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Ausgabe 228 am 22. Juli 2017
Straßenwahn
Mit Augenmaß
Umland
SC Freiburg
Die kleine Straße am Tennenbacher Kloster soll zur ausgebaut werden. Eine Klage des VCD hat das Projekt nun erstmal gestoppt. Seite 2
Der SC setzt seine Philosophie konsequent weiter um. Mit Bartosz Kapustka kommt ein erst 20-jähriges Offensivtalent. Seite 7
Billy Talent kommt Tipps Die kanadische Band Billy Talent treibt sich und ihre Fans bei Live-Auftritten zu Höchstleistungen an. Jetzt kommt die Band in die Sick-Arena. Seite 10
Voller Herz, ohne Volk Bei der bewegenden Rede, die Frankreichs Präsident Emmanuel Macron am 14. Juli 2017 vor vielen Angehörigen der Opfer hält, öffnet sich hinter ihm ein leergefegter Raum. Denn die Bürger von Nizza mussten draußen bleiben. Von Michael Zäh
H
ier ist jetzt geschlossen, sagt der junge Polizist mit dem Sturmgewehr. Er sagt es selbstbewusst und auch durchaus freundlich, zu den Leuten, die wie ich gerade jetzt einen Blick auf die extra aufgebaute Tribüne auf dem wunderbaren Platz Massena werfen wollen, wo ja schließlich gleich drei französische Präsidenten auftreten. Staatschef Emmanuel Macron und seine beiden Vorgänger François Hollande und Nicolas Sarkozy sind dort, ebenso Monacos Fürst Albert II., Nizzas Bürgermeister Christian Estrosi, viele andere Prominente der Region. Es sind hohe Bretterzäune, in dunkelbraun gehalten, die jeden Blick verhindern, den man auf den Platz werfen könnte, auf dem der Opfer des Anschlags vom 14. Juli 2016 gedacht werden soll. Der junge Polizist, der uns nett aber bestimmt zurück wies, ist nicht allein. Gleich neben ihm sind Kollegen hoch zu Ross, und insgesamt werden es wohl einige tausend Polizisten aus allen möglichen Einheiten sein, die Nizza zu einer Festung machen, während Macron zu den Franzosen spricht. Denn genau das tut er, der neue französische Präsident, der noch am gleichen Vormittag in Paris bei der großen Militärparade zum 14. Juli auf den Champs-Élysees mit dem „Ehrengast“ Donald Trump den smarten Mann voll militärischer Stärke gegeben hatte. Ja, Macron spricht zu den Franzosen, eine durchaus einfühlende Rede ist es, aber er spricht nicht wirklich zu den Menschen in Nizza. Denn die müssen ja draußen bleiben, wie uns der junge Polizist erklärt: Geschlossen! Und zwar für
HALLO ZUSAMMEN
Erdogans Welt ist paranoid
das Volk vor Ort. Die Ansprache, so bewegend sie war, konnte also im Fernsehen besser verfolgt werden als live am Place Massena. Denn der war weiträumig abgesperrt, ohne ein Durchkommen für die Menschen der Stadt. Na klar, es ging auch um das Symbolische. Genau ein Jahr zuvor hatte ein eher unterbelichteter Typ es geschafft, auf der Uferpromenade von Nizza mit einem Lastwagen in die feiernde Menge zu rasen und hatte dabei 86 Menschen getötet und mehr als 450 weitere Menschen zum Teil schwer verletzt, bevor er schließlich selbst von der Polizei erschossen wurde. Dieses Grauen wäre an jedem Tag jeden Jahres kaum auszuhalten. Aber es war am 14. Jui 2016, dem Nationalfeiertag der Franzosen, die damit dem Sturm auf die Bastille im Jahr 1789 und der damit beginnenden französischen
Revolution gedenken. „Der 14. Juli in Nizza wird nie mehr der gleiche sein. Und er wird auch in Frankreich nie wieder der gleiche sein“, sagte Emmanuel Macron jetzt in Nizza. Und genau deshalb durfte sich auf gar keinen Fall ein ähnlicher Vorfall am 14. Juli 2017 in Nizza wiederholen. Also sprach der neue Präsident seine bewegende Rede vor rund 200 geladenen Gästen (vor vielen Angehörigen der Opfer und vielen Helfern von damals), vor einem leer und licht gehaltenen Platz. Hinter ihm nur Stille und das berühmte Licht, „le Bleu“, das Nizza ausmacht. Weil das Publikum ausgesperrt blieb, war es eine sehr geisterhafte Ansprache, voller Herz, ohne Volk. Die Sicherheit stand an diesem symbolischen Tag über allem. Eine High-Tech-Video-Anlage an einem riesigen ausfahrbaren Arm,
die Scharfschützen, die mit Gittern abgeriegelte Altstadt, die Taschenkontrollen, die Heerschar schwer bewaffneter Staatsdiener (siehe auch Seite 3) – das alles zeigte, was man machen kann. Fast war es so, als ob man ein Jahr zu spät das verhindern wollte, was damals geschah. Die Beklemmung wird dadurch nicht kleiner. Sie wird tiefer. Der leergefegte Raum hinter Macron wird wie eine Wunde sichtbar. Denn es ist gleichzeitig der Raum, der dem Terror geschuldet ist. Auf dem Platz vor der Tribüne hätte sonst eine Menschenmenge stehen können, um den Worten ihres Präsidenten zu lauschen. Doch das war wohl zu gefährlich. Am Tag danach ist der Sicherheits-Spuk vorbei. Nizza ist wie immer. Eine verletzliche Stadt.
Schon die Wortwahl am 15. Juli, dem Jahrestag des Putschversuches in der Türkei, war drastisch: „Wir werden diesen Verrätern den Kopf abreißen“, rief Präsident Erdogan der darob jubelnden Menge in Istanbul zu. Ismail Kahralung, Parlamentspräsident, sagte vor der Nationalversammlung: „Denjenigen, die unsere Werte angreifen, brechen wir die Hände, schneiden ihnen die Zunge ab und vernichten ihr Leben.“ Noch mehr also als die Todesstrafe, die Erdogan wieder einzuführen bereit ist. Muss man noch fragen, ob wir hier in Europa sind? Gar in der Wertegemeinschaft der EU? Nein, es ist seine eigene, paranoide Welt, die Erdogan sich und seinen Anhängern erschuf. Das Schlimme daran ist aber, dass Andersdenkende mit fadenscheiniger Begründung einfach ins Gefängnis gesteckt werden. Inzwischen auch 22 deutsche Staatsbürger, zuletzt Peter Steudtner, schon zuvor der Journalist Deniz Yücel. Der Vorwurf, dass sie allesamt Terroristen seien, macht dieses Wort zum Schwert der Willkür. Das ist grausig. Michael Zäh