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BEEINDRUCKEND & BEDRÜCKEND
EVELIN YOUSEF «Verletzungen können herausfordern»
Evelin Yousef bewegt sich wie irgendeine Frau ihres Alters. Scheinbar. Aber im Leben von Evelin Yousef ist fast nichts so wie im Leben irgendeiner Frau ihres Alters, zumal einer hiesigen. Wie Evelin denkt und spricht, nach allem, was sie erlebt und überlebt hat, berührt und beeindruckt.
Die Geschichte von Evelin Yousef: beeindruckend-berührend. Bild: zVg
Ich wurde in Aleppo geboren, 1988. Ursprünglich bin ich Kurdin aus Afrin. Mein Vater arbeitete in Aleppo bei der Syrischen Bahn in der Logistik. Wir sind sechs Kinder, ich bin die Älteste. 2012, nachdem ich mein Studium in Mathematik absolviert hatte, mussten wir aufgrund des Krieges zurück in unser Dorf. Dort heiratete ich ein Jahr später. Weil mein Mann Mitarbeiter einer Bank in Aleppo war, zogen wir wieder dorthin. Ich wollte nicht, die Situation in Aleppo war schrecklich. Es gab immer bewaffnete Konflikte zwischen der Regierung und der Opposition. Jeden Tag starben viele unschuldige Leute. Mein Mann sagte aber: «Es wäre schade, wenn wir beide mit unseren guten Ausbildungen in den Libanon oder in die Türkei gingen und keine anständige Arbeit finden würden.» Genau fünfzig Tage nach unserer Hochzeit explodierte unser Auto wegen einer Mine und er starb sofort. Erst vierzig Tage später – wir machen dann eine Erinnerung für unsere Toten – erzählten sie es mir. Ich vergesse ganz, von meiner Situation zu berichten: Ich verlor mein rechtes Bein und den linken Fuss. Aber ich war so stark. Ich hatte keine Krise, keinen grossen Schock. Ich akzeptierte es. Ich hatte viele Wunden: am Finger, am Kopf, am Rücken. Ich hatte nur eine heisse Luft gespürt und dass ich f log, nachher war ich bewusstlos. Viele Leute denken, dass ich traurig bin. Aber es ist eigentlich nicht so. Wenn ich über meine Geschichte spreche, fühle ich mich sehr stark und bin nicht nur auf mich, sondern auf alle Syrer und Syrerinnen stolz, denn was wir erlebten, kann eigentlich niemand aushalten. Aber der Krieg hat nicht nur dunkle Schatten, sondern auch helle Seiten. Er machte mich stark. Ein Jahr blieb ich im Bett und im Rollstuhl. Dann liess ich Prothesen machen. Wegen des Krieges waren sie aus schlechtem Material. Das Gehenlernen dauerte etwa ein Jahr. Im Spital sagten sie mir, dass das Gehirn mit der Zeit vergesse, auch wegen der Amputationen. Das Gleichgewicht zu finden war deshalb sehr schwierig. In er ganzen Notsituation gab es auch keine Physiotherapie. Ich fand dann Arbeit in der Verwaltung. Aber mit meinen schlechten Prothesen schaffte ich den Arbeitsweg fast nicht, meine Mutter musste mich jeden Morgen bis zur Busstation begleiten, der Weg war steil und steinig. Viele fragten mich: «Warum gehst du zur Arbeit, wenn du nicht gut unterwegs bist?» Ich sagte: «Ich will das Gefühl haben, als Mensch wichtig zu sein.» Aber nach einem Jahr kündigte ich. Ich arbeitete dann bei einem Apotheker als freiwillige Assistentin, Pharmazie interessierte mich immer schon. Aber auch hier war der Arbeitsweg mit dem Bus sehr beschwerlich. 2017 entschied ich, nach Europa zu kommen. Ich versuchte mehrmals, zu meinem Bruder in die Türkei zu gelangen, aber der illegale Grenzübertritt war für uns zu teuer. Ich glaube, im September 2017 erhielt ich einen Anruf von einer Frau aus meiner Stadt, die in Bern als Dolmetscherin arbeitete. Sie wollte für mich ein Visum organisieren. Deshalb musste ich in den Libanon gehen zu einem Cousin. Nach drei Monaten erhielt ich das Visum. Doch ich war gar nicht glücklich. Seit dem Moment, wo ich mich von meinen Eltern verabschiedete, hatte ich ein Gefühl, dass etwas Schlimmes passiere, wenn ich hierherkomme. Aber mein Vater wollte, dass ich ging. Er hoffte, dass ich hier ein besseres Leben haben würde, gute Prothesen und eine gute Zukunft.
Am 18. März 2018 kam ich in Zürich an und wohnte ein paar Tage bei einem Onkel. Etwa eine Woche hörten wir gar nichts von meiner Familie. Ich hatte Angst, dass alle gestorben seien. Deshalb wurde meine psychische Situation sehr schlecht. Und ich hatte von meinen Verwandten in Europa gehört, das Leben in einem Asylzentrum sei ein schreckliches Leben. Aber ich musste mich als Asylsuchende anmelden. Ein ganz fremdes Land, schlechte Prothesen, die Angst um meine Familie – es ging mir psychisch immer schlechter und ich konnte mir nicht vorstellen, weiter mit acht Frauen in einem Zimmer im Asylzentrum zu bleiben. Ich musste für drei Monate in die Waldau. Das fand ich total falsch. Ich war schon krank, aber bei den Leuten dort, die verrückt waren, fühlte ich mich auch wie sie. Dann brachte man mich in ein Altersheim. In den Lorrainehof. Jede Woche starben dort Leute vor meinen Augen. Und ich wurde rassistisch und schlecht behandelt. Vor allem von einem Chef. Bis heute kann ich nicht verstehen, dass ich dort leben musste und wie ich dort zwei Jahre leben konnte. Wegen all dieser Probleme verlor ich mein Selbstbewusstsein total. Ich war tot, aber immer noch am Leben. Mir wur «Ich war tot, aber immer de nicht geholfen. Die Psychianoch am Leben.» ter verstanden meine Situation nicht, sie gaben mir nur starke Medikamente, die mich psychisch und körperlich immer kränker machten. Nach zwei Jahren im Altersheim erhielt ich den Ausweis B. Und mir wurde klar: «Wenn du jetzt nicht weggehen kannst aus dieser Situation, wirst du dein ganzes Leben lang im Spital mit den Verrückten bleiben. Du musst dich entscheiden: Entweder das, oder du wirst wieder stark und selbstsicher.» Ich gab mir immer Mühe, mir selber zu helfen, aber es dauerte ungefähr ein Jahr, bis ich stabil wurde. Ohne Hilfe von Ärzten und zu meiner Enttäuschung auch ohne Hilfe von meinen Leuten. Jedes Mal, wenn ich depressiv wurde, sah ich mich am Boden. Kraftlos, fast gestorben, in einem langen, dunklen Zimmer. Eine meiner Schwestern und ein sehr guter Freund waren dann bei mir und sagten: «Steh auf und schau nach vorne!» Dort konnte ich ein Licht se-
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hen. Ich stand auf und lief ein bisschen, ihre Stimmen wurden immer lauter, bis ich rannte und am Ende konnte ich aus diesem Tunnel hinausgehen und die Sonne sehen. Zum Glück hatte ich dann eine sehr gute Sozialarbeiterin beim Roten Kreuz. Zusammen fanden wir eine Wohnung und sie meldete mich bei einer guten Sprachschule an (Evelin spricht nahezu perfekt Deutsch! kb) und beim HEKS zur persönlichen Beratung. Sie half mir in ein normales Leben. Zum Glück habe ich mit meinem Bachelor das Recht, an der Uni Bern zu studieren. Im Herbst 2022 fange ich mit Pharmazie an. Ich erhielt ein Stipendium. Und möchte einen Job finden, ein Praktikum in einer Apotheke. Ich habe schon viele Bewerbungen geschickt und warte auf Antwort. Zurzeit arbeite ich als Freiwillige: im Zentrum5 in der Bibliothek und in einem Café für Asylsuchende. Weil ich merkte, dass die Leute in der Schweiz sich freuen, wenn die Asylsuchenden sich integrieren wollen, besuche ich auch einen Berndeutschkurs im Denk:mal in der Lorraine. Ich habe viele Vorstellungen über Asylsuchende ändern können. Manchmal ist es für uns Anderssprachige aber auch schwierig, wenn zum Beispiel auf einer Behörde nur Dialekt gesprochen wird. Und wenn ich bitte, Hochdeutsch zu reden, werden sie ärgerlich. Wenn man kein Schweizerdeutsch sprechen kann, ist man nicht voll akzeptiert. Mein Traum: Ich möchte Mental Coach werden und andern helfen. Für die Ausbildung, die Ende Oktober beginnt, suche ich noch ein Stipendium.
Ich wohne in Schliern und bin jetzt schon zu Hause hier. Mit diesem Interview möchte ich mich auch bei der Schweiz bedanken. Und allen sagen: «Nicht aufgeben, nicht auf hören zu kämpfen und das Licht am Ende zu suchen!»
Aufgezeichnet von Katrin Bärtschi
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ZENTRUM5 Alltagsthemen und mehr am Frauentreff
Die Deutschkurse für Frauen im Zentrum5 entsprechen einem starken Bedürfnis und werden von der Kultur- und Erziehungsdirektion des Kantons Bern mit jährlichen Subventionsbeiträgen unterstützt. Migrantinnen unterschiedlicher Herkunft, Vorbildung und Alter können sich über die Alltagsthemen (Familie, Wohnen, Freizeit, Schule, Arbeit, Gesundheit, frauenspezifische Themen usw.) austauschen. Sie informieren sich, beteiligen sich aktiv an Gesprächen über Alltagsthemen und verbessern laufend ihre Sprachkompetenzen. Parvin Hemmati
Die Frauen lernen den Wortschatz und seine konkrete Anwendung. Mit einfachen Übungen und Rollenspielen werden wichtige Situationen des täglichen Lebens eingeübt. Der Kurs erleichtert den Kursteilnehmenden die Orientierung im schweizerischen Alltag. Wir arbeiten ohne Kursbuch. Die Themen werden gemeinsam bestimmt und behandelt. Eine Doppelstunde pro Woche entspricht der zeitlichen Verfügbarkeit und dem Lerntempo.
Sprache als Integrationshilfe Der Kurs soll den Teilnehmerinnen den Schritt aus der häuslichen Isolation zur aktiven Teilnahme am gesellschaftlichen Leben ermöglichen, ihr Selbstvertrauen stärken, den Integrationsprozess positiv beeinflussen und die Chancen für den beruflichen Einstieg erhöhen. Die Deutschkenntnisse können sinnvoll angewendet werden. Als Kursleiterin habe ich selbst einen Migrationshintergrund und kenne die Auswirkungen von Migration für die Betroffenen. So kann ich eigene Erkenntnisse und die Erfahrungen in die Gestaltung des Unterrichts einbringen. eine wichtige Rolle. Ist das Schulzimmer hell und freundlich? Gibt es Möglichkeiten, in der Pause einen Tee zu trinken? Im Zentrum5 bestehen diese Voraussetzungen.
Eigene Erfahrungen und Erkenntnisse Da in diesen Kursen nur Frauen teilnehmen, entsteht ein vertrauensvolles und entspanntes Klima. Die Frauen fühlen sich wohl, haben kei ne H e m m u n g e n und beteiligen sich aktiv am Unterricht. Um die Motivation der Teilnehmerinnen zu erhalten und zu fördern, spielt die Lernumgebung
Es wird gelacht und diskutiert In der Pause wird getrunken, gelacht, diskutiert und ausgetauscht. Dadurch entstehen Beziehungen, neue Freundschaften und Kontakte, die über den Deutschkurs hinausgehen. Sie vereinbaren gemeinsa«Da in diesen Kursen nur me Freizeitaktivitäten oder beFrauen teilnehmen, ent- suchen Veransteht ein vertrauensvolles staltungen im und entspanntes Klima.» oder des ausserhalb Zentrum5. Im Deutschkurs für fremdsprachige Frauen und im Wörtercafé mit Kathrin Bärtschi (letzten Samstag im Monat) sprechen die Teilneh-
Workshops für Kopf, Herz und Hand. Bild: ph
merinnen über Alltägliches und Spezielles. Sie lernen spielerisch neue Worte und bilden damit passende Sätze.
Workshops Weil mir das pädagogische Prinzip von Pestalozzi der Ganzheitlichkeit von Kopf, Herz und Hand wichtig ist, führe ich zusätzlich zum Unterricht einmal pro Quartal einen Workshop durch, der mit Handarbeit verbunden ist und meistens einen Bezug zur jeweiligen Jahreszeit hat (z. B. Kleingebäck backen, Frühlingskranz anfertigen, Bücher falten, Makrame knüpfen, Seife herstellen usw.). Dabei können sie ihre handwerklichen Fertigkeiten anwenden und stärken ihre Sozialkompetenzen.
www.zentrum5.ch
VERNISSAGE IM STADION WANKDORF Cordelia Hagi präsentierte ihr neues Buch «Playful Business»
Die Berner Unternehmensberaterin und Autorin Cordelia Hagi hat im Stadion Wankdorf ihr neues Buch «Playful Business» vorgestellt – die Wahl des Ortes war kein Zufall. Jean-Claude Galli
Cover des neuen Buches von PINKTANKFrau Gordelia Hagi.
Einen besseren Moment für die Vernissage eines Buches übers Spielen im Stadion Wankdorf hätte Cordelia Hagi wohl kaum erwischen können: Einen Tag nach dem triumphalen Heimsieg von YB gegen Manchester United in der Champions League schwelgten die Gäste in der Gstaad-Lounge noch immer in Begeisterung, als zur Einführung in den Anlass die entscheidenden Szenen der vergangenen Partie auf der Leinwand gezeigt wurden. Das Spielerische ist uns im Kindesalter automatisch gegeben. Später wird es durch den Berufsalltag und starre Arbeitsformen und -vorlagen fast gänzlich aus dem Erwerbsleben verdrängt. Und auch die meisten Freizeitaktivitäten sind normiert und bieten wenig Raum zur persönlichen Entfaltung und Kreativität. Im Buch «Playful Business» zeigt Hagi, wie wir das Spielerische wieder in unseren Arbeitsalltag integrieren können. Und zwar nicht für die Ablenkung vor den Pflichten, sondern zur Erzeugung eines Mehrwerts an Teamspirit, der sich im Endeffekt auch positiv auf das Geschäftsergebnis niederschlägt. «Das Spielerische sorgt für mehr Kooperation und Motivation bei den Mitarbeitenden, baut Hierarchien ab und schafft eine neue Unternehmenskultur», so Hagi. ihrer einzigartigen optischen Erscheinung erfolgreich Firmen und Einzelpersonen und hat sich damit schweizweit einen Namen gemacht. Ihr Arbeits- und Herzensort ist aber nach wie vor Bern. Dass sie ihr neues Buch gerade im Wankdorf vorstellte, war nicht nur der Verwandtschaft vom Fussballspiel zum Spielen im Geschäftsbereich geschuldet. Der Name des Vorwort-Autors machte die Location-Wahl ebenfalls höchst plausibel: Marco Wölfli ist nicht irgendein ehemaliger YB-Spieler, sondern eine lebende Legende, spätestens seit seiner unvergesslichen Penalty-Parade 2018 gegen Luzern. Seit diesem Frühjahr ist Wölfli Mitglied im Sponsoring-Team von YB und Repräsentant an Events und Kongressen. In einer angeregten Runde unterhielt sich Hagi mit ihm und dem Journalisten Jean-Claude Galli über die spielerischen Aspekte ihrer jeweiligen Berufsfelder. Nach dem stündigen Talk bot der Apero mit Blick auf den Rasen Raum für Gespräche und Begegnungen. Und einmal dürfen Sie raten, welche Fleischspezialität dort nebst den Getränken serviert wurde.
«Playful Business» erscheint im Midas Verlag, mehr Infos unter www.cordelia.pink