige Opfer und Märtyrer, aber auch schuldige Henker gibt. Dem Leser/Zuschauer fällt es daher schwer, sich in Unterstadt mit einer Seite zu identifizieren, da ŠOJATKUČI auf beiden Seiten, d.h. bei Deutschen und Nicht-Deutschen Schuldige für den Krieg, Terror und die Gewalt identifiziert und zwar durch Gestalten, die als Vertreter radikaler politischer Ideologien vorkommen. Solche Gestalten sind z.B. der Esseker „gaulajter“15 Eigler (vgl. ŠOJAT15

Essekerisch für „Gauleiter“.

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KUČI, S. 209), aber auch Adolf, Katarinas Onkel und Marijas Bruder, der als ein blinder Anhänger und Unterstützer von Hitlers Ideen und Ideologien auftritt. Auf der anderen Seite stehen Gestalten wie die Partisanen, die nicht nur Deutsche ins Lager verfrachtet, sondern auch ihre eigene Unterstützerin Greta vergewaltigt und ermordet haben, (nur) weil sie Deutsch war. Zum Vorschein kommt, dass jede Ideologie den kleinen Menschen zum Scheitern bringt, insbesondere diejenigen, die sich in dem Limbus zwischen zwei monströsen Weltanschauungen wie Faschismus oder Nationalsozialismus befinden. Das passierte zahlreichen Deutschen Familien, die sich während des Zweiten Weltkriegs und in der Nachkriegszeit in Kroatien aufgehalten haben, aber auch Tausenden von Osijeker Juden und anderen auf diesen Gebieten unerwünschten nationalen Minderheiten. Obwohl bei SCHEUERMANN HODAK, im Gegensatz zu ŠOJAT-KUČI, das Bild der Deutschen ganz positiv dargestellt wird, lenkt die Autorin im dramatischen Höhepunkt des Werkes den Schwerpunkt vom Schicksal der Mutter auf Johanns eigenes Schicksal, der als immer „der Andere“ die gleiche traumatische Erfahrungen wie seine Mutter erleben musste. Bei SCHEUERMANN HODAK dienen diese Beschreibungen dem Enthüllen der Wahrheit über die Verbrechen der eigenen Gesellschaft, da die Wahrheit kathartisch wirkt. Katharsis verlangt Genugtuung für die Opfer, die es, wie schon mehrmals betont, an allen Seiten gab. Diese Genugtuung erfolgt bei SCHEUERMANN HODAK durch das laute Erzählen und durch das Lesen der traumatischen Erfahrungen. Deshalb wollte Johann der Übersetzerin unbedingt seine Lebensgeschichte erzählen und das Tagebuch seiner Mutter lesen. Er wollte mit jemandem seine Traumata teilen und er musste unbedingt mehr über das Leben seiner Mutter erfahren. Die ethnische Identität der Hauptgestalten in den beiden analysierten Werken scheint am Anfang entweder unbestimmt oder unklar zu sein. Bis zum Ende jedes Werks, wird sie aber hervorgehoben und der nationale Aspekt beginnt eine wichtige Rolle zu spielen. ŠOJAT-KUČIS Katarina und SCHEUERMANN HODAKS Johann sind sich ihrer eigenen Identität anfangs gar nicht sicher. Katarina versuchte ihr ganzes Leben lang von ihrer Mutter die Familiengeheimnisse zu erfahren, aber ihre Mutter blieb hartnäckig in

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der Absicht, Katarina vor allem, was sie selbst erlebt hatte, zu schützen. Leider litt darunter das Verhältnis zwischen allen Familienmitgliedern. Johann dagegen wusste, dass seine Herkunft Deutsch war, und wollte nicht die ihm von Anderen zugeteilte Nationalität akzeptieren und änderte wieder seinen Namen. Sie sind beide auf der Suche nach der Wahrheit, nehmen die ihnen von Anderen zugeschriebene Etiketten nicht an und verlangen, dass man die Wahrheit laut ausspricht. Damit erhalten alle Opfer Genugtuung für ihre Leiden. An Beispielen der Lebenswege dieser zwei Gestalten wurde gezeigt, wie nötig es ist, mit der eigenen Identität zurechtzukommen und alle erlebten Traumata und Verbrechen aufgearbeitet zu haben. Dazu wurden in dieser Arbeit auch die Stellungnahmen der zwei Autorinnen über den Krieg, die Ideologien und Schuldfragen dargestellt, die unter dem folgenden Motto verkürzt werden können: Die Waffen sollen schweigen und die Opfer sollen reden. Durch das Bild der dargestellten literarischen Gestalten argumentieren die Autorinnen, dass Menschenrechte, Solidarität, Verständnis und ruhiges Zusammenleben nicht mehr dem Druck der Geschichte, die sehr oft von Siegern geschrieben worden ist, untergeordnet werden sollen. Die nackte Wahrheit und der offene Wiederstand gegenüber dem Schweigen über alle Kriegsverbrechen sollen als Ziel der sozialen und psychologischen Wiedergutmachung für die Opfer auf allen Seiten betont werden. Auch im Sinne der aktuellen globalen politischen Situation sind diese Bemühungen der Autorinnen lobenswert, was auch das Publikum eingesehen hat, insbesondere im Zusammenhang mit dem Roman Unterstadt und dessen Dramatisierung und Aufführung. Der Wille und die Bereitschaft, diese Texte zu dramatisieren und aktualisieren sowie die Rezeption des Publikums zeigen, dass der Bedarf der Gesellschaft, das Schweigen zu brechen, groß ist und die Gesellschaft reif und bereit ist, ihre Wunden und Traumata zu bewältigen, egal wer als Opfer und wer als Henker dargestellt ist – weil es diese auf allen Seiten gab. Die analysierten Werke beider Autorinnen, die Bilder der deutschen Nationalminderheit in Kroatien beinhalten und Geschichte zweier deutscher Familien aus dem Gebiet von Osijek in Kroatien, zeigen, wie unentbehrlich es heutzutage ist, über Kriegstraumata zu reden. Darüber

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hinaus plädieren die beiden Autorinnen durch die Thematik ihrer Werke für eine offene Vergangenheitsbewältigung und Auseinandersetzung mit Gewalt und Brutalität im Krieg, um die hinterlassenen Traumata bearbeiten und bewältigen zu können. Dabei wird klar, dass sich Begriffe wie Opfer, Schuld - Unschuld, Fremde/Andere - Eigene nicht nur auf die eigene Kultur oder ethnische Gruppe des Autors, sondern auf alle im Krieg beteiligten ethnischen Gruppen beziehen können. Kollektive Traumata der beteiligten Nationen und Ethnizitäten werden durch Darstellung von individuellen Traumata intensiviert.

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Sonja Novak The image of Osijek Germans in two contemporary Croatian (dramatized) texts: Ivana Šojat-Kuči’s novel Unterstadt and Lydia Scheuermann Hodak's short story Today Nobody Reads the Gothic Script Anymore

Summary The German Essekers are an ethnic group of German-speaking inhabitants of the town of Osijek who originate from the Viennese craftsmen and tradesmen and other immigrants of German origin who had found their homes in this part of Croatia. These Germans have lived here for more than two centuries and the paper analyzes the image of Germans and Germanity in two contemporary Croatian (dramatized) texts written after Croatia’s Independence War in the 1990s. The image and literary characters of German Esseker, their function and the possibilities and scope of their action in Ivana Šojat-Kučis Unterstadt (novel and dramatization) and Lydia Scheuermann Hodaks short story entitled Today Nobody Reads the Gothic Script Anymore (which was used as basis for a monodrama entitled Time for Oneself) have been analyzed in the paper. The analysis shows that both authors emphasize the examples of the German national minority in Croatia represented by two German minority family (hi)stories the great need to talk about war trauma in order to be able to overcome its horrors. It becomes clear that in these cases notions like victim, innocent-guilty, otherness and the other can refer to all ethnic groups participating in a war. Key words: ethnic Germans in Osijek, image studies, Germanness, Ivana Šojat, Unterstadt, Lydia Scheuermann Hodak, contemporary Croatian (dramatized) texts

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THOMAS GLAVINICS UNTERWEGS IM NAMEN DES HERRN ALS PARODISTISCHER ZUSAMMENSTOß ZWISCHEN ÖSTERREICHISCHEM ATHEISMUS UND HERZEGOWINISCH-KROATISCHER RELIGIOSITÄT IN MEĐUGORJE Ivica Petrović Universität Mostar (ipetromo@gmail.com) Zusammenfassung Der 1972 in Graz geborene und sehr produktive österreichische Schriftsteller Thomas Glavinic, dessen Romane bereits mehrfach ausgezeichnet und in mehrere Sprachen übersetzt wurden, publizierte 2011 sein Buch Unterwegs im Namen des Herrn, ohne eine klare Gattungsbezeichnung anzugeben. Mit zwei bekennenden Atheisten in der Hauptrolle wird darin von einer Bus-Pilgerfahrt in den herzegowinischen Wallfahrtsort Međugorje, von einer Pilgerschaft der besonderen Art berichtet. Der Zusammenstoß zwischen einer streng religiösen und einer atheistisch-hedonistischen Lebensart, die Balkan-Klischees sowie die Bedeutung dieses Buches für den Einzug von Međugorje in die deutschsprachige Literaturwelt sind Themen, die in diesem Beitrag näher behandelt werden. Stichwörter: Thomas Glavinic, Međugorje, Bild der Religion in Literatur, Marienerscheinungen, Wallfahrt, Kroatenbild in deutscher Literatur, (post)moderner Atheismus, Katholizismus

Die Suche nach Gott, die Suche nach dem Sinn des Glaubens, überhaupt die Zusammenhänge und Wechselwirkungen von Literatur und Religion sind Fragen, mit denen sich die Schriftsteller schon immer beschäftigten und die aus der Literatur nie entweichen werden. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse sind so umfangreich, vielfältig und unter unterschiedlichsten Gesichtspunkten dargestellt, dass eine Systematisierung praktisch unmöglich geworden ist. Die Beschäftigung mit Religions- und Glaubensfragen kann aber sehr empfindlich sein und sich zu einer für den Autor heiklen, sogar einer lebensgefährlichen Sache entwickeln. Nennen wir nur ein Beispiel aus der neueren Literaturgeschichte. Als im Jahre 1988 der Roman Die satanischen Verse von Salman Rushdie veröffentlicht wurde, sorgte er wegen seiner Andeutungen auf den Islam und den

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Propheten Mohammed, im Roman Mahound genannt,1 für große Empörung und Proteste innerhalb der islamischen Welt, was im Februar 1989 mit der Fatwa von Ayatollah Chomeini kulminierte, womit öffentlich zur Tötung des Autors aufgerufen wurde. Begrenzt man den Blick auf die deutsche Literatur, so findet man auch dort die subversiven Revisionsansätze des Alten Testaments, eine Art Satanic verses, wie es Ž. Uvanović in seiner Untersuchung von S. Heyms Roman Der König David Bericht zeigt.2 Die Kirchen- und Religionskritik bei H. Böll und G. Grass, um nur diese beiden zu nennen, sorgte ebenfalls für viel Diskussionsstoff, während G. Grass wegen seiner Romane Die Blechtrommel und Die Rättin Blasphemie und Nihilismus vorgeworfen wurden. Glavinics Unterwegs im Namen des Herrn ist ein weiteres Beispiel der literarischen Beschäftigung mit Glaubensfragen und es enthält ebenfalls Elemente, die bei einem oder anderen Gläubigen ablehnende Reaktionen und Protest hervorrufen könnte. Zur Gattungsfrage Die Gattungszuschreibung durch den Autor kann durchaus eine relevante Tatsache für die Interpretation sein. In diesem Fall verzichtete Glavinic darauf und so ließ er den potenziellen Kritikern, Interpreten und allgemein der Leserschaft verschiedene Lesemöglichkeiten offen. Wenn man sich einen Überblick über die bisherigen Rezensionen, Kommentare und Kritiken verschafft, so wird man feststellen, dass die meisten dieses Buch mit zwei Begriffen etikettieren: Roman und Reisebericht, bzw. eine Mischung von autobiographischen Elementen und Fiktion. Und tatsächlich könnte man für beide Bezeichnungen entsprechende Argumente aufbringen. Dazu trägt auch der Umstand bei, dass sich Glavinic sehr 1

Vgl. hierzu Salman Rushdie, Die satanischen Verse, anonymer Übersetzer, Artikel 19 Verlag, Hamburg, 1989., S. 106-148. Der japanische und italienische Übersetzer dieses Romans wurden getötet, während der norwegische schwer verletzt wurde. In der aktuellen Islamproblematik in der deutschen Öffentlichkeit, beispielsweise, erklärte 2015 die deutsche Kanzlerin Angela Merkel, Islam sei ein Teil der deutschen Gesellschaft und somit gehöre er zu Deutschland. Damit kam sie wieder zum Thema der multikulturellen Gesellschaft zurück, von der sie bereits im Jahr 2010 als von einem absolut gescheiterten Ansatz sprach. 2 Vgl. Željko Uvanović, „Postmodernes in Stefan Heyms Der König David Bericht“, in: Zagreber germanistische Beiträge: Jahrbuch für Literatur- und Sprachwissenschaft. 13 (2004), S. 269-288.

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geschickt entlang der Grenzlinie zwischen der Erfahrungsrealität und Fiktion bewegt. Der Autor selbst äußerte sich auch mehrmals dazu. So sagte er bei der Buchmesse in Pula im Dezember 2011: „Mein Buch ist keine Fiktion und kein Roman, sondern reine Wahrheit. Alles, was ich beschreibe, geschah auch.“3 Ein halbes Jahr später wiederholte er diese Aussagen in einem Interview für die in Rijeka erscheinende Tageszeitung Novi list und fügte hinzu: „Das ist eine wahre Geschichte darüber, was mir in jenen Tagen passierte, nichts mehr und nichts weniger.“4 Berücksichtigt man nur diese Aussagen des Autors, wird man seine Entscheidung, dieses Buch nicht als einen Roman, sondern als einen Reisebericht zu betrachten, ziemlich einfach begründen können. Man will sich aber nicht ausschließlich auf die Worte von Glavinic stützen, sondern auch einige formale Merkmale erwähnen, die diese Wahl weiter untermauern werden. So hat man es hier mit einem Ich-Erzähler zu tun, der mit dem Autor für identisch gehalten wird. Dieser erzählt von eigenen Erlebnissen und Beobachtungen und seine topographische und zeitliche Bewegung ist genau bestimmbar, wobei er auf außertextuelle Realität referiert.5 Gerade die Authentizität der Reise ist ein weiteres wichtiges Argument, das für den Reisebericht spricht.6 Dazu hat Unterwegs im Namen des Herrn einen chronologischen Ablauf und einen für Reisebericht üblichen Rahmen „Abfahrt-Reise-Anfahrt-Heimfahrt“.7

3

Denis Derk, (2011) „Thomas Glavinic: knjiga o Međugorju nije fikcija nego istina“, in: http://www.vecernji.hr/kultura/thomas-glavinic-knjiga-medugorju-nije-fikcija-negoistina-clanak-352515. Alle Übersetzungen ins Deutsche stammen vom Verfasser dieses Beitrags. 4 Davor Mandić, (2012) „Thomas Glavinic: U Međugorju sam upoznao samo tužne ljude, zainteresirane jedino za vlastiti spas“, in: http://www.novilist.hr/Kultura /Knjizevnost/Thomas-Glavinic-U-Medugorju-sam-upoznao-samo-tuzne-ljudezainteresirane-jedino-za-vlastiti-spas. 5 Vgl. Tilman Fischer, Reiseziel England. Ein Beitrag zur Poetik der Reisebeschreibung und zur Topik der Moderne (1830-1870), Berlin, 2004, S. 37. 6 Peter J. Brenner: Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur, Frankfurt/Main, Suhrkamp, 1989, S. 9. 7 Duda, Dean: Priča i putovanje, Matica hrvatska, Zagreb, 1998, S. 3.

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Eine Wallfahrt der besonderen Art Unter einer Wallfahrt kann man sich verschiedene Inhalte und Bedeutungen vorstellen. Seit der Antike über das Mittelalter bis heute war das Bereisen von heiligen Stätten und Orten ein fester Bestandteil der Reisekultur. So begann auch die christliche Wallfahrt bereits im frühen Mittelalter durch die Reisen ins Heilige Land, während sich in der folgenden Zeit christliche Wallfahrtsorte von besonderer Bedeutung wie beispielsweise Santiago de Compostela oder Lourdes8 herausstellten. Diese Wallfahrten hatten verschiedene Ziele und Zwecke wie unter anderem Heilung, Sündenabtragung, Erleuchtung, Begegnung von Gläubigen. Diese Wallfahrt hatte auch ein geistiges Ziel und darüber lesen wir gleich zu Beginn: Ich will sehen, welche Menschen Pilgerreisen unternehmen, und ich will erfahren, wie es auf einer solchen Reise zugeht. Ich will Menschen in ihrem Glauben erleben, vielleicht auch, weil ich sie irgendwo tief in mir darum beneide. Ich bin nicht gläubig, bin es nie gewesen, doch der Trost, den Menschen aus ihrem Glauben ziehen, fasziniert mich und nötigt mir manchmal die Frage auf, wieso er mir versagt bleibt. (GLAVINIC 2011: 9)

Um dieses Anliegen zu befolgen, schloss sich der Erzähler Thomas zusammen mit seinem Freund Ingo, der ebenfalls ein Atheist ist, einer Pilgergruppe an, die sich an einem Sommertag vom Wiener Westbahnhof auf den Weg nach Međugorje machte. Thomas ist sich dabei nicht sicher, ob er überhaupt ein Pilger ist: “Eigentlich bin ich ja nur jemand, der mit Pilgern unterwegs ist. Oder ist man da automatisch ein Pilger?“ (GLAVINIC 2011: 33) Dass er ausgerechnet nach Međugorje und nicht nach Lourdes reist, was er eigentlich vorhatte, begründete er mit dem Zeitund Kostenaufwand (GLAVINIC 2011: 7). Daraus kann man schließen, dass das geographische Ziel nicht im Vordergrund stand, was im weiteren Verlauf der Reise auch bestätigt wird. Für Thomas geht es nicht um das Verstehen von Marienerscheinungen oder des Phänomens Međugorje überhaupt, sondern um den Versuch des Begreifens einer ihm fremden 8

Erwähnt sei hier Das Lied von Bernadette (1941), Franz Werfels Roman, den der Autor als jüdischer Vertriebener in Lourdes konzipierte und in den USA als Dank für Lebensrettung verfasste und publizierte. Der Roman ist seit dem 1. Januar 2016 in der EU gemeinfrei.

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Geisteswelt. Wie diese Suche aussieht und zu welchen Erkenntnissen er kommen wird, lässt sich bereits nach einigen Seiten erkennen. Bevor es überhaupt losgeht, schlägt Ingo vor, aus dem Bus auszusteigen. Seine Passivität drückt er zusätzlich aus, indem er sich Kopfhörer einsteckt und die Sonnenbrille aufsetzt. Thomas, der offen auf alles zuzugehen vorhatte, am Anfang noch ein wenig Neugierde für die Pilger zeigte, die er aber „nicht ganz geheuer“ (GLAVINIC 2011: 7) fand, fühlt sich von diesen beobachtet, als Ungläubiger irgendwie ausgesondert und wird sich immer mehr von ihnen distanzieren wollen. Diese Distanz zu den Mitmenschen zu überbrücken, wird er nicht schaffen, im Gegenteil, die Entfremdung wird immer intensiver und wird sich allmählich in eine Art der Verzweiflung, sogar Aggression entfalten. So wundert es nicht, wenn sein Fazit über die Gläubigen in Međugorje ziemlich hart ausfällt: Das ist es: Mich machen diese harten Gesichter mittlerweile aggressiv. In keinem Gesicht erkenne ich das, was ich erwartet habe, nämlich mindestens Offenheit und Freundlichkeit, wenn schon keine Liebe. Hier haben alle diesen harten Blick [...]. Ich habe hier noch immer keinen einzigen Menschen gesehen, der Lebensfreude ausstrahlt oder zumindest das Gefühl vermittelt, er würde seinen Brüdern und Schwestern im Glauben mit Sympathie begegnen. Die hier, die mögen überhaupt niemanden, das sind bloß verstörte und verängstigte, im Grunde ganz rohe Seelen. (GLAVINIC 2011: 83)

Man muss hierzu bemerken, dass Thomas seinerseits auch nichts dazu beigetragen hat, um dieses Verhältnis zu ändern. Diese Teilnahmslosigkeit bzw. Desinteresse ziehen sich wie ein roter Faden durch die Wallfahrt. Er hat wenig Lust an Gesprächen mit anderen Leuten, besucht keine Messen, findet einfach keine Verbindung zu den Leuten und muss innerhalb einer singenden Menge feststellen: „Ich fühle mich einsam“ (GLAVINIC 2011: 93). Interessant ist aber auch zu sehen, wie die anderen Mitreisenden vom Erzähler dargestellt werden. Obwohl er an einer Stelle eine Art Rechtfertigung abgibt und sagt, „Ich möchte nicht verwitzeln. Schon gar nicht möchte ich, dass jemand glaubt, ich wolle ihn auslachen“ (GLAVINIC 2011: 41), werden praktisch alle einer satirisch-parodistischen Ausdrucksweise unterzogen, wobei auch er selbst davon nicht ausgeschlossen bleibt. Eigentlich erfährt man gar nichts über die einzelnen

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Namen und Personen dieser „weltfernen Klischeefrömmler“,9 es gibt keine Details, denn diese werden nur mit teilweise geringschätzigen und spöttischen Namen genannt. So besteht die Reisegruppe u.a. aus einem Kappenmann, einem rustikalen Postangestellten, einem Mann, der an Winetous Vater Intschu-Tschuna erinnert, einem Liliputaner, einer ständig Jöööh-rufenden Frau und einer Fundamentalistenmutter. Die Person, mit der sich Thomas am meisten beschäftigt, ist der Reiseleiter, für den dies die 635. Fahrt nach Međugorje ist. Er wird als ein alter, großer, hagerer Mensch mit wetterrotem Gesicht und knolliger Nase beschrieben. Dieser hat eine negative Ausstrahlung und von ihm geht etwas Lauerndes aus (Vgl. GLAVINIC 2011: 12-13). Er ist auch derjenige, der während der Reise die Toilettengänge verordnet, Würstchen verkauft, Anweisungen für das Essen und Souvenierkaufen gibt und natürlich das Beten fordert. So erlebt Thomas gleich bei der Anfahrt den ersten Schock. Der Reiseleiter sagt nämlich, dass in ganz Slowenien Rosenkranz gebeten werden muss, wobei das Wort „beten“ als „betten“ klingt. Thomas, der weder das Vaterunser noch den Sinn des Gebets und des Rosenkranzes kennt, kommentiert dies mit einem Schuss Ironie: „In GANZ Slowenien muss gebetet werden. [...] Keine schlechte Leistung, wenn man bedenkt, dass wir hier über eine Strecke von geschätzten hundertfünfzig Kilometern sprechen“ (GLAVINIC 2011: 21). Für ihn klingt es wie ein Hexenchor und als der Rosenkranz wieder in Kroatien gebetet wird, steckt er sich die Kopfhörer in die Ohren: „Ich höre I love New York von Madonna und denke an Sex“ (GLAVINIC 2011: 36). So wird sich diese vierzehnstündige Busfahrt anstatt zu einer Wallfahrt immer mehr zu einer Qualfahrt entwickeln. Hinzu kommen noch gesundheitliche Probleme, die auch dann - sind aber nicht der einzige Grund - zum vorzeitigen Abbruch dieser Pilgerfahrt führen werden. Thomas nimmt während der ganzen Zeit verschiedene Medikamente zu sich und trinkt zusammen mit Ingo Unmengen von Alkohol. Ihn plagen Kopfschmerzen, bekommt hohes Fieber und Angina und empfindet das Ganze als Gospas Rache: „ich habe bloß Fieber und Kopfweh und eine Monsterangina im Hals, die mir die Klimaanlage der Gospakriegerin geschickt hat“ (GLAVINIC 2011: 104). 9

Oliver Jungen, (2011) "Wallfahrerflucht ins Fegefeuer", in: http://www.faz.net/aktuell /feuilleton/buecher/rezensionen/belletristik/thomas-glavinic-unterwegs-im-namen-desherrn-wallfahrerflucht-ins-fegefeuer-11130619.html.

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Dieser vorzeitige Abbruch der Wallfahrt, man kann auch sagen die Flucht aus Međugorje, bedeutet aber nicht das Ende der Qualen. Ungefähr in der Hälfte des Buches werden die beiden von Thomas´ Vater Franjo nach Split gebracht, wo sie in einem ganz anderem Milieu erneut die Hölle erleben werden.

Međugorje – ein Vergleich zwischen Th. Glavinic und J. Zeh In der südlichen Herzegowina gelegen, unterschied sich dieses Dorf in keiner Wiese von anderen kleinen herzegowinischen Dörfern. Dies sollte sich aber seit Juni 1981 vollkommen ändern, als dort sechs jungen Leuten10 die Gottesmutter erschien und ihre Botschaften verkündete. Seitdem wurde dieser Ort zu einem wichtigen weltbekannten Pilgerort, den jährlich etwa eine Million Pilger besuchen. Wenn man diesen Reisebericht allgemein betrachtet, kommt man zum Schluss, dass er sehr auf den Autor selbst bezogen und von einem betonten Subjektivismus geprägt ist. So haben wir während der ganzen Busfahrt nach Međugorje praktisch keine Beschreibung der außertextlichen Gegenständlichkeit. Das Gleiche gilt auch für die Fahrt von Međugorje nach Split. Was man aber über Međugorje erfährt, reicht aus, um sich ein Bildnis davon zu machen, das wiederum subjektiver Natur ist. Dabei muss man noch einmal erwähnen, dass es dem Erzähler nicht in erster Linie um den eigentlichen Ort geht, sondern um die geistigen Ziele, um die Suche nach dem Sinn des Glaubens, überhaupt nach einer Sinnstiftung in Zeiten einer stark ausgeprägten Säkularisierung. Außerdem ist dieser Text ein bedeutender Vermittler, durch welchen Međugorje eine Bestätigung in der deutschsprachigen Literaturwelt findet. Dieser Reisebericht ist aber nicht der erste, in dem wir von einem deutschsprachigen Autor über Međugorje lesen. Im Jahre 2001 besuchte ihn im Rahmen ihrer Reise durch Bosnien und Herzegowina Juli Zeh und hinterließ einige Aufzeichnungen ihrer Beobachtungen. Geschrieben in einem ironisch-parodistischen und teilweise beleidigenden Grundton weist ihr Text viele Ähnlichkeiten mit 10

Die Seher von Međugorje sind Jakov Čolo, Ivan Dragićević, Mirjana DragičevićSoldo, Ivanka Ivanković-Elez, Vicka Ivanković-Mijatović und Marija Pavlović-Lunetti.

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Glavinics Darstellung auf. Während J. Zeh die Verkehrsschilder mit durchstrichenem Maschinengewehr und durchstrichenem Panzer am Ortseingang in die Augen fallen (ZEH 2003: 164), wird bei Glavinic Međugorje als ein Dorf mit einer gut asphaltierten Hauptstraße beschrieben, während in den Seitenstraßen Kinder in einer Staubwolke Fußball spielen, beobachtet von klapprigen Hunden mit struppigem Fell (GLAVINIC 2011: 43). Die Unterkunft im Hotel ist auch nicht die beste, es gibt keinen Fernseher, die Zimmer sind winzig. Ein Internet-Cafe findet man nur schwer, Computer ähneln an steinzeitliche Geräte, im Ort sind zahlreiche Reisebusse und „es geht zu wie auf einem Lady Gaga-Konzert in London“ (GLAVINIC 2011: 62). In beiden Texten liest man über Međugorje als einem Ort für die sog. Touristenabfertigung bzw. die Chance für die Bereicherung. So schreibt J. Zeh: „Falls die Familien der jungen Seher die Gründung von ein paar Hotelketten geplant hatten, aus einem vergessenen Ort in den bosnischen Bergen eine Miniaturmetropole machen wollten, hatten sie bestimmt nichts gegen die Visionen ihrer Kinder einzuwenden. Jedes Haus ist eine Pension, hat Soba, Zimmer, Rooms und Camere“ (ZEH 2003: 164). Beide Straßenseiten, die gleich aussehen und endlose Reihen von Souvenirläden sind, wirken auf Thomas wie eine Kulisse für einen Vampirfilm: Holli Nr. 4 - Souvenir Vis - Boutique IN - Mini Market - Gold Shop "Elez" Souvenir Giuseppe - Souvenir St. Alliance - Suvenir Shop "Matea" - Souvenirs MIR - Souvenirs Peace - Souvenirs Shop Veritas - Souvenir Primo - Souvenir Holli Nr. 1 - Restoran Lukas - Restoran Trory - Souvenir N.N. - Souvenir Royal No. 1 von irgendwas. Diese Läden befinden sich auf den von uns einsehbaren 60 Metern der ungefähr 2 Kilometer langen Hauptstraße, und es geht immer so weiter, auf beiden Straßenseiten: das ist Međugorje. (GLAVINIC 2011: 109)

In diesen Souvenirläden werden Rosenkränze wie Erbsen in Plastiksäcken verpackt und zum Kilopreis feilgeboten, heilige Hüte und gesegnete Croissants, Weihwasserplastikflaschen, Wegwerfgebetbücher und noch viele andere Gegenstände verkauft (ZEH 2003: 165). Im Verhältnis zu den Gläubigen und ihren für die beiden seltsamen Ritualen spürt man sowohl bei Zeh als auch bei Glavinic eine Art Unverständnis und Ablehnung. So vergleicht J. Zeh die Menschen, die um die Muttergottes-Statue auf Knien laufen, mit komischen, beinamputierten Vögeln, „es ist wie ein gieriges Küssen oder FKK-Volleyball am Strand“ (ZEH 2003: 165). Auf der

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anderen Seite wird mit jeder religiösen Aktivität für Thomas die Lage immer unerträglicher. In der Gemeinschaft Cenacolo werden Zeugnisse von ehemaligen Drogensüchtigen abgelegt, die er bald langweilig findet und über die Lage des Vortragenden liest man: „Anscheinend wird erwartet, dass er sich vor uns nach allen Regeln der Kunst zur Sau macht, das dürfte generell ein obligatorischer Teil des Programms vor Ort sein“ (GLAVINIC 2011: 64-65). Nicht anders ist es bei Vorträgen, die in Međugorje von missionarischen Nonnen abgehalten werden, die sogar als fanatisch und schwachsinnig empfunden werden. Als die Schwester Annalinda vom Preisen der Leiden spricht, wird es vom Erzähler auf seine charakteristische humorvoll-ironische Weise kommentiert: „Unwillkürlich frage ich mich, ob es eine gute Idee wäre, sie an den Haaren zu packen und zu ziehen, bis sie anfängt zu schreien“ (GLAVINIC 2011: 85). Außerdem versucht er seine Langeweile durch das Schreiben von SMS-Nachrichten an seine Frau zu überbrücken. All diese Ereignisse bedeuten zusätzliche Belastung und Stress, er nimmt immer mehr Alkohol und Tabletten zu sich und ist oft gemein sich selbst gegenüber. Als er z. B. im Cafe mit aufgeknöpftem Hemd sitzt, macht er sich keine Gedanken darüber: „sollen die Leute mich doch für einen Holzfäller halten, das ist mir völlig egal“ (GLAVINIC 2011: 60). Und nun ein paar Worte zu Mutter Gottes und den Erscheinungen. Dabei muss man nicht betonen, dass sowohl Thomas als auch Zeh an sie nicht glauben, wobei Zeh zusätzlich bemerkt, dass die Marienerscheinungen von der Kirche noch nicht anerkannt sind.11 In seinem Text benutzt Glavinic für die Gottesmutter das kroatische Wort Gospa und schreibt dazu: 11

Im März 2010 wurde eine vatikanische Kommission für die Untersuchung des Medugorje-Phänomens gebildet, die aus 17 Mitgliedern besteht. Marijana Belaj schreibt in ihrer Arbeit, dass sich die ungeklärte Frage der Übersinnlichkeit der Erscheinungen, die von der Kirche und eines Teils der Öffentlichkeit gestellt wird, in Augen von vielen Pilgern zu einer Frage (für sie sinnlos) von Međugorje als einer heiligen Stätte verwandelt. Dazu wird Međugorje vom vatikanischen Priester Andrea Gema als ein Ort gesehen, wo sich alles ums Geld dreht und es wird sogar vom Teufels Werk gesprochen, vgl. M. Belaj, "Antropolog na hodočašću. O problemu razumijevanja i tumačenja iskustava", in: Etnološka tribina 33, Vol. 40, 2010, S. 11. Nach seinem Besuch in Sarajevo im Juni 2015 sprach der Papst Franziskus von der ausgezeichneten Arbeit der Untersuchungskommission und baldiger Entscheidung, kritisierte jedoch die Erscheinungssucht der Gläubigen, indem er bei einer Predigt sagte: „Was sind das für Seher, die voraussagen, dass die Mutter Gottes morgen um 16 Uhr Ihre Nachricht

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Es gibt Wörter, nach denen werde ich geradezu süchtig. Nach manchen, weil sie so schön klingen, nach anderen, weil sie so unbeholfen klingen oder armselig und naiv oder drollig und obszön. Gospa ist so ein Wort, überdies such mich eine wirklich sehr schweinische Assoziation dazu heim, und da hilft es gar nichts, dass Gospa einfach nur Gottesmutter bedeutet.[...] Gospa. Gospa! Ich muss mittlerweile jedes Mal lachen, wenn ich das Wort höre. (GLAVINIC 2011: 40)

Die täglichen Erscheinungen werden ebenfalls auf eine ironische Weise kommentiert: „ich rechne es der Gospa hoch an, dass sie sich auch auf die Sommerzeit einstellt“ (GLAVINIC 2011: 40), und fragt sich, ob die Seher ihre 17.30-Uhr Visionen auch im Flugzeug haben und nach welcher Zeitzone sich die Gospa dann richtet (GLAVINIC 2011: 198). Zeh schreibt, dass man an den Erscheinungsorten nicht mehr als bei einem Micheal-Jackson-Konzert sehen wird und außerdem findet sie die Gesichter der Seher hässlich (ZEH 2003: 164, 166). In den beiden Reiseberichten wird die Gottesmutter als eine Art Rächerin dargestellt. Dass er nicht auf den Kreuzberg gestiegen ist, empfindet es Thomas als Gospas Rache und fügt sogar hinzu, dass ihn schließlich die Gottesmutter aus Međugorje verscheucht hat (GLAVINIC 2011: 198). Auch am Ende seiner Reise, als sein Flugzeug in die Turbulenzen gerät, empfindet er Angst vor Gospa: „In Medjugorje bin ich ihr entwischt, aber aus diesem Flugzeug kann ich nicht raus, hier hat sie mich in der Hand“ (GLAVINIC 2011: 199). Im Gegensatz zu Thomas bestieg J. Zeh den Kreuzberg, aber auch in diesem Fall wird von einem Eingriff Gospas in das Geschehen berichtet. Nämlich, während sie die Pilger beim Auf- und Abstieg beobachtete, riss ihr der Sandalenriemen und musste dann barfuβ den Berg absteigen: „Bewundernde, neidische Blicke folgen mir, als ich auf nackten Sohlen, die Sandalen in der Hand, die Augen starr zu Boden gerichtet, über messerscharfe Kanten und Spitzen den Steilabstieg beginne. Bergab ist am schwierigsten, das wagen wenige, und nur die Harten komm´n in´Garten.

übermitteln wird? Das ist nicht Teil der christlichen Identität“, vgl. http://www.kosmo.at/papst-kritisiert-marienerscheinung-in-medjugorje/, letzter Zugriff am 31.08.2016. Der Papst Franziskus hat am 31. Mai 2018 Mons. Henryk Moser, emeritierten Bischof von Warschau-Praga und ehemaligen Kurienerzbischof, zum permanenten Visitatore Apostolico in Međugorje mit besonderem Schwerpunkt der pastoralen Bedürfnisse ernannt. Obwohl der lokal regierende Bischof von Mostar Ratko Perić permanent öffentlich die Glaubwürdigkeit der Marienerscheinungen bezweifelt, ohne auf Ergebnisse der Vatikanischen Kommission diesbezüglich abzuwarten.

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Respekt Maria, denke ich mit zusammengebissenen Zähnen, doof bist du nicht“ (ZEH 2003: 168). Nach all den erlebten Ereignissen, zusätzlich durch gesundheitliche Probleme verschlimmert, gab es für Thomas keine andere Lösung als die Flucht aus Međugorje. Wie sollte ein Resümee lauten? Die Ziele, die er sich zu Beginn der Reise setzte, wurden nicht erreicht. Deswegen überrascht es nicht, wenn er selbst am Ende schreibt: „ich bin ein wenig traurig, weil ich nicht klüger bin als vor meiner Reise“ (GLAVINIC 2011: 196). Anderes war auch nicht zu erwarten, denn die ganze Zeit blieb er sehr oberflächlich und distanziert. Man könnte fast sagen, dass er sowohl sich als auch die Pilger durch seine humorvolle, ironische Art zum Absurden führte. Trotzdem gewann er eine Erkenntnis auf dieser Wallfahrt: „Meine erste Assoziation mit Religion ist Einsamkeit und Hilflosigkeit“ (GLAVINIC 2011: 148). Einsamkeit und Hilflosigkeit sind gerade wichtige Themen in einer Welt, in der das totale Fehlen jeglichen Lachens zu beobachten ist, was auf ihn in Međugorje besonderen Eindruck machte. Es sind aber auch Dinge, die sich leitmotivisch durch den ganzen Text ziehen und dadurch zusätzlich an Bedeutung gewinnen.

Vom Regen in die Traufe Der kurze Aufenthalt in Split, wohin Thomas und Ingo von Thomas´Vater Franjo hingebracht wurden, bildet den zweiten Teil dieser Reise. Dieser Einbruch kommt plötzlich und hinterlässt einen Eindruck der Unvollständigkeit, denn man würde schon gerne wissen, wie der Aufenthalt in Međugorje bis zum Ende ausgesehen hätte. Auf der anderen Seite wird der Aufenthalt in Split nicht weniger spannend. Wenn das in Međugorje Erlebte für die beiden wie eine Hölle aussah, haben sie erst in Split die richtige Hölle erlebt. Franjo brachte sie nämlich zu einem guten Freund namens Ivica, über welchen sie nichts wussten. Er wird als „ein unglaublich fetter kleiner Mann jenseits der sechzig“ (Glavinic 2011: 135) dargestellt, mit Narben im Gesicht und mit nackten Frauen, Autos und Fußballemblemen tätowierten Brust (Glavinic 2011: 170). Dieser Ivica ist die Verkörperung eines Nachkriegsmafioso, umgeben von merkwürdigen

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Typen und billigen Frauen. In seinem noblen und teuer eingerichteten Haus, überall mit Gospa-Bildern und Kreuzen geschmückt, wird eine Party organisiert, an der Thomas und Ingo teilnehmen müssen. Es werden Unmengen von Alkohol getrunken, Sexorgien getrieben, Thomas wird von Frauen angebaggert und immer wieder muss er in sein Zimmer flüchten. Als ein Höhepunkt dieser absurden Partynacht wird mit Pistolen umhergeballert und Thomas erschießt dabei die Ziege von einem Nachbar (Glavinic 2011: 163). Man kann sich bei der Darstellung dieser ganzen Szenerie mit Mafiatypen, Saufen, Sex und Geld nicht entscheiden, ob der Autor eine Welt darstellen wollte, in der die Orientierungslosigkeit und Identitätssuche in einer Nachkriegs- und Transitionsgesellschaft als Probleme erkannt und dargestellt werden oder ob es einfach um klischeehafte Balkanbilder geht, die nicht selten bei den westlichen Autoren zu beobachten sind, wenn sie über Balkan schreiben. Sicher ist es aber, dass die Kroatendarstellung bei Glavinic die Elemente des Stereotyps enthält, das Bobinac als „Stereotyp der langen Dauer“ auffasst.12 Und so müssen die beiden Freunde nach dieser Horrornacht gleich am nächsten Morgen erneut auf die Flucht. Zum Flughafen werden sie mit einem Taxt gefahren und Ingo konkludiert, „so wie hier sieht es wirklich nur auf dem Balkan aus“ (Glavinic 2011: 178). Am Flughafen ist Thomas an seinen Tiefpunkt angelangt: „Ich selbst widere mich am meisten an, verschwitzt, krank und planlos, wie ich bin“ (Glavinic 2011: 187). Auf den ersten Blick haben diese Ereignisse bzw. dieser Reiseabschnitt nichts mit dem Vorangehenden in Međugorje gemeinsam. Da sind aber die Broschüren und Mariabotschaften, die sich Thomas in die Taschen haufenweise gesteckt hat und die jetzt die einzige Verbindung zu Međugorje darstellen. Die Texte der Botschaften sind in den Reisebericht integriert und in diesen ruft die Gospa zum Gebet, zum Fasten, zum Frieden und zur Suche nach dem Lebenssinn auf. Gerade die Suche nach dem Lebenssinn ist das zweite wichtige Ziel von Thomas neben der Verwirklichung seiner geistigen Ziele. Denn er ist sich nicht sicher, ob die Ursache für seine aktuelle Lage das ist, was er als Midlife-Crisis 12

Vgl. dazu Marijan Bobinac, „Ins Exotische [...] und doch nicht zu weit weg. Zum Kroaten- und Kroatienbild in der deutschsprachigen Literatur bei Doderer und vor ihm“, in: Nur über die Grenzen hinaus. Deutsche Literaturwissenschaft in Kontakt mit „Fremdem“, hrsg. von Željko Uvanović, Osijek, 2010, S. 407-422.

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bezeichnet: „Was ist das eigentlich, was ich mache, womit verbringe ich mein Leben? Bin das wirklich ich? Bin ich der, der dieses Leben führen sollte? Und wenn nein, welches Leben wäre meines? Wie erfahre ich das? Wo muss ich ansetzen? Oder ist es nicht ohnehin schon zu spät?“ (Glavinic 2011: 176) Wie im Falle der geistigen Ziele, wird er auch bezüglich der Antwortensuche auf diese Fragen keinen Schritt nach vorne kommen. Er greift in dieser Partynacht immer wieder zu den Mariabotschaften, aber den Sinn versucht er gar nicht zu verstehen. Die Frage ist, ob er dafür überhaupt in der Lage ist, denn die ganze Zeit wird gesoffen und Tabletten geschluckt. Man könnte fast sagen, dass er sogar blasphemisch wird und sich auf diese Weise weiter selbst demontiert. Nämlich, eine Botschaft, in der Maria zur Beichte ruft, wird von Thomas als Unterhaltung auf der Toilette gelesen (Glavinic 2011: 144). Mit einer anderen Mariabotschaft, in der von der Bedeutung des Glaubens die Rede ist, säubert er sich die Nägel (Glavinic 2011: 148). Selbst am Flughafen wird es in einer Botschaft zum neuen Anfang gerufen, und dieser neue Anfang wird symbolisch durch die Geburt von Ingos Kind angedeutet, das in wenigen Stunden auf die Welt kommen wird. In Wien angekommen, fühlt er sich wieder einsam und kann nur feststellen: „Ich bin todmüde. [...] Ich stehe dort, wo ich vor drei Tagen um sechs Uhr morgens gestanden bin. Allein. [...] Es kommt mir vor, als sei ich sechs Wochen in Ostindien gewesen. Wo immer das ist.“ (Glavinic 2011: 206-207) Der Reisebericht schließt mit den Worten von Leon Bloy ab: „Es gibt nur ein Unglück: kein Heiliger zu sein.“ (Glavinic 2011: 207). Schlussbetrachtung Mit seinem Buch Unterwegs im Namen des Herrn knüpft Thomas Glavnic an die lange Tradition der Wallfahrtsliteratur und Beschäftigung mit Glaubensfragen an, jedoch aus der Sicht eines (post)modernen Atheisten, was diesem Werk eine besondere Stellung verleiht. Das Erzählen ist von einer äußersten Subjektivität geprägt, gekennzeichnet durch Teilnahmslosigkeit und Desinteresse des Erzählers. Der Zusammenstoß zwischen einer streng religiösen und einer atheistisch-hedonistischen Welt wurde konsequent in einem humoristisch-ironischem Ton dargestellt, vor allem beim Kommentieren von religiösen Ritualen und Marienerscheinungen. Die geplante Suche nach dem Sinn des Glaubens

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endete somit mit einer Selbstdemontage des Erzählers und einer Flucht ohne irgendwelche Fortschritte. Daher kann dieses Buch auch als eine Art Abwendung von den traditionellen Beschreibungen von Pilgerreisen gelesen werden. Es soll auch erwähnt werden, dass durch diesen Text, neben Juli Zehs Reisebericht, der Wallfahrtsort Međugorje seinen Einzug in die deutsche Literaturwelt endgültig bestätigte.

BIBLIOGRAPHIE BELAJ, Marijana: "Antropolog na hodočašću. O problemu razumijevanja i tumačenja iskustava", in: Etnološka tribina 33, Vol. 40, 2010, S. 7-44. BOBINAC, Marijan: „Ins Exotische [...] und doch nicht zu weit weg. Zum Kroatenund Kroatienbild in der deutschsprachigen Literatur bei Doderer und vor ihm“, in: Nur über die Grenzen hinaus. Deutsche Literaturwissenschaft in Kontakt mit „Fremdem“, hrsg. von Željko Uvanović, Osijek, 2010, S. 407-423. BRENNER, Peter J.: Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur, Frankfurt/Main, Suhrkamp, 1989. DERK, Denis: (2011) „Thomas Glavinic: knjiga o Međugorju nije fikcija nego istina“ in: http://www.vecernji.hr/kultura/thomas-glavinic-knjiga-medugorju-nije-fikcijanego-istina-clanak-352515. DUDA, Dean: Priča i putovanje, Matica hrvatska, Zagreb, 1998. FISCHER, Tilman: Reiseziel England. Ein Beitrag zur Poetik der Reisebeschreibung und zur Topik der Moderne (1830-1870), Berlin, 2004. GLAVINIC, Thomas: Unterwegs im Namen des Herrn, Carl Hanser Verlag, München, 2011. JUNGEN, Oliver: (2011) „Wallfahrerflucht ins Fegefeuer“, in: http://www.faz.net/aktuell /feuilleton/buecher/rezensionen/belletristik/thomasglavinic-unterwegs-im-namen-des-herrn-wallfahrerflucht-ins-fegefeuer11130619.html. MANDIĆ, Davor: (2012) „Thomas Glavinic: U Međugorju sam upoznao samo tužne ljude, zainteresirane jedino za vlastiti spas“, in: http://www.novilist.hr/Kultura /Knjizevnost/Thomas-Glavinic-U-Medugorju-sam-upoznao-samo-tuzne-ljude zainteresirane-jedino-za-vlastiti-spas. RUSHDIE, Salman, Die satanischen Verse, anonymer Übersetzer, Artikel 19 Verlag, Hamburg, 1989., S. 106-148 UVANOVIĆ, Željko: „Postmodernes in Stefan Heyms Der König David Bericht“, in: Zagreber germanistische Beiträge: Jahrbuch für Literatur- und Sprachwissenschaft. 13 (2004), S. 269-288. ZEH, Juli: Die Stille ist ein Geräusch. Eine Fahrt durch Bosnien, 6. Auflage, btb Verlag, München, 2003.

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Ivica Petrović

„On the Road in the Name of the Lord” by Thomas Glavinic as a burlesque collision between Austrian atheism and HerzegovinianCroatian religiosity in Međugorje Summary Thomas Glavinic is a very productive Austrian writer born in Graz in 1972. His novels have already been awarded many times and translated in a lot of languages, and in 2011 he published his book On the Road in the Name of the Lord. Published without genre, which is impossible to decode, and with two atheists as main roles, it reports on the pilgrimage travel by bus to the shrine in Međugorje in Herzegovina, a special kind of pilgrimage. Collision between strictly religious and atheist-hedonistic way of life, clichés about Balkan as well as the impact of this book on the entry of Međugorje into the German literary world, those are the topics discussed in this article in details. Key words: Thomas Glavinic, Međugorje, image of religion in literary works, apparitions of Mary, pilgrimage, image of Croats in German literature, (post)modernist atheism, Roman Catholicism

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THE ‘RUSSIANS’ ARE COMING TO GERMANY. IRONIC CRITICISM OF EVERYTHING IN WLADIMIR KAMINER’S RUSSENDISKO IN COMPARISON WITH OLIVER ZIEGENBALG’S HUMOROUS FILM ADAPTATION Željko Uvanović Josip Juraj Strossmayer University of Osijek (zuvanovic@ffos.hr) Summary This paper deals with the film adaptation of Wladimir Kaminer’s collection of short short stories titled Russendisko into a chronologically construed movie. The comparison between the literary source and the adaptation is based on the following elements: the image of the Soviet Union and the new capitalist Russia, the image of Russian women in Germany, the image of Russian men in Russia, the image of Berlin and Germany, the image of Germans, and the image of immigrants and immigrant workers in Germany. Kaminer behaves like as a popcultural, immigrant postmodernist in the multiculturally enriched metropolis Berlin. He includes also tabooed topics, like allegedly ‘second-class’ Jewish immigrants leaving for Germany – and the allegedly ‘first-class’ Jews migrating to the USA, so that the Jewish migration issue both in Kaminer’s narrative and in Ziegenbalg’s adaptation could be compared as well. The film stresses the existence of an (extra)ordinary historical dialectics of identity changeability: in this case the Jews becoming Russians and then returning to Jewishness – and the Russians becoming Jews for opportunistic reasons. Possibly, Kaminer’s text and Ziegenbalg’s adaptation are about relations and constellations that can be found in any other migration issues globally if we use instead of the labels “Jew”, “Russian” and “Germany” the names of any other nationalities and states. Key words: image studies, Jewish minority in the former Soviet Union, collapse of the Soviet Union, German Democratic Republic, German Reunification, immigration to Germany, multicultural society, foreign workers in Germany, assimilation, biographical film, Wladimir Kaminer, Oliver Ziegenbalg, Russendisko, film adaptation of literature, postmodernist opportunist changes of national identity, postmodernist carnival, nostalgia for the Soviet times »Was meinst du, warum dieser Film überhaupt gedreht wird?«, versuchte ich meinen Freund aufzuklären. »Wie – warum? Aus Albernheit natürlich«, meinte er. »Aus Schadenfreude«, behauptete ich, »ein überaus typisches Verhaltensmerkmal der westlichen Zivilisation.« (Wladimir Kaminer, Russendisko, p. 145)

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1. Introduction The multicultural community of Germany has had in Wladimir Kaminer one of the leading literary and pop-culture stars with Soviet-Russian and Jewish roots. He has claimed to be a German writer who is only privately a Russian. Had he followed the advice of some clerks in Berlin labor bureaus, he would have become an electrician, carpenter or shop assistant. Fortunately, his literary genius has been given a chance to develop. Moreover, his books seem to be an evidence of an unbelievable ease with which Russians and Russian Jews (the latter possibly due to the similarities between Yiddish that they have at least somewhere in the subconscious and the German language) in Germany can attain the command of the German language. The film director Ziegenbalg gave therefore no indication that his “Russians” have problems with German at all. Between Moscow and Berlin there seems to be almost no language barrier. No courses of German as a foreign language seem to be necessary! Kaminer has been producing interesting books in German, and his Russian compatriots (predominantly) are consuming them. His collection of short short stories (originally columns for taz. die tageszeitung) titled Russendisko ist his best-selling book presenting almost 50% of all sold books by Kaminer so far.1 Amazingly, in Oliver Ziegenbalg’s film adaptation all Russian (Jewish) characters speak excellent, accent-free (let us say: C2 level) German, which could also be interpreted as optimism regarding further foreign language acquisition by Kaminer and his compatriots, and possibly as the disclosure of hidden assimilation agenda of the German immigration policy. Let the Russians (and others from the former Eastern Bloc) see how flawlessly they are going to speak German some day! The Turks, the Arabs, the Slovenes, the Croats, the Czechs, the Spaniards etc. are naturally going to follow the example. Jokes apart, Ziegenbalg managed through costume (and music) design to unequivocally create the aura of an authentic Russianness (including Ukrainianness and Jewishness) on part of his actors and actresses – and the German film star Matthias Schweighöfer seems to have promoted the life’s journey of the 1

Cf. e.g. WANNER (2005), KAMINER (2010) and MEHNERT (2014).

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(im)migrant writer Kaminer in the best possible way – making this film adaptation a biographic film dedicated to the famous migrant author, which is still a unique case in the field of migrant literature2 in Germany.

2. The image of the Soviet Union and the new capitalist Russia In chapter 2 (“Geschenke aus der DDR”), the reader is given information about ridiculous television shows like International panorama which were created with the aim to disparage capitalism through showing its social contrasts and praising the socialist achievements of collectivism and solidarity on the other hand. However, some pleasurable, entertaining articles of the Western pop-culture invaded secretly the Soviet Union and gave the impression that the capitalism was not so bad after all. But the final proofs were cases of anti-capitalist television moderators of the preGorbachev era who escaped the Soviet ‘paradise’ and settled in any capitalist country. The socialist irony preached that the citizens of the Soviet Union should be ‘mature’ enough to be allowed to travel abroad. In other words, if one remains not sufficiently ‘developed’, one is forced by all legal means to stay in the realm of the socialist misery. As part of an ironic film flashback, Kaminer’s wife-to-be Olga Aparina, a ballet dancer in the show Herr Podorsky findet einen Schal und zieht ihn nicht an, reports about the Sachalin island where she was born and about miserable infrastructural, social and climatic circumstances there. Whereas we read in Kaminer’s book the following: “Es existierten nämlich nur zwei Jahreszeiten auf Sachalin, der lange Winter und dann, ab Ende Juli, wenn sich der letzte Schnee auflöste, der Herbst.” (p. 37), Ziegenbalg’s film adaptation worsens even the Sachalin climate: “Dort gab’s immer nur 2

Migrant literature is synonymous with the notion of the intercultural literature and is seen as a product of mobility and interaction between native and immigrant cultures. Since the migration processes have become global, there are theorists who claim that we deal with “New World Literature”. This paper is not going to provide a theoretical frame for this phenomenon. However, it is advisable to consult e.g. the following: LUCHTENBERG (1989), RÖSCH (1998), RÖSCH (2004), STURM-TRIGONAKIS (2007), TSUCHIYA (2008), LUGHOFER (ed., 2011) and CORNEJO / PIONTEK / SELLMER / VLASTA (eds., 2014).

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Schneestürme. Danach Frost. Und dann wieder Schneestürme.” What the film version does not mention are raccoons which oddly mutated to some kind of Sachalin crocodiles as a result of Chinese (radioactive?) sandstorms (cf. p. 38). Russia’s Sachalin resembles an ice prison everyone wants to leave. However, Moscow seems not to be much better. In chapter 32 (“Doppelleben in Berlin”), Kaminer gives a devastating assessment of life quality in Russia: Dort, wo ich herkomme, ist das Leben zum Leben ungeeignet. Wegen des starken Windes und der schlechten Verkehrsverbindungen wird jedes Vorhaben ungeheuer mühsam. Schon mit vierzehn ist man oft unglaublich müde, so richtig erholen kann man sich erst mit fünfundvierzig. Ganz oft geht man einkaufen und kommt nicht wieder, oder man schreibt einen Roman, merkt plötzlich auf Seite 2000, wie unübersichtlich das Ganze geworden ist, und fängt noch einmal von vorne an. Es ist ein zeitloses Leben, zu dessen größten Errungenschaften die Möglichkeit zählt, im eigenen Bett zu sterben. (p. 127)

In chapter 11 (“Raus aus dem Garten der Liebe”), Kaminer gives the reader an account of many attempts to flee from the Soviet Union, which the film director Ziegenbalg conceals. The Moscow hippies did not discuss about sex, drugs and rock’n’roll – but about emigration whatever the cost and whatever the means! The ultimate dream was to leave the police state approaching inevitable bankruptcy. Although in Ziegenbalg’s film interpretation we get to know Andrej (from Murmansk) who is part of the troika of friends, Kaminer mentions in his book another Andrej (a friend from Moscow) who did not believe that an efficient, final escape is possible at all: “Wir sind hier für immer versklavt, egal wie clever du deine Flucht anstellst, die Sowjets werden dich trotzdem zurückholen.” (p. 51) The Moscow Andrej character possibly alluded to the KBG agents who allegedly managed even to return their defected agents worldwide to the Soviet Union (and possibly burn them alive in prison cells with video recording as a warning for other agents). Kaminer’s father teaches his son ironically about the notion of freedom in Russia – freedom can only be a foreigner in the ex-Soviet Russia, it can be only comprehended as a transient opportunity to flee: “Doch die Freiheit ist nur ein Gast hier. Sie kann sich in Russland nicht lange halten. […] Beeil dich, denn wenn die Freiheit wieder verschwunden ist, dann kannst du lange stehen und schreien: O Augenblick, verweile doch, du bist so schön.” (p. 23) By

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contrast, the following screenshots (fig. 1-3) prove the inversion of the literary source intention and show something that could be termed a retroactive nostalgia for the Soviet times – let us call it ‘Sovietostalgia’ – and a subsequent displeasure with Gorbachev:

Fig. 1: “The Parades are not any more what they used to be.”

Fig. 2: I think this is because of Gorbachev, Glasnost, World Piece.

Fig. 3. - Well, he is not good at parades…- O shut up!

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After the Gorbachev era of freedom 1986-1990, there came a period of rising criminality, energy crisis, and then finally the rise of wild capitalism when even higher education infrastructure could be sold or rent out to the private sector – like in the case of the Krupskaja Pedagogical Institute: “Die Räume wurden an die Betreiber einer Technodisco vermietet.” (p. 115) The salaries for the ex-Soviet university and public sector intelligence were then destabilized, too. According to Kaminer, the new Russian capitalism has appreciated miners much more than intellectuals.3 Ziegenbalg’s adaptation shows one good picture of the (post)modern capitalist Russia in the sense that the screenwriter changed Kaminer’s text in chapter 33 (“Bahnhof Lichtenberg”) with regard to the fate of the Andrej character. Kaminer’s Andrej does not return to Russia, but emigrates further to the USA: “Mein alter Bekannter Andrej, Inhaber der wahrscheinlich einzigen russischen Kette von Lebensmittelläden in Berlin, Kasatschok, will sein gut gehendes Geschäft aufgeben und zusammen mit seiner Familie nach Amerika auswandern.” (p. 131) He purportedly did not like the German finance and tax law and believed that Europe hinders his ‘imperialistic’ ambitions. Kaminer describes some of Andrej’s trade tactics that enabled him his professional advancement. Contrary to the image of the inseparable troika of friends depicted in Ziegenbalg’s adaptation, we realize that Kaminer labeled the Andrej character as an old acquaintance having a wife, a son called Mark, and another son underway possibly to be called Dollar. The following screenshots (fig. 4-9) display this significant, Russian-friendly, male bonding celebrating discrepancy between the book and its adaptation:

3

For all the causes of the flight of the ex-Soviet Jews to Eastern Germany and then to the reunified Germany see the following: BELKIN (2010), BERGER (2010), BRINKMANN (2010), FRIEDGUT (2010), GITELMAN (2010), GROSS (2010), KÖRBER (2010), PANAGIOTIDIS (2010) and WISSGOTT-MONETA (2010).

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Fig. 4: I have here just nothing. Except my longing for going home.

Fig. 5: The true capitalism, the real capitalism‌

Fig. 6: I can find only in Russia.4

4

This assertion sounds as pure irony. In reality, the Promised Lands of capitalism for the immigrant Russian(s) (and) Jews are primarily Germany and the USA. About the attraction of the German capitalism cf. BERNSTEIN (2010). Besides, true capitalists with Russian Jewish roots seem to never return to Russia!

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Fig. 7: Andrey went back [to Russia]. In his honor, we organize…

Fig. 8: a “wild dancing celebrating the Soviet Plan Economy”.

Fig. 9: Sure, his sense of business continues in Russia, too.5 5

It is hard to imagine any success of the Plan Economy compared to the Market Economy and the full support for creative entrepreneurship on all levels in the West.

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3. The image of Russian women in Germany Kaminer depicts a tragicomical profile of Russian women living in Germany. The relationship with them is according to the author connected with continuous obstacles of all kinds. Russian brides are financially too demanding and extravagant, moreover, when they lose their temper, they become like wild beasts! The worst feature of Russian women would be maliciousness and even hatred of men, contemplating their death. (Cf. chapter 14 “Die russische Braut”) Paradoxically, even when it is about only a sham marriage for pragmatical reasons of regulating the stay in Germany, the potential Russian German bride (originally from Kazakhstan) insists on romance, community presentation of the bridegroom and on making herself look pretty. (Cf. chapter 12 “Fähnrichs Heirat”) In turn, the author Kaminer himself could be accused of constructing a much too negative portrayal of the Russian members of the gentle sex or of concentrating exclusively on only negative examples. Nevertheless, in chapter 23 (“Die Frau, die allen das Leben schenkt”), he describes a woman called Katja who overtaxes her husband with her esoterically caused nervous breakdowns, exotic demands and temporary fashions. She traumatizes her husband with every new life style innovation, but also gives ironically and literally birth to new life in many aspects imaginable – without asking anybody whether this would be too much for anybody else’s health and purse.6

4. The image of Russian men in Russia The case of a jealous Russian policeman who killed the wife of a Russian man living in Germany with an axe, but the crime was attributed to a German named Klaus, but nick-named by other prisoners in the remand prison as “der Blut-und-Boden-Mann” (p. 120), shows the Russian prejudice against Germans as being brutal conservative Heimatkunst and Nazi racists. The German liking for the Russian language and readiness to travel to Russia in this case turned out to be extremely dangerous. Kaminer 6

This characterization of the Russian woman is quite opposite to situation of the suppression of women in other immigrant cultures living in Germany. Cf. HAUSBACHER / KLAUS / POOLE / BRANDL / SCHMUTZHART (2009).

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as an ex-Soviet citizen points out in chapter 20 (“Die Mücken sind anderswo”) the statistical data about the Russia of 2000: “Laut Statistik haben in Russland nur 17,8 Prozent der Bevölkerung an ihrem Leben Spaß.” (p. 85) The television program, amongst other things, can be possibly blamed for this pessimistic attitude to life. One of the reasons could be an absence of the counterpart of Hans Rosenthal and of his West German show Spaß muß sein (1959-1986) in Russia? Finally, even Russian houses of pleasure do not seem to be places attractive enough to any dream man of any ideal woman: “kein normaler Prinz [würde] jemals freiwillig Russland besuchen.” (p. 171) The Russians have allegedly no joie de vivre for many various reasons. In return, the west Europeans readily portray them as wild barbarians. In the deleted scenes of Jean-Jacques Annaud’s Enemy at the Gates (2001), which were presumably deleted for artistic reasons but providentially provided additional fee for the immigrant Russians as background actors, the Russian soldiers of the WWII seem to above and beyond have been depicted as total primitives. In chapter 35 (“Wie ich einmal Schauspieler war”), Kaminer reports about the director’s assistant who offers an additional deal: Die Regieassistentin kommt und fragt, ob jemand bereit sei, seinen Hintern vor der Kamera zu entblößen, dafür gäbe es zusätzlich 250,- Mark. Die Russen genieren sich, der Bulgare auch. Nur der Deutsche ist bereit. Sein Hintern wird mit zwei Kameras gefilmt – von hinten und von der Seite. […] die Kartenspieler [haben] draußen ihren eigenen Spaß. Der Verlierer muss fünf Kerzen mit einem Furz ausblasen. So sind sie eben, die wilden russischen Sitten. Die 30 Soldaten sollen sich dabei wie verrückt amüsieren, aber alle schämen sich nur. (p. 142)

5. The image of Russian men in Germany Kaminer reports in this chapter 37 (“Political correctness”) that the actors of Russian descent were needed in the Berliner Volksbühne theater for most brutal roles, e. g. in Titus Andronicus: “Eine Unmenge von Beinen, Händen, Zungen und anderen lebenswichtigen Körperteilen werden auf der Bühne abgehackt. Die Hauptübeltäter, die Barbaren, werden von Russen gespielt. Denn offenbar ist jedem klar, dass Barbaren diejenigen sind, die von weither kommen und Deutsch mit russischem Akzent sprechen.” (p. 147)

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The Russians in German casinos are famous, according to Kaminer, for their specific systems: “Russen gewinnen beim Pokern, weil sie ein System haben. Das »russische System« eben. Unabhängig davon, welche Kombination man gerade hat, man macht ein Full-House-Gesicht und strahlt Sicherheit aus, bis die Partie vorbei ist.” (p. 79) It is the system of the best possible outward impression on the onlookers. In the Russian Disco, the Russians tend to prove that they are able to party unsurpassably well and to be so open as to combine both October revolution and Christmas, both Easter and Passover. However, they usually bring their drinks with themselves (similar to some other Slavic nations) instead of buying them in the disco, and the entrance fee is often an object of negotiation.

6. The image of Berlin and Germany In chapter 20 (“Die Mücken sind woanders“), Kaminer admits why he likes Berlin: Auf mich wirkt Berlin wie ein Kurort. In erster Linie wegen des milden Wetters. Im Sommer ist es selten heiß, im Winter nie richtig kalt. Und es gibt ganz wenige Mücken, hier im Prenzlauer Berg eigentlich gar keine. […] Die Menschen finde ich auch cool. Die meisten Bewohner der Hauptstadt sind ruhig, gelassen und nachdenklich. […] Die Berliner tun stets, was sie für richtig halten und haben am Leben Spaß.” (pp. 84-85) Ganz anders ist es hier, wo man unter Umständen mehrere Leben gleichzeitig führen kann, sein eigenes und das eines anderen. Für Menschen, denen ein solches Doppelleben gefällt, ist Berlin die ideale Stadt. (p. 127)

Kaminer means here the liberal, innovative dancing and sex night life without any contact anxiety in Berlin, where even the Russian electrician Sascha can tolerate a gay painter (only because he was brought into this situation by his new girlfriend?), spend hours of discussions with him, even endure possibly inappropriate proximity, and settle any disagreements in a reasonable ways (cf. chapter 44 “Berliner Porträts”). In this sense, he

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defines Berlin not as a city of singles, but as a city of visible and invisible relationships: Berlin ist nicht eine Stadt der Singles, sondern eine Stadt der Beziehungen. Genau genommen ist die Stadt eine einzige Beziehungskiste, die jeden Neuankömmling sofort einbezieht. Alle leben hier mit allen. Im Winter ist die Kiste unsichtbar, im Frühling taucht sie wieder auf. Wenn man sich Mühe gibt und die Beziehungen einer allein stehenden Person lange genug zurückverfolgt, wird man bald feststellen, dass die Person mindestens indirekt mit der ganzen Stadt verbandelt ist. (p. 58)

7. The image of Germans In the streets, Germans allegedly give no smile at all, which is what is claimed by the Russian telephone sex service and quoted by the author. Kaminer gives further one example illustrating that some Germans appear to be rather unsuspecting and gullible. The German liking for the Russian language could end up tragically like in the case of Kaminer’s friend Klaus. His naivety of accepting the idea to visit the wife of his Russian friend in Moscow for the purpose of language exercise brought him into prison. His hospitality towards Russians was not reciprocated at all. Further, Kaminer gave an interesting summary of German behavior in casinos, like in the Spielbank Berlin (chapter 19: “Die Systeme des Weltspiels”): Die Deutschen mischen sich systemlos überall ein. Sie pokern, hopsen an die Black-Jack-Tische, ziehen dem Automaten den Hebel runter und verfolgen die Kugel in der Rouletteschüssel. Wenn sie gewinnen, freuen sie sich nicht, wenn sie verlieren, bleiben sie gleichgültig. Im Grunde genommen sind sie nicht aufs Spiel aus. Die Deutschen gehen ins Kasino, weil sie weltoffen und neugierig sind. Dort lernen sie die Systeme anderer Nationen kennen, die sie im Grunde aber auch nicht sonderlich interessieren.” (p. 82)

And now we approach a very problematic aspect of the German character: the perpetual fascination with Hitler! In chapter 27 (“Nie wieder Weimar” – which sounds like “Nie wieder Faschismus”, “Nie wieder Krieg” or “Nie wieder Deutschland”), Kaminer reports that even during the German

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Culture Capital manifestation with Weimar as the privileged culture center, the German culture elite could combine (without any visible pangs of conscience) the Buchenwald concentration camp, Hitler’s private art collection (famous for his naïve pictures of women, eagles and provincial sceneries with Nazi aesthetics) and Anselm Kiefer’s pictures (famous for the pictures Der Morgenstrahl auf dem Tisch des Führers and Operation Seelöwe) in Weimarer Museum für moderne Kunst. How to come to terms with the Nazi past if the Nazi past can be an object of revisionism or even polishing? It seem that in this case Kaminer’s subconscious Jewish humor of survival under gallows is expressed when he does not exclude himself from the company of fellow visitors and endures Hitler’s and Kiefer’s pictures until the moment of writing his account of the event when he can make understatements and trivialize Weimar like in the following sentence: “Mein Versuch, in Weimar neue Socken zu kaufen, scheiterte. Dann war das Festival zu Ende.” (p. 109) Besides, the influence of alcohol on Kaminer’s suppressing of emotional reactions cannot be underestimated during his visit to Weimar: “Nur der warme ukrainische Wodka sorgte für ein Minimum an Toleranz.” (p. 106) Finally, Kaminer’s involvement as a DJ with the Russian Disco and the Red Star hanging from the ceiling could be interpreted against this background as his individual resistance to the Nazi past of his host country. Of course, (neo-)Nazis are also part of the Berlin social landscape with their unintelligent election slogans like “Mal zeigen, was ne Harke ist”, but Kaminer knows very well that worldwide there are many similar aggressive political groups where there are mosquitoes too – unlike in Berlin. His irony is again reconciling and charming, avoiding conflicts, not provoking controversies.7

7

On the humor and paradoxes of the life of the Russian Jews cf. DINER (2010) and KLINGENBERG (2010). In contrast to Kaminer’s irony and ludicrous understatements, the migrant literature can also be decisively shaped by emotional coldness, like in the case of certain texts by the world famous author Yoko Tawada, cf. UVANOVIĆ (2017). Could Yoko Tawada’s texts ever attract similar film adaptation projects like in the case of Wladimir Kaminer?

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Fig. 10: No Russian flags in the Russian Disco!

The archivist of everyday life Kaminer mentions further what he heard from a Russian ex-actress who became engaged in the Russian telephone sex service regarding German-Russian phone sex contacts (chapter 34 – “Stalingrad”). The unexpected German customer of the Russian erotic facility turned out to be an ex-SS unit member who even half a century after the WWII feels the drive to rape a Russian woman: Hör zu: Wir schreiben das Jahr 1943, ein Minenfeld in der Nähe von Stalingrad. Es ist saukalt, die Luft riecht nach Pulver. In der Ferne hört man die Geschütze donnern. Du heißt Klawa, du bist blond, dick und liegst im Schnee. Du hast nur Soldatenstiefel und eine Mütze an. Ich, in der Uniform eines Sturmbannführers der SS, gehe auf dich zu. Es geht looooos!” (p. 138)

8. The image of immigrants and immigrant workers in Germany Wladimir Kaminer as an ex-Soviet / Russian Jew and as a more artist-type immigrant and later on a collaborator at the SFB4 “Multikulti Radio” seems not to have suffered too considerably from the German asylum policies. As a DJ ‘clown’ and popular artist, he presumably associated with other immigrant artists: “Viele Russen, die sich in den letzten Jahren im Prenzlauer Berg niederließen, kannte ich noch aus Moskau. Die meisten waren bildende Künstler, Musiker oder Dichter: Menschen ohne Entwicklung, die so genannte Zwischenschicht – ewig zwischen Hammer und Sichel, bereits etwas zerlumpt, aber immer noch gut drauf.” (p. 175)

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Clowns normally present no danger to society. However, the musical and literary pop-culture clown Kaminer is interested in the fates of other kind of immigrants who suffer much more from capricious regulations and individual decisions of clerks – who can sometimes create situations resembling those between arrested partisans and rigid Gestapo officers during WWII (cf. p. 103): “Das Asylrecht in Deutschland ist launisch wie eine Frau, deren Vorlieben und Zurückweisungen nicht nachvollziehbar sind. In den einen Asylbewerber verliebt sich das Asylrecht auf den ersten Blick und lässt ihn nicht mehr gehen. Den anderen tritt es in den Arsch.” (p. 87) Kaminer has proved to be a socially critical comedian who readily sheds light on life conditions of less privileged immigrants and immigrant workers, who can more easily than would be statistically normal be suspected of any crimes by police or local inhabitants. He shows sympathy with those who get derided when trying to achieve some economical results even in regular small business (in chapter 26 “Russenmafiapuff”, a simple fast food booth owned by a Russian immigrant worker is ridiculed by Germans as a brothel for the Russian mafia).8 Since in the majority of cases the immigrant workers cannot run the German ethnocentric blockade, the German wall of prejudice and a conspiracy of silence (as if they all would be members of some secret monolithic fraternity) – especially in traditional and rustic German bars (cf. p. 99), the immigrants in Germany have developed a sense of mutual solidarity: “und plötzlich entsteht ein Gefühl der Zusammengehörigkeit bei vielen, die nicht zusammengehören und früher vielleicht gar nichts voneinander wissen wollten – Araber, Juden, Chinesen, Türken –, weil sie genau diese »Ausländer« sind.” (p. 73) It seems that the German “fraternity” provoked the emergence of a stronger “brotherhood” of foreigners in Germany, creating thus a bipolar society with native majority and immigrant minority cultures, kind of two sports teams possibly dreaming of fair play. But one team bears on its coat of arms the slogan: “Immigrants from all countries living now in Germany, unite yourselves!” Immigrants’ unity in diversity – forged by the common German ‘enemy’ and possibly in readiness to wage mini cold wars against him / them? 8

Cf. GORELIK (2010) for the deterioration of the image of Russians in the German society to the level of a mere ‘mafia’.

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One example of intercultural encounter under unusual ecumenical circumstances is described in chapter 39 (“Das Frauenfrühlingsfest”). The German protestant pastor acts here as host of spring festival organized by the Women’s Club of the Potsdam Jewish Community which for its part has included members of the Russian Germans (Russlanddeutsche) in the program, too. What is glaringly obvious in this case is that the pastor’s tolerance and hospitality are feigned. On the other hand, the pastor could have been disappointed by the deficiency of any religious contents in the performance. Kaminer bases his (tragi)comical situation exactly on this discrepancy. The Jewish spring celebration could have been associated in the pastor’s mind with Passover festivities. By contrast, the whole show is rather secular and carnivalesque. The Jewish women present new female international fashion with topless models, children’s ballet group displays the little swans’ dance, the choir sings Schnadahüpfel criticizes clerks of the Potsdam social bureau and immigration office, and there is belly dance and gingerbread and wine. During the whole program, the pastor remained huddled in his isolated corner: “Nur der evangelische Pfarrer blieb alleine in seiner Ecke sitzen. Auch nach dem letzten Bauchtanz, als endlich auch der Rest nach Hause ging, rührte er sich nicht. Bestimmt blieb er noch die halbe Nacht dort sitzen und dachte über all das nach, was an diesem Tag passiert war.” (p. 154) It could be argued that Kaminer’s attitude towards this German pastor is rather ironic and, at the same time, without any intention to insult. The pastor’s responses to his immigrant guests are empty gestures and masks of silence and distance.

9. Kaminer as a pop-cultural, immigrant postmodernist in the multiculturally enriched metropolis Berlin Kaminer insists on a playful, multifaceted jocularity, he projects fluid identities in motion possibly deceiving one another, he describes the façade and deciphers the core of people and phenomena, he walks through scurrile situations and adapts to absurdities. He may wonder about youths leafing through Ikea catalogues and may consider them all to be like Beavis and Butthead, but his German sounds very close to them: slovenly, amusing and full of adolescent criticism of everything, which has been manifested in

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his following works. Live and let live, enjoy the life despite of its imperfections, wage no modernist correcting interventions but invite to problem solving by clownish persiflage and DJ-like party performance. Things and people are constantly in a recycling vicious circle forcing to adapt to fluid or abrupt changes. The profession change is for immigrants very often such a challenging situation. The following case of an ex archaeologist from Russia who, in order to earn his livelihood, became tailor and applied the principle of a creative recycling, i. e. DJ-ing of available older parts of the clothes to some new fashionable garments, can be considered as an illustrative example of creativity applicable in literature as well: “Schneider, der aus Russland kam und eigentlich Archäologe war. Erst in Deutschland, wo es nicht so viel auszugraben gab, machte er eine Umschulung. Nun kaufte der Archäologe auf dem Flohmarkt billige Klamotten, trennte sie auf und nähte aus ihnen neue, pfiffige Kleider, die er in einer russischen Boutique am Kurfürstendamm verscheuerte.” (p. 116) Only after resettling in a foreign country, the immigrants have a more intense experience of a postmodern market economy and of a fluid identity based on the adaptation to the needs of customers. In chapter 24 (“Geschäftstarnungen”), Kaminer accumulates cases in which his immigrants of various nationalities pretend to be representatives of some other immigrant nationality: Bulgarians pretend to be Turks, the Greeks pretend to be Italians, the Arabs pretend to be Greeks, the American Jews own ‘Japanese’ Sushi bars, and the Vietnamese cigarette sellers – a humorous leitmotif in Ziegenbalg’s film adaptation – come predominantly from the Inner Mongolia (cf. p. 99). The author draws a conclusion about postmodernist conditions of the immigrants’ life: “Berlin ist eine geheimnisvolle Stadt. Nichts ist hier so, wie es zunächst scheint. […] Nichts ist hier echt, jeder ist er selbst und zugleich ein anderer.” (p. 98) In the metropolis, nothing is unambiguous and one-dimensionally authentic, especially for the immigrants. The postmodernist playfulness and fluidity of interpretation of one and the same single work of art (in this case a medium-sized concrete shell with a dot in the centre, from where a number of rays reaches the rim) is further demonstrated in the chapter 10 (“Alltag eines Kunstwerks”). Kaminer’s

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compatriot sculptor Sergej N. declines any interpretation attempts and recommends instead drinking Vodka. However, his piece of art travels literally and hermeneutically in the course of four year seasons from the Berlin Kochschule der Künste to the commission for the Holocaust memorial, then the transfer to the Prague commission for the remembrance of the Czech women raped by the Soviet troops in 1968 failed, then to a Hamburg erotic fair, and finally to a children’s playground in Wedding. One and the same object started its semantic metamorphoses as a mother heart expressing the grief of matter, transformed then to a symbolical expression of the pain of the human kind, could potentially express the pain of rape victims, then it was meant to imply the unfulfilled desire for vaginal contacts, and finally it was recognized in the eye of children as a giant snail. Kaminer proves again his postmodernist perspective on every phenomenon which he encounters in the immigrant world of Germany.

10. ‘Second-class’ Jewish immigrants leave for Germany – the ‘firstclass’ Jews go to the USA Complete dispersion seems to have taken place at the end of the Soviet Union: “Mein Freund Mischa und ich fuhren nach Berlin. Mischas Freundlin flog nach Rotterdam, sein Bruder nach Miami und Gorbatschow nach San Francisco.” (p. 23) The following opinion of a Soviet Jew who opted for the USA about those Jews for whom Germany is the appropriate target country sounds very brutal and very true: “für euch ist Deutschland genau das Richtige, da wimmelt es nur so von Pennern. Sie haben dort ein stabiles soziales System. Ein paar Jungs mehr warden da nicht groß auffallen.” (p. 12) But not only tramps were directed to Germany: Wladimir Kaminer defines himself and his Jewish friend Mischa as adventurous romantics: “Unser Plan war einfach: Leute kennen lernen, Verbindungen schaffen, in Berlin eine Unterkunft finden. Die ersten Berliner, die wir kennen lernten, waren Zigeuner und Vietnamesen. Wir wurden schnell Freunde.” (p. 25) But the romantic Kaminer soon decided to quit bachelor existence in dormitories and to become a bourgeois man of letters living in Prenzlauer Berg, with a wife and two children, with Café Burger and Russendisko, possibly following in his father’s footsteps who

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played the role of a foreigner in the Berlin elderly cabaret Die Knallschoten, to eventually become a professional sound technician and DJ.

11. The Jewish migration issue in Kaminer’s narrative and in Ziegenbalg’s adaptation Contrary to some expectations, Kaminer claims that the Soviets disliked the Jews in the Communist Party of the Soviet Union – simply because every Jew in the world, including the Soviet Jews, could use the opportunity to become an Israeli citizen, which was looked upon as a completely correct thing to do. However, the typical stereotype of the Jews is still there: buying things (like beer, cigarettes etc.) cheaper and selling them more expensive – and accusing other Jews of being false Jews! Moreover, Ziegenbalg stresses an extraordinary dialectics of intercultural life: the Jews becoming Russians and then returning to Jewishness – and the Russians becoming Jews for opportunistic reasons. German Democratic Republic invited the Soviet Jews due to the remorse for not having contributed to the German reparations for Israel in the period 1950-1990. After decades of ignorance, the Socialist East Germans decided to compensate for their negligence and to participate in the international help for the Jews in the disintegrating Soviet Union. To paraphrase the verse “Wem Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt er in die weite Welt”, the status of being of Jewish descent promoted and favored an international mobility, besides the opportunity to attain Israeli citizenship. Wladimir Kaminer reports about this turning point as follows: Die neuen Zeiten brachen an: Die Freikarte in die große weite Welt, die Einladung zu einem Neuanfang bestand nun darin, Jude zu sein. Die Juden, die früher an die Miliz Geld zahlten, um das Wort Jude aus ihrem Pass entfernen zu lassen, fingen an, für das Gegenteil Geld auszugeben. Alle Betriebe wünschten sich auf einmal einen jüdischen Direktor, nur er konnte auf der ganzen Welt Geschäfte machen. Viele Leute verschiedener Nationalität wollten plötzlich Jude werden und nach Amerika, Kanada oder Österreich auswandern. Ostdeutschland kam etwas später dazu und war so etwas wie ein Geheimtipp. (p. 11)

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The first chapter of Kaminer’s book was transformed in the final part of Ziegenbalg’s adaptation as a conversation between a rabbi and the character of Mischa (see fig. 11-19) whose first plan to achieve German citizenship through the marriage with a German woman failed and therefore the plan B – an attempt to prove or pretend his Jewishness – had to be started.

Fig. 11: The Russians visit me every day,

Fig. 12: claiming that they discovered that they had some great-grandfather.

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Fig. 13: This means I should issue them the Certificate of Jewish Origin.

Fig. 14: If I don’t give you this certificate, you are going to be expelled, aren’t you?

Fig. 15: You know what,

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Fig. 16: in the past, all Jews wanted to be only Russians.

Fig. 17: Nowadays, every Russian wants all of a sudden to become Jewish.

Fig. 18: I hope you haven’t already extra get circumcised for this purpose?

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Fig. 19: Yes, it’s as smooth as a sausage.

Whereas the literary character Mischa is a Jew just like Wladimir Kaminer, the film character Mischa is a Russian who converts to Judaism for the sake of staying in Germany on the basis of the Jewish privilege as compensation for the Holocaust. The scene from the screenshot above is in Kaminer’s literary model placed in the first chapter where it is described as follows: Am Ende der dritten Woche versammelte sich die Hälfte der männlichen Belegschaft unseres Heimes im Waschraum. Alle platzten vor Neugierde. Mischa präsentierte uns seinen Schwanz – er war glatt wie eine Wurst. […] Doch die meisten Anwesenden waren von seinem Schwanz enttäuscht. Sie hatten mehr erwartet und rieten Mischa, das mit dem Judentum sein zu lassen, was er später auch tat. Manche Bewohner unseres Heims dachten, das kann alles nicht gut ausgehen und fuhren wieder nach Russland zurück. (p. 16)

We see that the literary Jew Mischa developed a distance toward a deepening of his Judaism (after he had previously agreed on circumcision due to his pangs of conscience for accepting some forms of bribery from the members of the agile Berlin Jewish community), whereas the nonJewish film counterpart Mischa adapts partly opportunistically to the expectations of the rabbi and becomes even the organist of the synagogue of the Berlin Jewish community and moreover the educator of the young Jewish boys there, which is illustrated in the following screenshots (fig. 2022):

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Fig. 20: Mischa plays organ and gives classes in the synagogue.

Fig. 21: The target to live from music alone could not be realized,

Fig. 22: Instead, music gave him opportunity to stay and live in Germany.

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The film character Mischa serves also as a condensation background for another aspect of the Russian Jews’ experience with the German Jews and German rabbis who sometimes had to measure the level of Jewishness of the Jews from the Soviet Union. Kaminer reports in his book about strange cases in Cologne where the local rabbi conducted examinations about Jewish (religious) customs and definitions of matzo – forcing some “passport Jews” to circumcise themselves personally without medical help in order to avoid such stressful rabbinic investigation (cf. p. 14). Whereas in the book version it is a lady who clarifies in the first chapter that matzo is a cake made after old recipes from blood of little children, again we see Mischa in the last scenes of the film before meeting the rabbi borrowing the book text as follows (fig. 23-25):

Fig. 23: What is matzo?

Fig. 24: Cakes made after the old recipe, from the blood of children.

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Fig. 25: The rabbi is going to faint. That will never work.

The originally non-Jewish film Mischa character is forced to comply with Jewish religious formalities to save his existence in Germany. Paradoxically, the “real” Soviet Jew Wladimir Kaminer has been enjoying the privilege of the Jewish determination in his Soviet passport which saved him from procedures designed for checking the immigrants’ Jewishness. Moreover, the Jew Kaminer seems to subconsciously neglect his origins, which could be implied from his comical slip of the ear at 10 o’clock a. m.: instead of hearing that he should write a journal article about the Jewish culture (“Judenkultur”), he believes to have heard the words the youth culture (“Jugendkultur”) in chapter 22 (“Ein verlorener Tag”). But let me now return to the issue of asylum for Jews in Germany. Even being a half Jew could be sufficient for gaining asylum like in the case of the ex-professor of socialist education at the Krupskaja Pedagogical Institute: “Hier bekam er als Halbjude Asyl und durfte bleiben. Nur eins quälte ihn: dass er nichts zu tun hatte.” (p. 116) Drastically, the German local immigration authorities could on the other hand show readiness to issue exceptional asylum decisions and residence permits for reasons of medical experimentation on human guinea pigs, which is what Kaminer suggests in chapter 46 (“Das Mädchen mit der Maus im Kopf”). Of course, this account could be purely fictional.

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12. (Abbreviated) conclusion The on-screen-Kaminer Matthias Schweighöfer opens the Russian Disco with the Jewish song Odessa (“Ah Odessa, my Odessa, you are so dear to me. Wherever I go, wherever I am, I still think of you. Your streets and alleyways, where I had so much fun, I yearn for you by day and by night.”).9 And Kaminer’s disco could be termed at the same time Ukrainian, Russian, Soviet, Jewish, German, global, hybrid, carnivalesque, and – anti-Nazi. This is Super Good, after all. The film music successfully enwrapped the German players playing foreigners into foreigners / immigrants from the former Soviet Union. The film tone is humorous – unlike Kaminer’s own critical literary intentions. The film has skipped many serious issues and reduced itself primarily to happy ending entertainment – which is possibly the simplest and the best means of migrant integration into the German society nowadays. Be happy, keep smiling! Adapt to the everyday postmodernist games!10 But this adaptation seems to be a mutual challenge: both on the side of ‘aboriginal’ inhabitants11 and the ‘immigrants’. Finally, a new notion of citizenship could be useful, because home for everybody could be everywhere.12 If one becomes well-adapted and well-integrated!13

9

Cf. https://www.youtube.com/watch?v=8EQVvgW7kjo&feature=youtu.be . OLIVER LUBRICH (2003) could see in this phenomenon also traces of postcolonialism. RIGNEY (2011) speaks about “merging identities” in postmodernist discos of immigrants. 11 Cf. OTTO (2014) for the challenges on the part of the local, native people and the instability of their notion of pure national statehood. 12 Cf. NAOMI LUBRICH (2007) on this new citizenship. 13 Cf. GRAUMANN (2010) and LAGODINSKY (2010) on the Russian Jew’s integration in Germany. 10

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Primary literary source KAMINER, WLADIMIR, (2002, 8th issue), Russendisko. München: Goldmann Manhattan. First issue 2000.

Filmography Russendisko (2012). Directed by Oliver Ziegenbalg. Produced by Arthur Cohn and Cristoph Hahnheiser. [Anmerkung des Verfassers: Alle screenshots aus diesem Film dienen ausschließlich der komparatistischen Argumentation. Jegliche mögliche abweichende legale Interpretationen, z. B. dass die hier verwendeten screenshots irgendwelchen kommerziellen Zwecken oder zur Steigerung der Zitierhäufigkeit dieses Beitrags dienen (können), werden mit allen legalen Mitteln widerlegt. Der Verfasser beruft sich auf internationale Interpretationen von fair use Verwendungsweisen von screenshots aus kommerziellen Filmen in Wissenschaft und Bildung.]

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WANNER, ADRIAN, (2005) “Wladimir Kaminer: A Russian Picaro Conquers Germany.” In: The Russian Review, 2005, vol. 64, issue 4, pp. 590-604. WISSGOTT-MONETA, DALIA, (2010) “BRD – Gelobtes Land. 20 Jahre danach.” In: BELKIN / GROSS (2010) pp. 98-101.

Željko Uvanović Die ‚Russen‘ kommen nach Deutschland. Ironische Kritik an allem in Wladimir Kaminer’s Russendisko im Vergleich mit Oliver Ziegenbalgs humorvoller Filmadaption Zusammenfassung Diese Arbeit befasst sich mit der Verfilmung von Wladimir Kaminers Sammlung kurzer Kurzgeschichten unter dem Titel Russendisko zu einem chronologisch konstruierten Film. Der Vergleich zwischen der literarischen Quelle und der Verfilmung basiert auf den folgenden Elementen: dem Bild der Sowjetunion und dem neuen kapitalistischen Russland, dem Bild der russischen Frauen in Deutschland, dem Bild der russischen Männer in Russland, dem Bild von Berlin und Deutschland, das Bild der Deutschen und das Bild von Einwanderern und Einwanderern in Deutschland. Kaminer verhält sich wie ein popkultureller, immigrierter Postmodernist in der multikulturell bereicherten Metropole Berlin. Er bezieht auch tabuisierte Themen unerschrocken mit ein, wie zum Beispiel jüdische Einwanderer „zweiter Klasse“, die angeblich nach Deutschland auswander(te)n - und die „erstklassigen“ Juden, die angeblich in die USA migrier(t)en, so dass das jüdische „Emigrationsproblem“ sowohl in Kaminers Erzählung wie auch in Ziegenbalgs Adaption verglichen werden konnten. Der Film betont die Existenz einer (außer)gewöhnlichen historischen Dialektik des Identitätswechsels: die Juden wurden Russen in der Vergangenheit und kehren dann zum Judentum zurück in der Gegenwart und die ‚echten‘ Russen werden Juden aus opportunistischen Gründen. Möglicherweise handelt es sich um Beziehungen und Konstellationen, die auch in anderen Fragen der Migrantenliteratur und der Migrationen global zu finden sind, wenn wir statt der Wörter „Jude“, „Russe“ und „Deutschland“ die Namen anderer Nationalitäten und Staaten verwenden würden. Stichwörter: Imagologie, Jüdische Minderheit in der ehemaligen Sowjetunion, Zusammenbruch der Sowjetunion, Deutsche Demokratische Republik, Deutsche Wiedervereinigung, Einwanderung nach Deutschland, multikulturelle Gesellschaft, ausländische Arbeiter in Deutschland, Assimilation, biographischer Film, Wladimir Kaminer, Oliver Ziegenbalg, Russendisko, Literaturverfilmung, postmodernistische opportunistische Wandel der Nationalidentitäten, postmoderner Karneval, Sehnsucht nach sowjetischen Zeiten

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ALPHABETISCHE LISTE DER AUTOR(INN)EN DER BEITRÄGE MIT JEWEILIGEN TITELN, ZUSAMMENFASSUNGEN UND STICHWÖRTERN 1. Aleksandra Bednarowska Pädagogische Universität Krakau (abednaro@kent.edu) ZWEI DICHTERINNEN, ZWEI STÄDTE - BERLIN UND LWÓW IN GEDICHTEN VON MASCHA KALÉKO (1907-1975) UND ANDA EKER (1912-1936) Zusammenfassung Im Zentrum dieses Beitrages stehen Gedichte von zwei in Galizien geborenen jüdischen Dichterinnen der Zwischenkriegszeit: Mascha Kaléko und Anda Eker. Beide Autorinnen gehören zur langen Tradition der jüdischen Schriftsteller, für die Städte eine Inspirationsquelle und ein literarisches Sujet wurden. Mascha Kaléko, die in der Endzeit der Weimarer Republik berühmt wurde, publizierte in mehreren Zeitungen und Zeitschriften „soziologisch relevante Gebrauchslyrik“. In ihrem ersten Gedichtband Das lyrische Stenogrammheft aus dem Jahre 1933 übernimmt die Autorin die Rolle der Beobachterin, die Einwohner der Berliner Metropole im Mittelpunkt ihrer Gedichte stellt. Kaléko unterstreicht die Spannung zwischen der Glitzerwelt der Großstadt und Wirklichkeit. Trotz flüchtiger Momente des Glücks, bietet die Großstadt keine Sicherheit, keine glänzende Zukunft an, sondern bloß eine Chance zu überleben. Anda Eker, eine zu Unrecht ganz vergessene, früh gestorbene Dichterin vermittelt in ihrem ersten Gedichtband Na cienkiejstrunie ihre Liebe zu Lwów (Lemberg) und stellt die Stadt als einen Erinnerungsort dar, in dem jede Straße ihre eigene Geschichte und ein Geheimnis hat. Die märchenhafte Darstellung der Stadt wird mit Gedichten kontrastiert, in denen prekäre Wohn- und Arbeitsverhältnisse der Stadtbewohner gezeigt werden. Stichwörter: Mascha Kaléko, Anda Eker, jüdische Dichterinnen, Großstadtlyrik, Stadtlandschaft, Lwów (Lemberg), Berlin, Galizien, Zwischenkriegszeit, Armut, Einsamkeit, Nacht

2. Marijan Bobinac Universität Zagreb (mbobinac@ffzg.hr) ZWISCHEN KUNSTANSPRUCH UND PUBLIKUMSGESCHMACK: KOTZEBUE UND DER KROATISCHE VORMÄRZ Zusammenfassung Der Beitrag gibt eine Übersicht über die Wirkung von Kotzebues Unterhaltungstheaterproduktion im deutschsprachigen Raum wie auch bei den slawischen Nationen mit einem Fokus auf die pragmatische Rezeption Kotzebues zur Aufstockung des kroatischsprachigen Repertoires im Entstehungsprozess des kroatischen Nationaltheaters: erstens in der zweisprachigen deutschen und kroatischen Phase 1840 bis 1860 und zweitens in der ausschließlich kroatischen Phase 1860 bis 1877. Kotzebue, lange einer der populärsten Dramatiker im kroatischen Theater, wurde seit 1877 nicht mehr im kroatischen Nationaltheater aufgeführt. Diese Arbeit schließt eine Lücke in der kroatischen Theaterforschung, die lange eine

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elitistische Ästhetik bevorzugte und den durchaus wichtigen Anteil der trivial-unterhaltenden Publikumsdramaturgie in der Theatergeschichte bei Seite ließ. Stichwörter: August von Kotzebue, Wiener Burgtheater, Zagreber deutschsprachiges Theater, Illyrische Bewegung in Kroatien im 19. Jahrhundert, Kroatisches Nationaltheater, Germanisierung, Theaterkritik, deutsch-kroatische Theaterkontakte, Kotzebues Rezeption in Kroatien und in anderen slawischen Ländern, Adaption im kroatischen Kontext, Theaterrepertoire, pragmatische Theaterpolitik, Dimitrija Demeter.

3. Daniela Čančar (danielacancar@gmail.com) INTERKULTURALITÄT IM WERK VON STEN NADOLNY, SAŠA STANIŠIĆ UND FATIH AKIN Zusammenfassung Das Aufeinandertreffen der Kulturen thematisieren die Romane von Sten Nadolny und Saša Stanišić und der Film von Fatih Akin. Der Roman Selim oder Die Gabe der Rede von Sten Nadolny schildert die Geschichte des redegewandten Türken Selim, der sich durch Sprach- und Kulturbarrieren seinen Weg in einer neuen Umgebung bahnt und auf diesem Weg zufällig dem deutschen Rhetorikstudenten Alexander begegnet. Fatih Akins Spielfilm Auf der anderen Seite erzählt ebenfalls die Geschichte von unterschiedlichen Begegnungen zwischen Deutschen und Türken. Die Figuren haben auf ihrem Weg zahlreiche Hürden zu beseitigen. Sie kämpfen mit Unwissenheit, Vorurteilen, Zwängen der Gesellschaft und der Familie, mit Ehre und Korruption und legen sich mit Typen aus dem Untergrund an. Im Roman Wie der Soldat das Grammofon repariert von Saša Stanišić finden sich Motive sowohl aus Nadolnys Roman als auch aus Akins Film wieder. Der junge Aleksandar flieht mit seiner Familie in den Westen, wo er sich mit seinen Erinnerungen an das Leben in der Stadt an der Drina, dem er durch den Ausbruch des Bosnien-Krieges gewaltsam entrissen wurde, und seinem größten Talent, dem Erfinden von Geschichten, eine neue Heimat ersinnt. Das Erzählen von Geschichten, als Überlebensstrategie in der Fremde Deutschlands, haben der Bosnier Aleksandar und der Türke Selim aus Nadolnys Roman gemeinsam. Zehn Jahre nach der Flucht reist Aleksandar als Erwachsener in seine Heimat. Ähnlich wie der türkischstämmige Germanistikprofessor Nejat aus Akins Auf der anderen Seite macht er sich auf die Suche nach zurückgelassenen Spuren. Die vorliegende Arbeit geht den unterschiedlichen Erfahrungen der Protagonisten mit der fremden und der eigenen Kultur auf die Spur. Schlüsselwörter: Interkulturalität, interkulturelle Weltkino, Sten Nadolny, Saša Stanišić, Fatih Akin

Literaturwissenschaft,

Migrationsfilme,

4. Jan Čapek Universität Pardubice (jan.capek@upce.cz) CAMILL HOFFMANN, EIN JUDE ZWISCHEN TSCHECHEN UND DEUTSCHEN, UND SEIN NACHLASS IM LITERATURARCHIV MARBACH AM NECKAR Zusammenfassung Der Lyriker und Diplomat Camill Hoffmann, geboren 1878 im böhmischen Kolín, aufgewachsen in den zwei Sprachen seines Landes, wurde zu Anfang des 20. Jahrhunderts mit

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zwei Bänden volksliedartiger Gedichte bekannt: Adagio stiller Abende (1902) und Die Vase (1910). Er war Journalist der Zeitung Die Zeit in Wien, Feuilletonredakteur an den Dresdner Neuen Nachrichten und Gründer der Prager Presse. Nach Masaryks Wunsch hatte Hoffmann 1920 den Posten des Presseattachés an der Tschechoslowakischen Botschaft in Berlin übernommen, wo er bis 1938 blieb und als Vermittler der tschechischen Kultur sowie Brückenbauer zwischen der tschechischen und deutschen Welt wirkte, genauso wie viele seiner österreichisch-tschechoslowakischer Landsleute jüdischer Herkunft, deren kurze Geschichte in den Ländern der böhmischen Krone ebenfalls dargestellt wird. Er übersetzte belletristische Werke sowie Sachliteratur ins Deutsche, schrieb weiter Gedichte, veröffentlichte sie jedoch nicht mehr. 1942 mussten sich Hoffmann und seine Frau dem Transport nach Theresienstadt anschließen und am 28.10.1944, am Jahrestag der Gründung der Tschechoslowakei, wurde der tschechische Jude deutscher Sprache mit dem letzten Zug aus Theresienstadt nach Auschwitz abtransportiert und sofort vergast. 1999 bekam das Literaturarchiv Marbach am Neckar von seiner Tochter Edith Yapou aus Jerusalem einen kleinen Teil seines Nachlasses, 2002 kam dazu dank dem ehemaligen Attaché der Amerikanischen Botschaft in Prag, Herrn Ralph S. Saul, vom Depositum der Handschriftenabteilung der Chicago University Library als Stiftung ein größerer Teil des Nachlasses mit zahlreichen wertvollen Manuskripten. Stichwörter: Camill Hoffmann, tschechisch-deutscher Kulturkontakt, Geschichte der Juden in Europa, Judenverfolgung, Theresienstadt, Auschwitz, Literaturarchiv Marbach am Neckar, T. G. Masaryk, Eduard Beneš, Juden als Vermittler zwischen nationalen Kulturen, Holocaust. 5. Iva Drozdek (iva.drozdek@gmail.com) SLAWONIEN PRÄGT DEN CHARAKTER. SLAWONISCHE LEUTE UND LAND IN RODA RODAS WERKEN Zusammenfassung Roda Roda bzw. Alexander Friedrich Rosenfeld in der Nähe von Drnowitz 1872 geboren, verbrachte seine Jugend in Osijek. Trotz der Auswanderung nach Wien und Berlin, empfand er immer Slawonien als seine Heimat. In dem Band Geschichten aus Slavonien von Vlado Obad 1998 zusammengestellt und veröffentlicht, bietet Roda Roda den Einblick in eine Vielfalt an Ständen, ethnischen Gemeinschaften, Stadt- und Dorfmenschen und natürlich den Guten und den weniger Guten. Roda Roda leugnete niemals seine slawonische Herkunft, ganz im Gegenteil, seine Zuneigung und Faszination zu diesem Fleckchen Erde wird in seinen Texten sichtbar. In der Auswahl an 42 Kurzgeschichten, die zur Gemeinsamkeit die Verbundenheit zu Slawonien haben, werden die zwischenmenschlichen Beziehungen verschiedener Nationen auf diesem Gebiet aufgezeigt, sowie ihr Einfluss auf das Land und der Einfluss des Landes auf die Menschen. Die damals ansässigen Nationalitäten sind bis heute ähnlich geblieben, eine Mischung aus Deutschen, Österreichern, Ungarn, Serben, Kroaten und Bosniern ist immer noch vorhanden, die Verhältnisse dagegen, sicherlich in ein verheerendes Gegeneinander übergegangen. Die Texte von Roda Roda lassen den Leser dieses Anders-sein feiern und bieten das Land, die gemeinsame Heimat, als den Boden der alle verbindet und gleich erfreut oder bestraft. Was alle Figuren in diesen Erzählungen ausmacht ist ihre Liebe und Verbundenheit zum slawonischen Land. Das fruchtbare Land bietet Sicherheit und Möglichkeiten und in einigen Erzählungen sogar die Liebe des Lebens. Stichwörter: Roda Roda, Alexander Rosenfeld, Slawonien, kroatische Länder, Geschichten, Akzeptanz, Anders-sein.

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6. Dina Džindo Jašarević (djine133@yahoo.de) IM DIENSTE DER ERINNERUNG – BERNHARD SCHLINKS DER VORLESER UND NICOL LJUBIĆS MEERESSTILLE IM VERGLEICH Zusammenfassung Bernhard Schlinks Der Vorleser und Nicol Ljubićs Meeresstille sind Romane, die gegen das Vergessen und Verdrängen kämpfen. Es sind Romane, die zurückschauen und die Erinnerung an eine schreckliche Zeit in die Erzählung aufgenommen haben. Beide berichten sie von Krieg, der eine vom Zweiten Weltkrieg, der andere vom Bosnien-Krieg (1992-1995); und sie berichten von zwei Geschichten, in denen es um Schuld und Sühne, Recht und Gerechtigkeit geht. In der Arbeit wird der Versuch unternommen, die Romane miteinander zu vergleichen im Bezug auf die geschichtliche Problematik, wie Verbrechen zu erinnern seien. Die Analyse folgt den von Reinhart Koselleck formulierten Fragen: Wer ist zu erinnern? Was ist zu erinnern? und Wie ist zu erinnern?, die allerdings noch durch eine zusätzliche (von Aleida Assmann) ergänzt werden: Wer erinnert sich? So wurde ein Blick auf Täter und Opfer auf beiden Seiten geworfen. Nur durch die Erinnerung an Täter und Opfer kann das Schweigen durchbrochen werden und der Weg für die Wahrheit geebnet werden. Stichwörter: Bernhard Schlink, Nicol Ljubić, Erinnerung, Täter, Opfer, Schuld, Unschuld, Gerechtigkeit, Schweigen 7. Tihomir Engler Josip-Juraj-Strossmayer-Universität Osijek (tengler@ffos.hr) DER METAPHYSISCHE HORIZONT DES GESCHICHTLICHEN IN MANNS JOSEPHTETRALOGIE UND IN KRLEŽAS BALLADEN DES PETRICA KEREMPUH IM SPIEGEL DER NIETSCHE-REZEPTION Zusammenfassung Im Beitrag wird das in die romaneske Joseph-Tetralogie eingeflochtene Geschichtsverständnis von Thomas Mann mit demjenigen verglichen, auf dem Die Balladen des Petrica Kerempuh von Miroslav Krleža beruhen. Einleitendend wird die Entstehungsgeschichte sowie die in beiden Werken enthaltene Reaktion der Autoren auf den historischen Kontext, aus dem heraus ihre Werke entstehen, erörtert, um daraufhin das in den angeführten Werken enthaltene Geschichtsverständnis der Autoren zu untersuchen. Dabei wird festgestellt, dass dieses aus ihrer metaphysisch ausgerichteten Vorstellung vom zyklischen Ereignen des Geschichtlichen entspringt, weshalb in beiden Werken ein poetisches „Metaphysion“ aufgebaut wird, dessen Wurzeln in Nietzsches nihilistischem Gedankengut liegen, das sowohl Mann als auch Krleža in ihren Werke zu überwinden versuchen. Der Überwindungsversuch gestaltet sich bei Mann in Form eines künstlerischen Humanitas-Mythos, deren Kerngedanke die Vermittlung zwischen dem Tellurischen und dem Geistigen ist, während sich bei Krleža ein solcher Versuch immer wieder an der Verwurzelung des Menschen in seiner „diluvialen“ Herkunft stößt, die ihm jedwede Form der Vergeistigung der menschlichen Existenz als suspekt erscheinen lässt. Schlüsselwörter: Thomas Mann, Miroslav Krleža, Geschichtsverständnis, Joseph-Tetralogie, Balladen des Petrica Kerempuh, Nietzsche-Rezeption

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8. Marijana Erstić Universität Siegen (erstic@germanistik.uni-siegen.de) UNTER DEM STERN VON NIEDERGANG UND KATASTROPHE: DIE GLEMBAYS ALS DIE KROATISCHEN BUDDENBROOKS Zusammenfassung: Der nachfolgende Aufsatz beschäftigt sich mit dem Drama Gospoda Glembajevi/Die Glembays (1928) des kroatischen Schriftstellers Miroslav Krleža. Die zentrale Fragestellung ist der Darstellung des Künstlertums in diesem Drama gewidmet. Diese Problematik wird mit dem Roman Buddenbrooks (1901) von Thomas Mann verglichen. Zum Schluss des Artikels werden zwei neuere Inszenierungen thematisiert (SNG Ljubljana, 2012, Reg.: Ivica Buljan sowie Residenztheater München, 2013, Reg.: Martin Kušej). Stichwörter: Miroslav Krleža, Thomas Mann, Vergleichende Literaturwissenschaft, Die Glembays, Buddenbrooks 9. Renate Hansen-Kokoruš Karl-Franzens-Universität Graz (renate.hansen-kokorus@uni-graz.at) KRIEGSALLTAG IN LITERARISCHER DARSTELLUNG BEI ZORAN FERIĆ UND BORIS DEŽULOVIĆ Zusammenfassung Der Krieg im ehemaligen Jugoslawien stellt auch heute noch eines der wichtigsten Themen in der bosnischen, kroatischen und serbischen Literatur dar, wobei unterschiedliche Zielsetzungen und Poetiken auszumachen sind. Der Beitrag untersucht –unter den Aspekten der Komposition, Figuren- und Raumkonzeption sowie der Motive auf ihre Darstellung des Krieges–zwei ähnlich strukturierte Texte aus der neuen kroatischen Literatur, von Zoran Ferić und Boris Dežulović, die jede Kriegspathetik durch ihre Ausrichtung auf den Kriegsalltag der Soldaten unterlaufen. Die dabei zugrunde liegenden individuellen und kollektiven Identitätszuschreibungen überlagern sich in komplexer Weise. Der Versuch, die kollektiven kriegerischen Konfrontationen zu durchbrechen, scheitert, da sich die gegenseitigen stereotypen Wahrnehmungen als hartnäckiger erweisen. Stichwörter: Kriegsdarstellung, Literaturwissenschaft, zeitgenössische kroatische Literatur, Komposition, Figurenanalyse, Raum, Identität, Zoran Ferić, Boris Dežulović

10. Sven Hanuschek Ludwig-Maximilians-Universität München (sven.hanuschek@germanistik.uni-muenchen.de) EINEM RUSSISCHEN SUBALTERNOFFIZIER MAGISCH VERFALLEN: ZUR FRAGE DER ALTERITÄT IN LEO PERUTZ’ ROMAN WOHIN ROLLST DU, ÄPFELCHEN... (1928)

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Zusammenfassung Der Aufsatz untersucht die Frage der Slawenklischees in Perutz’ Roman als Frage nach der Darstellung von Alterität im Kontext der Heimkehr der deutschen Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg. Perutz’ Protagonist wird als paranoid gezeigt, als Täter, der offenbar weit mehr Schuld auf sich lädt als der russische Offizier, den er als ‚Heimkehrer‘ durch halb Europa und Russland verfolgt. Die wenigen expliziten Slawenklischees, die der Roman aufzuweisen hat, werden humoristisch ausgestellt. Es handelt sich vielmehr um ein Fremdenbild als Projektionsfläche für eigene negative Eigenschaften. Stichwörter: Leo Perutz, Ullsteinroman, Antislawismus, Russophobie, bochisme, Paranoia, imaginierte Fremdenbilder, Projektionsmechanismus, Spiegelfiguren, Kitsch, Genrehybridität 11. Stephanie Jug Josip-Juraj-Strossmayer-Universität Osijek (sjug@ffos.hr) DIE WIEDERAUFNAHME VON PETER WEISS' DRAMATISIERUNG DER REVOLUTION IN IVANA SAJKOS EUROPA Zusammenfassung Der deutsch-schwedische Schriftsteller Peter Weiss und die kroatische Schriftstellerin Ivana Sajko entspringen beide dem europäischen Kulturkreis. Der Beitrag rekapituliert die wichtigsten Interpretationsansätze in Bezug auf das Revolutionsthema für Marat/Sade und erprobt diese an demselben Drama. Die gewonnenen Erkenntnisse dienen als Grundlage für den Vergleich zwischen den Dramatisierungen des Revolutionsthemas in Marat/Sade (1964) und in Sajkos Monolog Europa (2004). Als das Schlüsselmoment in Marat/Sade stellt sich der Akt des Zweifelns heraus. Das vollkommene Fehlen dieses Momentes, unterstützt durch andere dramaturgische Mittel, führt zu einem ähnlichen Resultat in Europa: der Absage an dem Einseitigen der Ideologie und dem Appell an die Gesellschaft, eine mentale Revolution auszuüben. Beide Dramen äußern eine Kritik an allgemeinen Verhältnissen und an der Passivität des Volkes. Die dramatischen Konflikte entstehen um die moralische und ethische Grenzsetzung. Stichwörter: Drama, Revolution, Ivana Sajko, Theater, Peter Weiss, Europa 12. Marica Liović J.-J.-Strossmayer-Universität Osijek (mgrgic@ffos.hr) DIE REZEPTION DER THEATERPRODUKTIONEN DER DRAMEN GERHART HAUPTMANNS AUF DER BÜHNE DES OSIJEKER KROATISCHEN NATIONALTHEATERS IN OSIJEKS PRESSE IN DER ERSTEN HÄLFTE DES 20. JAHRHUNDERTS Zusammenfassung Obwohl es mehr als siebzig Jahre her ist, seit der große deutsche Schriftsteller Gerhart Hauptmann (1862-1946) starb, der es vorzog, im Dritten Reich zu bleiben, statt zu emigrieren, hat es sich herausgestellt, dass sein Opus wie auch viele biographische Fakten aus dem Zweiten Weltkrieg (in den jüngsten Publikationen seiner Tagebücher öffentlich verfügbar) imstande sind, immer noch Ambivalenz, Kontroversen und Abneigung hervorrufen zu können. Wir können es als eine verheerende Tatsache betrachten, dass nach dem Zweiten Weltkrieg kein

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einziges kroatisches Theaterhaus es gewagt hat, irgendwelches Drama des Nobelpreisträgers zu inszenieren – und sogar zu dem Schluss kommen, dass das kroatische Publikum (für ein paar Generationen!) keine Möglichkeit hatte, die Inszenierungen der Werke eines der produktivsten und einflussreichsten deutschen Dramatiker zu genießen. Ein verantwortlicher Theaterregisseur kann jedoch den Kontext von Hauptmanns nunmehr vollständig offengelegtem Antisemitismus, Antislawismus und Antiamerikanismus nicht ignorieren, die ausdrücklich in seinen Tagebüchern zum Ausdruck kommen, wie in Željko Uvanovićs Buch Gerhart Hauptmanns Egoismus (2013) bewiesen wurde. Entgegen der heutigen Situation hat Osijeks Theaterpublikum in den Jahren 1910 bis 1942 sechs von Hauptmanns Werken gesehen. Die Aufgabe dieser Arbeit ist es, durch das Lesen von Osijeks Presse in der erwähnten Zeit herauszufinden, was die Erwartungen von Osijeks Theaterpublikum waren, wie die Presse über die Aktivitäten von Osijeks Theater berichtete und welche Reaktionen das Publikum auf das Repertoire des kroatischen Nationaltheaters in Osijek hatte, insbesondere in Bezug auf Gerhart Hauptmanns ausgewählte Dramen. Stichwörter: Gerhart Hauptmann, Drama, das Kroatische Nationaltheater Osijek, Osijeker Presse, Theaterkritik, Zeitabschnitt 1910-1942, deutsch-kroatische Kulturkontakte, Einfluss des festgestellten Antisemitismus, Antislawismus und Antiamerikanismus auf die Rezeption heutzutage, Željko Uvanović 13. Miodrag Loma Universität Belgrad (mloma@fil.bg.ac.rs) JOSIP BABIĆS WIEDERENTDECKUNG DES ZURÜCKGEDRÄNGTEN VERGESSENEN HERDERISCHEN IDEENERBES. EINE WÜRDIGUNG

UND

Zusammenfassung In der Besprechung wird das dem Herderschen Ideenerbe gewidmete Buch von Josip Babić vorgestellt, indem erstens die Gedanken über die Herstellung der sprachlichen, literarischen und denkerischen Identität sowie jene über die geschichtliche Erfahrung der Menschlichkeit ausgesondert werden, um auf ihre Bedeutung für die Bildung des modernen literarischen und humanistischen Bewusstseins aufmerksam zu machen. Schlüsselwörter: sprachlich, dichterisch, denken, Identität, Bewusstsein, individuell, national, Volk, Menschlichkeit, geschichtlich. 14. Mira Miladinović Zalaznik Universität Ljubljana (mmz@ff.uni-lj.si) »ICH […] ERSUCHE, DASS SIE, HERR PROFESSOR MICH NUN MÖGLICHST BALD MIT EINIGEN BEITRÄGEN ERFREUEN WOLLEN«. LEOPOLD KORDESCH IN BRIEFEN AN RUDOLF GUSTAV PUFF Zusammenfassung Der Autor, Redakteur und Publizist Leopold Kordesch und der Gymnasiallehrer, Autor und Theaterleiter Rudolf Gustav Puff waren Regionalliteraten aus der Habsburger Monarchie. Sie lebten und wirkten in ihrem südlichsten Teil, der mehrsprachig und multikulturell geprägt war. Während sich Kordesch als Redakteur in Ljubljana und Graz betätigte und in dieser Eigenschaft sogar nach Mexiko wollte, um dort eine deutsche Zeitung herauszugeben, war Puff als Lehrer,

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Sammler von Volkssagen, Erkunder von fremden Landstrichen, vor allem Bädern, Verfasser von Reisetexten und als Autor literarischer Schriften tätig. Die Briefe Kordeschs an Puff zeugen von einer langen Arbeitsgemeinschaft und Freundschaft der beiden Männer, die sich über nationale Grenzen hinweg (Kordesch war slowenischer, Puff deutscher Herkunft) verbunden, unterstützt, geschätzt und freundschaftlichen Umgang mit einander gepflegt haben. Mit Hilfe dieser Briefe lässt sich die Arbeit eines Zeitschriften-Redakteurs, bis zu einem gewissen Grad, rekonstruieren. Als aktive Mitglieder Historischer Vereine waren Kordesch und Puff bemüht, Slowenisch- und Deutsch-Vaterländisches zu sammeln und zu fördern, um es an spätere Generationen weiter zu geben. Stichwörter: Carniolia, Laibacher Zeitung, Illyrisches Blatt, Agramer Zeitung, Der Magnet, Triglav, Historischer Verein für Krain, slowenisches Theater, slowenische Universität, Vaterländisches 15. Sonja Novak Josip-Juraj-Strossmayer-Universität Osijek (snovak@ffos.hr) DAS BILD DER DEUTSCHEN ESSEKER IN IVANA ŠOJAT-KUČIS UNTERSTADT UND IN LYDIA SCHEUERMANN HODAKS HEUTE LIEST NIEMAND MEHR DIE GOTISCHE SCHRIFT Zusammenfassung Die deutschen Esseker sind eine ethnische Gruppe von deutschsprachigen Einwohnern der Stadt Osijek, die von den Wiener Handwerkern und nach Osijek umgesiedelten schwäbischen Zuwanderern stammen. Am Beispiel von zwei zeitgenössischen kroatischen (dramatisierten) Texten, Ivana Šojat-Kučis Unterstadt (Roman und dramatisierter Text) und Lydia Scheuermann Hodaks Novelle Heute liest niemand mehr die gotische Schrift (die als Basis für ein Monodrama mit dem Titel Zeit für sich diente), werden Bilder der Deutschen und des Deutschtums bzw. literarische Gestalten von deutschen Essekern, sowie ihre Funktionen, Wirkungsräume und Möglichkeiten in den nach dem Unabhängigkeitskrieg Kroatiens entstandenen Texten untersucht. Die Analyse bestätigt, dass die beiden Autorinnen am Beispiel des Bildes der deutschen Nationalminderheit in Kroatien, dargestellt in der Geschichte zweier Familien, zeigen, wie unentbehrlich es heutzutage ist, über Kriegstraumata zu reden, um sie bearbeiten und bewältigen zu können. Dabei wird klar, dass sich die Begriffe Opfer, Schuld Unschuld, Fremde/Andere - Eigene auf alle im Krieg beteiligten ethnischen Gruppen beziehen. Stichwörter: Esseker Deutschen, Imagologie, Deutschtum, Ivana Šojat-Kuči, Unterstadt, Lydia Scheuermann Hodak, zeitgenössische kroatische Texte 16. Ivica Petrović Universität Mostar (ipetromo@gmail.com) THOMAS GLAVINICS UNTERWEGS IM NAMEN DES HERRN ALS PARODISTISCHER ZUSAMMENSTOSS ZWISCHEN ÖSTERREICHISCHEM ATHEISMUS UND HERZEGOWINISCH-KROATISCHER RELIGIOSITÄT IN MEĐUGORJE Zusammenfassung Der 1972 in Graz geborene und sehr produktive österreichische Schriftsteller Thomas Glavinic, dessen Romane bereits mehrfach ausgezeichnet und in mehrere Sprachen übersetzt wurden,

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publizierte 2011 sein Buch Unterwegs im Namen des Herrn, ohne eine klare Gattungsbezeichnung anzugeben. Mit zwei bekennenden Atheisten in der Hauptrolle wird darin von einer Bus-Pilgerfahrt in den herzegowinischen Wallfahrtsort Međugorje, von einer Pilgerschaft der besonderen Art berichtet. Der Zusammenstoß zwischen einer streng religiösen und einer atheistisch-hedonistischen Lebensart, die Balkan-Klischees sowie die Bedeutung dieses Buches für den Einzug von Međugorje in die deutschsprachige Literaturwelt sind Themen, die in diesem Beitrag näher behandelt werden. Stichwörter: Thomas Glavinic, Međugorje, Bild der Religion in Literatur, Marienerscheinungen, Wallfahrt, Kroatenbild in deutscher Literatur, (post)moderner Atheismus, Katholizismus 17. Irena Samide Universität Ljubljana (irena.samide@ff.uni-lj.si) FRANZ GRILLPARZER IM SLOWENISCHEN HABSBURGERZEIT: VORSPIEL IN DER SCHULE

ETHNISCHEN

GEBIET

DER

Zusammenfassung Die uneingeschränkte Anerkennung Franz Grillparzers (1791–1872), dem heute der Rang des Nationaldichters sowie des österreichischen Klassikers gebührt, vollzog sich in der Habsburgermonarchie erst nach 1890, als der Autor mit seinen Werken Eingang in den gymnasialen Lektürekanon fand – obwohl seine Stücke schon seit den 1820er Jahren auf den Bühnen in der Monarchie mit Begeisterung aufgenommen wurden. Der Beitrag untersucht die Präsenz der Dramen Grillparzers in den Gymnasien im slowenischen ethnischen Gebiet, weist auf die Unterschiede zwischen der Rezeption im Theater und in der Schule hin und geht u. a. der Frage nach, was für eine Rolle Grillparzer in der gymnasialen Kanonarchitektur gebührt. Stichwörter: Franz Grillparzer, Gymnasialer Lektürekanon, Theateraufführungen im 19. Jahrhundert im slowenischen ethnischen Gebiet, österreichischer Nationaldichter 18. Rada Stanarević Universität Belgrad (scnet.skotic@eunet.rs) ÜBER ZWEI DISTICHEN VON NOVALIS Zusammenfassung In einem seiner Fragmente spricht Novalis höchst poetisch von den Großartigkeiten des Hexameters. Er findet, im großen Rhythmus des Hexameters treten das Weltall, die Kunst, der Geist und die Seele zusammen. In der vorliegenden Arbeit wird versucht, anhand von zwei Distichen die hohen Schwingungen des Hexameters, aber auch anderer Gestaltungen von Novalis’ literarischem Werk darzustellen. Stichwörter: Distich, Hexameter, Geist und Herz, Hypostase, Synchronizität, Magie.

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19. Željko Uvanović J.-J.-Strossmayer-Universität Osijek (zuvanovic@ffos.hr) DIE ‚RUSSEN‘ KOMMEN NACH DEUTSCHLAND. IRONISCHE KRITIK AN ALLEM IN WLADIMIR KAMINER’S RUSSENDISKO IM VERGLEICH MIT OLIVER ZIEGENBALGS HUMORVOLLER FILMADAPTION Zusammenfassung Diese Arbeit befasst sich mit der Verfilmung von Wladimir Kaminers Sammlung kurzer Kurzgeschichten unter dem Titel Russendisko zu einem chronologisch konstruierten Film. Der Vergleich zwischen der literarischen Quelle und der Verfilmung basiert auf den folgenden Elementen: dem Bild der Sowjetunion und dem neuen kapitalistischen Russland, dem Bild der russischen Frauen in Deutschland, dem Bild der russischen Männer in Russland, dem Bild von Berlin und Deutschland, das Bild der Deutschen und das Bild von Einwanderern und Einwanderern in Deutschland. Kaminer verhält sich wie ein popkultureller, immigrierter Postmodernist in der multikulturell bereicherten Metropole Berlin. Er bezieht auch tabuisierte Themen unerschrocken mit ein, wie zum Beispiel jüdische Einwanderer „zweiter Klasse“, die angeblich nach Deutschland auswander(te)n - und die „erstklassigen“ Juden, die angeblich in die USA migrier(t)en, so dass das jüdische „Emigrationsproblem“ sowohl in Kaminers Erzählung wie auch in Ziegenbalgs Adaption verglichen werden konnten. Der Film betont die Existenz einer (außer)gewöhnlichen historischen Dialektik des Identitätswechsels: die Juden wurden Russen in der Vergangenheit und kehren dann zum Judentum zurück in der Gegenwart und die ‚echten‘ Russen werden Juden aus opportunistischen Gründen. Möglicherweise handelt es sich um Beziehungen und Konstellationen, die in anderen Fragen der Migrantenliteratur global zu finden sind, wenn wir statt der Wörter „Jude“, „Russe“ und „Deutschland“ die Namen anderer Nationalitäten und Staaten verwenden würden. Stichwörter: Imagologie, Jüdische Minderheit in der ehemaligen Sowjetunion, Zusammenbruch der Sowjetunion, Deutsche Demokratische Republik, Deutsche Wiedervereinigung, Einwanderung nach Deutschland, multikulturelle Gesellschaft, ausländische Arbeiter in Deutschland, Assimilation, biographischer Film, Wladimir Kaminer, Oliver Ziegenbalg, Russendisko, Literaturverfilmung, postmodernistische opportunistische Wandel der Nationalidentitäten, postmoderner Karneval, Sehnsucht nach sowjetischen Zeiten

20. Tihomir Živić J.-J.-Strossmayer-Universität Osijek (tzivic@kulturologija.unios.hr) ALS VORSTUFE FÜR WIEN. OSIJEKER DEUTSCHSPRACHIGE BÜHNE 1866-1907 Zusammenfassung Der Aufsatz beschäftigt sich vorwiegend mit Anzengrubers, Hauptmanns und Schillers Dramatik auf der deutschsprachigen Bühne des essekerischen Oberstadttheaters von 1866 bis 1907; daneben bezeugt das Kapitel getitelt „Essekerische Poetik des Barden von Avon“ sehr akribisch ein Gastspiel des deutsch-englischen Schauspielers Maurice Morisson und die Aufführungen der bekannten Tragödien Hamlet, Othello und Rikard III. auf der essekerischen deutschsprachigen Bühne, sowie eine allgemeine Rezeption der Werke von William Shakespeare in Essegg in 1897. Man soll eine aufmerksame archivalische, museale, interkulturelle und intertextuelle Forschung und eine faktographisch umfangreiche Studie der

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derzeitigen britisch-deutschen literarischen und theatralischen Beziehungen betonen, weil Shakespeare oft an die kroatischen Leser und Zuschauer des 19. Jahrhunderts eben durch die deutschen Übersetzungen gelangte. Daher suggeriert der Aufsatz-Schluss, dass das essekerisches Deutsches Theater am Ende des 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts zweifellos zum derzeitigen europäischen Kontext klassifiziert sein kann, während die Stadt gewiss als die „zweite kroatische Bühne“ oder als eine urbs metropolis Slavoniæ, in die die Künstler im Laufe der sechs Theatermonate wie in eine Vor-Station zu Wien eingetroffen waren, gerühmt sein kann. Stichwörter: Oberstadttheater, Essegg / Osijek, Anzengruber, Hauptmann, Schiller, Shakespeare 21. Amira Žmirić Universität Banja Luka (amira.zmiric@ef.unibl.org) DAS BILD BOSNIENS IN KÖNIGSBRUN-SCHAUPS SENSATIONSABENTEUERROMAN DIE BOGUMILEN. EIN BOSNISCHER ROMAN

UND

Zusammenfassung In den deutschsprachigen Reiseberichten mit bosnisch-herzegowinischer Thematik war Bosnien fast immer nur eine Kolonie, ein barbarisches Land, der Osten, ein Land weitab von jeder Zivilisation. Diese Reiseberichte enthielten meistens nur Fakten und Begebenheiten in Bezug auf Bosnien-Herzegowina, es gab darunter nur wenige literarische Bearbeitungen. Daher ist es interessant zu betrachten, wie dieses Land von jenen Autoren gesehen wurde, deren Bücher und Beiträge zur Trivialliteratur zu zählen sind und in deren Werken Liebesgeschichten, Abenteuer und Entführungen vorkommen. Der zeitgeschichtliche Sensationsroman und der Abenteuerroman als Genres der Trivialliteratur gehören zu den leicht verständlichen Texten, die auf die Erklärung von Hintergründen, auf die Darstellung historischer, politischer oder psychologischer Zusammenhänge verzichteten, um stattdessen breiteren Schichten von Lesern interessantere Themen zu vermitteln, wobei stets Realität und Fiktion miteinander verknüpft werden. Stichwörter: Bosnien-Herzegowina, Trivialliteratur, Sensationsroman, Abenteuerroman, kolonialistischer Blick

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zeitgeschichtlicher


ALPHABETHICAL LIST OF AUTHORS OF CONTRIBUTIONS WITH TITLES, SUMMARIES AND KEYWORDS 1. Aleksandra Bednarowska Pedagogical University of Cracow (abednaro@kent.edu) Two poets, two cities – Berlin and Lwów in the poetry of Mascha Kaléko (1907-1975) und Anda Eker (1912-1936) Summary The paper focuses on two Jewish women poets from the interwar period: Mascha Kaléko and Anda Eker. Both authors, who were born in Galicia, belong to the long tradition of Jewish writers, for whom cities were a source of inspiration and a literary subject. Kaléko who became famous in the last days of the Weimar Republic, published "sociologically relevant poems of everyday life" in popular newspapers and magazines of the time. In her first book of poems Das lyrische Stenogrammheft from 1933, inhabitants of the Metropolis are the focal point of the poems. Kaléko highlights the tension between the glittering world of the big city and reality. Despite brief moments of happiness, the city offers no security, no bright future, but merely a chance to survive. Anda Eker, an unjustly forgotten poet conveys in her first book of poems Na cienkiej strunie her love for Lwów (Lemberg). She associates the city, in which every street has its own history and secrets with her memories. The fairytale-like representation of the city is contrasted with poems in which precarious living and working conditions of urban residents are shown. Keywords: Mascha Kaléko, Anda Eker, Jewish women poets, images of a city in poetry, city landscape, Lwów, Berlin, Galicia, Interwar period, poverty, loneliness, night 2. Marijan Bobinac University of Zagreb (mbobinac@ffzg.hr) Between the claim to art and the general public taste: Kotzebue and the Croatian preMarch era of the 1848 revolution Summary The paper gives an overview of the impact of Kotzebue's entertainment theater production in both German-speaking and Slavonic countries with a focus on Kotzebue's pragmatic reception within the Croatian national-language repertoire in the process of the Croatian National Theater's emergence in two phases: firstly in the bilingual German and Croatian period 18401860 and secondly in the exclusively Croatian phase 1860-1877. Kotzebue, one of the once most popular playwrights of the Croatian theater in the 19th century, was no longer performed in the Croatian National Theater since 1877, although he, as a follower of conservative restoration since 1815, paradoxically worked, among other authors, to prepare the grounds of a national Croatian historical drama and although the Vienna Burgtheater was not ashamed of Kotzebue in its repertoire up to the end of the 19th century. This contribution fills a gap in the

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exploration of the history of Croatian theater in the 19th century, which was created by elitist aesthetics and the exclusion of trivial-entertaining public dramaturgy in the history of theater. Key words: August von Kotzebue, Vienna Burgtheater, Zagreb German Theater, Illyrist national movement in Croatia in the 19th century, Croatian National Theater, Germanization of Slavs, theater critiques, German-Croatian theater contacts, Kotzebue’s Reception in Croatia and in other Slavic countries, adaptation in the Croatian context, theater repertoire, pragmatic theater policy, Dimitrija Demeter.

3. Daniela Čančar (danielacancar@gmail.com) Interculturality in the Work of Sten Nadoly, Saša Stanišić and Fatih Akin Summary The clash of cultures is the topic of the novels by Sten Nadolny and Saša Stanišić and also in the movie by Fatih Akin. The novel Selim or The Gift of Speech (Selim oder Die Gabe der Rede) by Sten Nadolny tells the story of the eloquent Turk Selim who forces his way through language and cultural barriers into a new environment and who accidentaly on this way encounters the German rhetoric student Alexander. Fatih Akin’s movie The Edge of Heaven (Auf der anderen Seite) also tells the story of different encounters between Germans and Turks. The protagonists have to overcome many obstacles on their way. They struggle with ignorance, prejudice, constraints of society and family, with honor and corruption and pick a fight with some guys from the underground. In the novel How the Soldier Repairs the Gramophone (Wie der Soldat das Grammofon repariert) by Saša Stanišić there are motifs from Nadolny’s novel as well as from Akin’s movie. The young Aleksandar and his family fled to the West, where he devises a new home with his memories of life in the city on the Drina, from which he was snatched by force of the outbreak of the Bosnian war, and his greatest talent, inventing stories. Storytelling, as a survival strategy in a foreign Germany, ist what the Bosnian Aleksandar and the Turk Selim from Nadolny’s novel have in common. Ten years after escaping Aleksandar travels as an adult to his homeland. Similar to the Turkish-born professor of German Nejat from Akin’s The Edge of Heaven, he goes in search of traces left behind. The present work goes to the track of different experiences of the protagonists with the foreign and their own culture. Key words: interculturality, intercultural literary studies, migration movies, world cinema, Sten Nadolny, Saša Stanišić, Fatih Akin

4. Jan Čapek University of Pardubice (jan.capek@upce.cz) Camill Hoffmann, a Jew between the Czechs and the Germans, and his estate at the Literary Archive in Marbach am Neckar Summary A poet and a diplomat Camill Hoffmann, born in Kolín in 1878, mastering both languages of his homeland – Czech and German, entered the literature by two German-written books of poetry, following folk themes: Adagio stiller Abende (1902) and Die Vase (1910). He worked as a journalist for Die Zeit in Vienna and as a literary reviewer in the Dresden newspaper Dresdner

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Neue Nachrichten. After the World War I, at Masaryk’s request, he founded the German-written newspaper Prager Presse and, from 1920 to 1938, he acted as a press attaché at the Czechoslovak Embassy in Berlin. At the same time, he acted as an intermediary between German and Czech culture and literature; he translated significant literary and political works into both languages and put them into awareness on both sides of the Czech-German border just like many of his Austro-Czechoslovak Jewish compatriots, whose brief history is presented in the lands of Bohemian Crown also. Since the occupation of the Sudeten borderlands, he lived in Prague; in 1942, he and his wife were transported to Terezín and two years later, on the 28th October 1944, he was transported to Polish Oświęcim where he was, as a citizen of Jewish nationality, murdered in a gas chamber immediately. In 1999 the Literary Archive in Marbach am Neckar got a small part of Hoffmann`s inheritance from his daughter Edith Yapou from Jerusalem. In 2002, thanks to the former attaché of the USA Embassy in Prague, Mr. Ralph S. Saul, another gift followed. This time, it came from the repository of the Chicago University Library`s Manuscript Department, which contains a large number of valuable manuscripts. Key words: Camill Hoffmann, Czech-German culture contact, history of Jews in Europe, persecution of Jews, Theresienstadt, Oświęcim, Literary Archive in Marbach am Neckar, T. G. Masaryk, Eduard Beneš, Jews as intermediaries between national cultures, Holocaust.

5. Iva Drozdek (iva.drozdek@gmail.com) Slavonia enhances the character. People and the land of Slavonia in Roda Roda’s works Summary Roda Roda with his full name Alexander Friedrich Rosenfeld was born in Drnowitz in 1872, and spent his youth in Osijek. Despite of his emigration to Vienna and Berlin, he always considered Slavonia to be his home. In the edited volume Geschichten aus Slawonien selected and translated by Vlado Obad 1998, Roda Roda offers an insight into the variety of classes, ethnic groups, village or town bound citizens and of course the good and the bad people in Slavonia. Roda Roda never denied his Slavonian heritage; his devotion and fascination with this piece of land are clearly visible in his texts. The selection of 42 stories, which all share the connection to Slavonia, show the relationships of different nations in this countryside and their influence on the land and vice versa. The former mixture of Germans, Austrians, Hungarians, Serbs, Croats and Bosnians is still present, but the relationships are devastated and deteriorated. The texts of Roda Roda allow the reader to celebrate the differences and provide the land as the common ground that connect and with no differentiation awards or punishes. All characters in these texts share the same love and connection to the Slavonian land. The fertile ground provides security and possibilities and in some stories even the love of life. Key words: Roda Roda, Alexander Rosenfeld, Slavonia, Croatian provinces, short story, acceptance, difference. 6. Dina Džindo Jašarević (djine133@yahoo.de) In the duty of remembrance – A Comparison of Bernhard Schlink's Der Vorleser and Nicol Ljubić's Meeresstille

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Summary Bernhard Schlink's Der Vorleser and Nicol Ljubić's Meeresstille are novels that fight against forgetting and repression. They are also novels that look back at the traumatic past, on the memories that have become a part of the narrative. Both novels are reminiscences of the war, one of the Second World War, the other of the Bosnian war (1992-1995), and both tell stories of guilt, redemption, law and justice. This paper presents an attempt to compare these two novels in relation to the historical issue concerning remembrance of the crimes. The analysis will follow Reinhart Koselleck questions from his essay The forms and traditions of negative memory: Who to remember? What to remember? and How to remember? Another question will be added that was formulated by Aleida Assmann: Who remembers? In this manner the analysis will be directed towards the perpetrators and victims on both of the sides. Only through remembrance of the victims and the perpetrators can the silence be broken and the doors of truth open. Key words: Bernhard Schlink, Nicol Ljubić, memory, perpetrators, victims, guilt, innocence, justice, silence 7. Tihomir Engler Josip Juraj Strossmayer University of Osijek (tengler@ffos.hr) The metaphysical horizons of history in Mann’s four-part novel Joseph and in Krleža’s Ballads of Petrica Kerempuh mirrored in the reception of Nietzsche Summary The paper examines and compares the understanding of history in Thomas Mann’s four-part novel Joseph with the one in Miroslav Krleža’s Ballads of Petrica Kerempuh. The introductory part of the paper provides the background of the writing processes together with the reactions of the two authors to the historical context in which both works were created. Furthermore, the paper then explores the understanding of history in the abovementioned works based on the authors’ attitude with the premise that their attitudes are the result of their metaphysical perception of history as cycle. This results in creating a poetic „Metaphysion“, the roots of which are present in Nietzsche’s nihilistic thoughts. Mann and Krleža attempt to overcome these nihilistic thoughts in their works. These attempts by Mann come in form of an artistic Humanitas-myth, the main idea of which is intermediation between the tellurian and the spiritual. With Krleža on the other hand, this attempt stumbles on the fact that Man is rooted in his „diluvial“ origin which questions any kind of spiritualization of human existence. Key words: Thomas Mann, Miroslav Krleža, understanding of history, four-part novel Joseph, Ballads of Petrica Kerempuh, reception of Nietzsche 8. Marijana Erstić University of Siegen (erstic@germanistik.uni-siegen.de) Under the Sign of Decline and Catastrophe: The Glembays as the Croatian Buddenbrooks Summary The following essay deals with the drama Gospoda Glembajevi / The Glembays (1928) by the Croatian writer Miroslav Krleža. The central question is: How is the artistry portrayed in this

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drama? This problem will be compared with the novel Buddenbrooks (1901) by Thomas Mann. At the end of the article two recent theatrical productions will be discussed (SNG Ljubljana, 2012, dir .: Ivica Buljan and Residenztheater München, 2013, dir.: Martin Kušej). Keywords: Miroslav Krleža, Thomas Mann, Comparative Literature, The Glembays, Buddenbrooks 9. Renate Hansen-Kokoruš Karl Franz University of Graz (renate.hansen-kokorus@uni-graz.at) Literary presentation of everyday life in war in the texts of Zoran Ferić und Boris Dežulović Summary The war in former Yugoslavia even today is one of the most important topics in Bosnian, Croatian and Serbian literature, but with different artistic aims and poetics. Under aspects of composition, literary figures, conception of space and motifs the article analyzes two similarly structured literary texts from recent Croatian literature, written by Zoran Ferić and Boris Dežulović, which undermine war pathos by representing everyday life of soldiers. Collective and individual identity discourses cross over in a complex way. The attempt to break the collective war confrontation is in vain, because the reciprocal stereotypical perceptions of each other are very persistent and difficult to change. Key words: presentation of war, literary studies, recent Croatian literature, composition, analyses of figures, space, identity, Zoran Ferić, Boris Dežulović

10. Sven Hanuschek Ludwig Maximilian University of Munich (sven.hanuschek@germanistik.uni-muenchen.de) Forfeited by the magic of a Russian subaltern officer. On the issue of alterity in Leo Perutz’ novel Little Apple (1928) Summary The essay examines the issue of Slavic clichés in Perutz's novel as a question about the representation of alterity in the context of the return of German soldiers from the First World War. Perutz's protagonist is portrayed as paranoid, more as a perpetrator who appears to have far more guilt than the Russian officer, whom he persecutes as a 'returner from war' across half of Europe and Russia in the post-war period. The few explicit Slavic clichés the novel has to show are humorously exhibited. The novel deals much more with stranger image as a projection screen for the German protagonist’s own negative characteristics. Key words: Leo Perutz, Ullstein novel, anti-Slavism, bochisme, paranoia, imagined notions of foreigners, projection mechanism, mirror characters, kitsch, genre hybridity 11. Stephanie Jug Josip Juraj Strossmayer University of Osijek

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(sjug@ffos.hr) The Revitalization of Peter Weiss’ Revolution Theme in Ivana Sajkos Europa Summary The work of Swedish-German writer Peter Weiss and the work of Croatian writer Ivana Sajko share the European cultural setting. The paper summarizes the most important interpreting views on revolution and its representation in Weiss’ Marat/Sade which then serve as basis for the comparison of representations of revolution in Marat/Sade and in Sajkos monologue Europa. As it turns out, the key moment in Marat/Sade is doubt. The complete absence of this moment and the presence of other dramatic implements lead to the same result in Europe: the rejection of the one-sidedness of ideologies and the wake-up call to society to exercise a mental revolution. Both dramas criticize the overall situation and the passivity of the masses. The dramatic conflicts arise around moral and ethical borders. Key words: Drama, Revolution, Ivana Sajko, Theatre, Peter Weiss

12. Marica Liović Josip Juraj Strossmayer University of Osijek (mgrgic@ffos.hr) The reception of theatre productions of Gerhart Hauptmann’s dramas on the stage of the Osijek Croatian National Theatre in Osijek’s press in the first half of the 20th century Summary Although it has been more than seventy years since the death of the great German writer Gerhart Hauptmann (1862-1946) who preferred to stay in the Third Reich instead to emigrate, his opus and many WWII-related biographical facts revealed in the recent publications of his diaries seem to be still able to provoke ambivalence, controversy, and aversion. We might consider it a devastating fact that after the Second World War not a single Croatian theatre house dared to stage any of the Nobel prize winner’s drama works – and even conclude that Croatian public (for a couple of generations!) had been denied the opportunity to enjoy the productions of one of the most prolific and influential German dramatists. However, any responsible theatre director cannot ignore the context of Hauptmann’s now fully revealed anti-Semitism, antiSlavism, and anti-Americanism expressed explicitly in his diaries, as proven in Željko Uvanović’s book Gerhart Hauptmanns Egoismus (2013). Contrary to today’s situation, Osijek’s theatre audience has been shown six of Hauptmann’s works in the period from 1910 to 1942. The task of this paper is to try to find out, by reading Osijek’s press in the aforementioned period, what the expectations of Osijek’s theatre audience were, how the press covered the activities of Osijek’s Theatre, and what the reactions of the audience to the repertoire of Croatian National Theatre in Osijek were, especially with regard to Gerhart Hauptmann’s selected dramas. Keywords: Gerhart Hauptmann, drama, Croatian National Theatre in Osijek, Osijek’s press, theatre critique, period 1910-1942, German-Croatian culture contacts, influence of the fact of proven anti-Semitism, anti-Slavism and anti-Americanism on the author’s reception today, Željko Uvanović 13. Miodrag Loma University of Belgrade

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(mloma@fil.bg.ac.rs) Josip Babić’s rediscovery of the repressed and forgotten Herder’s intellectual heritage. An acknowledgement Summary In the present paper, Josip Babić’s book dealing with Herder’s intellectual legacy is analysed with a focus on his reflections about shaping the linguistic, literary and intellectual identity, as well as about the historical experience of humanity, in order to show its importance for the formation of the modern literary and humanistic consciousness. Keywords: linguistic, poetic, think, identity, consciousness, individual, national, humanity, historically. 14. Mira Miladinović Zalaznik University of Ljubljana (mmz@ff.uni-lj.si) “Professor, I am kindly asking you, to make me as soon as possible the pleasure of sending me some of your articles”. Leopold Kordesch in His Letters to Gustav Rudolf Puff Summary The author, editor and journalist Leopold Kordesch and the grammar-school teacher and impresario Gustav Puff were regional writers in the Habsburg monarchy. They lived and worked in its southernmost part, which was multilingual and multicultural. Kordesch worked as an editor in Ljubljana and Graz and as such even considered leaving for Mexico in order to publish a German journal there, while Puff taught at a grammar-school, collected folk tales, explored foreign landscapes, especially thermal spas, and wrote travelogues and literary texts. Kordesch's letters to Puff show a long working collaboration and friendship between the two men, who were connected beyond national boundaries (Kordesch was of Slovenian and Puff of German origin), supported each other, held each other in high esteem and cultivated their friendship. These letters also enable us to reconstruct, to a certain extent, the work of a journal editor. As active members of historical associations, Kordesch and Puff made every effort to collect and support Slovenian- and German-homeland activities in order to hand them over to future generations. Key words: Carniolia, Laibacher Zeitung, Illyrisches Blatt, Agramer Zeitung, Der Magnet, Triglav, historical association Historischer Verein für Krain, Slovene Theatre, Slovene University, Homeland Activities 15. Sonja Novak Josip Juraj Strossmayer University of Osijek (snovak@ffos.hr) The image of Osijek Germans in two contemporary Croatian (dramatized) texts: Ivana Šojat-Kuči’s novel Unterstadt and Lydia Scheuermann Hodak's short story Today Nobody Reads the Gothic Script Anymore Summary The German Essekers are an ethnic group of German-speaking inhabitants of the town of Osijek who originate from the Viennese craftsmen and tradesmen and other immigrants of German

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origin who had found their homes in this part of Croatia. These Germans have lived here for more than two centuries and the paper analyzes the image of Germans and Germanity in two contemporary Croatian (dramatized) texts written after Croatia’s Independence War in the 1990s. The image and literary characters of German Esseker, their function and the possibilities and scope of their action in Ivana Šojat-Kučis Unterstadt (novel and dramatization) and Lydia Scheuermann Hodaks short story entitled Today Nobody Reads the Gothic Script Anymore (which was used as basis for a monodrama entitled Time for Oneself) have been analyzed in the paper. The analysis shows that both authors emphasize the examples of the German national minority in Croatia represented by two German minority family (hi)stories the great need to talk about war trauma in order to be able to overcome its horrors. It becomes clear that in these cases notions like victim, innocent-guilty, otherness and the other can refer to all ethnic groups participating in a war. Key words: ethnic Germans in Osijek, image studies, Germanness, Ivana Šojat, Unterstadt, Lydia Scheuermann Hodak, contemporary Croatian (dramatized) texts 16. Ivica Petrović University of Mostar (ipetromo@gmail.com) „On the Road in the Name of the Lord” by Thomas Glavinic as a burlesque collision between Austrian atheism and Herzegovinian-Croatian religiosity in Međugorje Summary Thomas Glavinic is a very productive Austrian writer born in Graz in 1972. His novels have already been awarded many times and translated in a lot of languages, and in 2011 he published his book „On the Road in the Name of the Lord”. Published without genre, which is impossible to decode, and with two atheists as main roles, it reports on the pilgrimage travel by bus to the shrine in Međugorje in Herzegovina, a special kind of pilgrimage. Collision between strictly religious and atheist-hedonistic way of life, clichés about Balkan as well as the impact of this book on the entry of Međugorje into the German literary world, those are the topics discussed in this article in details. Key words: Thomas Glavinic, Međugorje, image of religion in literary works, apparitions of Mary, pilgrimage, image of Croats in German literature, (post)modernist atheism, Roman Catholicism 17. Irena Samide University of Ljubljana (irena.samide@ff.uni-lj.si) Franz Grillparzer in the Slovenian Ethnic Region of the Habsburg Era: Foreplay in the School. Summary The full recognition of Franz Grillparzer (1791-1872), who today deserves the rank of national poet as well as the Austrian classic, took place in the Habsburg monarchy only after 1890, when the author with his works entered into the secondary school literary classes canon – despite the fact that his plays since 1820s on the stages in the monarchy were received with enthusiasm. This article examines the presence of Grillparzer’s dramas in the secondary schools in the Slovenian ethnic area, secondly points to the differences between the receptions in the theatre

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and in the school and thirdly tries to answer the question what role Grillparzer played in the secondary school literary canon. Keywords: Franz Grillparzer, secondary school literary canon, theatre performances in the Slovenian ethnic region in the 19th century, Austrian national poet 18. Rada Stanarević University of Belgrade (scnet.skotic@eunet.rs) On Two Distiches by Novalis Summary In the first of two distiches presented in this paper, Novalis gives a definition of new Romantic art that does not imitate nature, but is a fruit of the revelation of spirit, while the second distich practically substantiates the first one, as revelations of the creative spirit in a poetical work are personified by the timeless mythical and fabulous images of goddess Isis, and the young man who in the quest for himself will take the goddess' veil. Besides the interrelatedness of the analysed distiches, the paper also sheds light on their multiple meanings in the context of the theoretical and in particular novelistic work of Friedrich von Hardenberg. Key words: distich, hexameter, the spirit and the heart, hypostasis, synchronicity, magic 19. Željko Uvanović Josip Juraj Strossmayer University of Osijek (zuvanovic@ffos.hr) The ‘Russians’ are coming to Germany. Ironic criticism of everything in Wladimir Kaminer’s Russendisko in comparison with Oliver Ziegenbalg’s humorous film adaptation Summary This paper deals with the film adaptation of Wladimir Kaminer’s collection of short short stories titled Russendisko into a chronologically construed movie. The comparison between the literary source and the adaptation is based on the following elements: the image of the Soviet Union and the new capitalist Russia, the image of Russian women in Germany, the image of Russian men in Russia, the image of Berlin and Germany, the image of Germans, and the image of immigrants and immigrant workers in Germany. Kaminer behaves like as a pop-cultural, immigrant postmodernist in the multiculturally enriched metropolis Berlin. He includes also tabooed topics, like allegedly ‘second-class’ Jewish immigrants leaving for Germany – and the allegedly ‘first-class’ Jews migrating to the USA, so that the Jewish migration issue both in Kaminer’s narrative and in Ziegenbalg’s adaptation could be compared as well. The film stresses the existence of an (extra)ordinary historical dialectics of identity changeability: in this case the Jews becoming Russians and then returning to Jewishness – and the Russians becoming Jews for opportunistic reasons. Possibly, Kaminer’s text and Ziegenbalg’s adaptation are about relations and constellations that can be found in any other migration issues globally if we use instead of the labels “Jew”, “Russian” and “Germany” the names of any other nationalities and states. Key words: image studies, Jewish minority in the former Soviet Union, collapse of the Soviet Union, German Democratic Republic, German Reunification, immigration to Germany,

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multicultural society, foreign workers in Germany, assimilation, biographical film, Wladimir Kaminer, Oliver Ziegenbalg, Russendisko, film adaptation of literature, postmodernist opportunist changes of national identity, postmodernist carnival, nostalgia for the Soviet times 20. Tihomir Živić Josip Juraj Strossmayer University of Osijek (tzivic@kulturologija.unios.hr) An antecedent to Vienna: Osijek German stage from 1866 to 1907 Summary The paper predominantly deals with Anzengruber, Hauptmann, and Schiller’s dramatics on the German stage of the Osijek Upper Town Theater from 1866 to 1907; nonetheless, the chapter titled “An Osijek-based Poetics of the Bard of Avon” very acribiously testifies to a guest appearance by the German-English actor Maurice Morisson and performances of known tragedies Hamlet, Othello, and Richard III on the Osijek German stage, as well as to a general reception of William Shakespeare’s works in Osijek in 1897. One should emphasize a meticulous archival, museal, intercultural and intertextual research and a factographically abundant study of British-German literary and theatrical relations of the time, for Shakespeare frequently reached the Croatian 19-century readers and viewers exactly via German translations. The paper’s conclusion thus suggests that the Osijek-based German Theater toward the end of the 19th century and in the beginning of the 20th can indubitably be classified within the European contexts of the time, while the city can certainly be extolled as the “second Croatian stage” or as an Urbs metropolis Slavoniæ, wherein the artists arrived during six theatrical months precursorially to Vienna. Keywords: Upper Town Theater, Osijek, Anzengruber, Hauptmann, Schiller, Shakespeare 21. Amira Žmirić University of Banja Luka (amira.zmiric@ef.unibl.org) Images of Bosnia in Königsbrun-Schaup’s sensational and adventure novel Die Bogumilen. Ein bosnischer Roman Summary Bosnia was rarely a theme in adventure and sensational novels, thus it is interesting to notice that this country in those novels, which can be classified as trivial literature, is represented in a realistic way. Königsbrun-Schaup managed to show different settings such as Bogomils’ graves, surroundings of Travnik and the capital city Sarajevo in a completely mystical way, like places where adventures happen. They are shown as a part of the wilderness of a barbarian country. There still exists, as author describes, hawk hunt, which cannot be found anywhere else in Europe. While reading the novel you get the impression that you are transferred into an unknown world, the world of the East, which shows great contrast between the western civilizations. You can also see that Bosnia is a rich country, which for the Austrians is but to be revealed. The author mentions natural riches of this country and fertile land, actually the use of these descriptions is to reveal the real aim of the novel: to show the Austrian public an unknown country which should bring many riches to the Habsburg monarchy. Key words: adventure novel; sensational novel; Bosnia; trivial literature; colonialist viewpoint

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BISHERIGE AUSGABEN IN DER REIHE Osijeker Studien zu slawisch-deutschen Kontakten in Geschichte, Sprache, Literatur und Kultur beim Shaker Verlag Aachen

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Band 1

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Band 2

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