Dokumentation Kirchenmusiktage 2010-2014

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ZĂźrcher Kirchenmusikerverband

Dokumentation

K irch en mus iKt ag E 2010− 2014 ZĂźrcher Kirchenmusikerverband


Vorwort

«Überlegt euch was euch selber interessiert! Welchen Kurs müsstet ihr ausschreiben, damit ihr eure ehemaligen Studienkollegen ansprechen könnt? Dann kommen die anderen auch.» Die ersten Ideen des Kirchenmusiktags entstanden aus dieser einfach tönenden Aussage Beat Schäfers auf unsere Klage hin, dass wir unsere lieben Mitglieder mit unseren Angeboten nicht wirklich erreichen würden. Und so ergab sich unser Konzept alle unsere Kräfte und Kurse an einem Tag zu bündeln und uns ganz danach zu richten, was uns selber interessiert. Fünf Kirchenmusiktage und 50 Kurse später sind wir stolz darauf viele ‹alte› und ‹neue› Kolleginnen und Kollegen damit erreicht zu haben. Diese Sammlung von Referaten, Notizen, Berichten und Stimmungsbildern soll als Erinnerung für die vergangenen und als Werbung für die künfigen Kirchenmusiktage dienen. Unser herzlicher Dank gilt allen Referentinnen und Referenten, Berichterstattern und Helfern vor und hinter den Kulissen. Peter Freitag im September 2014

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Erster Kirchenmusiktag 2010

Startreferat: Daniel Fueter

1. Vom Amt zum Unternehmer – Die künftige Personalverordnung

Ursula Jaggi, Organistin und Präsidentin ZKMV

4. Gute Presse – Journalismus in eigener Sache

Michael Eidenbenz, Organist und DepartementsGabriela Schöb, Kantorin leiter Musik ZHdK und Journalistin

2. Öffentlichkeitsund Lobbyar8. beit in Gemeinde Do‘s and Don‘ts und Kanton für ChorUlrich Meldau, Kantor leiter vor dem und Organist Orchester 3. Zusammenarbeit aus der Sicht einer Pfarrperson Theo Haupt, Pfarrer

6. Bewerbungen – schreiben und beurteilen

Nicolas Plain, Kantor und Dirigent

10. Inputs für Rise up-Begleitungen am Klavier

9. Sind sperrige Risch Biert, Quarten und Dozent ZHdK Quinten auch Musik? – Werkvorstellung und Anleitung zur Improvisation

5. Ein sauberer Abgang – auch deine Pension Anleitung zur Improvisation

Andreas Jost, Organist und Dozent ZHdK

7. Jugendliche quälen – eine Anleitung

Eugenio Giovine, Kantor und Organist

Andreas Jost, Organist und Dozent ZHdK

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Referat zum Kirchenmusiktag 2010 Sehr verehrte Damen und Herren Gemäss Programmansage stehen Begrüssung und Referat in der nächsten halben Stunde auf der Tagesordnung. Ich bin als Verantwortlicher genannt. Gestatten Sie mir bitte, einen dritten Punkt zusätzlich auf die Traktandenliste und an den Anfang zu setzen: Meinen Dank. Es ist mir eine hohe Ehre, Ihren Tag einleiten zu dürfen. Ich danke für die Einladung, die mich angesichts meiner offensichtlichen kirchenmusikalischen Inkompetenz sehr überraschte. Ich danke Ihnen, und damit komme ich zur Begrüssung, dass Sie alle sich hier zu diesem Arbeitstag eingefunden haben, bereit, sich in kollegialem Umfeld für die künftige Berufsarbeit zu stärken, Anregungen an- und aufzunehmen, bereit, sich Fragen zu stellen, möglicherweise die eigene Praxis in Frage stellen zu lassen, bereit, der Neugierde nachzuleben und dem Bedürfnis nach Austausch. Ich wünsche Ihnen einen farbigen, vielfältigen, eindrücklichen Tag. Und schon bin ich beim Referat. Peter Freitag – ich muss redlicher Weise namentlich nennen, wer allenfalls der Adressat für Reklamationen meine Ausführungen betreffend wäre – hat mich nicht nur angefragt, sondern mir alle Freiheiten gelassen hinsichtlich der Gestaltung dieser Einführung in einen facettenreichen Tagesablauf. Dieser ist selbsterklärend, bedarf nicht meiner Erläuterungen, und ich darf deshalb anstreben, weniger einen weiteren Mosaikstein einzubringen, als ein paar Gedanken zu riskieren, die eine Art Mörtel sein müssten, die farbenfrohe Vielfältigkeit zu bündeln. Sie bemerken womöglich, dass meine Kompetenz, was die Fertigung von Mosaiken angeht, ähnlich beschränkt ist, wie jene schon erwähnte, die Ihren Berufsstand betrifft. Ich darf mich glücklich schätzen, dass Peter Freitag nicht meinen vergeblichen Versuchen vor 40 Jahren lauschte, als ich bei Robert Appert Orgelstunden besuchte. Meine Unfähigkeit, die Finger regelkonform zu verknoten, war das kleinere Übel.

Schlimmer stand es um die Füsse. Mein Gang hatte mir schon bei den Pfadfindern den Spitznamen „Landbriefträger“ eingetragen. Die Pedalstudien aber liessen mich den Heimweg in der Rolle des betrunkenen Seemanns suchen. Nach einem knappen Jahr verzichtete ich darauf, Robert Appert weiter zu quälen. Ich formuliere das als Hommage an den wunderschön provokativen Titel des angekündigten Referats von Eugenio Giovine „Jugendliche quälen – eine Anleitung“ in bewusster Umkehrung. Wenn ich das Podium einigermassen schwankend und ungeschickt trampelig betreten habe, liegt das allerdings nicht nur an meiner Pedal-Traumatisierung. Meine Unsicherheit, ob das Casting wirklich zum guten Ergebnis mit mir als Referenten geführt habe, mindert meine Trittsicherheit grundsätzlicher. „Für einmal stehen nicht nur musikalische Fragen im Zentrum, sondern auch Themen, welche in unserem Berufsfeld wichtig sind, aber oft zu wenig Beachtung finden.“ So steht es in der Ausschreibung. Und was weiss ich wirklich von Ihrem Berufsfeld? Dilettiere ich da nicht schlimmer noch, als früher auf der Orgel vor den für den Klavierspieler alptraumhaft sich mehrenden Manualen? Auch mein rückversicherndes Erinnern an die Zeit, die ich als Leiter des Gemischten Chors Obfelden im zarten Alter von 16 bis 20 Jahren verbringen durfte, beruhigt nicht wirklich. Sie kann nicht als Propädeutikum fürs Kantorenamt gewertet werden. Der lorbeerbekränzte Auszug auf den starken Schultern der zweiten Bässe nach dem Wettsingen in Seon, bewaffnet mit Blumenstrauss und Schnapsflasche, passte ins Festzelt, kann aber nachträglich nicht als Beitrag zu Kenntnissen liturgischer Abläufe umgedeutet werden. Kurz: Ich habe von gestern auf heute schlecht geschlafen. Der schwankende Schritt hat auch mit Übermüdung zu tun. Das würde nicht weiter stören – schliesslich hat unser gemeinsamer Startkaffee die Lebensgeister geweckt – wäre da nicht der Spruch, den ich als Motto für meine Ausführungen und als Ausgangspunkt der Exegese gewählt habe. Ich bereite mich immer schriftlich vor. Es gibt kein Entrinnen. 7


Der Satz heisst: „Musik ist mein Leben. Gesunder Schlaf meine Harmonie“ Ich habe ihn in einem Inserat von swissflex (swiss made. swiss quality.) im Tages Anzeiger Magazin vor ein paar Wochen gefunden. Es geht um – ich zitiere – „die Innovation der Synchron-Präzision gleich das präzise Zusammenwirken von Matratze mit passgenauen Einzelelementen und selbstregulierender Unterfederung“. Der Satz „Musik ist mein Leben. Gesunder Schlaf meine Harmonie.“ stammt vom Dirigenten Helmut Imig, dessen markantes Brustbild das Inserat zitiert.

dass das Lebensziel des Dirigenten als Herstellung perfekten Zusammenspiels behauptet wird, was doch nichts anderes wäre, als die Erzeugung eines harmonischen Miteinanders. Auch in der bemerkenswerten Analogie des Miteinanders von Körper und Bettsystem beziehungsweise Dirigent und Orchester wird Musikerleben und Harmoniestreben in eins gedacht. Es sieht so aus, dass die Feststellungen „Musik ist mein Leben. Gesunder Schlaf meine Harmonie“ nicht kontradiktorisch aufzufassen sind, sondern als ein Ganzes.

Ich habe mich kundig gemacht: Herr Imig hat eine ausgesprochen respektable Karriere gemacht. Seine mehrfachen Arbeiten als Theatermusiker sprechen mich besonders an. Ich apostrophiere ihn hier nur als Werbeträger. Er kommentiert im Inserat den Kernspruch „Musik ist mein Leben. Gesunder Schlaf meine Harmonie“ wie folgt: „Als Dirigent bin ich für perfektes Zusammenspiel verantwortlich. Mit meinem Swissflex-Bett bin ich da in bester Gesellschaft. Mein Körper und das Bettsystem bilden die harmonische Einheit – die ich im Orchester suche.“

„Musik ist mein Leben und – vielleicht deshalb besonders – ist gesund zu schlafen für mich der Inbegriff der Harmonie. Ich erfahre die Parallelität von technologischer Innovation und musikalischkünstlerischer Tätigkeit täglich – oder besser nächtlich – im Swissflex-Bett stets aufs Neue. Meine Erfahrung als Berufsmusiker lässt sich zweifellos auch auf andere Berufsgattungen, die allerdings in der Abbildung nicht mit Manschettenknopf und Elfenbeinstab aufwarten können, übertragen. Es lebe die Synchron-Präzision für jedermann. Swissmade. Swiss quality. Schlaft euch in Swissflex-Betten gesund.“

Nicht nur der letzte Satz ist verblüffend. Das Inserat insgesamt hält mehrere Überraschungen bereit. Unterstellt die Gegenüberstellung der Sätze, die da aussagen, dass Musik das Leben sei, der Schlaf die Harmonie, einen Widerspruch? Der Schlaf gehörte dann nicht zum eigentlichen Leben, wäre also eine Art zweite unbewusste Ebene des Daseins? Und die Harmonie wäre nicht eine Kategorie des lebendig Musikalischen sondern eine Art Naherholungsgebiet zur Vorbereitung musikalischer Exzesse? Vom aufwühlenden Alltag des Musikerdaseins wäre harmonische Erholung im SwissflexBett zu suchen.

Ich habe Ihre Geduld, sehr geehrte Damen und Herren, strapaziert, weil das komplexe Inserat auf skurrile Weise dreierlei Gegenwartstendenzen im Zusammenhang mit Musikausübung signifikant verkörpert: den Triumph der Oberflächen, die Dominanz der Befindlichkeiten und die Bevorzugung der Horizontalen. Es sind Tendenzen die uns alle in unserm Alltag im Berufsfeld Musik betreffen, denen aus meiner Sicht zu widerstehen wäre, als Musikerin, als Musiker, und vielleicht gerade besonders als Kirchenmusikerin und Kirchenmusiker. Diesem Widerstand gilt mein lautes Nachdenken.

Eine solche Werbung beträfe nur ein schmales Kundensegment. Und sie hier so zu verstehen, wäre, was die allgemeine Aufmerksamkeit in früher Morgenstunde angeht, gelinde gesagt unvorsichtig. Risch Biert‘s Inputreferat in Zusammenhang mit Rise-up-Begleitungen müsste vorverlegt werden.

Was meint Triumph der Oberfläche? Das Inserat stellt sich in eine Reihe mit den uns wohlbekannten Werbemassnahmen unserer Finanzinstitute. Die hingebungsvoll versunkene Violinistin, das stramm im Gleichschritt fiedelnde Orchester, der Tenor vor dem roten Vorhang dienen diesen als Gütezeichen für traditionsreiche Integrität, für formvollendete Perfektion des Geschäftsganges, für auszeichnende Einzigartigkeit. Die Kunst wird als „schöner Schein“ instrumentalisiert.

Ich glaube aber nicht, dass diese Auslegung der Kernsätze den Intentionen der art directors der Werbeagentur gerecht würde. Ihr widerspricht,

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Der repräsentative Charakter der Kunstdarbietungen ist eine Konstante ihrer Geschichte. Aktuell besonders eindrücklich ist die reduzierte Wahrnehmung der Oberflächen künstlerischen Arbeitens, die Beachtung ausschliesslich ihres äusseren Erscheinens im Namen einer andern Scheinwelt, der Finanzwelt. Die Gediegenheit des Auftritts (alle Hochstapler kennen den Trick) soll den grössenwahnsinnigen Betrug auf Kosten der Mitwelt und im Zeichen der unersättlichen Gier einer kleinen Kaste von Plutokraten vertuschen. Der weisse Schlips am schlanken Hals des Kapellmeisters flattert mit unvorhersehbarer Eleganz und Leichtigkeit nicht als Fliege sondern als Schmetterling über dem Orchester und wird zum kleinen Symbol des grossen Schwindels. Ich befürchte zu wissen, dass im bevorstehenden Referat von Nicolas Pain „Vom Umgang mit Orchestermusikern“ der Fliege nicht die nötige Beachtung geschenkt werden kann. Deshalb habe ich die Erwähnung vorweggenommen. Natürlich hat diese Pflege der Oberfläche mit der Absorption der Kunst im Kommerz zu tun. Auch die Vermarktung von Kunst ist Teil ihrer Geschichte. Die Absorption im Sinne der Eliminierung der Eigengesetzlichkeit der Kunst allerdings, ist den letzten Jahrzehnten, im Wesentlichen dem 21. Jahrhundert, vorbehalten geblieben. Voraussetzung dazu ist, dass Wirtschaftlichkeit zum obersten Kriterium für alle Lebensbereiche geworden ist. Verzerrungen auf allen Ebenen sind die Folge: die inhaltliche Ausrichtung musikalischer Produktion steht unter dem Einfluss der Überbewertung von „Etiketten“, die Auswahl des Dargebotenen beugt sich dem Diktat der Mehrheitsfähigkeit der Programmierung, die bevorzugte Präsentationsform ist das spektakuläre Event und die Berichterstattung (wo sie überhaupt noch stattfindet) konzentriert sich auf die Beförderung dessen, was ohnehin in aller Leute Ohren ist. Gabriela Schöb wird zum Thema „Gute Presse – Journalismus in eigener Sache“ hierzu zweifellos Hilfreiches auszusagen haben. Da, wo wir arbeiten, in der Regel wohl zunehmend im Schatten der Grossereignisse, ist nicht nur Marginalisierung eine die Wahrnehmung und die Existenzgrundlagen prägende Folge dieser

umfassenden Kommerzialisierung und Fokussierung auf die Oberflächen. Es erwachsen uns daraus auch mehr und mehr Zumutungen, auch im Kleinen, die dem kommerziell ausgerichteten Kulturleben abgelauschten Formen zu imitieren. Das kann seltsam lächerliche und beinahe rührende, fachlich erheiternd konfuse und unerträglich einschränkende Folgen haben. Das Konzertwochenende auf dem Land wird zum grossmundig angepriesenen Minifestival, die Lokalmatadorin erscheint in der Ankündigung im Regionalblatt in der Pose des Weltstars, die Werkauswahl dient dem Auftritt der Kleinsponsoren zu. Noch sind solche Verirrungen nicht die Regel. Die an sich harmlosen Kopien von Glanz und Gloria im Kunstbetrieb lassen aber auch uns nicht ungeschoren. Die Oberfläche verkörpert den Status. Das ist im Hausbau und in der Autoherstellung nicht anders. Die Oberfläche, der Status, sie werden zum zentralen Moment der Mitteilung in einem Kommunikationssystem, das die Mechanismen der Werbung verinnerlicht und zum Kodex erklärt hat. Das Bemühen um Status und Oberfläche ist mit dem Wunsch nach Grösse, nach dem starken Auftritt (Christoph Wartenweiler wird unter dem Motto „Ein sauberer Abgang“ heute von viel Wesentlicherem sprechen) verbunden, und findet sich in guter Gesellschaft mit der zweifelhaften ökonomischen These, dass nur im Wachstum das Überleben gesichert sei. Es ist dies ein anderer, ergänzender Aspekt zum schon verwendeten Wort „Grössenwahnsinn“. Die schiere Grösse erstickt die Qualitätsdiskussion. Und wenn eine solche scheinbar doch geführt wird, lassen die beliebten Vokabeln „Exzellenz“ und „Perfektion“ einen Diskurs an der Oberfläche vermuten. Nur das Beste ist gut genug? Schön wär’s. Andersherum: Nur wenn ich behaupte, der Beste zu sein, wird mir überhaupt zugehört. Und wenn sich meine Oberfläche selbstbewusst präsentiert, wird nicht weiter nachgefragt. Es ist im heutigen Vortrag von Michael Eidenbenz „Bewerbungen – schreiben und beurteilen“ hoffentlich Grundlegenderes und meinen Überlegungen Widersprechendes zu hören.

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Ein ganzer Wirtschaftszweig von Coachs, Trainern, Unternehmensberaterinnen, Medienbeauftragten, Assessorinnen und Evaluatoren, ist mit dem Face Lifting, der Lackierung, dem Ausbeulen, der Politur von Oberflächen befasst. Auch das SwissflexBett, nach dem wir uns alle sehnen, lockt uns mit technologischer Perfektion. Der Körper des perfektionistischen Dirigenten und das Bettsystem bilden eine harmonische Einheit. Glanz und Glätte der Oberfläche haben ihre Entsprechung: Harmonie und Wohlbefinden. Die perfekte Oberfläche und die Hinwendung zum individuellen Wohlbefinden im Sinne der Wellness (mit einer Schönheitsoperation schlagen wir zwei Fliegen auf einen Streich) gehören zusammen. Das körperliche Wohlbefinden des gebräunten, trainierten Herrn und der durchgekneteten, teilenthaarten Dame bringt zweifellos eine angenehme äussere Erscheinung nach New economy-Lehrbuch mit sich. Das Harmonische als ästhetische Norm wird aber auch einer neuen Innerlichkeit abverlangt. Dabei geht es nicht wirklich um medizinische Befunde oder ein allgemeines Befinden, schon gar nicht um Zufriedenheit im Sinne wie auch gearteter Erfüllung. Der Begriff des „Gesunden“ hat sich mit dem Rückzug jedes und jeder Einzelnen auf die Interessenvertretung nur dessen, was ihn oder sie angeht, auf ungestörtes Wohlbefinden reduziert, so wie Glück vielfach nur noch als Selbstzufriedenheit verstanden wird. Die Bedeutung der Befindlichkeit als Währung im Zahlungsverkehr zwischen Werk- und Feiertagen nimmt zu. Die Erholung im Swissflex-Bett dient dem Bestehen im Konkurrenzkampf der Leistungsgesellschaft, wobei Leistung nur dann ernst zu nehmen ist, wenn sie zum Umsatz beiträgt und Gewinn abwirft. Die Zuwendung zur individuellen auch psychischen Befindlichkeit ist ein probates Mittel, zu verdrängen, was im Allgemeinen an Krisen und Katastrophen zu bewältigen wäre. Auf der Packungsbeilage ist vermerkt: Anwendung empfohlen ausschliesslich für Personen mit nötigem Kleingeld. Wenn Kunst und insbesondere Musik auch in diesem Zusammenhang mehr und mehr mobilisiert werden

(vom abgestandenen Kuschelrock über Classic light, Lounge- und Meditationsmusik – passend zu den entsprechenden Interieurs – bis zu André Rieux’s Geigenkünsten), ist das zwar auch Ausdruck einer umfassenden Kommerzialisierung, aber nichts grundsätzlich Verwerfliches. Es schränkt nur, wo es als Leitgedanke den Umgang mit Musik zu bestimmen beginnt, unsere Praxis viel einschneidender ein, als wir wahrhaben wollen. Während wir noch von Reisen in Gegenwelten träumen, gehört der Musikausflug längst zum gängigen Urlaubsangebot. Die akustische Berieselung kühlt Seele und Körper zwischen den Sonnenbädern angenehm ab. Aufregungen und Reibungsflächen sind zu vermeiden. Wenn das Mass der Dinge Befindlichkeit ist, verkleinert sich die Welt-, Kunst-, Musikerfahrung auf die Grösse des lackierten Fingernagels, auch wenn um dieser Erfahrung willen der Jumbojet bestiegen wird. Der Verzicht auf Widersprüchliches im Zusammenhang mit umfassenden Harmonisierungstendenzen, bedeutet die weitgehende Stilllegung des schöpferischen Antriebs. Die Repertoirewünsche mancher Schülerinnen- und Schülereltern sind uns geläufig wie die Wünsche des Galeristen hinsichtlich der musikalischen Umrahmung der Vernissage. Der Maître des plaisirs am Firmenfest weiss, was er nicht will: Unerwartetes. Die Kulturförderung schielt auf die Auslastung, und wer will sich am freien Abend schon aufregen? Alle wollen sich etwas Gutes tun, ich nehme an auch Hochzeitsgesellschaften in der Kirche und die Seniorinnen und Senioren am Altersnachmittag. Pfarrer Theo Haupt wird in seinem Referat „Zusammenarbeit aus der Sicht einer Pfarrperson“ hier sicher und zu Recht Gegenakzente formulieren. Wie gesagt: am Befindlichkeitswahn ist nichts Unmoralisches. Er lässt die Welt nur schrumpfen und flach werden und entzieht unserm Wirken die benötigte Energie. Und damit sind wir beim dritten Stichwort, bei der Bevorzugung der Horizontalen, das in keiner Weise auf Anzüglichkeiten zielt, auch wenn uns das Swissflex-Bett das Motto suggerierte. Die Tendenz die sich dahinter verbirgt ist die Standardisierung und damit die Austauschbarkeit, der Verlust von Eigenarten und der Vormarsch der Technokratisierung im 13


Kulturbetrieb. Das Karussell der Intendantinnen, Dirigenten, Opernstars, Schauspielerinnen und Solisten dreht sich horizontal in der Kulturlandschaft. „Vor Ort“ heisst irgendwo, eine Verankerung in der Region bedeutet höchstens, dass die Karusselldampferchen kurzfristig hier und da vor Anker gehen. Verbindlichkeiten im Dialog von Kultur und Gesellschaft werden gemieden.

bin überzeugt, dass Ursula Jaggis Referat „Vom Amt zum Unternehmer – Die künftige Personalverordnung“ unter der ökologischen Überschrift „Der reine Sonntagsorganist – eine aussterbende Spezies“ heute Not tun wird. Wir müssen wissen, auf welchem Parkett wir Widerstand leisten wollen, und welche Instrumente heute dafür zur Verfügung stehen.

Wo früher gesetzte Standards Herausforderungen des Einmaligen bedeuteten, bestimmen sie heute die Regel eines überall gepflegten Spiels. Das Unvergleichliche ist als Handelsware zu unhandlich geworden. Die dem Wirtschaftsleben entwachsene Managementlehre verlangt gleichförmige Prozesse, vergleichbare Abläufe, formal identische Businnesspläne auch im Kunstbetrieb. Glänzende Oberfläche, harmonisch-aerodynamisches Design und standardisierte Inhalte eignen sich für globale, flächendeckende Vermarktungsstrategien.

Was also wäre dem Triumph der Oberfläche in unserer Arbeit entgegenzusetzen? Es geht uns eher um die Kehrseiten der Medaillen. Uns muss das Verborgene interessieren, das Verdrängte, die dunkle Seite des Mondes, das Geheimnis, das, was unters Bett gewischt wird, die Leichen im Schrank und die Visionen glückseliger Inseln. Wir wollen Gegenwelten aufscheinen lassen, nicht als Feriendestinationen sondern als herausfordernde Alternativen. Wir tun das im Rahmen, der uns zugestanden ist, und sei er noch so beschränkt.

Wo ist da Raum für unsere sperrigen Produkte? Was wir im Rahmen unseres Auftrags als Musikerinnen und Musiker, Kirchenmusikerin und Kirchenmusiker leisten, was wir denken und tun, ist eher klein dimensioniert, immer wieder andersartig, selten auf Perfektion ausgerichtet, viel eher auf eine Wirkung hier und jetzt, im kleinen Kreis. Vieles ist in sich widersprüchlich, herausfordernd in jeder Hinsicht, lebt von einmaligen Konstellationen, rechtfertigt sich einzig durch sich selbst. Ich meine, Ulrich Meldau, wird in seinem Referat über Lobbyarbeit ein Lied davon zu singen haben.

Wir leihen denen unsere Sprache, die ihrer eigenen Sprache verlustig gegangen sind oder nicht gehört werden. Wir zeigen, dass es einen Handel gibt und ein Handeln, dass nicht den Regeln der Finanzwirtschaft untersteht. Wir erkennen, dass es abseits der Verkehrsadern viele Wege gibt, zu unserm Ziel zu kommen.

Die erwähnten Tendenzen Triumph der Oberfläche, Dominanz der Befindlichkeiten und Bevorzugung der Horizontalen laufen unsern Interessen entgegen. Wollen wir lernen uns anzupassen, uns einzugliedern, vom Trend zu profitieren? Es gibt sicher gute Gründe dafür und Beispiele für kurzfristige Erfolge. Meiner Überzeugung und Erfahrung nach aber bedeutet Angleichung, auf das Spezifische und Einzigartige zu verzichten, auf die Differenz, aus der wir unsere Kraft und Legitimation beziehen. Es bedeutet langfristig die Preisgabe der von uns vertretenen Positionen. Dabei können und sollen wir nicht die Augen schliessen und uns nostalgisch-geniesserisch oder kulturpessimistisch-verbittert zurücklehnen. Ich

Der Dominanz der Befindlichkeiten wäre ein Handeln entgegenzusetzen, dass sich am Gemeinsinn orientiert und auf das Wesentliche zielt, dass hinter den mehr oder minder zufälligen Symptomen versteckt liegt. Auch unser Interesse muss den Individuen gelten, die wir aber nicht als Einzelne losgelöst von ihren Beziehungen zur Welt betrachten, sondern als Teil eines Prozesses, der Nötigung und Freiheit beinhaltet und Mitwirkung fordert im Zeichen eigener Verantwortung. Wenn wir uns hier als Prinzen und Prinzessinnen im Zeichen vorgetäuschter gesellschaftlicher Harmonie oder unserer Hypochondrie nur um die Entfernung der letzten Erbsen im Swissflex-Bett kümmern, haben wir den Beruf verfehlt. Die Kunst ist der Ort, an dem der Umgang mit dem Unberechenbaren geübt werden soll, auch mit den unberechenbaren alltäglichen Verzweiflungen und Obsessionen, mit den Ängsten, Unsicherheiten und den Hoffnungen, welche das Denken in Richtung 15


Zukunft mit sich bringt, mit den Altlasten und Schätzen einer Vergangenheit, die uns prägt, stärkt und schwächt. Es macht Sinn, wie Andreas Jost es heute noch demonstrieren wird, über einen alten Hugenottenpsalm zu improvisieren. Endlich ist der Horizontalen selbstverständlich das Vertikale entgegenzusetzen. Wer aufmerksam sein will, muss sich aufrichten. Wer Übersicht anstrebt, muss aufstehen, um sich umzusehen. Nur wer aufrecht geht, sieht in die Ferne. Der Nivellierung durch Standards ist je entgegenzuhalten, was uns einzeln auszeichnet: unsere Haltung. Der „Gutmensch“ ist heute dem Gelächter preisgegeben, als konstruiere sich nicht aus der menschlichen Pflicht, zu entscheiden, was jeweils als gut, was als schlecht einzuschätzen sei, nicht das Gerüst unserer Haltung, als wäre Güte im Sinne der Einfühlung nicht die vielleicht schöpferischste Kraft in unserm Denken und Fühlen. Die Entwicklung zum aufrechten Gang ist in der Menschheitsgeschichte der Inbegriff der Innovation. Ich bin überzeugt, dass Innovation auch heute nicht aus dem Schwimmen im flachen, breiten Mainstream, im Nachvollzug von Trends zu gewinnen ist, sondern aus dem Beharren auf eigensinniger Haltung, dem Festhalten am Gemeinsinn und der historisch fundierten Neugier, aus der Suche nach Identität und Authentizität. „Musik ist mein Leben. Gesunder Schlaf meine Harmonie.“ Dem Vers zu dieser Predigt wäre entgegenzusetzen, dass manchmal Schlaflosigkeit angebracht und der Musik zuträglich ist. Vielleicht nicht einem langen Referat. Ich beeile mich, zu Schluss zu kommen. Vor Kurzem sprach mich ein Plakat auf dem Heimweg an: „Fällt es Ihnen manchmal schwer, im Büro Haltung zu bewahren?“ Für entspanntes und gesundes Arbeiten zeichnet WSA office project. Es geht um Büromöbel. Der Bürostuhl verwandelt sich in meiner Phantasie in einen Klavierstuhl oder eine Orgelbank, das Büro in ein Unterrichtszimmer oder den Kirchenraum. Und schon entdecke ich den nächsten Aushang: „Gehört eine störende Geräuschkulisse zum guten Ton in ihrem Büro?“ Gezeichnet WSA office project. Aufrechter Gang, Musik, Beruf – unser Thema hat sich jedenfalls als aktuell herausgestellt.

Sie sind sich vom Kirchendienst nicht nur die Wahl eines Verses und dessen Auslegung gewohnt, sondern eine Lesung. Ich will damit schliessen und die Lesung gleich selber vornehmen. Claudio Magris (Jahrgang 1939) lehrt in Triest Deutsche Literatur. Er ist dieses Jahr mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet worden. In seinem Aufsatz „Sollte man die Dichter aus dem Staat verbannen?“ von 1996 schreibt er über Literatur. „Die Literatur verteidigt das Individuelle, das Besondere, die Dinge, die Farben, die Sinne und das sinnlich Wahrnehmbare gegen das falsche Universelle, das die Menschen reglementiert und nivelliert, sowie gegen die Abstraktion, die sie austrocknet. Der Geschichte, die den Anspruch erhebt, das Universelle zu verkörpern und zu realisieren, setzt die Literatur das entgegen, was am Rand des historischen Werdens geblieben ist, sie verleiht dem, was verworfen verdrängt, zerstört und von der Schnelligkeit des Fortschritts ausgelöscht wurde, Stimme und Gedächtnis.“ Ich meine, wir dürfen beim Zuhören, statt „Literatur“ „Musik“ setzen. Die nächsten Sätze mögen allenfalls auch auf eine Diskrepanz zwischen den zuhörenden Kirchenmusikerinnen und Kirchenmusikern und dem Referierenden hinweisen, oder besser noch, auf eine Spannung im kirchenmusikalischen Beruf selber. Wenn meine Ausführungen, deren Länge ich zu entschuldigen bitte, hier noch den Anstoss zu einer Diskussion in ihrem Fachkreis geben würden, wäre ich doppelt glücklich. Die Sätze lauten: „Die Literatur verteidigt die Ausnahme und das Ausgeschlossene gegen die Norm und die Regeln, sie erinnern daran, dass die Totalität der Welt zerbrochen ist und kein Restaurationsversuch vorgeben kann, ein harmonisches und einheitliches Bild der Realität wiederherzustellen, denn dies wäre nur eine Lüge.“ Ich hoffe, der heutige Tag vermittle viele Erkenntnisse, lasse manche Erfahrung zu und provoziere viele fruchtbare Auseinandersetzungen. Noch einmal – zum entlastenden Abschluss – ganz kurz Claudio Magris, auch im Hinblick auf den Anspruch des heutigen Tages. Die Sätze entstammen dem Schlussteil des Essays: „Es gibt eine Unverantwortlichkeit, die von der 17


Literatur als ihr unveräusserliches Recht geltend gemacht wird und die vor dem unerträglichen Ernst des Lebens schützt, vor seinen Pflichten und seinen quälenden Sorgen. Sie erinnert uns daran, dass man die Schule besuchen muss, aber manchmal auch schwänzen. Die Literatur lehrt uns, über das zu lachen, was man respektiert, und das zu respektieren, worüber man lacht, genau wie es in der Schule mit manchen Lehrern geschieht, die man verehrt und über die man sich gleichzeitig lustig macht, mit liebevoller Ironie und Selbstironie, die das Gegenteil des bösen, anmassenden Hohns ist.“

Nachtrag: Hartmut Höll, ein lieber Musikerfreund, hat einmal gesagt, vielleicht müsse man eine schräge Type sein, um eine aufrechte Haltung einzunehmen. So werde ich denn bei meinem Abgang den Pedalgang mit Nachdruck zu pflegen suchen, mit demselben Nachdruck, mit dem ich ihnen für Ihre Aufmerksamkeit danke.

Reaktionen 2010 Interessant waren sie, die Themen des Kirchenmusiktages 2010 und auch vielseitig. Aber genau so wichtig war für mich der Austausch mit dem Kolleginnen und Kollegen in den Pausen und beim gemütlichen Abendessen. Nur schon das ist es wert, 2011 wieder mit dabei zu sein!

Zürich, 10. Mai 2010 Daniel Fueter

Stefan Schättin, Uster

Ein Tag, den die Kirchenmusik in Stadt und Kanton einfach braucht. Viele interessante Inputs und vor allem auch die Möglichkeit zum Austausch für die Kirchenmusiker, die sonst so häufig Einzelkämpfer in ihren Gemeinden sind. Ulrich Meldau, Zürich

Viel Interessantes gelernt, erfahren und ausgetauscht während des ganzen Tages... und dann erst der Abend: wie ein spontanes Fest mit Leuten, die man zwar nicht sooo gut kennt, aber mit denen man sich glänzend versteht und prima diskutieren kann. Herzlichen Dank für Eure Initiative Gabriela Schöb, Thalwil

Der Kirchenmusikerberuf, welcher an diesem Tag von allen (musikalisch- und aussermusikalischen) Seiten beleuchtet wurde. Ausgezeichnete ReferentInnen, mit viel beruflicher Erfahrung – herzlichen Dank! Elisabeth Kolar

Super, dieser Kirchenmusiktag! Ich wünschte mir noch mehr Bereitschaft und Mut als Kirchenmusiker (mit etwas Stolz) an die Öffentlichkeit zu treten. In diesem Sinn freue ich mich auf die Fortsetzung 2011! Emil Dieter

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Oft sind KirchenmusikerInnen Einzelkämpfer in ihren Gemeinden, deshalb habe ich das Angebot des Kirchenmusiktags sehr geschätzt. Ich traf auf gleichgesinnte MusikerInnen, mit denen ich „fachsimpeln“ und Ideen austauschen konnte. Die Referate waren sehr informativ und haben zum Nach-und Weiterdenken angeregt. Susanne Rathgeb-Ursprung, Bülach

Von diesem Weiterbildungstag konnte ich nur profitieren: Interessante Referate und Impulse sowie angeregte Erfahrungsaustausche und lebhafte Diskussionen! Ein grosses Dankeschön an allen, die zu diesem lehrreichen Weiterbildungstag beigetragen haben.

Zweiter Kirchenmusiktag 2011 Start:

1. Stimmt’s im Chor, stimmt auch die Stimmung Beat Schäfer, Kantor

Jürg Wasescha, Savognin

Der Austausch mit Kollegen verschiedener Erfahrungen hat mich sehr motiviert und meinen Blick auf andere Möglichkeiten im kirchenmusikalischen Dienst gerichtet. Ich freue mich auf den Kirchenmusiktag 2011. André Lichtler, Dietikon

Was Sie schon immer über Ihren Job wissen wollten, aber bisher nicht zu fragen wagten: so könnte man den Kirchenmusiktag 2010 nennen. Endlich gab es einmal eine Gelegenheit, sich mit heiklen Themen zu konfrontieren, welche in unserem Beruf zu wenig diskutiert werden, und von Kollegen zu hören, was sie für Tipps und Lösungen haben. Alles aus der Praxis für die Praxis. Dazu ein sehr entspanntes und freundliches Klima, welches den Tag sehr angenehm gemacht hat. Bravo an die Organisation!

7. Choralbegleitung – Diskothek im Paulus

Duo Calva

2. Und wie singt der innere Chor? – selbstbewusst statt Burnout

Pascal Mösli, Theologe und Supervisor MAS

3. Tanzen und Sein ist dasselbe – Werkeinführung in die „Trois Danses” von Jehan Alain

4. Vogelkunde für Messiaeninterpreten

Roland Wächter, Musikredaktor DRS2 und Gäste

Stefan Heller, Umweltnaturwissenschaftler

5. Singen und Klingen in der Kirche – wie animiere ich Menschen zum Singen? Hansueli Bamert, Kantor

6. Voll positiv! Wie eine Kirchgemeinde zur Anschaffung einer Truhenorgel motiviert werden kann

David Schenk, Organist

8. Sydefädeli – Singen mit älteren Menschen Karl Scheuber, Chorleiter

Tobias Willi, Organist

Eugenio Giovine

Der Kirchenmusiktag 2010 – ein Tag mit spannenden Workshops, vielfältigsten Anregungen, Nachdenken über unsere Arbeit im Konkreten und im Grundsätzlichen, Diskussion und Austausch mit Kolleginnen und Kollegen, die aus der ganzen Deutschschweiz angereist kamen – ein perfekt organisierter Tag, der nach einer Fortsetzung ruft.

Ursula Jaggi, Winterthur

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der Referenten an ihre Themen beeindruckt. Es war spannend zu sehen, wie vielfältig die Vortragsstile waren. [SR] Auch trockne Kost wurde sehr schmackhaft zubereitet! Der „Workshop” mit Gabriela Schöb zu „Gute Presse” und mit Michael Eidenbenz zu „Bewerbungen” war absolut spannend! [PF] Und zum Schluss natürlich das gemeinsame Abendessen, da hatten wir eine fröhliche Gesellschaft beisammen, die angeregte Gespräche führte und schon über den nächsten Kirchenmusiktag fantasierte!

Wir haben mit zwei der Organisatoren Peter Freitag und Sacha Rüegg ein Gespräch geführt.

Ein gedrängtes Programm! [PF] Oft kann man ja einen Vortrag auf einige wenige gute Ideen zusammenfassen, hier wird den Teilnehmern nun einfach direkt das Kondensat präsentiert. Das war sehr dicht und spannend. [SR] Wir hatten trotzdem Zeit und Gelegenheiten gute und interessante Gespräche zu führen und die Themen weiter zu spinnen.

Wie seid Ihr auf die Idee gekommen, einen solchen Tag zu veranstalten? [Peter Freitag] Beim Brüten über Kursideen sind wir immer wieder auf Themen gestossen, die zwar spannend sein könnten, bei denen sich aber kein Mensch für einen ganzen Abend anmelden würde. Ausserdem haben wir Ideen zu Kursen gehabt, die zwar spannend wären, bei denen sich aber niemand trauen würde mitzumachen.

Wie hat sich das Publikum zusammengesetzt? Richtet sich das Programm nur an Profis? [SR] Spannend war dass wir eine bunte Mischung von Profis und Laien beisammen hatten... [PF] …wir hatten vier Orgel-Dozenten dabei von Bern, Luzern und Winterthur – als Teilnehmer! [SR] ...und in der entspannten Atmosphäre des Tages konnten sich alle austauschen, es gab keinerlei Berührungsängste.

Zum Beispiel? [Sacha Rüegg] Wir haben einen Kurs gemacht mit dem Titel „Ein sauberer Abgang – auch Deine Pension rückt näher”, da würde niemand hingehen. Doch das Referat mit Christoph Wartenweiler als Referent war erfrischend und überraschend. [PF] Ein Kurs hat geheissen: „Jugendliche quälen – eine Anleitung” Da würden die Teilnehmer Probleme kriegen bei der Abrechnung mit ihrer Kirchgemeinde! Jedenfalls haben wir dann viele kleine Themen gesammelt und zehn davon an einem Tag aneinandergereiht.

Wo und wie findet Ihr geeignete Referentinnen und Referenten? [SR] Die Einen kommen einem sofort in den Sinn, da man sie z.B. persönlich kennt und schätzt. Auf andere kommt man erst durch gemeinsames „brainstormen”, suchen, umherfragen und anschauen von alten Programmen. Und manchmal kommt man bei den nahe liegenden erst später drauf... [PF] Wir suchen jedenfalls hauptsächlich in den „eigenen Reihen”, auch um zu zeigen, dass wir voneinander profitieren können und dass wir eigene starke Kräfte haben.

Interview zum zweiten Kirchenmusiktag: „Vogelkunde und Choralbegleitung”

Was waren denn für Euch die Höhepunkte letztes Jahr? [SR] Daniel Fueter hat mit seinem Eröffnungsreferat einen fulminanten Start gesetzt. [PF] Mich haben die vielfältigen Herangehensweisen

Welche Rolle spielt im Lauf des Tages die spontane praktische Erprobung? [SR] Der Tag zielt nicht primär auf eigene spontane und praktische Erprobungen. Vielmehr kommen die 23


Erfahrungen und Ideen der Referenten zum Zuge. [PF] Wir hatten und haben praktische Workshops im Programm, aber meist sind das ja dann eben Themen für die man einen ganzen Tag reservieren will und muss. Solche Themen werden auch sonst in vielen Kursen angeboten. Vermittelt der Kirchenmusiktag primär „Zunftgeheimnisse”, oder spielen auch interdisziplinäre Fragestellungen eine Rolle? [SR] Die Einen kommen einem sofort in den Sinn, da man sie z.B. persönlich kennt und schätzt. Auf andere kommt man erst durch gemeinsames „brainstormen”, suchen, umherfragen und anschauen von alten Programmen. Und manchmal kommt man bei den nahe liegenden erst später drauf... [PF] Wir suchen jedenfalls hauptsächlich in den „eigenen Reihen”, auch um zu zeigen, dass wir voneinander profitieren können und dass wir eigene starke Kräfte haben. Ist der Kirchenmusiktag nur für ausübende KirchenmusikerInnen interessant, oder finden auch andere Berufsgruppen, die mit Musik in der Kirche zu tun haben, ansprechende Themen? [SR] Der Kirchenmusiktag wird vom Zürcher Kirchenmusikerverband für seine Mitglieder veranstaltet. Bestimmt könnten auch andere Berufsgattungen Anregendes vernehmen, unsere Zielgruppe sind aber eindeutig unsere Berufskollegen, die selbstverständlich auch aus anderen Landesregionen herzlich eingeladen und willkommen sind. [PF] Natürlich sind auch andere Berufsgruppen willkommen, wir Kirchenmusiker sind ja auch bei den Weiterbildungen von Jugendarbeitern oder Sozialdiakonen willkommen, ich war da auch einmal dabei. Sind MusikerInnen, die ein langes Studium hinter sich haben und in der Regel verschiedenen Arbeitgebern gerecht werden müssen, überhaupt bereit, einen ganzen Tag für eine Weiterbildungsveranstaltung zu reservieren? [SR] Es kommt natürlich auf das eigene allgemeine Interesse an. Auf jeden Fall möchten die Meisten (und darunter vielbeschäftigte Musiker!) gerne wieder kommen, die bereits beim ersten Kirchenmusiktag dabei waren. Das ist doch ein gutes Zeichen! [PF] Ausserdem versuchen wir Themen zu behandeln, die eben auch bei einem langjährigen Studium nicht vermittelt werden und einen Platz finden.

Als Gast steht Joachim Rittmeyer auf dem Programm, was könnt Ihr da verraten? [PF] In einem seiner Sketche, dem „Lied vom Organisten”, hat er gezeigt, dass er über intimste Kenntnisse unseres Berufsstands verfügt. Wir freuen uns auf einen heiteren Anfang mit ihm und einen satirischen Einstieg in den Tag. Mit welchen Themen komme ich heuer auf die Rechnung? [SR] Wir haben Stefan Heller vom Schweizer Vogelschutz eingeladen um uns endlich die ornithologischen Grundlagen für unsere Messiaeninterpretationen vermitteln zu lassen. Um die Originale morgens um fünf Uhr live zu hören kommen wir ja doch nicht aus den Federn. [PF] Dann suchen wir Versuchskaninchen welche eine „Diskothek im Zwei” hinter dem Vorhang spielen, das Thema ist „Choralbegleitung”. [SR] Tobias Willi stellt uns eine Orgelkomposition vor, die es in sich hat und für Normalsterbliche schier unerreichbar ist. [PF] Dann stehen Chorprobleme, Werbefragen, Gemeindeaufbauthemen, Fundraising und anderes mehr auf dem Programm. Gerne verweise ich auf www.zkmv.ch, dort sind auch Stimmen zum letzten Kirchenmusiktag zu finden. [SR] Auch dieses Jahr haben wir Wert gelegt auf eine gute Mischung zwischen aktiver Teilnahme und dem Hören von Vorträgen. [PF] Hinzu kommen natürlich wieder Kaffeepausen, musikalische Überraschungen, eine Elefantenrunde zum Schluss und natürlich das obligate Nachtessen.

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Stimmen zum Kirchenmusiktag 2011 Vom witzig-gekonnten Auftakt des Duo Calva bis zu den Referaten – Viel Interessantes aus der Praxis und brauchbar um die eigene Praxis zu überdenken – und der wertvolle Austausch mit Kolleg/innen… Ein lohnenswerter Tag Doris Engel, Obergoldbach BE

Breites Themenfeld – Überraschendes – nachdenklich Stimmendes – Berührendes – Unterhaltsames – Sorgfältiges – Mutiges – Bereicherndes – schönes Zusammensein Gabriela Schöb, Thalwil

Wissen Sie, wie die Singdrossel singt? Seit dem letzten Kirchenmusiktag in Zürich weiss ich es! Farbig, lustvoll, beeindruckend und virtuos waren die Orgelklänge und absolut professionell die Referate. In jeder Beziehung ein Ohrenschmaus! Erika Burki, Organistin in Selzach

Wunderbar, wie gewinnbringend der Austausch unter uns Kirchenmusikern ist; ein Ereignis, welches das Klischee von der „komplizierten Künstlernatur“ Lügen straft. Und wenn schon Diva-Gehabe, dann hat die eröffnende KabarettNummer dies liebevoll und virtuos aufs Korn genommen. Allen Organisierenden und Teilnehmenden ein grosses Danke; nur weiter so!

Andreas Wildi, Zürich Fluntern

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Dritter Kirchenmusiktag 2012

Start:

Jürg Kienberger

Der ZKMV-Kirchenmusiktag 2011: Aktuelles, Grundsätzliches, Unterhaltsames, Ausgefallenes und Innovatives sowie Zeit zum persönlichen Austausch – alles gut portioniert und präsentiert! Was will man mehr? Gratulation für die ausgezeichnete Organisation. Ich freue mich schon auf den Kirchenmusiktag 2012. Beat Schäfer, Meilen

Der Workshop über Messiaen und Ornithologie war für mich ein absoluter Höhepunkt, obwohl (oder weil?) ich kein Organist bin. Ferner haben mich die sehr persönlichen Statements aus dem Berufsleben berührt (v.a. Karl Scheuber und Hansueli Bamert). Herzlichen Dank für die Organisation! Theo Handschin, Greifense

Zurücklehnen, geniessen und herzhaft lachen – beim Duo calva; aufrecht und gespannt zuhören – den verschiedenen Berichten; dazulernen – Vogel-Orgelkundliches (die Nachtigall singt ja gar nicht so besonders schön!); berührt werden – vom Auftritt der Sydefädeli-Sängerinnen und -Sängern; sich verstanden fühlen – was läuft hinter den Gesichtern/in den Köpfen in einer Chorprobe ab und wie nehme ich das wahr? Alles Themen nah am Alltag einer Musikerin und Chorleiterin. Reich beschenkt fuhr ich nach Hause, herzlichen Dank!

1. Klangwandel – Musik in der Mission

Benedict Schubert, Pfarrer und Lehrbeauftrager für aussereuropäisches Christentum

3. Chorarbeit – Chorspiel – Chorvergnügen

2. Transkriptionen: Alter Zopf oder Zukunftsmusik? Andreas Wildi, Organist

5. Hierarchie und Anarchie – Strukturen der Landeskirche

6. Schläge und Streicheleinheiten – Body Percussion Willy Kotoun, Dozent für Perkussion an der ZHdK

7. Orgelsymposium 2011 – so what? Tobias Willi, Organist

Susanne Würmli-Kollhopp, Chorleiterin im Gespräch Peter Uehlinger, Arzt und mit Beat Schäfer Bezirkskirchenpfleger

4. Ein Ave Maria für den alten Kameraden – Musik an Abdankungen

8. Helmut Bornefeld – ein Platz zwischen den Stühlen Matthias Wamser, Organist

Walter Schlegel, Pfarrer

Christa Peyer, Gränichen

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Eröffnung mit Jürg Kienberger

Schon die Eröffnung mit dem Kabarettisten Jürg Kienberger liess erahnen, dass wir einen gediegenen Tag erleben dürfen. Zunächst hörten wir – o Wunder – Musik, gespielt am Flügel, und erfuhren dann etwas zum Aufwachsen des salzburgerstiergekrönten Künstlers im Engadin. Genauer in Sils Maria, wo die Eltern ein Hotel betrieben. Seine erste musikalische Aufzeichnung (der Sprengung eines Felsens zur Errichtung des Schwimmbads), die herumgereichten Souvenirs (beispielsweise eines Felsstückleins, das in einer Nusstorte in Pontresina landete) oder die ersten Musikstunden, die lieber mit Butterbroten überbrückt wurden, zeigten einen sehr speziellen Einstieg in die Musikerkarriere des Kabarettisten. Er spielt Akkordeon, Klavier und vieles mehr und ist mit einer lustigen Falsettstimme ausgestattet, welche als Höhepunkt zum ersten Lehrstück des Tages diente, nämlich wie man aus endlosem „Danke für diesen guten Morgen” doch immerhin etwas Lustiges machen kann. Christian Scheifele

Transkriptionen: Alter Zopf?

Einige persönliche Gedanken: Unter Transkription verstehe ich nicht nur das Übersetzen eines klassischen Werkes für 2 Hände und Füsse. Dazu gehört doch der gesamte Fundus an Musik. Auch würde die Originalliteratur für manche Instrumente doch sehr beschränkt ausfallen, wenn nur Originalkompositionen gespielt würden. Es kann aber auch umgekehrt geschehen: Mussorgskys „Bilder einer Ausstellung“ wurden für Klavier komponiert und von Ravel für Orchester umgeschrieben. Ist doch ein meisterhaftes Werk? Klingt übrigens auch auf der grossen Orgel einfach gigantisch. Das Instrument Orgel ist ja geradezu prädestiniert für alles, was Odem hat. Höre ich doch lieber ein berühmtes Thema, als irgendeine neuzeitliche Originalkomposition von Clustern, schrägen Tönen und arhytmischen Bewegungen. Zum zweiten kommt es auch noch darauf an, welchem Zweck die Transkription dienen soll. Für ein konzertantes Vorspiel müsste da sicher viel Zeit investiert werden. Vieles gibt es ja bereits für Orgel – nach dem Motto: wer suchet, der findet. Ideal als Thema wäre an dieser Stelle: wie aus einem einfachen Lead-Sheet eine fantasievolle, farbenfrohe Bearbeitung für Orgel entsteht. Ich habe gespürt, dass hier ein grosses Defizit herrscht und man sich dann wohl lieber hinter dem Deckmantel „ist ja keine Orgelmusik“, beziehungsweise „passt nicht auf meine Orgel“ oder noch schlimmer „meine Orgel kann das nicht“ versteckt und das Thema somit abgeschlossen hat. Der Kirchenmusiktag war für mich fabelhaft. Ich habe wieder einige Kollegen und Kolleginnen getroffen und einige kennen gelernt. Fachsimpeln über dies und das und sich bestätigen, oder auch mal über die eine oder andere Meinung nachgrübeln zu können, waren doch eine wunderschöne Abwechslung. Jackie M. Rubi-Günthart

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Ein Ave Maria für den alten Kameraden

Wie gehen Organistinnen mit den Hinweisen „Nicht zu traurig“ oder „Der Verstorbene war gar nicht kirchlich“ um? Pfarrer Walter Schlegel hat am ZKMV Kirchenmusiktag 2012 viel dazu beigetragen, den Fragen bezüglich der Musik in Abdankungsfeiern gerecht zu werden und den Antworten näher zu kommen. Aus seinem engagierten Vortrag habe ich für mich drei Punkte mitgenommen – aus seinem übersichtlichen Handout liesse sich natürlich noch Weiteres entnehmen. a) Auch wenn wir mitten im Leben vom Tod umfangen sind, ein Todesfall ist für nahe stehende Personen immer eine schwierige Situation. Rituale helfen hier; und die gute Abdankungsfeier trägt alle Kennzeichen eines Rituals. Öffentlichkeit und Bekundung der Solidarität z.B. sind Wesenszüge dieses Rituals. Mit Abschiedsfeiern im engsten Familienkreis werden diese zwei (leider je länger je häufiger) unterbunden. b) Die Abdankungsfeier hat ihren Platz im Trauerprozess nach der ersten Schockphase. Zum Ritual des Abschieds gehört die Anamnese (hinschauen, was war) und die Perspektive (Ausblick). Wenn ein Musikwunsch der Trauerfamilie die Anamnese unterstützt, dann kann die Erfüllung des Wunsches sehr tröstlich sein.

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Symposium ORGEL 2011 – „ohne Heulen und Zähneknirschen“ Fragen an Tobias Willi von Rudolf Meyer

c) Im Idealfall wird der Organist von der Trauerfamilie zum Begleiten des Rituals eingeladen: Der persönliche Bezug trägt entscheidend zum Gelingen des Rituals bei. Eine CD kann diesem Auftrag bzw. dieser Einladung nicht gerecht werden. Deswegen ist es ratsam, höchstens ein Musikstück ab CD zuzulassen. Pfarrerin und Organist gestalten gemeinsam ein Ritual, von dem die Teilnehmenden zuvor keine genaue Kenntnis haben. Das erfordert eine gute Zusammenarbeit und eine selbstbewusste Hand der Musikerin bei der Wahl der Musikstücke. Mit der Erfüllung aller Wünsche ist den Trauernden nicht am meisten gedient. Esther Lenherr

Rudolf Meyer: Welche Bedürfnisse führten zum Symposium? Tobias Willi: Der Wunsch nach einer grundsätzlichen Diskussion über Bedeutung und Zukunft der Orgel in einer Zeit, in der das Interesse an diesem Instrument sinkt und es dort, wo es traditionell seine größte Bedeutung hat, nämlich in den Kirchen, häufig totgeschwiegen wird; der Wunsch nach besserer Vernetzung derer, die Orgeln bauen oder spielen; Sorge um Nachwuchs. Und dies alles in einem positiven Sinn anzugehen, ohne Heulen und Zähneknirschen, sondern mit sachlicher Diskussion und mit Bezug zur Praxis und zur Öffentlichkeit: die Orgel nicht zuletzt auch in der Stadt Zürich während drei Tagen sichtbar und erlebbar zu machen für jung und alt. Was führte über die üblichen, typischen „Kongress-Begegnungen“ hinaus? Les absents ont toujours tort, möchte man ausrufen: die drei Tage waren intensiv, herausfordernd, reich gefüllt von früh bis spät. Die Fülle war so gross, dass vielleicht fast zuwenig Platz blieb für intensive Diskussionen und Gespräche in und neben den Veranstaltungen. Die Dringlichkeit der Kongress-Anliegen wurde nicht immer genügend wahrgenommen: um wirklich drei Tage präsent zu sein, war der Anreiz offenbar für gewisse illustre

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Kollegen und Kolleginnen zuwenig gross. Im ideellen Sinn können die vielen Impulse, Ideen und Situationsberichte auch als eine Form von „Begegnung“ mit Neuem betrachtet werden, die hoffentlich allen Teilnehmenden ein bisschen Aufbruchstimmung vermittelt hat und sie in ihren Alltag begleitet, damit – hoffentlich – in vielen Gemeinden und Konzertreihen weiter geforscht, ausprobiert und Neues gewagt wird! Jammer oder Initiative? Orgel 2011 hat in vielerlei Hinsicht gezeigt, dass sich die Problematik der Orgel-Situation in unserer Zeit ohne allzuviel Lamento und Selbstkasteiung diskutieren lässt. Trotz Existenzangst wurde – durchaus lustvoll – nach kreativen Ideen gesucht. Doch Kongresse sind nur das eine: man trifft sich, entwirft Utopien, zeigt sich besorgt und solidarisch, schmiedet Pläne... Die „Spätfolgen“ sind etwas anderes: was wird aus all den Ideen – werden sie aufgegriffen, in die Realität umgesetzt? Orgel 2011 hat einen Werkzeug-Kasten zur Verfügung gestellt, aus dem sich nun jeder und jede bedienen kann (und muss!), um damit kreativ wirken zu können. Dem Kongress vorzuwerfen, er habe sein Ziel verfehlt, weil sich ja seither immer noch nichts tut für eine gesicherte Zukunft der Orgel, heisst, die Idee des Kongresses missverstanden zu haben. Es sind nicht diese drei Tage, welche die Orgelwelt verändern werden, sondern das nachhaltige Wirken der davon inspirierten Teilnehmerinnen und Teilnehmer! Welches waren die Premieren? Dank Orgel 2011 gelangen Vernetzungen, die sonst selten stattfinden können: jene zwischen Orgelbau und Orgelspiel, jene zwischen den verschiedenen Hochschulen, die seither zu gewissen gemeinsam durchgeführten Impuls-Tagen geführt hat. Zudem wurde wohl zum ersten Mal hierzulande der Themenkreis „Kind und Orgel“ intensiv betrachtet, praktisch (und zwar sinnlich-fantasievoll wie beim Orgelmärchen oder technisch-entdeckerisch beim Pfeifen-Basteln) und theoretisch durch Einblicke in Kinder- und Jugendprojekte der letzten Jahre. Die Länderberichte stellen eine europäische Bestandesaufnahme der Orgel-Situation dar, die als Datensammlung wertvolle Informationen liefert und die Basis sein könnte für weiterführende Inventarisierungen. Last but not least soll auch die Zürcher 33


Resolution als Grundsatzpapier und Diskussionsgrundlage dienen, um die Sache der Orgel weiterhin im Zentrum des Interesses halten zu können. Wer soll wen retten: die Kirche die geistliche Chor- und Orgelmusik oder umgekehrt? Vielleicht lässt sich die viel geforderte ProfilSchärfung der Kirchen unter anderem da suchen, wo die Kirche auch heute und allen Unkenrufen zum Trotz durchaus noch ein sensibles, offenes und interessiertes Publikum ansprechen kann: ist nicht vielerorts feststellbar, dass qualitätsvolle, abwechslungsreiche und einfühlsam vermittelte Kirchenmusik wieder vermehrt Leute in die Kirchen lockt und sie mit spirituell und kulturell bedeutsamen Aussagen konfrontiert? Lässt sich nicht gerade durch die Zeitlosigkeit der Kirchenmusik ein Mensch der Gegenwart unmittelbar ansprechen, der sich sonst dem gesprochenen PredigtWort eher verschliesst? Kann die Gefühls-Erschütterung, die Musik auslösen kann, einen Menschen nicht fast eher mit existentiellen Fragen konfron-

tieren als mancher Text, sei er auch noch so gut gemeint? Sollte eine derartige Akzent-Verschiebung nicht bald einmal ausprobiert werden – bevor eine ganze Kirchenmusik-Kultur in Vergessenheit geraten ist? Rudolf Meyer / Tobias Willi

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Privileg und Inspirationsquelle

Als Nicht-Musikerin einen Tag mit erfahrenen Kirchenmusikern zu verbringen, war für mich als Kirchenpflegerin ein grosses Privileg und eine interessante Informations- und Inspirationsquelle. Schade nur, dass sich nicht mehr Kirchenpflegemitglieder mit dem Ressort Gottesdienst & Musik und nicht mehr Pfarrpersonen eingefunden hatten. Als persönliches Fazit dieser Tagung habe ich die Erkenntnis mitgenommen, dass eine abschliessende Definition, welche Musik für den Gottesdienst geeignet ist, wohl nur soweit gelingt, als dass es der Musik möglich sein sollte, das Wort zu verstärken. Wenn Theologie ins Herz gehen soll, ist Musik ein wunderbares Medium dazu – vorausgesetzt, sie ist „echt” und wird mit Begeisterung vermittelt. Die Kombination von Musik und Predigt vermag Kirchen nicht mehr automatisch bis auf den letzten Platz zu füllen, aber wenn beide zu überzeugen vermögen und aufeinander abgestimmt sind, so sind wir auf gutem Weg. Barbara Chandra (Kirchenpflege Zürich-Oberstrass)

Zwei Studenten am Kirchenmusiktag

Der Kirchenmusiktag 2012 war für uns eine Premiere. Wir sind beide ziemlich neu im „Geschäft“ beziehungsweise auf dem Gebiet der Kirchenmusik im Kanton Zürich. Obwohl uns das Programm von den Themen her zunächst nicht speziell zusagte, nahmen wir die Gelegenheit gerne wahr, ein paar Bekanntschaften in der Zürcher und Glarner Kirchenmusik-Szene zu schliessen. Die verschiedenen Referate, Präsentationen und Interviews erwiesen sich nachträglich als viel spannender, als wir erwartet hatten, zumal alle Referentinnen und Referenten ihre Präsentationen gut bis ausgezeichnet vortrugen. Das eher trockene und abstrakte Thema der Hierarchie und Anarchie in den landeskirchlichen Strukturen etwa wurde von Peter Uehlinger so humorvoll und kurzweilig präsentiert, dass man ihm gerne noch länger zugehört hätte. Auch das Referat über die Musik in der Mission oder das Interview mit Susanne Würmli-Kollhopp entpuppten sich als äusserst spannend und interessant. Schade war, dass einzelne Diskussionsrunden nach den Referaten aus zeitlichen Gründen (das Programm war doch recht straff und etwas knapp getimt) abgebrochen werden mussten, oft gerade dann, als sich die ganz spannenden Fragen auftaten. Einzelne Programmpunkte wie die Comedy zu Beginn oder die Body-Percussion am Schluss sind naturgemäss Geschmacksache. Sie trugen aber auf jeden Fall zu einer willkommenen Auflockerung für Geist und Körper bei. Wir wurden ausserdem den ganzen Tag wunderbar versorgt, mit Kaffee (essenziell für [Kirchen-]Musiker), Äpfeln, Kuchen und einem reichhaltigen Mittagessen sowie einem Apéro riche. Was sich an diesem Kirchenmusiktag gezeigt hat, und was uns sehr positiv in Erinnerung bleiben wird, ist der starke Zusammenhalt vieler Kirchenmusikerinnen und Kirchenmusiker, der durch Veranstaltungen wie die Kirchenmusiktage oder die alle zwei Jahre stattfindenden Orgelreisen des ZKMV ermöglicht und gepflegt wird. Man merkt rasch, dass sich viele Kolleg(inn) en gut kennen und sich gegenseitig auch einmal als Registrant oder Vertretung aushelfen. Trotzdem fühlte man sich als Neuling und ganz besonders als junge Studenten sehr willkommen und herzlich empfangen. Matías Lanz und Francis Lucas

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Das erste Mal am Kirchenmusiktag

Soeben Mitglied des Zürcher Kirchenmusikerverbandes ZKMV geworden, nahm ich dieses Jahr zum ersten Mal am Kirchenmusiktag teil. Mein Fazit: ein spannender, vielfältiger, interessanter Tag! Ich habe viel Neues gehört und gelernt, Altes bestätigt bekommen, nach vielen Jahren bekannte Gesichter wiedergesehen, neue Kollegen kennen gelernt, Erfahrungen ausgetauscht. Ein Beispiel: im Workshop über Musik an Abdankungen habe ich Antworten auf eine Frage bekommen, die mich seit längerer Zeit beschäftigt hat. Der ganze Ablauf mit den verschiedenen Workshops war gut geplant. Dies gilt auch für die Verpflegung. Das Mittagessen, der abendliche Apéro und die Zwischenverpflegung waren liebevoll vorbereitet und perfekt organisiert. Dass ich als Neumitglied gratis dabei sein durfte, war ein schönes Geschenk für mich, danke vielmal! Dieser interessante Tag hat mir neuen Schwung für meine Tätigkeit verliehen und ich werde am nächsten Kirchenmusiktag auf jeden Fall wieder mit dabei sein! Elisabeth Sommer-Furrer

„Aber schlussendlich landet man immer und überall bei den Pfarrleuten und den Chorälen“ Liebe Ida Zisler, ich weiss, dass sie von weit her angereist sind. Wann mussten sie heute aufstehen? Ich hätte um 5.30 auf den Zug müssen, aber da ist bei uns noch alles still, darum bin ich am Vorabend nach Zürich gefahren und habe in einem Hotel übernachtet. Was hat sie dazu motiviert? Ich bin etwas weiterbildungssüchtig. In meinem Alter hat man mehr Zeit und da habe ich das Bedürfnis die Nase aus dem Tal zu strecken. Sind sie das erste Mal hier am Kirchenmusiktag? Ja, ich hatte viele Kurse beim VOGRA (Graubünden) besucht. Da bei uns Kurse ausfallen, habe ich die Gelegenheit gepackt, nach Zürich zu kommen. Ich war auch neugierig, was für Leute ich hier antreffe. Wie das Zürcher Kirchenmusikervolk aussieht und was sie so bewegt. Aber schlussendlich landet man immer und überall bei den Pfarrleuten und den Chorälen. Wenn sie jetzt einige Ausdrücke hören, welche zwei würden sie unterstreichen? aufbrechen / weiterbilden / gemeinsam-einsam / begegnen / spielen Begegnung und Aufbruch Dann wünsche ich ihnen wertvolle Begegnungen und viel Courage in ihren Dörfern die harten Gesteine und Nüsse aufzubrechen. Margrit Fluor im Gespräch mit Ida Zisler

Chorarbeit - Chorspiel - Chorvergnügen Susanne Würmli-Kollhopp, Chorleiterin, im Gespräch mit Beat Schäfer

Das Gespräch mit Susanne Würmli-Kollhopp spiegelte voll und ganz ihre eigene Chorarbeit wider. Sie sprach von der Entwicklung und vom Aufbau ihrer Chöre, als wären diese Leistungen das Alltäglichste der Welt, die grösste Selbstverständlichkeit. Es gelang ihr, in einfachen Verhältnissen und mit geringen Mitteln eine mitreissende Arbeit aufzubauen. Für sie besteht die grosse Kunst darin, aus dem Natürlichen heraus zu musizieren, d.h. Begeisterung zu wecken und überspringen zu lassen. Sie holt die Sänger, insbesondere die Jugendlichen, dort ab, wo es ihnen am meisten Spass macht. Natürliches Empfinden beginnt für Frau Würmli-Kollhopp mit der Tradition, dem Volkslied, das den meisten noch bekannt ist. Aus Unspektakulärem entwickelt sich grosse Kunst, wird zum Erlebnis und fördert musikalisches Interesse und Wachstum. Rhythmik und Bewegung werden eine Einheit, selbst bei Volksliedern, zu denen sie interessante und abwechslungsreiche Sätze, vereinzelt auch Neu-Vertonungen schrieb. Für Susanne Würmli-Kollhopp ist das Wichtigste: Ihre Sätze müssen einfach und ansprechend sein, Musik, die Lust macht zum Singen. Genau das praktizierte sie mit uns im Workshop in der müden Mittagszeit. Es blieb aber niemandem Zeit, müde zu werden. Wir sangen aus vollen Kehlen, so dass selbst Frau Würmli die Sprache weg blieb. Ihre Begabung reisst jeden mit, lässt die Musizierenden ungeahnte, bewundernswerte Resultate ans Licht bringen – davon konnten wir uns auch in Frau Würmlis Dokumentarfilm überzeugen. Sieglinde Strub

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Weiterbildung – Aufbürdung

Heuer durfte ich zum wiederholten Mal beim Kirchenmusiktag des ZKMV teilnehmen. Auf Ursula Jaggis Wunsch hin, etwas zum Thema Weiterbildung im Zusammenhang mit der Tagung zu schreiben, habe ich mich hingesetzt und über das Wort Weiterbildung meditiert. In verschiedenen Kombinationen verabreichte ich dem Computer bzw. dessen Textverarbeitungsprogramm das Wort „Bildung“ (Ausbildung, Fortbildung, Rückbildung, Unterbildung, Überbildung usw.). Grosszügig, wie das Korrekturprogramm von Word ist, hat es alles problemlos akzeptiert. Nur beim Wort „Aufbildung“ machte es nicht mehr mit und schlug mir stattdessen die Alternative „Aufbürdung“ vor. Innerlich zuckte ich zusammen und die Meditation schlug in Nachdenklichkeit um. Beinahe 80 Teilnehmende zählte der Tag, was von den Verantwortlichen zwar als Erfolg angesehen wird, für die kantonale (und überkantonale) Kirchenmusik aber genauer betrachtet immer noch erbärmlich ist. Scheinbar wird Weiterbildung für viele Kolleginnen und Kollegen immer noch als Bürde empfunden, auch wenn sie praktisch vor der Haustüre stattfindet. Und dabei geht es ja nicht nur um Weiterbildung im engsten Sinne, sondern ebenso um den Austausch, das Networking, das gemeinsame Erleben. Und genau das ist es, was ich an diesem Anlass besonders schätze. Gespräche mit Kollegen und Kolleginnen über ihre Tätigkeit, alte Studienkollegen wieder treffen, Kirchenmusik aus einer anderen Perspektive betrachten oder ganz banal wieder einmal zu konsumieren. Herzlichen Dank den Initianten und Organisatoren, dass sie das mit viel Engagement schon zum dritten Mal möglich gemacht haben. Ich hoffe sehr, dass sich die Zahl der Teilnehmenden beim nächsten Jahr vervielfacht, denn es gäbe noch viele Kolleginnen und Kollegen, die ich gerne wieder einmal sehen würde…. Stefan Schättin

Vierter Kirchenmusiktag 2013 Start:

Nik Bärtsch, Musiker

1. Frischer Wind – Jugend-Orgelforum Stade Annegret Schönbeck, Kantorin

4. Musicstar oder Gefangenenchor? Kirchenmusik in der Kirche der Zukunft Michel Müller-Zwygart, Pfarrer und Kirchenratspräsident

7. „...sich in einen unwiderstehlich strömenden Klangsog steigern...“

3. Stich – Satz – Sieg: BachNeuedition 2. Ort der Besinnung – sakrale Architektur

Jean-Claude Zehnder, Organist und Musikwissenschaftler

Pascale Guignard, Architektin Guignard & Saner

6. Ein Liechtblick in der Kinderliederlandschaft Manuela Roth, Chorleiterin

5. Automatisch autodidaktisch Benjamin Guélat, Organist

8. Praxis sucht Theorie – Wie entstand unser Tonsystem? Kelly Landerkin, Sängerin und Musikwissenschaftlerin

9. Cantars – das Kirchenklangfest – ein Grossprojekt Sandra Rupp Fischer, Projektleiterin und Kirchenmusikerin

Michael Pelzel, Komponist und Organist im Gespräch mit Michael Eidenbenz

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1. Frischer Wind – JugendOrgelforum Stade

2. Ort der Besinnung – Sakrale Architektur

Annegret Schönbeck, Kantorin

Pascale Guignard, Architektin Guignard & Saner

Frau Annegret Schönbeck stellt uns in ihrem Referat verschiedene Methoden und Strategien vor, die Orgel an junge Menschen heranzubringen. In Stade werden Führungen, Familienkonzerte und Orgeltage für Kinder von 6-12 Jahren organisiert, bei denen die Kinder über Orgel-Funktionsmodelle und über spannende Geschichten an die Orgel herangeführt werden. In diesen Orgeltagen dürfen die Kinder so richtig anpacken, ausprobieren, basteln, malen. Die Bilder zeigen sehr schön, wie es Frau Schönbeck gelingt, die Kinder für die Orgel zu begeistern – ganz sicher eine sehr wertvolle Sache.

3. Stich – Satz – Sieg: zur neuen Bach-Edition

Das Jugend-Orgelforum richtet sich an junge OrganistInnen von 11-18 Jahren – Jugendliche aus verschiedenen Ländern treffen sich zu mehrtägigen Orgelkursen in Stade. Sie bekommen die Möglichkeit, Orgelstunden bei namhaften Orgelpädagogen und auf den schönsten Instrumenten in und um Stade zu besuchen, und sie lernen sich gegenseitig auch über das gemeinsame Chorsingen in der Freizeit kennen. Frau Schönbeck stellt ein paar dieser Jungstudenten mit Bild und kurzen Ton-beispielen vor. Die Freude und die Begeisterung stehen den Kindern ins Gesicht geschrieben. Die genannten Angebote werden von der überregional vernetzten „Orgelakademie Stade“ organisiert, die als „Verein zur Förderung der Orgelkultur im Elbe-Weser-Raum e. V.“ seit 2002 existiert und bei der Frau Schönbeck seit 2006 hauptamtlich tätig ist. Da wird sehr wertvolle und nachhaltige Erziehungsarbeit geleistet, die in ähnlicher Form sicher auch ausserhalb des Orgelparadieses Stade denkbar wäre. Frau Schönbeck ist es auf jeden Fall gelungen, uns KiMuTägler für das Thema Jugendförderung zu sensibilisieren... Paul Gächter, Flawil

Jean-Claude Zehnder, Organist und Musikwissenschaftler Betrachtet man die Vielfalt an Bach-Editionen, welche in den Fachgeschäften angeboten wird, tritt die Frage auf, ob eine neue Bachausgabe sinnvoll ist und welchen Mehrwert sie schaffen kann. In seinem Referat unter dem Titel „Stich-Satz-Sieg“ erläuterte Jean-Claude Zehnder den Sinn und Zweck der neuen Breitkopf Bachausgabe. Zu Beginn zeigte Zehnder anhand prominenter Werke (BWV 564 und BWV 540) auf, dass unser heutiger Notentext nicht immer mit dem Quellenmaterial übereinstimmt. Die Erkenntnisse, welche in den letzten Jahren in der Bachforschung gemacht wurden, rechtfertigen eine neue Urtext-Ausgabe. Seine Ausführungen illustrierte Zehnder mit Beispielen an der Orgel. Er zeigte damit, welche Auswirkungen zum Beispiel eine Überbindung auf die Interpretation einer Passage haben kann. Bisher sind in der Breitkopf-Ausgabe vier Bände erschienen. Grossen Wert wurde dabei auch auf die Verständlichkeit des kritischen Berichts gelegt. Zu jedem Band gibt es eine CD-Rom, welche Incerta sowie Variant- und Frühfassungen einzelner Sätze enthält. Diese können zudem auch ausgedruckt werden. Dies hat für den Spieler den Vorteil, dass er schnell und zuverlässig unterschiedliche Quellen und Fassungen miteinander vergleichen kann. Für das Fachpublikum wurde somit deutlich, dass es sich durchaus lohnt, bereits bekannte Bachwerke und deren Quellen wieder genauer zu betrachten und sich nicht ausschliesslich auf Konventionen zu verlassen. Marco Amherd

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4. Musicstar oder Gefangenenchor? Kirchenmusik in der Kirche der Zukunft

Rahmen des Reformprozesses als auch bei der Planung der ab 2017 anstehenden Reformationsfeierlichkeiten die ihm gebührende Wertigkeit zuzusprechen! Barbara Chandra

Michel Müller-Zwygart, Pfarrer und Kirchenratspräsident

5. Automatisch autodidaktisch

Zugegeben, der Titel des Referats, mit welchem sich Michel Müller auseinander setzen musste, war al-les andere als einfach – eine bewusste Provokation mit Augenzwinkern? Michel Müllers abschliessende Feststellung, wonach seinen Ausführungen die „Pointe” fehle, war wohl auch Ausdruck seiner Unsicherheit, wie mit einer solchen inhaltlichen Vorgabe umzugehen sei – und hinterliess bei den anwesenden Kirchenmusikern weitgehend Ratlosigkeit oder gar Ärger. Die Zuhörer vermissten vermutlich nicht so sehr eine besonders witzige Pointe, sondern eine klare Botschaft. Verstand er seine Aussagen als Aufforderung, den Wirkungskreis der Kirchenmusiker neu zu überdenken, das Zusammenspiel zwischen Pfarrschaft und Musikern zu hinterfragen oder zu verstärken, den Beitrag der Musik zum Gemeindeaufbau prominenter darzustellen – oder wollte er zwischen den Zeilen bereits auf mögliche Sparmassnahmen im Rahmen des Reformprojektes hinweisen? Was immer die Absicht gewesen sein mag – sie wurde nicht erkannt, und man war verstimmt.

Referat von Benjamin Guélat, Organist

Weder Music Star noch Gefangenenchor, war sein Mantra – eine Feststellung, die wohl jedem Kirchenmusiker ohnehin klar war; oder könnte es sein, dass Michel Müller in seinem Umfeld Cameron Carpenter Tendenz wahrgenommen hat? Wie sehr hätten sich die anwesenden Studenten und erfahrenen Musikerinnen und Musiker gefreut, quasi „ex cathedra” als ebenbürtige Partner der Pfarrschaft, als wichtige Brückenbauer zwischen Gemeinde und Liturgie oder Gemeinde und Institution, vor allem aber als äusserst fähige, ideenreiche und selbständig denkende Musiker wahrgenommen zu werden. Auch wenn Zwingli ausschliesslich dem Wort und der (heiligen) Schrift Relevanz beimass, wage ich die Behauptung, dass das Herz über Musik besser ansprechbar ist als über Worte. Eine Aufforderung an Michel Müller, diesem Aspekt sowohl im

Manuela Roth, Chorleiterin.

Was bei vielen Schweizer Organisten nicht ganz automatisch läuft, ist das Improvisieren. Benjamin Guélat gibt unter treffendem Titel eine Anleitung, wie man selbst das Strickmuster für ein Bicinium im Stile Sweelinck oder Scheidts finden kann: Man nehme eine Choralmelodie, vorzugsweise sehr alt, lege diese in langen, gleichen Notenwerten in die Oberstimme, mache ein korrektes Bassgerüst dazu und finde die Diminutionsformeln in der Literatur. Guélat hat diese schön säuberlich geordnet auf einem praktischen Skript von einer A4 Doppelseite geliefert, ein, zwei Improvisationsstunden mit diesem Lehrer würde sich für manche lohnen. Ein spontanes „Opfer“, wie er es nannte, liess sich an dem Nachmittag leider nicht finden, so wurde das Bicinium zu „In dich hab ich gehoffet, Herr“ vom Meister selbst ausgeführt. Christian Scheifele

6. ein Liechtblick in der Kinderliederlandschaft Liechtblick – so heisst eine Sammlung mit geistlichen Liedern für Kinder, welche im Jahr 2007 herauskam. Heute ist eine Folgeband in Arbeit. Manuela Roth stellt uns die Arbeitsprozesse vor, wie das Liederheft entsteht: wie die Kommission die Kompositionsanfragen streut, wie sie die Einsendungen auswählt; Layoutfragen und vor allem auch Finanzierungsfragen beschäftigen die Kommissionsmitglieder. Leider, denn auch wenn mit den kreativen Vorgängen viel Zeit verstreicht, bleibt die Arbeit wegen des fehlenden Geldes hängen. Dieses fehlt schlicht, um die Produktion starten zu können. Das ist umso bedauerlicher, weil wir am Kirchenmusiktag vor allem auch Einblicke in die neuen Lieder des Liechtblicks II erhalten haben. Unter der bewährten Führung der Kantorin Manuela Roth 43


singen rund 100 Kantorinnen und Organisten die druckreifen Kinderlieder, manche davon zweistimmig, alle aber mit Hitcharakter, sei es als druckvolles rhythmisches Lied oder als berührende Ballade. Die präsentierte Auswahl aus Liechtblick II lockt die Schreibende, mehr davon zu haben! Kantorin Esther Lenherr, Wädenswil

7. „...sich in einen unwiderstehlich strömenden Klangsog steigern...“ Michael Pelzel, Komponist und Organist im Gespräch mit Michael Eidenbenz Eine der musikalischen Überraschungen am Kirchenmusiktag war das Intermezzo mit einem Werk des Komponisten und Organisten Michael Pelzel. Er spielte selber an der Orgel der Bruder-KlausKirche aus seinen ...études-bagatelles.... Ungewohnt und bei den Zuhörern ein Lächeln hervorzaubernd waren die Geräusche am Anfang des Stückes: Hat es schon begonnen, oder ist der Interpret immer noch am Einrichten? Erst nach einigen Minuten, nachdem klar wurde, dass eine rhythmische Ordnung hinter dem Knarren, Schlagen und Schaben steht und nach einigen „richtigen“ geblasenen Orgelklängen fand man sich genug in Sicherheit, die normalen Konzertohren zu öffnen. Es ist genau diese Verunsicherung, die eines der Hauptmerkmale der neuen, avantgardistischen Musik ist. Speziell in der Kirche, wo man sich dienende, sich brav der Liturgie unterordnende Musik gewohnt ist, kann sie dadurch aufrütteln, öffnen, aber auch verstören und Ablehnung hervorrufen. Im nachfolgenden Gespräch versuchten Michael Pelzel und Michael Eidenbenz das Potential und die Gefahren der neuen Musik näher zu umfassen. Es sei zwar schwierig, aber doch möglich, technisch einfach auszuführende Stücke für Laien, zum Beispiel für einen Kirchenchor, zu komponieren. Die Sprache der neuen Musik habe sich aber weit weg bewegt von einem allgemein verständlichen Vokabular. So gelte es, von beiden Seiten her Berührungsängste zu überwinden: für die Zuhörer,

die Verunsicherung auszuhalten und für die Musiker, Schritte aus dem Elfenbeinturm der NeuenMusik-Szene zu wagen. Philipp Neukom

8. Praxis sucht Theorie – Wie entstand unser Tonsystem? Kelly Landerkin, Sängerin und Musikwissenschaftlerin

9. cantars – das Kirchenklangfest – ein Grossprojekt Sandra Rupp Fischer, Projektleitern und Musikschaffende Sandra Rupp Fischer stellt ihr grossangelegtes Projekt Cantars vor. Ursprünglich war Cantars 2011 als Jubiläumsanlass des Kirchenmusikverbandes des Bistums Basel geplant. Die Idee dahinter: Die Kirchenmusik den kirchenfernen Leuten näher bringen. Es gab 13 regionale Ausgaben des Kirchenklangfests. Hier traten Kirchen-, Jugend- und Kinderchöre auf. 6 Spezialitätentage widmeten sich jeweils einem bestimmten Thema, z. B. kids, Orgel etc. – Die Struktur eines regionalen Kirchenklangfestes: Von 12.00 – 24.00 Uhr finden 12 Programmblöcke à 40 min. statt. Angestrebt wird eine grosse stilistische Vielfalt. Pro Anlass tritt auch ein Kinder- oder Jugendchor auf. Cantars 2011 in Zahlen: Cantars 2011 übertraf alle Erwartungen. Es nahmen 7000 Erwachsene und 1000 Kinder/Jugendliche aktiv teil. Es wurde an 20 Tagen mit 242 Programmpunkten musiziert, 60‘000 Plätze waren besetzt! Das Kirchenklangfest erzielte einen Umsatz von 1,23 Mio CHF. Das Festival gewann den ersten Good News Preis der katholischen Medien der Deutschschweiz. Die Erfolgsgeschichte des Kirchenklangfestes geht weiter! Die nächste Ausgabe von Cantars findet vom 15.03. bis zum 07.06. 2015 statt. Cantars 2015 soll ein grosses Kirchenfest werden, das sich auch über die Konfessionsgrenzen hinwegsetzt und Generationen verbindet. Gemeinsam bringen wir das Land zum Klingen – mit Kirchenklang! Weitere Informationen unter: www.cantars.org

Fünfter Kirchenmusiktag 2014 Start:

Thomas Meyer, Musikjournalist

1. REGER! – Max Reger – Der Erfinder der Postmoderne

Roman Brotbeck, Musikwissenschaflter

3. Mit Kanons auf Spatzen schiessen – Offenes Singen

2. Seelenruhe im Hamsterrad – Engagierte Gelassenheit

7. Immer schön de Wände na – Volkstanz

Lukas Niederberger, Autor

4. 16 Jahre RG – in 34 Jahren gibt‘s ein Neues! – Ein Ausblick

Dr. theol. h.c. Hans-Jürg Stefan, ehemaliger Beauftragter für das RG 1998

Beat Schäfer, Kantor

Johannes Schmid-Kunz, Kulturmanager / Volkskulturspezialist

6. Männertreu und Wyberkapelle – Ein Gespräch mit Willi Valotti

10. Orgelsingen – Ein musikalischer T agesrückblick Rudolf Meyer, Organist

9. Einem kleinen Funken folgt eine grosse Flamme – Das Schweizer Kinder- und Jugend chorfestival SKJF Vreni Winzeler, Schul- und Kirchenmusikerin

8. Positiv denken – Kleine Orgeln in grossen Räumen

Jonas Herzog, Organist & Oliver Horlitz, Orgelsachverständiger

5. Der Mond ist aufgegangen – Jazzkompositionen für die Kirche

Trudi Strebi, Komponistin

Susanne Rathgeb

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Rettung ins / im Lied Vortrag für den Zürcher Kirchenmusiktag 2014 von Thomas Meyer „Ein Kind, das im Dunklen Angst bekommt, beruhigt sich, indem es singt. Im Einklang mit seinem Lied geht es weiter oder bleibt stehen. Hat es sich verlaufen, versteckt es sich, so gut es geht, hinter dem Lied, oder versucht, sich recht und schlecht an seinem kleinen Lied zu orientieren. Dieses Lied ist so etwas wie der erste Ansatz für ein stabiles und ruhiges, für ein stabilisierendes und beruhigendes Zentrum mitten im Chaos.“ schreiben Gilles Deleuze und Félix Guattari in ihrem Buch „Kapitalismus und Schizophrenie. Tausend Plateaus“ (aus dem Französischen von Gabriele Ricke und Ronald Voulié; Berlin, Merve Verlag, 1992; S.424). Diese Urszene mag andeuten, worum es geht. Das Lied, das Singen bietet uns Schutz, Sicherheit, Stabilität, Trost, Rührung, Geselligkeit, Gemeinsamkeit Gemeinschaft, Tradition, Identität. Es gibt viele Erzählungen oder Szenen dazu, in Büchern, Filmen und natürlich in Musikstücken, aber auch in der eigenen Erinnerung. Einige davon habe ich in meinem Vortrag beim Zürcher Kirchenmusiktag gesammelt, dargelegt und geordnet sowie – auf ähnliche Weise – in einem Aufsatz, der kürzlich in der zeitschrift „dissonance“ (Nr. 127 vom September 2014, S. 4-12) erschienen ist: „Dürfen wir heimkehren? – Eine Sammlung von Liedszenen.“ Wie im Vortrag versuche ich dabei Funde, die in den Jahren des des Sammelns zusammengekommen und die dabei zwar einer gewissen Absicht, wenn auch nicht Systematik, so doch dem Zufall unterworfen sind, zu ordnen. Ich lege die Kollektion vor mir aus und drohe den Überblick zu verlieren, denn die Teile lassen sich nach unterschiedlichen Gesichtspunkten gruppieren und die Konstellationen stellen schliesslich mehr Fragen, als sie beantworten. Aber gerade das kann äusserst anregend sein. Die Grundfrage: Was bedeutet uns das Lied, nicht das Lied an sich, sondern wie wir es verwenden, in seinen textlichen und kontextuellen Zusammenhängen.

Warum etwa taucht das Lied gerade in Momenten wieder auf, wo es darum geht, Gemeinsamkeit zu schaffen. Das Lied also kann Heimat bedeuten, es bedeutet auch Heimkehr, ebedeutet gewissermassen auch Rückkehr – und Rückfall. „Regress droht unablässig“, hatte Adorno einst gewarnt. Regress in den Mutterleib, Regress ins Bewährte, Warme, Konservative. Er erlaubt sich diese Rückkehr, macht er den Rückfall durch Ironie ästhetisch „erträglich“. Die Verwendung eines Lieds kann also in einer zeitgenössischen Musik auch ein heikler Moment sein. Tatsächlich ist es von diesem Gesichtspunkt aus interessant zu schauen, welche Komponisten Lieder verwendet haben und welche das nie tun würden. Warum zum Beispiel kommt die freie Improvisation fast völlig ohne sie aus. Nur aus strukturellen oder spieltechnischen Gründen, oder weil dieses Verfahren ihre Freiheit einschränken würde? All diese Fragen gilt es zu stellen. Sie finden sich auch in einem Text der Schriftstellerin Herta Müller, auf den mich Hans-Jürg Stefan freundlicherweise aufmerksam gemacht hat: „Denk nicht dorthin, wo du nicht sollst“ (nachzulesen in: Der Tagesspiegel vom 22.7.2010). Sie berichtet davon, wie sich die Kinder in ihrem rumänischen Heimatdorf die Namen der Zugvögel mit „Alle Vögel sind schon da“ merkten: „Wie viele Kinder mögen es wohl sein, die Namen von Zugvögeln durch dieses Lied kennenlernten. [Der Textdichter Hoffmann von] Fallersleben hat f ür unzählige Generationen von Kindern die ersten Gefühle formuliert, ihnen Worte gegeben, die sich in der Umgebung umsehen: die zart geschnittene, für Kinder zumutbare, Neugierde weckende, allererste Sozialisation.“ Und sie erzählt, wie bei „Ein Männlein steht im Walde“ Gefühle aufkamen: „Im Chor machte es bloss ein bisschen nachdenklich. Die Tristesse kam nicht auf, weil niemand einsam war, wenn alle zusammen sangen. Dieses leise, getragene Lied wurde viel schöner, wenn man es für sich allein sang. Das Lied ist fragend, also unsicher. Und es gibt keine Antwort. Es hält mit sich selbst auch den Mund, der es singt, in der Schwebe. Es steigt einem ein dunkler Geschmack in den Gaumen. Wenn man es zu Ende gesungen hat, wirkt es nach und macht Platz für die eigene Einsamkeit aller Art – und sei diese auch nur die Angst vor der viel zu grossen Landschaft eines Flusstals. Ich habe das 47


„Männlein im Walde“ für mich allein im Tal gesungen. Es gibt der sogenannten grundlosen Angst recht, dieser Unsicherheit vor unserem schieren, immer unerklärlichen Vorhandensein auf der Welt. Es sozialisiert die Schattenseite in uns, gibt der Einsamkeit eine Selbstverständlichkeit an die Hand - und zwar die gleiche, die man von der Sorglosigkeit oder Freude kennt. Es legitimiert Trauer.“ Knapper kann man es fast nicht zusammenfassen. Wir gehen mit Liedern um, sie helfen uns, wir können sie auch instrumentalisieren, das machen die Verführer in der Liebe wie Don Giovanni oder der Herzog von Mantua, das machen die Patrioten und leider auch die Kriegstreiber. (Auch davon erzählt Herta Müller.) Es gibt, wie ich in meinem Text darlege, auch die „verlorenen Lieder“, die Lieder der Trauer, der letzten Hoffnung bzw. der Hoffnungslosigkeit, die kleinen Rettungen im/ins Lied. Und manchmal findet sich jemand über das Lied wieder.

lich strenger Sommer, dass sogar die Sonne eine Art von Frostschaden erlitten haben muss. Als die Postkutsche auf engem hohlen Weg unterwegs war, blies der Postillion, um engegenkommende Fuhrwerke zu warnen, in sein Horn, allein, nicht ein einziger Ton kam heraus – woraus sich bald Ungemach ergab. Abends in der Herberge hängte der Postillion sein Horn an einen Nagel beim Küchenfeuer, und auf einmal gings Tereng! terenz! teng! teng! „Die Töne waren in dem Horne festgefroren und kamen nun, so wie sie nach und nach auftaueten, hell und klar zu nicht geringer Ehre des Fuhrmanns heraus. Denn die ehrliche Haut unterhielt uns nun eine ziemliche Zeitlang mit der herrlichsten Modulation, ohne den Mund an das Horn zu bringen. Da hörten wir den preussischen Marsch – Ohne Lieb und ohne Wein – Als ich auf meiner Bleiche – Gestern abend war Vetter Michel da – nebst noch vielen andern Stückchen, auch sogar das Abendlied: Nun ruhen alle Wälder.“

Zum Schluss noch eine kleine heitere Geschichte zumindest über verlorene, aber wiedergefundene Lieder: „Es herrschte damals ein so ausserordent-

(Gottfried August Bürger: Wunderbare Reisen zu Wasser und zu Lande, Feldzüge und lustige Abenteuer des Freiherrn von Münchhausen, wie er dieselben bei der Flasche im Zirkel seiner Freund selbst zu erzählen pflegt; Frankfurt, Insel Taschenbuch, 1976; S. 61ff. Die Illustration dazu stammt von Gustave Doré.)

Zürcher Kirchenmusiktag – ein Erfolgsmodell 23. Mai 2014 in den Räumen der Pauluskirche Zürich: mehr als hundert Mitglieder und Gäste des ZKMV treffen sich zu einem ganztägigen Kongress zu zahlreichen Teilthemen des kirchenmusikalischen Lebens. Ohne Zweifel: es gäbe noch mehr Teilthemen. Und ohne Zweifel: die Palette, die das Vorbereitungsteam (Peter Freitag, Stefan Fuchs, Sacha Rüegg) bereitgestellt hat, war farbig und reich gefüllt. Das Raumangebot in Kirche, Saal und Nebensaal zum Essen, Foyer mit Kaffee- und GetränkeBar erwies sich als ideal für den beabsichtigten Rahmen. Die hierfür Verantwortlichen der Kirchgemeinde Paulus sowie die Zürcher Landeskirche als Subventionsgeber wurden zu Recht herzlich verdankt.

Damit ein solcher Tag nicht mit kollektiver Migräne endet, braucht er gesamthaft ein kompositorisches Konzept. Doch dazu später. Zunächst einmal zu den einzelnen Elementen. „... als eine stille Kammer“. Das Lied als Rückzugs-Raum Thomas Meyer (Musikwissenschaftler und Musikjournalist beim Tages-Anzeiger und bei Radio SRF 2) präsentiert eine profunde Fülle von Beispielen aus eigenem Erleben, Filmen, Literatur, grosser symphonischer und Opern-Musik und stösst immer wieder auf das Besondere des Liedes: es lässt Berührung zu, es bildet einen Schutzraum, in dem Gefühle möglich sind, es stärkt Gemeinschaft. Natürlich kann dies alles auch in der Werbe- und Unterhaltungsindustrie pervertiert werden. Aber im Kirchenlied lebt es (auch). Max Reger – Der Erfinder der Postmoderne Roman Brotbeck (Musikwissenschaftler) zeichnet vor allem die Rezeptionsgeschichte Regerscher Musik nach. Nach einigen Phasen der Vereinnahmung (Reger als Kraftgenie, auch pathologisch gedeutet, Reger als Bach-Erbe, Reger als Bach-Antipode, Reger als nationalsozialistisch brauchbarer Komponist, Reger als entarteter Künstler) steht seit seinem 100. Geburtstag 1973 Schönbergs Diktum im Raum: „wir haben keine Klarheit über ihn“. Im Rahmen des Postmoderne-Diskurses lässt Brotbeck Reger am ehesten verstehen als Ausbrecher aus dem linearen

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Fortschrittsdenken in der Geschichte. Der Komponist, der in den Variationen das Thema destruiert, der harmonisch den Boden ständig unter den Füssen verliert – zumindest lässt er sich als genuin postmodern begreifen, wenn man ein entsprechendes Bild von der Postmoderne hat. [Dieses Bild mag für manche negativ konnotiert sein – ein anderes Bild von der Postmoderne wäre etwa, dass um uns herum alles zum Zitat wird – Verlust der Unmittelbarkeit in allem, was gesagt, gespielt, geschrieben, gestaltet usw. wird.] „Seelenruhe im Hamsterrad“ Lukas Niederberger, kath. Theologe, Geschäftsführer der Schw. Gemeinnützigen Gesellschaft und Autor von bewusst populär gehaltenen Ratgeberbüchern, fasst zusammen, was wohl jeder gute Freund und jede gute Freundin Ratsuchenden sagen würde; durch Routine im Kurse-Geben alles ein wenig überzeichnet und beifall-heischend. So Recht er mit vielem hat: solche Ratgeber sind nur geeignet, wenn Ratsuchende mit einfachen Antworten zufrieden sind – und das gibt es ja. Er schien zu polarisieren: um mich herum war gequältes Stöhnen und begeistertes Lauschen zu spüren. Vor dem Essen: ein erfrischender Seelenapéro im Offenen Singen Beat Schäfer (Kantor und Leiter der Kirchenmusikausbildung an der ZHdK) führt rassig und didaktisch wohlüberlegt Kanons und andere Singformen ein, die Lieder wie RG 602, 56, 499, 348 in neuem Kleid erstrahlen lassen. Ein eigener Kanon zu Kurt Martis „Wo chiemte mer hi...“ schliesst die gefühlsmässig zu kurze Sequenz ab. Nach dem Essen: ein ebenso erfrischendes Intermezzo Weiter geht es in der Kirche. Albin Brun mit seinem Schwyzer-Örgeli präsentiert eigene Kompositionen, angeregt von Innerschweizer und Ostschweizer Volksmusik, aber auch getragen von Reise-Reminiszenzen etwa an Georgien. Melodisch und harmonisch ist seine Musik zum Aufhorchen frei; formal lehnt er sich an Volksmusikformen an. 16 Jahre RG – in 34 Jahren gibt’s ein neues! „Mister Gesangbuch“ hiess er in den 90-er Jahren, theologischer Ehrendoktor ist er seit 2 Jahren, nicht nur in Würdigung seiner grossen persönlichen 49


Verdienste, sondern auch als erfreuliches Zeichen, dass die Zürcher theologische Fakultät wahrnimmt, was in der Kirchenmusik gearbeitet wird. Hans-Jürg Stefan hat sich das Thema nicht selber gesucht. Das war spürbar. Einen Ausblick auf ein nächstes Gesangbuch hat er nicht leisten wollen. (Da hat sich Andreas Marti schon weiter aus dem Fenster gelehnt, wenn er – angesichts der Ökumene-Scheu der katholischen Amtskirche nicht ganz glaubwürdig – meint, „das nächste Gesangbuch ist ein ökumenisches“.) Interessant zu hören war, wie die intensive Arbeit am RG international Früchte trägt, und holländische und tschechische Hymnologen unsere Arbeit zum Vorbild nehmen. Am Auffahrtstag 2014 wird die 16-jährige Enkelin des Referenten zu ihrer Konfirmation ein Gesangbuch mit sehr beherzigenswerten Worten erhalten, fast so zu Herzen gehend wie Bonhoeffers Brief an seinen Göttibuben zu dessen Taufe. Alle Besitzer eines RG in 1. Auflage erhielten noch den wichtigen Korrekturhinweis: im Lied „Der du uns weit voraus“ (RG 830) lies in Strophe 4 „gehst“ statt „gingst“ – eine bemerkenswerte Korrektur aus der Sicht der „präsentischen Christologie“. Jazz-Kompositionen mit Kirchenliedern Trudi Strebi leistet ihr Komponistinnen-Porträt gleich selber – und sehr beeindruckend. Die Jazz-Komponistin setzt sich eigenständig mit Kirchenliedern auseinander. Was herauskommt, ist alles andere als eine Verjazzung! Freilich: Wenn die Bigbands ihre Musik mit dem Spiel von Rhythmus und Artikulation und Blue-Note-Intonation vortragen, ist die Ernsthaftigkeit und Komplexität ihres Umgangs mit der Jazz-Harmonik in den Hintergrund getreten. Wird diese Musik auf der Orgel gespielt, wo Tonansatz und Intonation weniger bzw. gar nicht variabel sind, kommt die Komplexität stark zum Ausdruck. Life gespielt durch den Vater Jakob Strebi hören wir ihre Bearbeitung von „Bevor die Sonne sinkt“. Liegt es an der Komposition oder an der Wiedergabe auf dem Klavier, dass das Stück dem Rezensenten etwas kleingliedrig erschien? Noch ein Komponisten-Porträt: Willi Valotti Der Toggenburger Akkordeonist, Jodelchor-Leiter und Musik-Multiplikator wollte offenbar keinen Vortrag halten; also wurde er interviewt. Sein Musi50

zieren war spannend. Sein verbales Reagieren auf Peter Freitags Interview-Fragen ein bisschen weniger. Doch gab es einiges über die Stellung von alten (Jost Marti) und neuen Jodelmessen im Kontext des Jodelgesanges und der Wiederentdeckung des Naturjodels zu vernehmen. Bewegung und Entspannung im Volkstanz Johannes Schmid führte einige Volkstänze ein und brachte den Saal zu freudigem Mitmachen. Schweizer Kinder- und Jugendchorfestival Auf einer ganz anderen Ebene wandte sich Vreni Winzeler an das Plenum. Sie stellte die Erfolgsgeschichte des Jugendchorfestivals dar, wies auf Editionen, Termine, Orte und die nachhaltige Resonanz hin, ohne aber das Mitreissende an dieser Arbeit erlebbar zu machen. Symptomatisch: in der Fülle der management-geschuldeten Diktion gab es keinen einzigen Ton zu hören geschweige denn zu singen. Eine Lösung für kleine Räume oder brauchbare Zweitorgeln Unser Verbandsmitglied Jonas Herzog und der Orgelsachverständige der Berlin-Brandenburgischen Kirche Oliver Horlitz präsentieren Kleinorgeln als durchaus realisierbare Lösungen für spezielle Räume. Die dabei aufbrechenden Fragen konnten nicht diskutiert werden. Das gehört freilich als Bemerkung zu allen Vortragssequenzen. Finale Furioso Zurück in der Kirche erwartet uns Rudolf Meyer mit dem mutigen bis übermütigen Projekt: eine Choralkantate zu „Halt im Gedächtnis Jesum Christ“ zu improvisierter Orgelmusik und Gemeinde- bzw. Chorgesang, klarstens festgelegt im Liedblatt und ebenso klar gleitet von Gabriela Schöb. Dem Tagesbeginn entsprechend durften Regersche Klänge nicht fehlen, raffiniert nachempfunden, wenn auch mit mehr Quartsextakkorden, als sie sich der Meister gestattete. Dann aber übertraf der Organist sich selbst mit Triosonaten, Fugen und opulenten Choralbegleitungen im spätbarocken bzw. romantischen Stil – einfach grandios. Und der ZKMV wuchs an seiner Aufgabe und leistete mutige Gestaltungsarbeit, entsprungen aus eigener Begeisterung für dieses dem gefüllten Moment dienende Musizieren.

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Nach dem Finale Furioso Lässt sich eine Steigerung denken? Kaum. Eine Fortsetzung: eigentlich auch nicht. Die charmante Idee, allen Referenten ein Stichwort für eine PodiumsSchlusswort zuzuspielen (wohl, damit sie bis zum Schluss bleiben), hat seine Umsetzung nicht ganz gefunden: von 10 Referenten waren nur noch 5 (Vater und Tochter ineins gerechnet) anwesend. Mit dem Stichwort „Beheimatung“ gelangen wohl noch beachtliche Aussagen, die nach dem Finale Furioso aber kaum noch den stimmigen Rahmen hatten, gehört zu werden.

Schöner und kollegial-kameradschaftlicher waren wohl der Schluss-Apéro sowie das Nachtessen nach getaner Tat, von dem sich der Berichterstatter leider aus persönlichen Gründen absentieren musste. Nicht zu vergessen: Planung und Durchführung der kulinarischen Versorgung der Teilnehmenden waren einfach tadellos! Wolfgang Rothfahl

Impressum

Alle Rechte bei den aufgeführten Autorinnen und Autoren

Organisation und Konzept

Peter Freitag, Sacha Rüegg und Stephan Fuchs

Fotos

Walter Jaggi

Redaktion:

Matthias Wamser und Peter Freitag, August 2014

Layout

SchmauderRohr

Mit Unterstützung der Reformierten Kirche des Kanton Zürich www.kirchenmusiktag.ch www.zkmv.ch

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