Reise ins Land der untergehenden Sonne

Page 1

Christine Ax

Reise ins Land der untergehenden Sonne Japans Weg in die Postwachstumsgesellschaft

edition

ZE!TPUNKT


Das 20. Jahrhundert war eines der Umverteilung von VermĂśgen, im 21. Jahrhundert wird es um die Umverteilung von Arbeit gehen. James W. Vaupel, Leiter des Max-Planck-Institutes fĂźr demografische Forschung


Reise ins Land der untergehenden Sonne *



Christine Ax

Reise ins Land der untergehenden Sonne Japans Weg in die Postwachstumsgesellschaft

edition

ZE!TPUNKT


Christine Ax Reise ins Land der untergehenden Sonne – Japans Weg in die Postwachstumsgesellschaft ISBN: 978-3-9523955-1-6 Satz und Gestaltung: Zeitpunkt, Solothurn Fotos: Christine Ax Produktion: Synergia Verlag und Mediengruppe, Darmstadt Printed in the EU Š 2014 Christine Ax und edition Zeitpunkt Werkhofstr. 19, CH-4500 Solothurn, www.zeitpunkt.ch


Inhalt Gelandet Botschaften aus einer anderen Welt Tokyo Store Wundersam Salaryman Das «ie» Lost without Translation Bevölkerungsentwicklung: Japan hat «Vorsprung» Japan GLAUBT an Technik Arbeit wichtiger als Familie Von Japan lernen: Was man nicht machen soll Multiple Reproduktionskrisen Sightseeing und ein kurzer Anfall von Rosa Public Happiness: Wie glücklich macht das öffentliche Glück? Erschöpft Shinkansen Kyoto: Die Seele Japans? Tokyo Tokyo Tokyo Schrumpfen auf höchstem Niveau Wie geht es weiter? The Big Shift «Kreative Entvölkerung» – geht das? Lessons Learned Über die Autorin

7 12 14 18 20 22 24 29 32 33 35 38 40 44 46 48 49 59 63 65 69 72 74 78


Wenn Sie gerne weiterlesen mรถchten, bestellen Sie bitte Ihr Exemplar hier. (80 Seiten, Fr. 12.50/Euro 10.-)


Gelandet Wachsen oder sterben, dies ist das erste Gebot der Wirtschaft. Aber wie wächst ein Land, dessen Bevölkerung schrumpft? Diese Frage, die wir uns im Westen erst noch stellen müssen, treibt mich nach Japan. Hier hat man es in den letzten zwanzig Jahren mit allem versucht: mit Geldschöpfung, Technologie, kollektiver Hingabe und sogar mit der Aufgabe jahrtausendealter Traditionen. Ist das Ziel, die Quadratur des Kreises, erreicht oder wenigstens näher gerückt? Nach elf Stunden Flugzeit Richtung Osten, der Sonne entgegen, landet die Boeing 747 endlich in Tokio-Haneda. Wir kommen von der Seeseite. Die Landebahn steht auf Stelzen im Wasser. Tokyo liegt in der Kantõ-Ebene im Osten der japanischen Hauptinsel Honshu und bedeutet «Östliche Hauptstadt». Aus der Luft betrachtet handelt es sich um einen endlosen Flickenteppich aus Häusern, Feldern und Industrieanlagen und vereinzelt Inseln aus Wolkenkratzern. Mit fast 36 Millionen Menschen ist es die größte Metropolregion der Welt. Es folgt eine erkennungsdienstliche Behandlung: Die erste Kamera überprüft, ob man Fieber hat. Kranke müssen sofort in Quarantäne. Warum tragen so viele JapanerInnen einen Mundschutz? Ich fülle Zettel aus: Flugnummer, Wohnort, Barschaft. Und nein: Ich habe keine Drogen im Gepäck, ich wurde noch nie dieses Landes verwiesen und ich habe bisher keinen Terrorakt auf japanischem Boden verübt. Aber wer weiß? Gut, dass wir drüber gesprochen haben. Dann werden meine Fingerabdrücke genommen. Lustig. Und ich werde fotografiert. Die JapanerInnen, die das mit uns tun, tragen Mundschutz. Hier gilt definitiv kein Vermummungsverbot. Bei mir kommt an: Ich bin nicht ok. Du bist nicht ok. Wir sind nicht ok. Auch gut. Der Besuch einer öffentlichen Toilette macht mich ratlos. Ich stehe vor Apparaturen, von denen ich nicht weiß, was man damit anfängt. Sie erinnern mich an gar nichts. Das Auslösen der Toilettenspülung erfordert das Studium einer Computer-Nutzeroberfläche, die aus zahllosen japanischen Schriftzeichen besteht. Überall hängen Sicherheitshinweise, Feuerlöscher und Defibrillatoren. Einfach und

©edition zeitpunkt

7


praktisch sind die öffentlichen Trinkwasserspender. Wasser für alle! Eine gute Idee. Mein Sohn holt mich ab. Ich habe ihn seit einem halben Jahr nicht gesehen. Er hat sich mit zwei Freunden in Tokyo selbständig gemacht. Welch ein Abenteuer! Wir nehmen die U-Bahn, und ich mache erste Bekanntschaft mit dem perfekt funktionierenden öffentlichen Nahverkehr Tokyos. Die Guthabenkarte, die mir mein Sohn aus einem Apparat zieht und auf der ich kein einziges Zeichen lesen kann, entlädt sich bei jedem Durchschreiten der Schranken an den Ein- und Ausgängen der U-Bahnen. Neben den perfekt funktionierenden Schranken stehen Menschen mit Mundschutz. Aufsichtspersonal. Mein Sohn sagt: In Bus und Bahn wird nicht gesprochen – aber gerne geschlafen. Ich fahre durch eine Stadtlandschaft, in der kleine Häuser, alte Häuser, hohe Häuser und neue Häuser ohne erkennbares Muster extrem dicht an dicht stehen. Die meisten sind weder schön noch hässlich, sondern einfach nur irgendwie quadratisch und da. Wie exotisch. Nur selten machen winzige Inseln der Schönheit auf sich aufmerksam: ein kleiner Tempel, ein kleiner Park. Seit dem 19. Jahrhundert leben in Tokyo mehr als eine Million Einwohner. Seit den späten 1940er Jahren ist die Metropolregion Tokio erneut rasch gewachsen, sowohl nach Fläche als auch nach Einwohnerzahl. Hier lebt ungefähr ein Viertel der Gesamtbevölkerung Japans. Ihre äußere Grenze liegt 40 und 70 Kilometer vom Stadtzentrum entfernt. Demgegenüber hat sich seit 1965 die Bevölkerung der 23 Bezirke verringert, steigt aber momentan durch Reurbanisierung wieder an. Die 23 Bezirke haben zusammen 9 117 859 Einwohner (Stand: 1. Mai 2014). Der Großraum Tokio bildet gemeinsam mit den angrenzenden Präfekturen Kanagawa, Saitama und Chiba das größte zusammenhängende urbane Gebiet der Erde (Megaplex) mit 34,5 Millionen Einwohnern (2005). Die Metropolregion beherbergt 27 Städte mit mehr als 200 000 Einwohnern, 17 Städte mit einer Bevölkerung von über 300 000, und acht mit einer Einwohnerzahl von mehr als 500 000. Tokyo hat drei weitere Millionenstädte als Vororte: Yokohama, Saitama und Kawasaki. Im östlichen Vorort Chiba leben etwa 900 000 8

©edition zeitpunkt


Menschen. Yokohama im Süden Tokios hat mit 3,6 Millionen Einwohnern etwa ebenso viele Einwohner wie Berlin oder Madrid. Obwohl es in Tokyo viele Büros gibt, die leer stehen, werden ständig neue gebaut. Wohnen ist in Tokyo sehr teuer; trotzdem verlieren japanische Einfamilienhäuser rasant an Wert. Kaum hat man sie abbezahlt, werden sie gleich wieder abgerissen. Sie halten im Durchschnitt 35 Jahre1. Leichtbauweise. In Deutschland geht man von mindestens 60 Jahren oder mehr aus. In der ehernen Schweiz baut jeder für die Ewigkeit. My home is my castle. Tokyo ist unglaublich sauber. Die kleine Straße, in der ich mitten in Tokyo wohne, hat einen dörflichen Charakter und ist sehr ruhig. Man kennt sich und grüßt sich. Friedlich baumelt die Wäsche auf den Balkonen oder vor den Häusern im Wind. Wir schließen unsere Tür nicht ab. Tokyo macht mich staunen. Die Gegensätze sind frappant. Im Zentrum einiger Quartiere stehen Hochhäuser dicht an dicht, drumherum Arbeit, Vergnügen und Wohnen. Aber es gibt auch große Wohngebiete mit kleinen Häusern und kleinen Einkaufsstraßen. In fast allen kleinen Häusern wohnt parterre das Auto, das fast immer irgendwie zu groß wirkt. Der Flur im ersten Stock unseres Hauses ist nur wenige Zentimeter breiter als die Badezimmertür. Um das winzige Badezimmer zu verlassen, führe ich die Tür bis an die Wand und betrete dann den Flur. Geht auch. Diese Stadtlandschaft frisst Strom. Es gibt Milliarden elektrischer Geräte überall. Ventilatoren, elektrische Toilettenspülungen, elektrische Türen, Klimaanlagen … Japan, dein Vorname sei Elektro. Energiesparen scheint kein Thema zu sein. So sparsam wie mit Fläche umgegangen wird, ist es erstaunlich, dass das Wohnen im eigenen Haus die Regel ist. Überall wo ein Stückchen unbebauter Boden ist, hat irgendjemand etwas angepflanzt. Jede Lücke wird irgendwie genutzt und die Sträucher und Bäume ergreifen willig jede Chance, 1 Prof. Evelyn Schulz, Professorin am Japan-Zentrum der Ludwig-MaximiliansUniversität in München, erklärte 2009, dass die Bemühungen der japanischen Regierung, langlebiger zu bauen, ein «enormer Bruch mit der Tradition» sei. Die traditionelle Bauweise sei derzeit auf 30 Jahre angelegt. Bauen mit starren Materialien wie Backsteinen oder Beton sei wegen der Erdbebengefahr noch immer umstritten.

©edition zeitpunkt

9


10

Šedition zeitpunkt


sich in diesem Häusermeer breitzumachen. In einem wundersamen Gegensatz zu den vielen Hightech-Geräten ist der Zustand der öffentlichen Infrastruktur. In den Straßen hängen überall Stromleitungen herum. Schlängeln sich durch die Straßen und Hinterhöfe, werden manchmal von Holzpfosten getragen oder schmücken die zahllosen Straßenbäume, winden sich durch ihre Äste von Baum zu Baum. Wir gehen am Kirschblütenfluss vorbei. Aber: Nur wenn die großen unterirdischen Regenwasser-Auffangkavernen voll sind, fließt hier wirklich was. Den Kirschblüten ist es egal. Junge Frauen mit Kindern, Senioren und Schüler spazieren durch den öffentlichen Raum. Ich schließe mich dem öffentlichen Kirschblütenfotografieren willig an. Dann überwältigt mich die Müdigkeit. Wir gehen nach Hause. Ich bin nur freundlichen Menschen begegnet. Es geht mir gut.

©edition zeitpunkt

11


Botschaften aus einer anderen Welt Nach zehn Stunden Schlaf erste interessante WG-Gespräche, Berichte aus Japans Arbeitswelt. Einem japanischen Freund, der auch in England studiert hat, wurde die Kollegin, die ihm bis gestern den Kaffee gekocht hat, als Vorgesetzte präsentiert. Es gilt das Senioritätsprinzip. Wie demotivierend für die jungen Leute, die heute immer öfter westlich denken und fühlen! Aber immer noch normal. Normal, so lerne ich, sei es auch, bis spät in den Abend im Büro zu bleiben, obwohl man nichts zu tun hat. Das Nichtstun, so sagt man, erfüllen JapanerInnen mit dem gleichen Fleiß und der gleichen Ergebenheit wie alle anderen Aufgaben. Der Japaner und die Japanerin verlässt aus Prinzip erst das Büro, wenn der Chef oder die Chefin geht. Tokyos Vermieter mögen übrigens keine Ausländer. An Ausländer zu vermieten ist nicht «sicher». Sicher ist: JapanerInnen bringen sich lieber um, als ihre Schulden nicht zu bezahlen. Wer seine Schulden nicht bezahlt, verliert sein Gesicht. Scheitern ist hier einfach keine Option. Nicht vorgesehen. Soziologisch gesehen, mag das lange funktioniert haben. Aber was macht das mit einem Land, in dem die Armut so schnell wächst und sich inzwischen 70 Prozent der BewohnerInnen vom sozialen Abstieg bedroht fühlen? Das Gemeinsame, die Harmonie, das Kollektiv, so sagt man, seien wichtiger als das Individuum. Und weil niemand sein Gesicht verlieren darf, ist die erste Regel, höflich wegzuschauen. Ich sehe dich nicht, du siehst mich nicht. Wir streiten über die Frage, ob man Japan überhaupt verstehen kann und wie man andere Kulturen beurteilt, und die Frage nach dem «Allgemeinmenschlichen». Gibt es das überhaupt? Oder haben JapanerInnen andere Bedürfnisse? Alle Menschen wollen geliebt werden, sagt der Freund meines Sohnes. Ihm glaub ich das sofort. Aber gilt das auch für JapanerInnen? Denn gerade die Liebe scheint es in Japan nicht einfach zu haben. Gemäß Studien leben 30 Prozent aller jungen Menschen bewusst ohne 12

©edition zeitpunkt


das andere Geschlecht und sehr oft ohne Sex. Geheiratet wird erst jenseits der dreißig. Seltsame Dinge habe ich gelesen: Frauen finden keine Männer, die ihren Ansprüchen genügen und die sie als gleichberechtigt anerkennen, und Männer finden echte Beziehungen nur mühsam. Sie ziehen virtuelle Beziehungen und virtuellen Sex mit Manga-Heldinnen vor. Japan ist eine zutiefst frauenfeindliche Kultur. In der Zeitung kann man lesen: Ministerpräsident Abe darf sich immer noch nicht für die systematische Vergewaltigung von Koreanerinnen im Zweiten Weltkrieg entschuldigen. Auch das sei eine Frage der nationalen Ehre.

Wenn Sie gerne weiterlesen möchten, bestellen Sie bitte Ihr Exemplar hier. (80 Seiten, Fr. 12.50/Euro 10.-)

©edition zeitpunkt

13


Tokyo Store Ich liebe die Besichtigung von Supermärkten. Nirgendwo sonst kann man ein fremdes Land so gut kennenlernen. Die TokyoStore-Filiale an der Meguro Dori ist von einer durchsichtigen und gleißenden Schönheit: sauber, hell, kühl und übervoll mit allem. Sie öffnet um 10 Uhr morgens und schließt um 22 Uhr. Von den 100 000 Produkten kenne ich vielleicht 10 Prozent. Die Luft ist voller sanfter Klänge, freundliches Gesäusel, durchsetzt von einer Mischung aus Klingelingeling und Ding-Dang-Dong. Staunend betrachte ich eine der vielen Erdbeerschachteln. Alle Erdbeeren sind gleich groß, sehen gleich aus und liegen in Reih und Glied neben- und übereinander. Mein Einkauf: Ein Plastiksäckchen mit vielen lustigen kleinen bunten Tomaten aus dem großen Tomatenregal, Algensalat, Milch, Joghurt, ein japanisches Bier, kleine Brote und Schinken. Ich spaziere die Meguro Dori hinunter und besichtige einige der zahlreichen kleinen Möbelläden. Was in Europa auf dem Sperrmüll landet, wird hier teuer als Vintage verkauft. Reich werden derzeit Händler, die die Jutebeutel europäischer Discounter für 25 Cent einkaufen und für 25 Euro verkaufen. Irgendwie ist Europa hier schwer in Mode. Spannend sind auch Neumöbelläden. Sie verkaufen Vollholzmöbel, die genauso aussehen wie die dänischen und schwedischen Möbel aus den 60er und 70er Jahren. Ich sehe vor allem Nussbaum und Klassiker der Moderne. Alles sehr teuer. Japanische Keramik ist selten und unbezahlbar, schade. Ich frage mich, ob es überhaupt noch japanisches Handwerk gibt. Ich entdecke einen Ästhetikshop der Kosmetikbehandlungen, Lifting und Fastfood kombiniert. Auf der Karte stehen bei jedem Gericht die Kalorienzahlen. Es gibt 500-Kalorien-Menüs für nur 900 Yen (6 Euro). Ein japanischer Secondhandshop wirbt mit einer Hymne an den Wert der Dinge. Nicht ganz so poetisch wie Pablo Nerudas «Ode an die Dinge», aber interessant: Man versteht sich als Vermittler zwischen wahren Werten und Menschen, die wahre Werte erkennen. Popcornäden schießen derzeit aus dem Boden, hatte mir mein Sohn erzählt. In einer der teuersten Straßen stehen junge Japa­ 14

©edition zeitpunkt


Šedition zeitpunkt

15


nerInnen bis zu zwei Stunden an. Sie stehen nicht trotz, sondern wegen der Schlange an. Es gibt ihnen das gute Gefühl, am richtigen Platz zu sein. Wer JapanerInnen einen Gefallen tun möchte, erfindet Schlangen. Es gibt Geschäftsleute, die mieten gefakte Kunden, die vor ihrem Laden Schlange stehen. Ein lohnendes Geschäft für beide. Am frühen Nachmittag surfe ich im Internet und ­beschäftige mich mit der Website von Japan for Sustainability (www.japanfs.org). Junko Edahiro, die Journalistin und Wissenschaftlerin, die diese Seite betreut und deren Newsletter ich regelmäßig lese, werde ich gegen Ende meiner Reise treffen. Ich stolpere über verblüffende Visionen. Eines der führenden Institute in Sachen Zukunft und Bauen träumt von Wohnwelten auf dem Meer und im Weltall: http://www.shimz. co.jp/theme/dream/movie/dream02.html. Aber warum nur? So schrecklich ist Japan doch gar nicht! Und es wird hier in Zukunft auch wieder sehr viel mehr Platz geben. Nachmittags spazieren wir die Shibuya-Ku, Tokyos ChampsElysées hinunter. Links und rechts stehen Flagstores internationaler Luxusmarken: von Hugo Boss über Gucci bis Max Mara. Geworben wird hier übrigens nur mit europäischen Models. Auf dem breiten Boulevard flanieren elegante Menschen. Das könnte Paris sein oder Rom. Man legt großen Wert auf europäische und internationale Designerkleidung. Allerdings wurde diese Kleidung großgewachsenen, langbeinigen Models auf den Leib geschneidert und nicht kleinen, kurzbeinigen JapanerInnen. Mein großgewachsener Sohn zieht viele bewundernde Blicke auf sich – nicht nur vom weiblichen Geschlecht. Er wirkt außer­ irdisch. Wir treffen zufällig eine seiner Bekannten. Die junge Japanerin erzählt in gutem Englisch, dass Tokyo nicht das wahre Japan ist. Mir hingegen kam Tokyo bisher sehr japanisch vor. Ich frage nach. Wo ist das wahre Japan? Sie vermutet es eher auf dem Land. Ich frage nach: Woran erkennt man es? Die junge Frau hat es plötzlich eilig. Meine Nachfrage, sagt mein Sohn, war gar nicht höflich. Ich habe sie in Verlegenheit gebracht. Mami-San muss noch eine Menge lernen. Aber deswegen bin ja auch da. In der Takeshita Street wird es sehr schrill und sehr japanisch (oder vielleicht doch nicht?). Macht es 16

©edition zeitpunkt


Sinn, in diesem Kontext dieses Wort zu gebrauchen? Ich bin verunsichert. Wo ist Japan? Die weltberühmte Takeshita Street, eine winzige Gasse, ist für das junge Japan eine der beliebtesten Attraktionen. Tausende junge JapanerInnen schieben sich täglich durch diese Gasse. Alle todesmutig angezogen. Wahre Samurai. Schwarz, Rot und Weiß sind sehr beliebt. Aber rosa und Hellblau dominieren. Wer nicht zur «Ich bin klein und süß und rosa»-Fraktion» gehört, ist Punk, trägt Gothik oder hat rote, blaue oder grüne Haare. Die beiden Geschlechter sind manchmal schwer auseinanderzuhalten. Junge Männer bemühen sich um einen möglichst weiblichen Look. Sie wollen niedlich aussehen. Junge Frauen verkleiden sich als Schulmädchen-Nutten oder kommen eher männlich daher. Das finde ich alles sehr gewöhnungsbedürftig und ich frage mich, wie das zu dem Bild einer Nation passt, in der die Harmonie und die Anpassung an soziale Normen über allem steht. Die Trendforscher aus aller Welt lieben Tokyo, sagt man. Falls sie recht haben und uns Japans Jugend modisch immer ein paar Jahre voraus ist, dann wird es demnächst richtig bunt auf Europas Straßen.

©edition zeitpunkt

17


Wundersam Den Abend verbringe ich in sehr internationaler Gesellschaft in einem der besten Fischrestaurants Tokyos. Links von mir sitzt Franziska, die in einem der teuersten Hotels der Stadt ein Langzeitpraktikum macht, danach geht es zurück nach St. Gallen. Rechts von mir sitzt Hidemi. Sie ist Japanerin koreanischen Ursprungs und mit Andreas aus Münster verheiratet. Zusammen bauen sie in Tokyo eine Marketingagentur auf. Der hellwache einjährige June auf ihrem Schoß bedient souverän Hidemis iPhone und wenn er nervt, darf er zur Belohnung Kinderfilme anschauen. Die beiden sind wild entschlossen, ihrem Sohn die kulturelle Isolation zu ersparen, die es bedeutet, Japa­ner zu sein. June soll viersprachig groß werden. Mindestens. Mitbewohner Fritz, der auch am Tisch sitzt, ist norddeutsch. Die Freundin meines Sohnes ist eine in Australien aufgewachsene Japanerin. Und dann ist auch noch Cece dabei, eine deutsche Backpackerin die drei Monate durch Asien gereist ist und in Kürze von Tokyo aus nach ­Hause fliegt. Es gibt köstliche Sushis, Fischcarpaccio, Thunfischbäckchen, einen Fisch in Salzkruste gegart. Alles sehr lecker. Maria verführt mich dazu, ein Fischauge zu essen. Sie sagt, es schmecke köstlich und sei sooo gut für den Teint. Ich bin betrunken genug, es zu probieren. Ich befolge ihre Anleitung: Erst die Pupille rausnehmen und dann den zurückbleibenden Gelee essen. Die Pupille zu entfernen, ist nicht schwer. Das labbrige Etwas anschließend mit den beiden Stäbchen aus der Suppe zu fischen, ist ein Kunststück und gelingt mir zur Freude aller nicht. Irgendwann gebe ich auf und führe die Essschale zum Mund – schlürfen ist beim Essen sehr angesagt. Was mir dann in den Mund flutscht, schmeckt nach gar nichts. Nach überstandener Mutprobe wird mir schlecht. Ich empfinde Ekel vor der Frau in mir, die Fischaugen isst. Und ich bin nicht sicher, ob mir die andere Frau in mir, die so etwas eher eklig findet, nicht sympathischer wäre. Ich lerne: Nicht nur der durch Funk und Fernsehen bekannt gewordene deutsche Jungphilosoph ist viele. Auch ich bin ich mehr als ich dachte. Reisen bildet. Definitiv. 18

©edition zeitpunkt


Danach spazieren wir durch das Vergnügungsviertel Shibuya und kommen an vielen Lovehotels vorbei. Auf den Schildern, die ich nicht lesen kann, werden Zimmer für zwei Stunden angeboten. Eine schöne japanische Tradition, die sich nach Einschätzungen der anderen heute nicht mehr mit beengten Wohnverhältnissen und dünnen Wänden erklären lässt. Sie werden vor allem von älteren Japanern mit süßen jungen Japanerinnen aufgesucht. Zum gemeinsamen MangaLesen vermutlich. Franziska macht mich mit weiteren wundersamen Aspekten des modernen Japan vertraut. Als Betreuerin der VIP-Lounge ist sie sehr nah an den Gästen. Ehepaare, sagt sie, kommunizieren nicht, sondern setzen ihre ganze Energie daran, das Bild eines perfekten Paares abzugeben. Keine Gefühle. Keine Beziehung. Sie selber erklärt es sich mit Angst. Und sie sagt: Andererseits kannst du hier jede Obsession ausleben, und alle finden es normal. Im Hotel ist ihr größtes Problem das Senioritätsprinzip und ausufernde, starre Hierarchie. Sie darf als Führungskraft älteren Mitarbeiterinnen niemals direkt sagen, was sie tun sollen oder dass sie etwas falsch machen. Und bevor ein Salzstreuer auf Tischen einen neuen Platz einnehmen darf, ist eine Entscheidung eines Managers erforderlich, der gefühlte zehn Hierarchiestufen weiter oben angesiedelt ist. Auf ungeplante Ereignisse reagieren ihre japanischen Kolleginnen mit Angststarre. Sie trauen sich nicht, etwas zu entscheiden oder zu tun.

©edition zeitpunkt

19


Salaryman Danach geht es zum Karaoke. Das ist hier wirklich ein Volkssport. Wir buchen als Gruppe im siebten Stock einen engen Raum. Das Flat-Rate-Trinken ist meist inklusive. Mit Rücksicht auf die anderen singe ich möglichst nicht. Cece ist sehr geübt und kann es mit manch einem Popstar aufnehmen. Im Nachbarsaal tobt der Bär. Beim Rausgehen werfe ich einen Blick durch die Glastür. Eine große Gruppe Japanerinnen und Japaner schreit sich dort die Lunge aus dem Hals. Man tanzt auf dem Tisch. Ich hatte bisher immer gedacht, der Karneval im Rheinland sei ziemlich exzessiv. Aber die hier können locker mithalten. Von Zurückhaltung keine Spur. Die U-Bahn auf dem Weg nach Hause ist voll angetrunkener Männer in schwarzen Anzügen. Ein paar junge Frauen in Business­ uniformen sind auch dabei. Das Trinken und Singen mit Kollegen oder Vorgesetzten ist eines der vielen schmerzhaften Rituale, unter denen Japans ArbeitssoldatInnen leiden. Dem «Salaryman» widmet eine englischsprachige Taschenbuchreihe Gebrauchsanleitung Japan ein ganzes Büchlein. Nach gründlichem Studium erscheint mir alles noch viel exotischer, aber auch verständlicher. Seinen Angestellten, so ist zu lesen, verdankt ­Japan seinen großen Erfolg in der Welt. Ein japanischer Salaryman lebt noch immer ganz und gar für sein Unternehmen und tut alles, um Karriere zu machen. Karriere machen muss man als Salaryman, denn keine Karriere zu machen bedeutet Gesichtsverlust. Die ohnehin hohe Selbstmordrate Japans ist unter 40- bis 50-jährigen Männern am höchsten, weil dann die Probleme eskalieren, die mit diesem Lebensentwurf entstehen: Das Karriereziel wurde nicht erreicht, die Ehe ist gescheitert oder die Kinder funktionieren nicht, wie sie sollten. Und schon droht der Gesichtsverlust. Karriere in Japan geht so: Alle werden ihr Leben lang befördert. Manche öfter, andere seltener. Die wichtigste Regel aber ist auch unter diesen Bedingungen: Das Gesicht des Anderen (Kollegen) wahren. Man darf niemals etwas tun, was KollegInnen beschämt. Schon das Aufheben eines Gegenstandes, das ein anderer fallen ließ, kann 20

©edition zeitpunkt


eine Überschreitung dieser unsichtbaren Grenze bedeuten. Besser ist, man ignoriert jedes Missgeschick und tut so, als ob immer alles in Ordnung wäre. Wer offensichtlich besser sein möchte als KollegInnen, ist peinlich. Erwünscht hingegen sind alle Signale bedingungsloser Gefolgschaft und die Bereitschaft, alles zu tun, was für das gemeinsame Unternehmen gut ist. Viele Unternehmen besitzen hier große Wohnanlagen, in denen sie ihre MitarbeiterInnen unterbringen. Dort geht der ganze Wahnsinn weiter. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass ein jung verheirateter Salaryman sich abends die Klagen seiner Frau darüber anhören muss, wie schlecht sie von der weiblichen Vorsitzenden des Clubs behandelt wurde, dem sie angehören muss, damit ihr Ehemann Karriere machen kann. Wenn die Clubvorsitzende dann auch noch die Ehefrau des Chefs ist (was sehr wahrscheinlich ist), spart man doch gerne jeden Yen, um sich ein Häuschen in einem der kleinen, gemütlichen Vororte leisten zu können. Der Salaryman verbringt ab dann zwei bis drei Stunden am Tag in der U-Bahn und ist selten vor Mitternacht zu Hause. Wenn seine Frau ihn noch lässt, darf er dann bis sechs Uhr morgens im gemeinsamen Ehebett schlafen. Es kommt mir wie eine Art Dienstknechtschaft vor. Der Feudalismus ist auch in Japan nicht sehr lange her.

Wenn Sie gerne weiterlesen möchten, bestellen Sie bitte Ihr Exemplar hier. (80 Seiten, Fr. 12.50/Euro 10.-)

©edition zeitpunkt

21


Šedition zeitpunkt

77


Christine Ax Die Philosophin und Ökonomin forscht und schreibt seit Anfang der 90er Jahre über Aspekte des nachhaltigen Wirtschaftens. In ihren letzten beiden Büchern «Die Könnensgesellschaft» und «Wachstumswahn» beschäftigt sie sich mit der Bedeutung der Wachstumsfalle und mit Auswegen daraus. Sie schreibt in Hamburg, forscht als Senior Researcher am Sustainable Europe Research Institute in Wien und ist Mitglied des Netzwerkes Vorsorgendes Wirtschaften. Ausgewählte Publikationen Arbeit – gut fürs Leben, in: Netzwerk Vorsorgendes Wirtschaften (Hrsg.): Wege Vorsorgenden Wirtschaftens. Metropolis, Marburg, 2013. S. 297-310. Wachstumswahn – was uns in die Krise führte und wie wir wieder herauskommen. Ludwig, München, 2013. (Zusammen mit Friedrich Hinterberger) Die Könnensgesellschaft – mit guter Arbeit aus der Krise. Rhombos, Berlin, 2009. Das Handwerk der Zukunft, Leitbilder für Nachhaltiges Wirtschaften, Birkhäuser Verlag, 1997. Zum Thema Demografischer Wandel: Christine Ax, Hans-Ulrich Klose (Hg): Das Handwerk der Zukunft in einer alternden Gesellschaft, Reihe «Demographie und Politik», Bonn 1998; Christine Ax, Friedrich Hinterberger: Beyond Growth: exploring the alternatives Healthy, wealthy and wise? The future of health and social policies after economic growth In: SCORAI Europe Workshop Pro-ceedings, S. 67-79: Sustainable Consumption during Times of Crisis First Trans-Atlantic SCORAI Workshop May 1, 2012, Bregenz, Austria

78

©edition zeitpunkt


Veränderungen kann man nicht bestellen,

aber die Anregungen dazu!

Die Zeit für Nachbesserungen an unserer Gesellschaft läuft ab. Es reicht nicht mehr, die Dinge zu optimieren; wir müssen anders an sie herangehen. Der Zürcher Kult­autor P.M. («bolo bolo») setzt dort an, wo das Zusammenleben beginnt, in der Nachbarschaft. Anstatt sie auf ein gelegentliches Quartierfest zu beschränken, gibt er ihr eine wirtschaftliche Funktion und eine politische Rolle. «Neustart Schweiz» ist nicht als Antwort auf die Finanz- und Energiekrise gedacht, aber es ist eine. P.M.: Neustart Schweiz – so geht es weiter. Edition Zeitpunkt, 2. erw. Aufl., 2010, broschiert. Fr. 18.70 / € 15.50. Die meisten Menschen – auch Banker – meinen, alles Geld komme von der Zentralbank. Die Realität ist anders: Rund 85 Prozent des Geldes werden unbar von den privaten Banken geschöpft – jedes Mal, wenn sie einen Kredit vergeben. Die Folgen sind verheerend: gefährliche Finanzblasen, exponentiell wachsende Verschuldung, Umverteilung, Inflationsgefahr. Dieses Buch schlägt vor, die Geldschöpfung auf die Nationalbank zu beschränken. Das Resultat ist ein sicheres, von der Bonität der Banken unabhängiges Geld, das voll durch gesetzliches Zahlungsmittel gedeckt ist. Verein Monetäre Modernisierung (Hrsg.): Die VollgeldReform – wie Staatsschulden abgebaut und Finanzkrisen verhindert werden können. Mit Beiträgen von Hans Christoph Binswanger, Joseph Huber und Philippe Mastronardi. Edition Zeitpunkt, 4. Aufl., 2014. 84 S. Fr.12.50/€ 9.50. Die Zeitschrift für intelligente Optimistinnen und konstruktive Skeptiker.Der Zeitpunkt zeigt, wie die grossen Schwierigkeiten dieser Zeit zur grossen Chance werden. Der Zeitpunkt erscheint zweimonatlich. Einzelnummer: Fr. 10.–/Euro 8.–. Der Abobeitrag wird von den Lesern selbst bestimmt. www.zeitpunkt.ch

80

©edition zeitpunkt


Japans Bevölkerung schrumpft und altert. ­Gleichzeitig will, ja, muss das Land der aufgehenden Sonne ­wirtschaftlich wachsen – die Quadratur des Kreises. Die Philosophin und Nachhaltigkeitsforscherin Christine Ax nimmt Sie mit auf die Reise in ein Land, das zehn Jahre tiefer in einem Problem steckt, das den übrigen Ländern des Westens erst noch bevorsteht. Sie zeigt, wie die bisherigen Lösungen – Konjunktur­ programme und billiges Geld – noch nie die ­gewünschten Effekte erzielten, sondern nur die nächste Krise ­vorbereiteten. Japan verstehen heisst, uns selber in zehn Jahren zu ­verstehen und den einzigen wahren Reichtum zu ­erkennen: das Leben.

ISBN 978-3-9523955-1-6 www.zeitpunkt.ch

edition

ZE!TPUNKT


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.