189. Ausgabe, ET 10.10.2015

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Ausgabe 189 am 10. Oktober 2015

Kämpferin der ersten Stunde Und die Welt Marianne Birthler, Bürgerrechtlerin, friedliche Revolutionärin und Wächterin der Stasi-Akten, liest aus ihren Erinnerungen. Seite 2

Dosenöffner

Aus für den Blankoschein

Nationalmannschaft In Irland und gegen Georgien braucht die Löw-Elf nur einen Punkt, um endgültig bei der Europameisterschaft dabei zu sein. Da lacht Müller. Seite 8

Freiburg Der Freiburger Chaos Computer Club ermutigt alle nach dem aktuellen Facebook-Urteil nun selbst Beschwerde einzulegen. Seite 5

Merkels Flucht nach vorne Wenn die Bundeskanzlerin am selben Tag zuerst eine flammende Rede im EU-Parlament und dann eine Ansprache ans Volk via Fernsehauftritt bei Anne Will hält, zeigt schon ihr Tempo, was die Stunde geschlagen hat. Von Michael Zäh

W

enn Angela Merkel am selben Tag zuerst im EUParlament eine flammende Rede hält und sich dann am Abend als alleiniger Interview-Gast in der ARD bei Anne Will praktisch selbst einlädt, zeigt schon das Tempo in diesen Aktionen, was die Stunde geschlagen hat. Merkel hat die Flucht nach vorne ergriffen. Sie spürt ganz genau, dass die Flüchtlingsfrage nun endgültig auch über ihr eigenes politisches Los entscheiden wird. Und da sogar ihre Kanzlerschaft auf dem Spiel steht, packt sie die Sache (ausnahmsweise!) offensiv an. Es gibt für Angela Merkel kein Zurück mehr. No way back. Merkels Auftritt bei einer extrem bohrenden Anne Will, die sich da als politische Nervensäge geoutet hat, hatte zwei große Stärken. Erstens war da diese Grundhaltung, die Merkel ganz offensiv vertreten hat: Sie gehe mit Zuverischt an die Aufgabe, ohne letztendlich heute schon zu wissen, ob die “Bewährungsprobe historischen Ausmaßes” wirklich bestanden werden kann. Damit hat Angela Merkel ihren populären Satz “Wir schaffen das!” um ein Stück Ehrlichkeit erweitert, ohne ihn damit abzuschwächen. Angesichts der womöglich 1,5 Millionen Flüchtlinge, die dieses Jahr nach Deutschland kommen und in Anbetracht der zum Teil chaotischen Verhältnisse bei der Aufnahme der Flüchtlinge, hat die Bundeskanzlerin ihre persönliche Haltung betont. Zuversicht, aber auch anpacken! Sie hat sich also nicht weggeduckt, weil nun die Flüchtlingsströme viel größer sind als erwartet. Im Gegenteil hat sie die Flüchtlingspolitik zur absoluten Chefsache gemacht, indem ab sofort

HALLO ZUSAMMEN

Das kann dem Sepp recht sein

Kanzleramtschef Peter Altmaier die Steuerung übernimmt. (Womit zum Glück der in seinen Äußerungen wankelmütige bis unverständliche Innenminister Thomas de Maizière quasi aus dem Spiel ist). Das offenherzige Eingeständnis, dass sie jetzt ja nicht sagen könne, dass die Flüchtlingskrise gar nicht bewältigbar sei, weil es dann ja auch tatsächlich so wäre, war stark. Was wäre die Alternative für sie zur Zuversicht? Es wäre eben die Abschottung Deutschlands, die viele Politiker inzwischen fordern. „Deutschland ist ein Land, das die Flüchtlinge freundlich empfängt. Darauf bin ich stolz“, sagte die Kanzlerin. Eine Schließung der Grenzen oder ein Aufnahmestopp kämen nicht in Frage. Und an diesem Punkt verwies Merkel in ihrem Pragmatismus auf einen viel zu selten zur Sprache

kommenden Umstand. Nämlich den, dass es ja praktisch auch gar nicht umsetzbar wäre, einfach die Grenzen zu schließen. “Sollen wir dann einen Zaun bauen? Was das dann bringt, hat man ja in Ungarn gesehen”, sagte Merkel bei Will. Um gleich noch nachzuschieben, dass sie sich nicht an einem Wettbewerb beteiligen wolle, möglichst unfreundlich zu den Flüchtlingen zu sein, damit diese dann lieber in ein anderes Land flüchten würden. Mit solch offenem Visier ist die Kanzlerin also via Fernsehauftritt (was ja quasi eine von ihr gewollte und gut inszenierte Rede an die deutsche Bevölkerung war) all jenen gegenüber getreten, die sie vor sich hertreiben wollen, mit dem Vorwurf, sie habe die Flüchtlinge ermuntert, in so großer Zahl nach Deutschland zu kommen. Denn tatsächlich: Bei 60 Millionen Flüchtlingen, die

hauptsächlich vor Krieg und Elend fliehen, ist es nicht die deutsche Kanzlerin, die für die Flüchtlingsströme gesorgt hat. Es ist der Krieg vor den Toren Europas, der sich derzeit noch ausweitet, indem das Assad-Regime in Syrien mit offener militärischer Unterstützung Russlands eine Bodenoffensive begonnen hat. Das heißt: Noch mehr Menschen werden ihre Heimat verlassen müssen und um ihr Leben rennen. Merkels Ansatz ist logisch. Sie will in der EU mehr Druck machen und der Türkei Geld und politische Zugeständnisse bieten, damit dort Flüchtlinge bleiben sollen. Ohne eine Solidarität in Europa im großen Rahmen ist das Problem nicht zu lösen. Merkels Flucht nach vorne wird nur dann gelingen.

Die unendliche Geschichte des Joseph S. (für Sepp) Blatter hat ein lustiges neues Kapitel dazu gewonnen. Von der FifaEthikkammer wurde der FifaPräsident jetzt also für 90 Tage suspendiert. Das heißt, der Mann kann jetzt in Ruhe an Weihnachten denken, weil er ja drei Monate gar nix für die Fifa und den Fußball machen darf. Wer nun aber glaubt, das sei ein weiterer Tiefschlag für den Sepp, der könnte sich auch täuschen. Denn außer ihm sind auch Michel Platini (ebenfalls für 90 Tage) und der Koreaner Chung Mong-Joon (gleich für sechs Jahre) aus dem Verkehr gezogen worden. Und das heißt im Ergebnis, dass zwei der Kandidaten für den Posten des Fifa-Präsidenten nicht mehr antreten werden können, da die Wahl des Blatter-Nachfolgers zwar erst am 26. Februar 2016 im Exekutivkomitee weiter diskutiert werden wird (also zu einem Zeitpunkt, wenn Blatter wieder mittun darf), doch die Bewerbungen möglicher Kandidaten enden schon am 26. Oktober, wo also Platini noch suspendiert ist. Das kann dem Sepp nur recht sein. Michael Zäh


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