6 minute read

Die Windstille vor dem Wirbelsturm������������������������������������������������ Seite

Hääh��� echt jetzt?

Der Sommer fühlt sich an wie eine Windstille vor dem Sturm. Der Bundestag hat Pause, Angela Merkel ist schon Geschichte, die Massen bei der Fußball-EM versprühten das Gift der Gleichgültigkeit und quasi über Nacht wird eine Kreuzimpfung empfohlen. Von Michael Zäh

Advertisement

Dieser Sommer ist unwirklich. Es ist, als sei er über uns hereingebrochen, mit der Urgewalt hemmungslosen Leichtsinns. Dieser Sommer tut so, als gäbe es kein Morgen. Die Leute reisen wie verrückt durch die noch immer verseuchte Welt. Die Fußball-EM produzierte Bilder von Massen, die sich schwitzend und schreiend in den Armen lagen, mitten in Hochinzidenzgebieten. Nach 16 Jahren Merkel-Regentschaft ist der Bundestag in der Sommerpause. Quasi über Nacht haben Stiko und Gesundheitsminister eine Kreuzimpfung stark geredet. Dieser Sommer ist so: Hääh, echt jetzt? Dieser Sommer verweist schon darauf, dass an seinem Ende eine Bundestagswahl ansteht und dass es im Herbst die vierte Welle geben wird.

Da standen also die Kameraleute in den Stadien der Fußball-EM. Sie hatten Maske auf, sie hielten Abstand, sie waren doppelt geimpft und zudem noch frisch negativ getestet. So hielten sie ihre Kameras auf das Geschehen. Was ihre Kameras da an Bildern einfingen, waren lauter Fans voller Ekstase, jubelnd, schreiend, spuckend. Massen an Menschen ohne Abstand und Maske. Da wurden einerseits den Trainern der Teams die in Plastik eingewickelten Mikrofone an zehn Meter langen Stangen zum Interview hingehalten, weil es ja Pandemie-Zeiten sind. Und andererseits grölten sich trunkene Fangruppen durch die Straßen und fabulierten vom Sieg. Sie hielten auch den Fernsehteams gegenüber keinerlei Abstand ein. Manche mussten sogar die Kamera küssen.

Im Herbst wird die vierte Welle kommen. Sie ist unvermeidlich, trotz des Fortschreitens der Impfkampagne. Das sieht man ja gerade an der Pandemie-Entwicklung in Großbritannien. Denn obwohl dort über 60 Prozent der Bevölkerung doppelt geimpft ist, stiegen die Inzidenzien rapide auf über 280. Die ansteckendere Delta-Variante wird auch auf der Überholspur sein gegenüber der Impfkampagne in Deutschland. Vielleicht wird es weniger Tote geben, weil die Impfungen schützen. Aber das reicht als Ziel nicht aus. Was ist mit den Kindern und Jugendlichen, denen heute schon wieder angedroht wird, dass im Herbst erneut der Präsenzunterricht gefährdet ist?

Es liegt ein Abwarten in diesem Sommer, das kaum zu verstehen ist. Wenn doch heute schon jeder weiß, dass der Herbst die vierte Welle und entsprechende Probleme bringen wird – wieso werden dann nicht rechtzeitig Vorkehrungen getroffen? Paradebeispiel ist hier dass Thema der Lüftungsanlagen in den Schulen. Müsste nicht jetzt, wie es die Grüne Baerbock fordert, jedes Klassenzimmer im Land damit ausgestattet werden? Aber weil das nun wieder Ländersache ist (und Baerbock ja nur als Kanzlerkandidatin aber nicht als Kanzlerin spricht), zieht sich das behäbig hin. Es gebe ja noch gar keine wissenschaftlichen Studien, dass solche Lüftungsanlagen wirklich dafür sorgen könnten, dass der Unterricht in Präsenz abgehalten werden könne, heißt es von so manchem Länderchef.

Tja, da ist die Zeit ein bisschen knapp, wenn vor jeder Maßnahme erstmal eine neue Studie erhoben werden soll. Die Sommerferien sind bald vorbei. Und dann heißt es wieder: Sorry liebe Eltern und Kinder, aber wir müssen wieder ganz oder teilweise auf den Präsenzunterricht und damit auch auf all die sozialen Kontakte der Heranwachsenden verzichten. Dann werden die Behörden wieder so tun, als ob ihnen wegen der vierten Welle der Pandemie die Hände gebunden seien. Es sind dieselben Hände, die man den Sommer über in den Schoß der Tatenlosigkeit gelegt hat.

Umgekehrt kam über Nacht die Eilmeldung der StiKo und der Gesundheitsminister in die Welt, dass eine Kreuzimpfung ganz toll sei. Wer zuerst mit AstraZeneca geimpft wurde solle als Zweitimpfung BionTech oder Moderna erhalten. Ach ja, wie jetzt? Ein sehr verkniffener StiKo-Chef Mertens war da in den TV-Nachrichten zu sehen, wie er sagte, dass eine neue Datenlage dazu geführt habe, die Kreuzimpfung zu empfehlen. Das sind wir bereit zu glauben, auch weil Mertens sich bisher nicht von der Politik erpressen ließ (wie etwa zuletzt, als Markus Söder von der StiKo gefordert hatte, eine Impfung für Kinder ab 12 Jahren zu empfehlen). Aber auch wenn es

tatsächlich zutrifft, dass die Kreuzimpfung noch besser schützt als die bisherige Doppelimpfung mit BionTech, so ist doch kaum zu übersehen, dass auch andere Interessen hinter dieser Empfehlung stecken. Gesundheitsminister Jens Spahn will die bereits stockende Impfkampagne neu beleben und insbesonders den Ladenhüter AtraZeneca wieder attraktiver machen. Da bei der Kreuzimpfung nur vier Wochen zwischen der ersten Spritze mit AstraZeneca und der zweiten mit BionTech (oder Moderna) liegen, ist das quasi ein Angebot für Kurzentschlossene, die womöglich im August noch auf Reisen gehen wollen. Und die Leute reisen ja in diesem Sommer wie verrückt, als müsse schnell alles aufgeholt werden, was in den letzten 18 Monaten der Corona-Pandemie nicht möglich war.

Am Ende dieses Sommers steht eine ganz besondere Bundestagswahl an. Denn erstmals seit Ewigkeiten tritt der/die amtierende Kanzler/ in nicht mehr zur Wahl an. Merkel ist weg. Das ist kaum zu fassen, da es ein Vakuum in Sachen Raute hinterlässt, dessen Kräfte an die einer Windhose erinnert. Und wie es vor politischen Naturkatastrophen oft so ist, liegt derzeit eine seltsame Stille über dem Land.

Armin Laschet, CDU-Chef und (nach langen Hin und Her mit Markus Söder) Kanzlerkandidat der Union, scheint im Wahlkampf hauptsächlich die Devise gewählt zu haben, möglichst wenig zu sagen und zu machen, weil man da ja doch nur viel falsch machen könne. Laschet will für die Ausgeglichenheit der fehlenden Merkel stehen, um damit quasi ihren Amtsbonus zu übernehmen. In diesem Sinne ist ein typischer Laschet in diesem Sommer, dass er einem gewissen Karl Lauterbach (und anderen) widersprach, als dieser ein Bußgeld für Impfterminschwänzer forderte. Während Lauterbach eine gewisse Engstirnigkeit demonstrierte, nahm Laschet dies zum Anlass, seine Grundsatzhaltung des Ausgleichs hell erstrahlen zu lassen. Man könne Solidarität nicht über Strafen befördern, ließ Laschet also die Republik wissen. Womit eine solche Solidarität sonst erzeugt werden könnte, sagte er nicht. Motto: Keine Sorge, unter mir wird alles ausgewogen sein und keiner hat etwas zu befürchten.

Subtext hier natürlich: Ganz im Gegenteil zu den Gefahren, die drohen, wenn Annalena Baerbock die Wahl gewinnen würde. In einer groß angelegten Medien- und Netzkampagne wird die Kanzlerkandidatin der Grünen täglich attackiert, um sie ihrer Stärken zu berauben. Sie wird als Person diskreditiert, damit sie über sich selbst sprechen muss und nicht über ihre politischen Inhalte. Darin wäre sie stark. Das soll nicht zum Tragen kommen.

Die Wahlprogramme der Parteien bleiben schwer im Ungefähren. Alle wollen Klimaschutz, irgendwie. Die Union will die Vermögenden mal wieder maximal schonen und die Steuerlast für Unternehmen deckeln. Armin Laschet setzt auf ein „Weiter so“ und auf Wirtschaftsliberalität, womit die Union auch der FDP deren Kernthema abspenstig machen will. Könnte ja sonst sein, dass die FDP am Ende mit den Grünen und der SPD eine Ampel aufmacht. Die SPD setzt auf eine Umverteilung von oben nach unten, will eine Einkommensteuer-Reform, die sehr hohe Vermögen belastet, dafür aber mittlere und untere Einkommen besserstellt (siehe Seite 7). Außerdem will sie den Mindestlohn erhöhen und Hartz IV durch ein Bürgergeld ersetzen. Es ist eine klare Ansage, immerhin. Spannend ist dabei der Mix aus diesem Programm und Olaf Scholz als Kanzlerkandidat. Denn dieser hatte bisher immer die Agenda 2010 von Gerhard Schröder verteidigt. Die Grünen sind beim Thema Klimaschutz am glaubwürdigsten und wollen ein Energiegeld einführen, das sozial Schwächeren einen Ausgleich schafft.

Vorhersagen der Meinungsforschung, also Sonntagsfrage und so, gleichen in diesem Sommer mehr einem Wort zum Sonntag. Denn es gibt immer weniger „Stammwähler“ und dafür immer mehr Themenwähler, die sich erst kurz vor dem Kreuzmachen entscheiden. Es herrscht eine Art Windstille vor dem Wirbelsturm. Sicher ist, dass weder die Pandemie und schon gar nicht der gefährliche Klimawandel durchs Nichtstun in den Griff zu kriegen sind. Der Herbst wird turbulent.

This article is from: