Thomas Blubacher: Ausgespielt

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Thomas Blubacher

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Lektorat :ThomasGierl

Korrektorat :JonasGygax

Umschlaggestaltung :Weiß-FreiburgGmbH,Freiburg

Layout/Satz :3w+p, Rimpar

Druck: CPIbooks GmbH,Leck

ISBN :978-3-7296-5167-8

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Thomas Blubacher

Ausgespielt

Kriminalroman

«Dumusst mir deinen Frack borgen, Mäxchen!»

«So, muss ich das?» Max gönnte seinem Kommilitonen Simon, der sich im Lesesaal der Basler Universitätsbibliothek vor ihm aufgebaut hatte und, beide Hände auf den Tisch gestützt, erwartungsvoll zu ihm herabbeugte, nicht mehr als einen flüchtigen Blick. Unbeeindruckt setzte er die Lektüre von Franz Kafkas «Urteil»fort, in das er sich schon den halben

Vormittag vertieft hatte, obgleich es natürlich nicht auf der Liste der obligatorischen Semesterliteratur stand.

«Mein lieber, lieber Max, ich bitte dich inständig, nein, ich flehe dich an, leih mir deinen Frack. Du bekommst ihn übermorgen zurück. Wenn es sein muss, sogar fleckenlos. Ich schwöre es bei allem, was dir heilig ist.» Als Max erneut aufsah, versuchte es Simon mit seinem bewährten Opossumblick. «Bitte, bitte, bitte.»

Max musste grinsen. «Lass mich raten. Walter Muschg will dich vorzeitig promovieren, damit er dich schneller wieder loswird. Zu diesem festlichen Anlass solltest du dich tatsächlich in Schale werfen, aber ein Frack ist übertrieben. Glaub mir.»

«Pscht!» Als ob ihre Mitstudenten dieses noch nie gesehen hätten, wies die blasse, rothaarige Studentin, der aushilfsweise die Aufsicht oblag, von ihrem erhöhten Platz links neben dem Eingang auf ein Pappschild:«Es wird um absolute Ruhe gebeten!» Sie versuchte, möglichst streng über den Rand ihrer Lesebrille hinwegzublicken.

Max gelang es, ein so glaubhaft zerknirschtes Gesicht aufzusetzen, dass sich die Rothaarige, deren Namen er sich seit sieben Semestern nicht merken wollte, zufriedengab. Kaum hatte sie weggesehen, verdrehte er die Augen hinauf zu den

neobarocken Stuckornamenten, die den hellgrünlichen Lesesaal schmückten. Dann flüsterte er Simon verschwörerisch zu:«Jetzt weiss ich’ s: Du hast dich entschlossen, eine Scheinehe mit einer aus Einsamkeit verzweifelten Schweizerin einzugehen, weil du denkst, so erhältst du automatisch die Niederlassung. Aber da täuschst du dich gewaltig. Im Gegenteil. Wenn du die Rote da drüben zum Altar führst, wird sie Adolfs Untertanin.»

«Und wenn du,Mäxchen, einmal ernst sein und dich von deiner Lektüre losreissen könntest, würde ich dir alles erklären.» Ohne eine Reaktion abzuwarten, ging Simon Richtung Ausgang. Kurz vor der zweiflügeligen Tür wandte er sich noch einmal um und deutete hinauf zur grossen, runden

Uhr:«In fünf Minuten!Draussen!»

«Pscht!», zischte die Rothaarige. Und gleich noch einmal:«Pschschscht!»

«Etwas frische Luft schadet uns beiden nicht», meinte Simon, als Max die sieben Stufen vom Eingang der Universitätsbibliothek an der Ecke von Schönbein- und Bernoullistrasse herunterkam. «Zum Botanischen Garten sind es nur ein paar Schritte. Und es wären noch weniger, wenn das Eisengitter des Hinterausgangs endlich einmal geöffnet würde.»

Ohne auf ein Zeichen des Einverständnisses zu warten, schlenderte er los. «Von der Baustelle des Kollegienhauses ist kaum noch etwas zu hören, seit man endlich mit dem Innenausbau begonnen hat. Wir haben also Ruhe. Zumal sich um diese Uhrzeit gewöhnlich kein Mensch im Botanischen Garten aufhält.»

«Oha, du willst mir etwas verraten, was niemand sonst erfahren darf!Geht es um irgendwelche Intimitäten?Ich bin ganz Ohr.» Rasch hatte Max ihn eingeholt.

«Morgen wird in den Frobenius-Studios in Münchenstein eine Schlüsselszene des neuen Grossfilms gedreht, das hat mir Curt gestern Abend im Löwenzorn erzählt.»

«Curt?Aha.» Max grinste. «Und was ist mit Peter?»

Simon beschloss, den Unterton zu überhören. «Das mit Peter war im Mai.»

«Heute ist der 24. Juni.»

«Eben.» Schweigend spazierten sie weiter. «Curt ist der Requisiteur.»

Max hob die linke Augenbraue.

«Ja, ja, er ist eine Sahneschnitte. Aber darum geht es nicht. Jedenfalls im Moment.» Simon setzte sich auf die dunkelgrün lackierte Holzbank, die am Kiesweg zum Viktoriahaus zu einer Ruhepause einlud, und wartete, bis auch Max Platz genommen hatte. «Ich darf bei dem Dreh kiebitzen, hat er mir versprochen, aber dazu muss er mich unter die Komparsen mogeln. Und deshalb brauch ich morgen deinen Frack.»

Max beschloss, seinen Freund noch ein wenig zappeln zu lassen. «Ist denn Kostüm-Kaiser in der Utengasse abgebrannt?Inden ‹ Basler Nachrichten › stand gar nichts davon. Oder ist das beim Film so üblich, dass Komparsen ihre Kostüme selbst mitbringen?»

«Unsinn. Erstens hat die Anprobe schon stattgefunden, und zweitens sind die Klamotten abgezählt, natürlich, denn für jeden Frack muss die Frobenius an Kostüm-Kaiser Leihgebühr löhnen. La Roche kontrolliert sämtliche Ausgaben bis ins Detail und spart, wo er kann.»

Max sah Simon fragend an.

«LaRoche heisst der kaufmännische Leiter. Wolfgang La Roche, wenn du es genau wissen willst.»

«Sieh an, La Rococos Filius – du weisst, dass Emanuel La Roche die Unibibliothek entworfen hat? – macht jetzt in Film.»

«War ja klar, dass du ihn kennst. Typisch Teig.»

«Daig, Simon, man sagt Daig mit ‹ d › wie Dalbeloch. Tein teutonisches ‹ Teig › tönt total tämlich.»

«Seit wann agieren ausgerechnet Sie als Fürsprech des inzüchtigen Basler Patriziats, werter Werthemann?»

«Treiben Sie es nicht zu weit, Herr Dr. des., ich betone: des. Schrage, sonst sorge ich dafür, dass Ihr Studentenvisum nicht weiter verlängert wird. Sie wissen, der Vorsteher des Kantonalen Polizeidepartements … »

« … ist der Patenonkel … »

«Götti heisst das. Lass dir Ejzes geben von einem weisen Mann:Dusolltest dich wirklich ein wenig mehr akkulturieren.»

« … einer Cousine von dir», beendete Simon ungerührt seinen Satz.

Max schmunzelte. «Nein, er ist nicht einmal der Schwippschwager irgendeines Coucousins. Aber Fritz Brechbühl und Papa haben beide im Grossen Rat politisiert und waren, obwohl Papa kein eingefleischter Roter war, gute Kollegen. Ich glaube, ich habe Brechbühl zuletzt vor drei Jahren bei einer Hochzeit von irgendeinem Vischer gesehen. Oder war es auf dem Hörnli-Friedhof bei der Abdankung von Paul Speiser?

Wolfi La Roche jedenfalls, dessen Eltern beide schon verstorben sind, ist ein Enkel von Andreas Heusler, dem Gerichtspräsidenten, der aber auch nicht mehr unter uns weilt, und seiner Frau Adelheid Sarasin. Und ein Urenkel von Antistes Stockmeyer, der mit einer Burckhardt verheiratet war und natürlich noch länger tot ist.»

«Dass du dir das alles merken kannst:wer mit wem wie … Aber ich sag ’ sja, in Basel besitzt das schöne deutsche Wort ‹ Familienbande › eine ganz eigene Bedeutung.»

Max lachte auf. «Jetzt mal in medias res, Simon. Die Filmfräcke sind abgezählt und den eingeteilten Komparsen zugeordnet, das hab’ ich verstanden. Also musst du dein Kostüm selbst mitbringen. Gut. Aber fällt denn niemandem auf, wenn dein Name auf der Honorarliste oder Gagenliste, oder wie immer das beim Film heisst, fehlt?Dumit deinem Studentenvisum hast striktes Beschäftigungsverbot, wenn ich nicht irre. Oder willst du dich unter Pseudonym verdingen, so wie bei deinen sporadischen Filmkritiken für die ‹ National-Zeitung ›?» Wieder lachte Max auf, diesmal klang es frech. «Überhaupt, hättest du dir dafür eigentlich nichts Besseres als ‹ Curd von Stauffen › ausdenken können?Warum nicht gleich ‹ Nathan der Weise ›?Esnimmt mich schon lange wunder, dass noch niemand herauszufinden versucht hat, wer sich hinter diesem dämlichen Decknamen verbirgt. Da hast du ordentlich Massel gehabt.»

«Weil die Beamten der Fremdenpolizei keinen Schimmer von Lessing haben, weil der Feuilletonredakteur Otto Kleiber ‹ aMensch › ist, wie es im von dir warum auch immer gerne eingestreuten Jiddischen so schön heisst, und weil das hilfreiche Fräulein Wassermann, an das meine bescheidenen Honorare zum Schein gehen, absolut verschwiegen ist. Aber morgen benötige ich keinen falschen Namen. Curt ist sich sicher, dass es niemandem auffallen wird, wenn ich mich unter die bestellten Komparsen mische – sofern ich im eigenen Frack erscheine. Oder vielmehr in deinem. Ich will kein Geld verdienen, gut bezahlt wird so etwas eh nicht. Ich will einmal, wenigstens ein einziges Mal bei Dreharbeiten dabei sein.»

«‹ Sonderbarer Schwärmer ›», zitierte Max aus Schillers «Don Carlos»und fuhr prosaischer fort:«Nur Kintopp im

Kopf, der Herr Studiosus!Und in Gedanken schon auf dem Weg nach Hollywood. Vergiss doch diese Provinzstudios im Baselland. Ich lade dich morgen lieber ins Kino ein. Im Eldorado gibt es ein Lustspiel mit Danielle Darrieux, und das Corso zeigt ‹ Die Flucht aus dem Kloster › mit Marlene Dietrich. Oder lass uns in ‹ Die Teufelspuppe › mit Barrymore gehen, die läuft im Odeon, da sitzt man unter der aufklappbaren Decke wie unter freiem Himmel. Weisst, wie herrlich, bei diesem Wetter?Dumöchtest doch hoffentlich nicht in Leni Riefenstahls ‹ Fest der Schönheit › im Capitol?Jedenfalls alles besser als solch ein dummer Schwank, wie ihn die Tonfilm Frobenius vermutlich dreht. Sag, spielt Fredy Scheim mit? Oder, noch schlimmer, Rudolf Bernhard?Ich hab ihn auf der Küchlin-Bühne als Conférencier ertragen, das genügt mir. Wer will denn sein Pferdegesicht auf zehn Quadratmeter aufgeblasen sehen?»

«Duhast keine Ahnung. In Münchenstein entsteht seit vierzehn Tagen ein Kunstwerk, sagt Curt. ‹ Dämmerung › wird die Tonfilm Frobenius an die Spitze der Schweizer Filmproduktion katapultieren. Eigentlich hätte Gustav Hartung, du weisst, der Oberspielleiter des Stadttheaters, Regie führen sollen.» Simon sprudelte geradezu über vor Enthusiasmus. «Und Hartung ist genial, als Bühnenregisseur zumindest, du hast doch auch ‹ Die weisse Krankheit › gesehen und im Mai die Uraufführung von ‹ Talleyrand und Napoleon › mit dem grossen Albert Bassermann.»

«Vier Stunden waren zwei zu viel», bemerkte Max trocken.

«Hartungs Klassikerinszenierungen besitzen Grossstadtniveau, da sind sich sämtliche Kritiker einig. Zwar hat er noch nie für die Leinwand inszeniert, aber ein Genie wie er kann alles, da bin ich mir sicher. Doch dann hat die Eidgenössische Fremdenpolizei seine Verpflichtung untersagt, kurz vor Be-

ginn der Dreharbeiten, nicht aus künstlerischen Gründen, sondern weil er ein Emigrant ist und weil, so hat Curt mir erzählt, aber woher er das weiss, weiss ich auch nicht, weil ein paar mediokre Schweizer, die neidisch auf Hartungs Verpflichtung waren, dagegen bei den Behörden protestiert haben. Das war natürlich eine Katastrophe für die Tonfilm Frobenius, also musste deren künstlerischer Leiter Guggenheim notgedrungen selbst einspringen … »

«René Guggenheim?», unterbrach Max den Redeschwall. «Guggenheim ist kaum älter als wir und ein Stümper. Dieser versoffene Möchtegernegross hat von Filmkunst so viel Ahnung wie ein Murmeltier vom Rudern.»

«Esheisst Möchtegern oder Gernegross. Ich denke, auch du studierst Germanistik?»

«InGuggenheims Fall kann man nicht deutlich genug sein!»

«Dukennst ihn?»

«Nicht persönlich. Aber man hat so einiges von ihm gehört. Eigentlich kommt er aus einem bürgerlichen Haus, sein verstorbener Vater war Kaufmann, sein Bruder ist Versicherungsagent, und er selbst hatte zunächst Medizin studiert, nein, Zahnmedizin, glaube ich. Egal, er führt seit Jahren ein Bohèmeleben. Seine Trinkgelage im ‹ Club 33 › neben dem Variété Küchlin waren Stadtgespräch. Mal hat er in einer surrealistischen Pantomime von Marie-Eve Kreis einen Pariser Typen zwischen Boulevard und Banlieue gespielt, also quasi sich selbst, dann wieder hat er sich für einen genialen Maler gehalten. Wobei die Annoncen, die er für das Herren-Konfektionsgeschäft Merkur gezeichnet hat, und seine Fasnachtslaternen gar nicht so übel waren Und jetzt spielt er offenbar den Filmregisseur.»

«Natürlich fehlt Guggenheim noch eine gewisse Routine, sagt Curt, aber der Chefoperateur, der schon für Max Ophüls

gearbeitet hat, und die Darsteller werden das Kind schon schaukeln. Robert Alberti spielt mit, als vermeintlich zwielichtiger, aber letztlich herzensguter Vorstandsvorsitzender einer chemischen Fabrik, das ist natürlich die Hauptrolle, eine andere käme für Alberti nicht in Frage. Die intrigante Halbschwester des Fabrikanten gibt Friedel Forst, die am Stadttheater gastiert und ab Herbst fest engagiert ist, und es steht jetzt schon fest, sagt Hartung, also, ich meine, Curt hat gesagt, dass Hartung das gesagt hat, dass sie sich als allererste Kraft des Hauses etablieren wird. Kein Wunder, die Forst hat am Berliner Staatstheater gespielt und am Theater in der Josefstadt in Wien geglänzt, und nach dem Anschluss ist sie nach Basel emigriert. Nach Basel, nicht etwa nach Prag oder nach Zürich, natürlich nicht wegen Egon Neudegg, diesem Schmierendirektor, operette sich, wer kann, denke ich immer, wenn ihn sehe, sondern wegen Gustav Hartung, und weil sie Rudolf Schwabe kennt, den Präsidenten der Theaterkommission, der hier das Sagen hat … »

«Ich weiss. Und wenn du nicht zwischendurch mal Luft holst, wirst du den morgigen Drehtag nicht erleben», versuchte Max den Monolog zu beenden.

Doch Simon war noch nicht fertig. «Und eine blendend aussehende junge Schauspielerin ist dabei, die zum allerersten Mal vor der Kamera agiert, aber gleich eine wichtige Rolle erhalten hat. Curt sagt, sie ist derkommende Stern am Schweizer Filmhimmel.»

«Naja, viel leuchtet dort ja nicht. Da strahlt selbst eine müde Funzel. Aber Curt, Curt muss es ja wissen», machte sich Max über Simons Flirt lustig.

«Auf der Bühne jedenfalls hat Hilde Ehinger neulich sogar die Forst an die Wand gespielt.»

«Hilde Ehinger?» Plötzlich veränderte sich Maxens Ton. «Ich war in der Première der ‹ Maria Stuart ›,und ich muss

sagen … »Erzögerte einen kurzen Moment, bevor er umso entschiedener postulierte:«Dein Schwarm muss zwei Komparsen reinschmuggeln.»

«Max, vergiss es. Ich brauche deinen Frack, sonst funktioniert der Plan nicht!»

«Rosa soll für dich den alten Frack von Papa vom Estrich holen. Wenn sie den Staub abklopft, wird er schon noch kameratauglich sein. Du musst dich allerdings ein wenig anstrengen, bis morgen reinzuwachsen. Papa hat deutlich mehr hergemacht als du.» Als Max Simons unglücklichen Blick sah, fügte er hinzu:«Keine Angst, mit Hosenträgern wird’ s gehen. Vorallem unscharf im Hintergrund, während die Kamera auf Hilde Ehinger fokussiert und auf den blendend aussehenden jungen Mann, der direkt neben ihr steht.» Und er fragte, ohne weiteren Einwänden eine Chance zu geben: «Wann müssen wir morgen in Münchenstein sein?»

«Spätestens um drei viertel acht.»

«Abends, hoffe ich.»

Simon verdrehte schweigend die Augen.

«Was tut man nicht alles für die Kunst. Ich hol dich um sieben Uhr früh ab.»

«Das ist ein kolossaler Umweg für dich.»

«Ich will, dass du für immer und ewig in meiner Schuld stehst.»

Simon ging das alles zu schnell. «Curt hat gesagt, ich soll schon tipptopp angezogen erscheinen, damit ich gar nicht erst in die Garderobe muss, wo vielleicht jemand Fragen stellt, sondern direkt ins Atelier kann. Also gibst du mir den Frack deines Vaters besser schon … »

«Ich hol dich um sieben ab.»

Simon trat in der bereits 19 Grad warmen Sommermorgensonne seit einer Viertelstunde ungeduldig von einem Bein aufs andere und sah alle zwei Minuten auf seine Armbanduhr, als zu seiner Erleichterung um kurz nach sieben der tomatenrote Lancia seines Freundes in die Hebelstrasse einbog. Mit quietschenden Pneus hielt er vor dem etwas heruntergekommenen Haus Nr. 41. Margarethe Wassermann, eine alleinstehende ehemalige Telefonistin, vermietete bevorzugt an Menschen, die aus dem Dritten Reich geflohen waren, denn die meisten von ihnen waren unkomplizierte Bewohner.

Glücklich, eine günstige Unterkunft gefunden zu haben, stellten sie keine besonderen Ansprüche und gaben sich mit einer Toilette im Treppenhaus zufrieden, und wer duschen oder baden wollte, suchte eben das städtische Brausebad St. Johann auf. Ausserdem half Fräulein Wassermann diesen Emigranten gerne. Besonders einem so höflichen Studenten wie Simon Schrage, für den sie heute in der Früh sogar schon einen Kaffee gebraut hatte.

«Guten Morgen, Mäxchen!», rief Simon quecksilbrig vor freudiger Erwartung. Auch Max hatte trotz der in seinen Augen unanständig frühen Stunde blendende Laune. In seinem massgeschneiderten Frack sah er aus wie Willy Fritsch, doch obschon Simon nicht frei von Neid war, sagte er nichts dergleichen, sondern wollte wissen:«Hast du den Frack für mich dabei?»

«Auweh … Du weisst doch, um diese Zeit funktioniert mein Gehirn noch nicht. Es braucht mindestens zwei Stunden, bis es in die Gänge kommt.»

Max registrierte zufrieden, dass sein Freund für zwei Sekunden so blass wie die Rote im Lesesaal wurde. Doch Simon

hatte sich schnell gefasst und nahm auf dem extravagant mit Zebrafell bezogenen Beifahrersitz Platz. «Dass ich jedes Mal auf deine dummen Scherze reinfalle. Du wirst schon sehen, eines Tages erleide ich vor Schreck einen Herzinfarkt und falle tot um. Und dann?»

«Dann überreicht mir der deutsche Gesandtschaftsrat Albert Duckwitz höchstpersönlich eine Flasche HenkellSchaumwein. Zum Dank dafür, dass ich die Welt von einem Juden befreit habe. Weisst du was?Vielleicht spendiert er ja für einen schwulen Juden wie dich gleich zwei Flaschen, was meinst du?»

«Haha, sehr witzig.» Vorsichtshalber warf Simon doch noch einen Kontrollblick auf die Rückbank, wo er tatsächlich den Frack liegen sah, und steckte sich eine Memphis an, während Max auf der Klingelbergstrasse am Bernoullianum vorbeifuhr.

«Und der Fahrer?», fragte Max, als sie das Spalentor passierten.

Simon nahm die Zigarette aus seinem Mund und steckte sie Max zwischen die Lippen.

«Aha, so machst du also deinen Kerls Avancen?Chapeau!», lobte Max nach dem ersten Zug. «Ist das übrigens was Ernstes mit diesem Curt?»

«Was weiss ich», wiegelte Simon ab und griff nach seinem Zigarettenpäckchen, beschloss dann aber, sich doch erst einmal umzuziehen. Er verspürte nicht die geringste Lust, schon wieder sein schwules Liebesleben mit Max zu diskutieren, der von so etwas keine Ahnung hatte. Fast keine Ahnung, um genau zu sein, aber daran wurde Max nicht allzu gern erinnert. Simon musste grinsen. Während er sich im Sitzen umständlich aus seinen Knickerbockern schälte, konterte er:«Und du hast es also auf Hilde Ehinger abgesehen, Mäxchen?»

«Ich bin doch kein Jägersmann auf der Pirsch!Wie redest du mit einem Gentleman?» Er bog von der Schützenmattstrasse nach links auf den Steinenring.

«Impassenden Alter wäre sie. Sie ist im April zwanzig geworden. Hat Curt erzählt», liess Simon nicht locker und setzte ein wenig zu angriffig hinzu:«Aber vielleicht nicht ganz standesgemäss für Sie, so eine Schauspielerin, werter Werthemann. Na ja, die Frau Mama weilt ja weit weg in Florenz.»

Doch Max lachte. «Und vergnügt sich dort mit einem aufstrebenden Cellisten, der mein Bruder sein könnte.»

Simon zog die von Rosa sorgsam aufgebügelte, in der Tat erheblich zu weite Frackhose hoch. «Ein Skandal allererster Sahne. Wenn die feinen Baslerinnen darüber tratschen würden. Aber sie ziehen es ja vor, diskret zu schweigen.»

«Die haben sich genug das Maul zerrissen, als Papa keine von ihnen, sondern eine Katholikin mit italienischem Vater und französischer Mutter zum Altar geführt hat, weil, wie er meinte und wie er auch überall verkündet hat, eine Blutauffrischung der Stadt dringend nottue. Quod erat demonstrandum, Papas blendendes Aussehen gepaart mit Mamas südländischem Temperament hat eine unschlagbare Mischung ergeben. Ich jedenfalls finde mich gelungen. Übrigens habe ich dir keine Lackschuhe mitgebracht. Ich nehme an, deine Füsse werden nicht auf der Leinwand zu sehen sein.»

Simon wechselte sein Hemd und band die Fliege über den Stehkragen. «Ich habe deine Mutter ja nur einmal erlebt, als sie vor zwei Jahren unangekündigt auf Stippvisite nach Basel kam und plötzlich im Garten stand. Ja, temperamentvoll ist sie, energisch und impulsiv. Und von einer geradezu königlichen Arroganz. Du hast einiges von ihr, mein liebes Mäxchen.» Als ob er seinen Worten Nachdruck verleihen wollte,

liess Simon dabei die Hosenträger auf die Brust schnellen. Dann griff er nach dem weissen Gilet.

«Ich hoffe doch, ich komme nicht nur vom Aussehen her nach Papa, Gott hab ihn selig.» Max musste kurz schlucken beim Gedanken an den Vater, der vor neun Jahren, wenige Tage nach der Konfirmation seines einzigen Sprösslings, einem Nierenleiden erlegen war. Obwohl ihm sein Arzt strikt verboten hatte, Alkohol zu trinken, hatte er Max immer wieder den Schlüssel zum Weinkeller zugesteckt, und dieser hatte dem vergötterten Vater heimlich den geliebten Bordeaux geholt, ihm damit eine Freude gemacht und zugleich die gestrenge Mutter ausgetrickst. Aber wenn er vernünftig gewesen und nicht seinem Herzen gefolgt wäre, hätte Papa dann länger gelebt?«Ich wusste zwei Jahre lang, wie krank er war und dass ich ihn jeden Augenblick verlieren konnte, und er durfte es nicht merken, dass ich es wusste. Einen offeneren, toleranteren Menschen als ihn kann man sich kaum vorstellen. Was denkst du, sind es nicht immer die Väter, die unser Leben prägen, im Guten wie im Schlechten?Hast du eigentlich Kafkas ‹ Urteil › schon gelesen?»

Simon warf seine Kleider auf die Rückbank, behielt aber den Rock auf dem Schoss, um ihn nicht zu zerknautschen.

Eigentlich hatte er noch eine Bemerkung in Sachen Arroganz nachschieben wollen, aber es war ihm nicht entgangen, wie ernst Max geworden war. Und er musste an seinen eigenen Vater denken. Simon hatte ihn, seit er 1934 nach Basel gekommen war, nur ein einziges Mal gesehen und gesprochen, vor gut einem Jahr, als dieser ihn besucht hatte. Schon am ersten Abend hatte sich der verwitwete Professor Dr. med. Ernst Schrage in Selbstvorwürfen gesuhlt, seine Erziehungsfehler seien schuld an Simons «Veranlagung», wie er es genannt hatte. Traurig und wütend hatte Simon ihn im Hotel Krafft sitzen lassen, hatte am Rheinufer erst einmal durchge-

atmet und sich nie mehr bei ihm gemeldet. Vonseiner Schwester, die mit ihrem Mann, einem Kinderarzt, nach Amsterdam emigriert war, wusste er nur, dass der Vater, obwohl man ihm längst die Kassenzulassung als Pneumologe entzogen hatte, sich noch immer nicht hatte entschliessen können, sein geliebtes Berlin zu verlassen.

«Mama ist eine dumme Gans», riss ihn Max aus den Gedanken. «Nicht zuletzt, was ihre Begeisterung für Benito Mussolini anbelangt. Doch Papa hat Mama geliebt, also liebe ich sie auch. Trotzdem bin ich froh, dass ich sie los bin.»

«Logisch. So residierst du allein zwischen all den schönen Teppichen, dunklen Bildern, wertvollen Bronzen und tickenden Uhren, all dem Porzellan, Silber und Kristall in eurem Tudorschloss im Gellert, mal abgesehen von der famosen Rosa, die dich bestens versorgt, nein:umsorgt, und kannst den lieben langen Tag … »

«Vergiss die Nächte nicht, die sind viel wichtiger!»

« … kannst Tag und Nacht machen, was du willst. Überhaupt wirst du dein ganzes Leben lang niemals zu ernsthafter Arbeit gezwungen sein, weil das bestens angelegte väterliche Vermögen dich allein mit den Zinsen, die es einbringt, geradezu fürstlich alimentiert.»

«Simon, seit wann übst du dich denn in Kapitalismuskritik?Jüdisch und schwul reicht dir wohl nicht, dass du dich jetzt auch noch als Kommunist versuchst?»

«Gott bewahre», entgegnete Simon, «gelobt seien deine Villa, dein Auto und nicht zuletzt dein Weinkeller … »

«Papas Frack nicht zu vergessen», warf Max ein.

«Gelobt sei Papas Frack und meinetwegen auch das Mieder deiner Mama.»

«Amen. Jedenfalls bin ich mir sicher, dass sie sich hüten wird, sich in meine amourösen Angelegenheiten einzumischen», kam Max aufs Thema zurück.

«Gemach, gemach, mein liebes Mäxchen. Amourös ist noch lange nichts. Die Ehinger kennt dich ja noch nicht einmal.»

Max trat scharf auf die Bremse und brachte den Wagen am Anfang der St. Jakobs-Strasse zum Stehen. «Sag nichts. Ich weiss schon, wenn ich nicht augenblicklich den Mund halte, kann ich nach Münchenstein laufen.»

«Nebbich. Hast du die junge Frau nicht gesehen, die über den Aeschenplatz gehastet ist, ich nehme an, um den CrèmeSchnitte-Express noch zu erreichen?Esgibt keine Zufälle! Los, auf die Rückbank», befahl Max knapp. «Und benimm dich!»

Simon begriff überhaupt nichts, doch er wusste, wann man am besten einfach tat, was Max verlangte. Er sass noch nicht einmal richtig, da setzte Max, während die gelben Waggons der Birseckbahn an ihnen vorüberrumpelten, bereits den Lancia schwungvoll bis zur Tankstelle der Auto-Service Aeschenplatz AG an der Ecke zum Aeschengraben zurück. Ohne dem Polizisten in seiner Plantonkanzel Beachtung zu schenken, der mit weissen Handschuhen wild zu gestikulieren begann, überquerte er den Aeschenplatz in Richtung des Turmhauses, wechselte auf die linke Fahrbahn und hielt beim Bahnhof der Vorortslinien. Eine sichtlich nervöse junge Frau wartete auf das nächste Tram. Unter honigblonden Locken strahlten helle grüne Augen in einem offenen Gesicht mit hohen Wangenknochen und einem vollen Mund. Ihre etwas zu enge, eierschalenfarbene Bluse und der glockenförmige, schilfgrüne Jupe mit seiner hoch angesetzten Taille betonten all jene Körperpartien, denen Max üblicherweise nicht gerade die geringste Beachtung schenkte. Auch ein Bein war hübscher als das andere, stellte er zufrieden fest.

«Massel muss man haben», raunte er Simon zu, stiess die Beifahrertür auf und rief:«Mein schönes Fräulein, darf ich’ s wagen?»

«Sie schickt der Himmel, oder meinethalben auch Mephisto, das ist mir gerade egal. Können Sie mich nach Münchenstein chauffieren?Bitte!Esist ein Notfall, wirklich ein absoluter Notfall!»

«Steigen Sie ein, Fräulein Ehinger!»

«Sie kennen mich?», fragte Hilde Ehinger erstaunt und setzte sich neben Max.

«Sie waren eine ganz reizende Stuart, die beste, die ich je gesehen habe. Bislang auch die einzige, zugegeben. Aber bezaubernd, wirklich, besonders auf dem Schafott. Und wie es das Schicksal will, muss ich ohnehin nach Münchenstein. Allons-y!» Er gab Gas.

«Sie trauen sich?»

«Soschnell zu fahren?Ich denke, Sie haben es pressant?»

Hilde wies mit dem Kopf auf seine unübliche Bekleidung. «Ich meine, Sie gehen den Bund fürs Leben ein?Oder kellnern Sie?»

«Weder noch. Als Bräutigam würde ich um diese Tageszeit einen Cut tragen. Und als Kellner hätte ich statt einer Schleife aus weissem Piqué eine schwarze Seidenschleife um. Ich bin genau wie Sie auf dem Weg ins Atelier.» Max sah seiner Beifahrerin so tief in die Augen, wie es ihm möglich war, ohne dabei den Verkehr allzu sträflich ausser Acht zu lassen. «Wir sind nämlich Kollegen.» Hilde Ehinger musterte ihn, doch das fein geschnittene Jünglingsgesicht unter den gewellten blonden Haaren wollte ihr beim besten Willen nicht bekannt vorkommen. «Quasi. Ich habe das Vergnügen, bei Ihrem Film statieren zu dürfen.»

«Ich auch», rief es von der Rückbank. «Ruhe auf den billigen Plätzen, Simon!»

«Der junge Mann hinter uns heisst also Simon», konstatierte Hilde Ehinger, wandte sich um und nickte ihm freundlich zu. Dann gab sie ihrer Stimme jenes warme Timbre, das schon ihre sonst so unerbittlich kritische Sprecherzieherin

Margit von Tolnai am Wiener Reinhardt-Seminar gelobt hatte. «Und Sie, tragen Sie denn auch einen so wohlklingenden Namen?Sie haben sich mir noch gar nicht vorgestellt. Das finde ich ziemlich unziemlich.»

«Verzeihen Sie, Fräulein Ehinger … » Sie lächelte. «Sagen Sie ruhig Hilde.»

«Dann bin ich für Sie der Max. Aber sind Sie nicht arg spät dran, Hilde?Nicht dass Sie eine Aufhübschung nötig hätten, aber müssen nicht alle Darsteller vor Drehbeginn in die Maske?»

Hilde stöhnte. «Erhat mich versetzt, dieser Hornochse. Um halb sieben wollte er mich zu Hause abholen.»

«Über den Namen des Verdammungswürdigen schweigt der Versetzten Höflichkeit, nehme ich an?», fragte Max in der Hoffnung, die geschraubte Formulierung würde den wahren Grund seines Interesses kaschieren.

«Wie?» Hilde wusste nicht, was sie antworten sollte. «Entweder sind Sie einfach nur neugierig oder … oder Sie sind neugierig.» Sie ärgerte sich, dass ihr auf die Schnelle nichts Besseres eingefallen war. Improvisation hatte schon auf dem Seminar nicht als ihre Stärke gegolten.

«Stimmt.»

«Namen sind Schall und Rauch», hörte sie sich sagen und ärgerte sich über diese Plattitüde noch mehr.

«Apropos:Rauchen Sie?Darf Ihnen unser Mitfahrer eine Memphis offerieren?»

Hilde lehnte mit einer, wie sie sich im selben Augenblick eingestand, recht schroffen Geste ab, also liess sie eine Erklärung folgen:«Ich fürchte, ich muss mich übergeben, wenn

ich jetzt nur einen einzigen Zug nehme. Ich habe kolossales Lampenfieber.»

«Aber Sie haben doch keinen Grund, nervös zu sein. Ich weiss, das ist Ihr erster Film, aber doch nicht Ihr erster Drehtag. Die halbe Stadt schwärmt von Ihrem phänomenalen Talent.»

«Wir sind tatsächlich schon fast fertig mit den Innenaufnahmen. Doch heute steht eine besonders aufwendige Szene auf dem Plan. Mit zwei Dutzend Komparsen … »Sie schmunzelte. « … aber das wissen Sie ja. Ich soll Robert Alberti, also natürlich nicht ihm, sondern dem Fabrikanten Düby, den er darstellt, zum Entsetzen der ganzen Festgesellschaft ein Messer in die Brust rammen.»

«Sie ermorden Alberti?Dann wird das eine der Schlussszenen des Films?»

«ImGegenteil. Man dreht nicht chronologisch. Die Sequenz, die bis heute Nachmittag im Kasten sein muss, steht ziemlich am Anfang der Geschichte. Alberti, also Düby, wird nur verletzt, erholt sich rasch, und zu guter Letzt finden wir sogar zusammen.» Hilde zog die Haut neben ihrer Nase in die Höhe. «Und küssen uns.» Sie tat so, als erschrecke sie. «Huch, jetzt habe ich mich verplappert und Ihnen schon alles verraten. Wie dumm!»

Sie lachte. Max war sich sicher, nie zuvor ein so bezauberndes Lachen gesehen zu haben. «Alberti geht doch auf die Fünfzig zu, oder nicht?Der könnte Ihr Vater sein», meinte er mit nur halb gespielter Empörung, wohl wissend, dass das keine unübliche Filmbesetzung war. «Stellen Sie sich mal vor, eine Fünfzigjährige würde einen halb so alten Mann vernaschen. Der Basler Frauenverein zur Hebung der Sittlichkeit ginge mit Protestplakaten auf die Strasse.»

«Guggenheim hat im Atelier dasselbe wie Sie gesagt. Also, natürlich nicht das mit der Sittlichkeit, sondern, dass Alberti mein Vater sein könnte.»

«Was dessen Laune vermutlich gehoben hat.»

«Erhat gefragt: ‹ So, könnte ich das, Herr Guggenheim?›,hat eine lange Pause gemacht, wie auf der Bühne, wenn ihm der Text nicht einfällt und die Souffleuse schläft, und dann mit einer etwas herablassenden Distinguiertheit, als sei er schon in seiner Rolle als Firmenchef, erklärt: ‹ Nun denn. Wenn Sie es genau wissen wollen, wurde ich im Jahre 1890 geboren, und da Fräulein Ehinger nach der Stuart-Première in ihren zwanzigsten Geburtstag hineingefeiert hat …›, und dann hat er mich angesehen, die Lippen gespitzt und geflötet: ‹… könnte ich das wohl.› Guggenheim, der gar nicht gemerkt hatte, wie indigniert Alberti im ersten Moment gewesen war, hat dann noch verkündet, dass die Kussszene eben wegen Albertis Alter besonders sorgfältig und geschmackvoll inszeniert werden müsse. Aber darauf hat Alberti gar nicht mehr reagiert.»

«Und?», fragte Max mehr aus persönlichem als cineastischem Interesse.

«Nach neunzehn Wiederholungen war die Szene im Kasten.»

«Sie scheinen Alberti nicht besonders zu mögen.»

«Wodenken Sie hin.» Hilde schüttelte den Kopf und fuhr sich mit der Hand durch die blonden Locken. «Esist ein erhebendes Erlebnis, mit ihm arbeiten zu dürfen, er ist fabelhaft. Als Schauspieler ohnehin, daran besteht ja weit und breit nicht der geringste Zweifel, vor allem aber hat er mich menschlich beeindruckt. Ich freue mich schon darauf, dass wir im Herbst zum ersten Mal gemeinsam auf jenen Brettern stehen werden, die bekanntlich die Welt bedeuten. Nein, nein, es geht mir nur darum, dass fast alle es normal finden,

wenn im Film ein fünfzigjähriger Mann seine blutleeren Lippen auf die einer halb so alten Frau presst. Sind hingegen Frauen fünfzig, dürfen sie vor der Kamera allenfalls noch Kinder, Rösser und Sterbende küssen.»

Max hatte gehörig aufs Pedal gedrückt, und so sauste sein roter Lancia bereits über die Heiligholzstrasse in Richtung der östlich gelegenen Birs. «Haben Sie das Strassenschild beachtet, Hilde?Wenn das kein gutes Omen ist!Übersetzen sie doch mal:Heiligholzstrasse, Holy Wood Street. Sie sind schon auf dem Weg nach Hollywood!»

Als sie das Flüsschen überquerten, wurden rechter Hand die Maschinenhallen von Brown, Boveri &Cie. sichtbar, die nun die Tonfilm Frobenius beherbergten. Hundert Meter weiter bog Max in die Aliothstrasse.

«Wenn ich meinen ersten Oscar entgegennehme, werde ich es nicht versäumen, auch meinem Chauffeur Max zu danken, ich verspreche es!» Hilde warf die Beifahrertür zu und machte sich eiligen Schrittes auf den Weg zu einem langgestreckten Gebäude rechter Hand der Einfahrt, drehte sich aber im Laufen noch einmal um. «Und Ihnen natürlich auch … ?»

«Simon», rief dieser von der Rückbank, «Simon!»

Das Licht der Morgensonne verlieh dem Industrieareal etwas Glamouröses, zumindest in Simons Augen. Vorzwei Jahren hatte die Basler Bank Sarasin &Cie., und zwar, wie Simon von Curt wusste, allein auf Drängen Dietrich Sarasins, des Aufsichtsratsvorsitzenden der Frobenius Tonfilm A.-G., mit drei Millionen Franken die Errichtung eines Filmstudios finanziert:zwei Tonateliers, Garderoben, Werkstätten, ein Requisitenlager, Vorführräume, Bureaus und ein sechzig Personen fassendes Restaurant. Dazu stand für Aussenaufnahmen ein 4,5 Hektaren grosses Gelände zur Verfügung, mit Freiflächen und mit einem kleinen Wäldchen am Ufer der Birs. «Weisst du, dass die schwer beeindruckten Gazetten das als ‹ ein kleines schweizerisches Hollywood › gerühmt haben?», fragte er Max, der aber nur mit den Achseln zuckte.

Als sie das 35 mal 14 Meter grosse Hauptatelier betraten, rochen sie Schweiss und Schminke, Staub und Leim. Unvermutet standen sie in einem neobarocken Vestibül. Die Wände waren, wie Max erst auf den zweiten Blick bemerkte, aus angemalten und mit Gipsstuck dekorierten Sperrholzplatten zusammengezimmert worden, rückseitig abgestützt durch Streben. Den Boden hatte man mit Holzplatten ausgelegt, denen ein geschickter Theatermaler das Aussehen edlen Marmors verliehen hatte. Darauf lagen Teppiche, die, und auch das wusste Simon natürlich von Curt, das am Steinenberg domizilierte Teppichhaus Hettinger zur Verfügung gestellt hatte. «Grazita, die Tochter des Besitzers HellmuthHettinger, die nach einer Schauspielausbildung in Berlin bereits kleine Rollen in zwei deutschen Filmen ergattert hatte, war in der engsten Auswahl für die weibliche Hauptrolle gewesen. Das heisst, Curt hat erzählt, Guggenheim hatte ihr sogar schon

mündlich zugesagt, als er plötzlich doch Hilde Ehinger engagiert hat.»

An der Stirnseite des Vestibüls führte eine sanft geschwungene Bogentreppe nach oben, angestrahlt von Dutzenden Fresnel-Linsen-Scheinwerfern und dem grellen Licht älterer Jupiterlampen, die auf einer umlaufenden Galerie montiert waren, knapp unterhalb der zehn Meter hohen Decke, an der weitere Jupiterlampen und riesige Quecksilberdampflampen hingen und das Atelier bereits gehörig aufgeheizt hatten. Andere Scheinwerfer dienten als Seitenlichter und standen auf Gestellen, die mit Rollen versehen und dafür eingerichtet waren, dass man die Lampen in der Höhe verstellen konnte. Nahe der Treppe erkannte Max, der das langjährige Premièrenabonnement seiner Mutter übernommen hatte, nachdem diese mehr oder weniger dauerhaft nach Florenz übergesiedelt war, den Charakterspieler Arthur Fischer-Streitmann und die Mütterdarstellerin Alma Wallé, zwei ebenso verdiente wie beliebte Ensemblemitglieder des Stadttheaters. An der rechten Seite des Raums warteten anderthalb Dutzend Männer unterschiedlicher Statur und verschiedenen Alters, alle im Frack, sowie drei, nein, vier Frauen in Abendgarderobe darauf, dass der Hilfsspielleiter sie im Raum platzierte. Er war ein hagerer junger Mann mit einer Nickelbrille und einem spärlichen Oberlippenbart über den schmalen Lippen, auf denen ein vieldeutiges, zugleich höhnisches und um Mitleid werbendes Lächeln lag. Max und Simon postierte dieser Beat Schill, wie er sich vorstellte, zu beiden Seiten einer Mittdreissigerin, die man in ein Kleid aus weich fallendem schwarzen Mattkrepp mit leuchtend-farbigem Blumenmuster gesteckt hatte. Eigentlich schade, dass das später auf der Leinwand alles grau aussieht, dachte Max, als zu ihnen ein Mann Anfang dreissig mit einem Tablett voller Champagnergläser trat. Mit dem widerspenstigen, fast schwarzen Haar über der hohen Stirn und

den dunkelbraunen, gescheiten Augen wirkte er nicht unsympathisch, und Max hätte ihn gerne angesprochen, doch er wagte es nicht, denn Curt Creuder liess sich natürlich nicht anmerken, dass, geschweige denn wie gut er Simon kannte. Er drückte wortlos jedem eine Flûte in die Hand, in der sich, das roch Max sofort, verdünnter Ramseier befand, und ging weiter zum nächsten Komparsen. «Dass ja niemand von euch daraus trinkt!», mahnte Beat Schill. «Nur nippen, sonst funktionieren die Anschlüsse nicht!»

«Was für Anschlüsse?», wollte Max flüsternd von Simon wissen.

«Wenn die einzelnen Einstellungen im Schnittraum montiert werden, muss alles zusammenpassen. Stell dir vor, man sieht, wie du ein fast leeres Glas in der Hand hältst, und gleich darauf ist es wie von Geisterhand wieder gefüllt. Problematisch wird das vor allem, wenn Szenen, die an ganz unterschiedlichen Tagen gedreht werden, zusammenpassen müssen. Da muss jedes Detail des Kostüms stimmen, kein Barthaar darf gewachsen sein. Aber Achtung, da kommen Guggenheim und die Hauptdarsteller.»

Der Regisseur, ein hochgewachsener, schlanker Mann mit gescheitelten dunklen Haaren über einem etwas aufgeschwemmten, blassen Gesicht, in dem eine überstarke, fast klobige Nase prangte, hatte trotz der Hitze im Atelier einen weissen Seidenschal um seinen Hals drapiert. Er schenkte den Komparsen keinerlei Beachtung, während Alberti, ebenfalls im Frack, und die Forst, die eine atemberaubende silberglänzende Chiffonrobe mit tiefem Rückenausschnitt trug, freundlich in die Runde nickten. Hilde Ehinger, der man ein kurvenbetonendes, lachsfarbenes Taftkleid mit grosszügigem Décolleté verpasst hatte, klammerte sich mit beiden Händen an einer muschelförmigen Bakelit-Handtasche fest, als suche sie Halt. «Denk daran, Hilde, was ich dir gestern bei der

Probe gesagt habe:Stich ihn nicht in die Herzgegend. Du musst weiter oben treffen, knapp unter der Schulter, dort, wo das Blutsäckchen unter dem Hemd angebracht ist. Schliesslich verletzt du ihn, aber du bringst ihn nicht um. Sonst könntet ihr wohl kaum im Lauf der Handlung zusammenkommen. Und die Kussszene haben wir ja letzte Woche schon gedreht. Sie ist übrigens entzückend geworden.»

«Duhast sie ja auch oft genug wiederholen lassen», konnte sich Hilde Ehinger nicht verkneifen zu sagen, fügte aber mit der bewährten samtweichen Stimme hinzu, «lieber René», wobei sie das «i»sodehnte, als müsse sie mindestens zwei mit einer Ligatur verbundene ganze Noten halten. Weil Guggenheim keine Ahnung vom Metier hat, dachte sie. Oder vielleicht auch, weil ihn Alberti, der unübersehbar jeden einzelnen Take genossen hatte, mit einer Flasche Côte du Rhône bestochen hatte.

«Kinder, lasst uns doch endlich anfangen», mahnte dieser und würdigte seine junge Kollegin eines vorwurfsvollen Blickes:«Wir sind ohnehin spät dran.» Während Hilde sich zwischen Fischer-Streitmann und der Wallé in Position brachte, gingen Alberti und die Forst sieben Stufen der imposanten Treppe, die ins Nichts führte, nach oben, um dann, sobald die Kamera laufen würde, wieder vier davon herabzukommen und stehen zu bleiben.

«Keine Probe», befahl Guggenheim. «Der erste Versuch ist immer der beste.» Er begab sich zur gegenüberliegenden Seite der Halle, wo man etwas erhöht die Kamera aufgestellt hatte. Sie sollte zunächst eine Totale aufnehmen:imZentrum des Bildausschnitts Alberti und die Forst, darunter, zu beiden Seiten am Fusse der Treppe, Hilde Ehinger, FischerStreitmann, die Wallé und die Komparsen, die aber nur in Rückenansicht oder allenfalls im Halbprofil zu sehen sein würden.

«Achtung, wir drehen», tönte blechern Beat Schills Stimme aus dem Megafon.

«Kamera läuft.»

«Ton läuft.»

Ein Assistent schlug die Klappe. «Dämmerung, 12.1, die Erste!»

«Und … bitte!», vernahm man die Stimme Guggenheims, der neben dem Kamerapodest in einem hölzernen Faltstuhl Platz genommen hatte, auf dessen Rückenlehne aus Segeltuch sein Nachname zu lesen war – zum Ärger Guggenheims in kleineren Lettern als auf den Stühlen von Alberti und Forst, aber grössere fanden wegen der Länge seines Namens keinen Platz.

Robert Alberti und Friedel Forst, die sich rechts bei ihm eingehakt hatte, schritten wie verabredet exakt vier Stufen hinab. «Als Führer eines Unternehmens», begann Alberti, eine Spur zu verliebt in seine sonore Stimme, «ist man für seine Arbeiter verantwortlich wie ein Vater für seine Kinder. Er will ihr Bestes, also fordert er sie, und er fördert sie. Aber wenn sie über die Stränge schlagen, tut mitunter auch Züchtigung Not, gerade weil er sie liebt.»

«Aus!», rief Guggenheim und sprang auf. «Sogeht das doch nicht. Das wirkt völlig leblos.»

Alberti hielt die Luft an und schaute ins Dunkel, dorthin, wo er den Regisseur vermutete. Was erlaubte sich dieser ahnungslose Schnösel, ihn so zu kritisieren, noch dazu coram publico?Erholte schon tief Luft, als er hörte, wie Guggenheim mit samtweicher Stimme säuselte:«Natürlich nicht Sie, mein lieber Alberti, Sie waren hervorragend wie immer, was sage ich, besser denn je. Aber», und nun wurde der Ton des Regisseurs scharf, «wie du die Schafherde hier hingestellt hast, Schill, so geht das doch nicht. Alles muss man selbst machen. Du dort, der gutaussehende Blonde!» Max, der etwas

schräg an der Seite stand, drehte sich fragend zu Guggenheim.

«Wenn Direktor Düby das mit dem Schlagen sagt … Was sagen Sie genau, verehrter Alberti?»

«Aber wenn sie über die Stränge schlagen, tut mitunter auch Züchtigung Not.»

«Wenn er das sagt, dann tun Sie so, als würden Sie auf der linken Seite der Halle, also von mir aus links, aber das ist ja auch von Ihnen aus links, also nicht jetzt, aber dann, wenn Sie mir wieder fast den Rücken zudrehen … »

Alberti stöhnte für alle hörbar auf.

« … einen Bekannten entdecken. Sie heben das Kinn ein wenig und gehen dorthin. Selbstverständlich so behutsam, dass Sie die Rede nicht stören.»

«Keine Sorge, Herr Guggenheim, ich baue das ein.» Alberti wurde ungeduldig. «Dann können wir ja weitermachen.»

«Kamera läuft.»

«Ton läuft.»

«Dämmerung, 12.1, die Zweite.» Die Klappe schlug.

«Und … bitte!»

Wieder schritten Alberti und die Forst vier Stufen hinab und blieben stehen. «Als Führer eines Unternehmens», begann Alberti abermals seine Rede, und diesmal formte er die Worte mit einer schneidenden Präzision, dass jeder Satz vor Akkuratesse klirrte, «ist man für seine Arbeiter verantwortlich wie ein Vater für seine Kinder. Er will ihr Bestes, also fordert er sie, und er fördert sie. Aber wenn sie über die Stränge schlagen … »Max hob das Kinn und ging auf die linke Seite der Halle. In seiner Rolle als Generaldirektor Düby tat Alberti so, als missbillige er die Störung, lasse sich aber dadurch natürlich nicht aus dem Konzept bringen. Einem Schauspieler wie ihm musste man nicht sagen, wie man so etwas gestaltete. Im gleichen Moment hörte er sich sagen:

« … tut mitunter auch Nötigung Not, gerade weil er sie liebt.»

«Auuus!», rief Guggenheim.

«Kinder, entschuldigt bitte!» Alberti war sein Lapsus sichtlich unangenehm.

«Aber das macht doch nichts, lieber Alberti. Wir drehen das gleich nochmal. Alles auf Anfang!»

Alberti und die Forst stiegen die Treppe wieder hinauf.

«Augenblick», rief die Maskenbildnerin, huschte zu Friedel Forst und tupfte ihr einige Schweissperlen von der Stirn.

«Jetzt ist gut!»

«Kamera läuft.»

«Ton läuft.»

«Dämmerung, 12.1, die Dritte.» Die Klappe schlug.

«Und … bitte!»

Kaum hatte Alberti, Friedel Forst am Arm, die richtige Stufe erreicht, begann er abermals mit seiner Ansprache. Wieder hob Max an der vereinbarten Stelle das Kinn, wieder ging er nach links. Wieder sagte Alberti «Nötigung». Und nach einer Zäsur:«Verdammte Scheisse!»

Friedel Forst knuffte ihn kameradschaftlich in die Seite. «Ach, Albi, wir wissen doch alle, wie das ist. Einmal versprochen und man kommt nie mehr über diese Stelle hinweg.»

«Na, du machst mir ja Hoffnung, Friedel.» Alberti versuchte zu verbergen, wie sehr er sich über sich selbst ärgerte.

«Weisst du noch, wie Bassermann, als er den Talleyrand spielte … »

«Nicht verquatschen jetzt, gleich nochmal!Bringen wir das in den Kasten!», rief Guggenheim in einem fast schon scharrenden, jedenfalls deutlich zu unfreundlichen Feldweibelton und liess, um ja keine Missstimmung aufkommen zu lassen, ein sanfteres «Ich bitte euch!» folgen.

«Kamera läuft.»

«Aus!», rief Guggenheim. «Was ist das denn nun wieder für ein Mist, Herrgottsakrament! Das Blut spritzt ja einen halben Meter weit, das glaubt kein Mensch! Wir drehen hier doch keinen Horrorfilm mit Bela Lugosi! Wieso ist das nicht präpariert worden wie besprochen? Arbeite ich mit lauter Dilettanten?»

Erst jetzt bemerkte er, dass alle wie versteinert auf den regungslosen Alberti starrten.

Ein greller Schrei Hilde Ehingers durchbrach die Stille: «Einen Arzt! Schnell, einen Arzt!»

Friedel Forst beugte sich zu Alberti hinab. «Zu spät.» «Nicht für ihn, für mich!», hauchte Hilde Ehinger und sank zu Boden.

Mit seinem literarischen Debüt legt der bekannte Sachbuchautor Thomas Blubacher einen augenzwinkernd erzählten, tempo- und wendungsreichen Kriminalroman vor, der gleichzeitig ein stimmungsvolles Porträt des Basler Kulturlebens der späten 1930er-Jahre ist.

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