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Der verschlossene Rosengarten

Der verschlossene Rosengarten

Jetzt bin ich oben. Der steile Fussweg ist gesperrt, weil auch der Rosengarten, wie alle Pärke und Anlagen der Stadt, virushalber gesperrt ist. Aber der Hohlweg nebendran vaut le détour mit seinen Bäumen im Park der kanadischen Botschaft, in denen Vögel erwachen, Tauben girren und gurren.

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Ich weiss nicht, wie sie alle heissen, die Vögel und die Bäume. Ahorn ist keiner dabei. Sollte es doch haben vor dem Sitz der Kanadier.

Jedenfalls stehe ich da, über und vor einem Panorama, das seinesgleichen sucht: unten der Fluss. Ungenau, ihn die «Biegung des Flusses» zu nennen, so literarisch das auch tönt. Ein vollendeter Bogen ist es, der die Stadt umfasst, liebevoll umfasst, wenn man von den zeitweiligen Überflutungen der Unterstadt absieht. Zuweilen vielleicht auch etwas erstickend, jedenfalls nach Ansicht der städtischen Verkehrsplaner. Da unten die Altstadt, noch ein Jahrhundert älter als das Vaterland, das teure! Gut erhalten, ständig umgebaut und dessen ungeachtet irgendwo stimmig. Viel Fassade, « doch wie’s da drinnen aussieht, geht niemand was an». Weltkulturerbe und immer noch heimelig.

Drei Kirchen: Direkt unter mir die Nydeggkirche. «Meine» Kirche, ich zahle da Kirchensteuer, zahle sie gern, obwohl ich die hundert Meter zwischen meiner Wohnung und ihr selten beschreite. Der Pfarrer ist gut, daran liegt es nicht. Er weiss den gewählten oder auferlegten Bibeltext von innen her aufzulichten, statt ihn mit Donnerstimme « auslegen» zu wollen. Ich bin einfach kein « praktizierender Christ», denn praktizierend darf man nur heissen, wenn man regelmässig den Gottesdienst besucht. Der Turm ist der eleganteste, am schlanksten aufragende nicht nur Berns. Ich sehe ihn von

meinem Fenster aus auf gleicher Höhe. Letzte Nacht ist der erdnächste volle Mond hinter ihm fast beängstigend dunkelrot vorbeigezogen.

Dann das Münster, ein eindrucksvoller und einladender Bau, das letzte sakrale Zeugnis der Spätgotik. Den Bernern sagt man nach, sie seien langsam und immer etwas hintendrein; «die Letzten werden die Ersten sein» – das geht nicht immer auf, aber manchmal schon.

Die Spitze des Turms ist noch viel jüngeren Datums. Man setzte sie erst darauf, als der ausladende Palast der Bundesstadt aufgeworfen wurde und mit einer allzu wuchtigen toskanischen Kuppel das Münster zu überragen drohte. Das durfte nicht sein, so wenig wie in Rom ein Gebäude intra muros den Petersdom beeinträchtigen darf.

Fast auf gleicher Höhe die bescheidenere neogotische Christkatholische Kirche. Da war mein erster Schwiegervater Organist und hat in jungen Jahren meine Frau und mich zu mancher Abendmusik geladen. Jeden Heiligen Abend haben wir auch die «Christnachtmesse» weniger bestritten als bereichert und vertieft, das darf man wohl sagen.

Direkt gegenüber das plumpe spätgotische kantonale Rathaus, ebenfalls fleissig umgebaut. Hier zimmern holzgeschnitzte Figuren beiderlei Geschlechts hölzerne Gesetze.

Ich wohne in Bern und in Lissabon. In den zwei schönsten Städten der Welt. Wenn ich in Bern bin, weihe ich, ja, es ist eine Weihestunde, fast jeden frühen Morgen dem Aufstieg hier hinauf. Gegenwärtig jeden Tag, denn seit Wochen sind die Morgen fast alle heiter. Und ich bin genau genommen virushalber in Quarantäne gefangen. Weiss nicht genau, ob ich überhaupt noch ins Freie dürfte. In einer Demokratie, die wir – nehmt alles nur in allem – zum Glück noch erleben, sind « vor dem Gesetz alle gleich». Das bedeutet, dass alle

allen befehlen können, was nicht selten Schwierigkeiten zufolge hat, zumal Gesetzeslücken. Und durch die schlüpfe ich. Es ist nicht erlaubt und nicht verboten. Einkaufen darf man, « ums Haus herumlaufen» hat das Volk dem Volk sogar empfohlen. Doch wie soll ich bei mir im vierten Stock einer weitgeschweiften Häuserreihe ums Haus laufen? Ich müsste ja über die Dächer, und da ich mitnichten schwindelfrei bin, lasse ich es bleiben. Dafür halte ich andernorts die verbindliche « social distance» von zwei Metern zwischen zwei Menschenkindern peinlich genau ein. Das zwingt mich manchmal zu gewissen Zickzackkursen, was meiner Kondition nur dienlich ist. Angesteckt zu werden fürchte ich nicht, in meinem Alter darf man sterben, aber was ich niemals will, ist andere Menschen gefährden.

Hier oben haben meine Augen freien Auslauf. Meist schweifen sie zuerst ins Weite: dorthin, wo die Stadt, von hinten durch die aufgehende Sonne beschienen, sich im Vagen verliert. So verliere ich meine Augen aus den Augen, bis sie, kokett herumschnüffelnd, zurückkehren. Ich weiss, wohin es sie zieht: Auf der rechten Seite der Häuserreihe am Nydeggstalden erhebt sich ein weisses Dreieck mit einem einzigen Fenster über die anderen Dächer. Und hinter diesem Fenster wohnen Ruth und ich seit 30 Jahren. Im vierten Stock ohne Lift. In der geräumigen Wohnung führt noch einmal eine Treppe hinauf zu einem Galeriezimmer. Ich wünschte mir immer ein Turmzimmer, so eins wie Montaigne hatte. Wenn ich dort oben arbeite, hat es etwas spitzwegisch Geborgenes. Wie ein grosses Zelt, sagt Ruth. Das mag von aussen gesehen, wo nur Engel Einsicht haben, so scheinen; von innen aber sehe ich unten durch die geöffneten Fenster auf ein Meer von grünem Blätterwerk. Ich müsste nur hinabsteigen, aus dem Fenster springen und wäre frei wie Italo Calvinos Baron auf

den Bäumen. Will ich aber nicht, ich will ja schreiben – das hier schreiben. Durch das Fenster, das ich vom Rosengarten aus jetzt erblicke, sehe ich den ganzen Rosengarten, vor welchem ich gegenwärtig stehe.

Eine in sich gespiegelte Welt. In diesen verzauberten Frühlingstagen sehe ich sowohl vom Turmzimmer wie von hier oben ein anderes Meer: ein Blütenmeer. Das beziehungsweise die eben verschwenderisch blühenden Bäume haben, so sagt man, «Japaner» der Stadt geschenkt. Durch die Blüten flimmern Fluss und Stadt wie in einem Märchen. Andere meinen, es mute impressionistisch an. Meinetwegen, ich sage: wie ein Märchen.

Auch als ich fern von Bern arbeitete, habe ich einzurichten gewusst, dass ich jeweils zur Blütezeit in Bern weilte, denn das Turmzimmer habe ich klugerweise behalten. Der Blüten wegen.

Seit zehn Jahren lebe ich wieder da, ungeachtet dessen, dass ich doppelt so viel Steuern zahle wie an der Zürcher Goldküste. Unter anderem auch der Blüten wegen. Bern ist eine gute Stadt. Wenn man genug hat von dieser Güte, ist man sogleich im Tessin oder am Genfersee. Oder im Jura. Oder im Puschlav. Dann ist die Schweiz schon fast zu Ende. Das reicht. Wenn nicht, fliege ich nach Lisboa. Jetzt kann ich nicht fliegen.

Nun hingegen weiter, die paar Schritte hinauf zum Rosengarten. Der ist ja geschlossen, ich weiss. Aber er hat vier vergitterte Eingänge. Nicht dass ich darüber kletterte. Das schaffe ich nicht mehr. Zudem ist er bewacht, wie Wolf Biermann zu DDR-Zeiten sang:

Das war in Buckow zur Süßkirschenzeit –Die Bäume steh’ n an der Chaussee!

Das war in Buckow zur Süßkirschenzeit –Die Bäume gehör’n der LPG! Die hat an jeden ein’ Zettel gemacht: Das Volkseigentum wird streng bewacht In der Nacht, in der Nacht –Und besonders in der Nacht!

Jetzt ist ohnehin Morgen. Die flaumenleichte Zeit der ersten Frühe. Mörike:

O flaumenleichte Zeit der dunkeln Frühe! welch neue Welt bewegest du in mir? Was ist’ s, daß ich auf einmal nun in dir von sanfter Wollust meines Daseins glühe?

Das erste Gitter. Dahinter der grosse Spielplatz. Daneben eine Bibliothek für die gehobenen Parkbesucher. Jahrzehntelang standen meine Bücher auch darin. Ich weiss nicht, ob sie noch da sind. Habe nicht nachgeschaut.

Ich halte mich an den Stäben fest. Singe innerlich Schubert: Der Kreuzzug.

Ein Münich steht in seiner Zell am Fenstergitter grau, Viel Rittersleut in Waffen hell, die reiten durch die Au.

Sehe schon fast die Hälfte des Parks, die gelben Blumenbanden, viele weisse Blüten. Die weite Grasfläche, auf der sogar Fussball nicht verboten wäre. Meine drei Birken, die mir näher sind als die drei Rütlibeschwörer. Das stumm gesungene Lied ist auch zu Ende:

Es ist ja auch ein Kreuzeszug in das gelobte Land.

Naja.

Schräg gegenüber ein noch feudaleres Tor, auch vergittert. Ein grosser Park, eindrücklicher Baumbestand. Eine breitspurige Vorfahrt. Ein Herrschaftshaus, Gründerzeitstil: grosse Tafel an der Mauer: Galerie Jürg Stuker. Eine kleinere am Tor: Wenn Tor offen Achtung vor dem Hunde! Da drin gibt es gar keinen Hund. Herr Stuker hat das Tafelsilber, das Porzellan, überhaupt die wertvolle Habe des halben europäischen Hochadels – nein, nicht verscherbelt. Er hat sie « verauktioniert», eher über ihrem Wert. Das konnte er, weil er, der einstige Primarlehrer, einer der weltweit seltenen wirklichen Kenner war, und weil er diese jovial weltmännische Attitüde beherrschte, die die verarmten Aristokraten fast in die Knie zwang.

Unser Streichquartett umrahmte lange Zeit seine Auktionen mit Haydn und Mozart. Wir fuhren vor der imposanten Eingangstreppe mit unseren Deux chevaux, Renault 4 und Morris Minor vor. Er bat uns nicht, wie es andernorts meist der Fall war, nach gehabter Performance unverzüglich zusammenzupacken. Wir durften bleiben, edle Weine schlürfen und Konversation mit den Notabeln pflegen, was wir fast so gut beherrschten wie das Spielen. Auch zahlte er durchaus angemessen, freilich nicht in bar. Er führte eine Art Milchbüchlein, in das er die Honorare persönlich eintrug. Traten wir im Ausland auf oder bespielten Schallplatten, deckte er daraus allfällige Defizite und rundete wenn nötig die Summe noch auf. Ehre seinem Andenken!

Bis zum nächsten Eingang sind es nur ein paar Schritte. Mehr Zugang als Eingang, geschweige denn ein Tor. Daneben

die Bedürfnisanlage. Sie sei « optimal hygienisch» heisst es. Warum ist sie denn geschlossen? Wäre doch besser, die einsamen Passanten könnten sich hier befreien statt im Freien. Von hier überblicke ich den Teich mit den zwei Monumentalgruppen. Sie sollen Europa und Neptun darstellen. Doch warum tun sie es in so naturwidrig invaliditätsanfälligen Posen? Bei Europa kann ich das zur Not noch nachvollziehen. Aber bei Neptun? «Mir wei nid grüble», sagen die denkfaulen Berner.

Nun habe ich auch Einblick in das gepflegte Niemandsland zwischen dem eigentlichen Park und der hohen Friedhofsmauer. Ja natürlich, der Rosengarten war einmal der Friedhof von Bern. In der Stadt unten Verstorbene wurden via Untertorbrücke den Hang hinaufgekarrt. Extra muros, das war optimal hygienisch und setzte den Pestzügen ein Ende.

Und we das Mailand wyter wär, vil tuusig Stund vo hie, mit Trummle und mit Pfyffe wei iz die Buebe zieh – Oli –he! mit Trummle und mit Pfyffe wei iz die Buebe zieh.

Wes aber e luschtige Summer git, so blibt ke Bueb bim Schatz, im Röseligarte z Mailand hett ’ s no für mänge Platz – Oli –he! im Röseligarte z Mailand hett ’ s no für mänge Platz.

Bis ins Jahr 1877 wurde der Rosengarten als Friedhof für die Berner genutzt, die sich nicht als Söldner in der Lombardei hinmorden liessen.

Heute wachsen hier 223 Rosenarten. Nachzählen ist gestattet. 1956 wurde die Anlage grundlegend neu gestaltet. 1956! Da habe ich meine Matur gemacht.

Im selben Jahr sind wir beide reif geworden, der Park und ich.

Nun nähere ich mich der Klimax meiner Gänge. Ich laufe, aussen natürlich, der Friedhofmauer nach. Schon stehe ich vor dem repräsentativen Portal mit den vergoldeten – nein, nicht Spitzen, sondern Tannenzapfen. Vor mir die breite Kreuzallee des Parks, von jungen Lindenbäumen gesäumt. Das nenne ich lindengrün! Schumann, Erstes Grün:

Du junges Grün, du frisches Gras, Wie manches Herz durch dich genas, Das von des Winters Schnee erkrankt, O wie mein Herz nach dir verlangt!

Naja: erkrankt und verlankt. Aber Schumann macht alles wieder gut.

Das muss man den Bernern lassen: Sie haben einen Sinn für die herrschaftliche, aber nicht allzu herrschaftliche Allüre: Fast unmerklich steigt die Allee an, bis sie zwischen zwei Urnen ins Offene mündet. Hinter der niedrigen Mauer am Abhang ist die Stadt verschwunden. Lauter Himmel, lauter Horizont, von der Landschaft vollendet gerahmt: links die bewaldete Senkung, vom Gurten, dem Berner Hausberg, bis ins Flachland – und sogleich sanft wieder aufsteigend, um endgültig Richtung Jura zu entschwinden. Dieser Blick ist mir nie aufgefallen, weil ich in besseren Zeiten den Park immer von der Seite her betreten habe.

Erst jetzt merke ich auch, dass ich von aussen her das Gelände flächendeckend zu betrachten vermag, wenn ich die Ansichten durch die verschiedenen Tore innerlich zusammensetze und die Augen darin spazieren führe. Durch die

Pandemie zum Outsider verbannt, wurde ich erst zum leibhaftigen Insider. Die Atemübungen vor den drei Birken gelingen mir von hier aus problemlos. Vielleicht sogar besser, weil niemand mich stört, nichts mich ablenkt, keine Touristen herumhetzen und wie besessen fotografieren.

Warum fällt mir gerade jetzt eine schöne Geschichte ein: Eine Reisegruppe steht auf der Akropolis. Besser gesagt, sie steht eben nicht, die Leute hüpfen herum, balancieren auf den Säulenstümpfen, konterfeien sich gegenseitig, prüfen hastig, ob sie « gut herausgekommen sind», was der Fall zu sein scheint, obwohl man eigentlich nichts eingefangen hat als sich selber.

Ein einziger älterer Herr steht wirklich still, schaut und schaut freien Auges. Bis eine Dame zu ihm tritt und fragt: «Sie Ärmster, haben sie ausgerechnet jetzt, auf dem Höhepunkt unserer Tour, ihren Fotoapparat im Hotel vergessen?»

«Nein», sagt der Mann.

«Um Gottes willen, so wurde er Ihnen gestohlen!»

«Nein», sagt der Mann.

«Ja aber, warum fotografieren Sie denn nicht?»

«Ach, wissen Sie», sagt der Mann, « ich schaue es mir gleich jetzt an.»

Dieser Mann bin ich. Brauche dazu nicht einmal nach Hellas zu jetten, was gegenwärtig ohnehin nicht ratsam sein dürfte. Ist etwa das gemeint mit dem «Das Land der Griechen mit der Seele suchend»?

Kaum. Ich bin ja da. Drin und draussen zugleich. Anderswo und doch mit allem vertraut. Angst habe ich keine, obwohl ich nicht unbedingt mutig und tapfer bin. Wer hat mich da hineingestossen?

Oder vielmehr ausgestossen?

Ohne es zu merken, bin ich weiter der Mauer nach gegangen. Noch bleibt ein Tor. Auch das eher ein Portal, übermannshoch, sogar mit echten Spitzen. Aber nicht vergoldet. Es steht offen, denn es ist der Eingang für die Gärtner. Dahinter die Unterstände für das Werkzeug und die zuweilen recht aufdringlichen Motoren. Da verweile ich nur kurz auf der Schwelle. Viel ist nicht zu sehen, direkt vor mir ein einziger Blütenbaum. Mir scheint, der habe schon seit Monaten geblüht. Weit hinten drei jüngere schlankere, noch hellere Birken. Sozusagen Nachwuchsbirken für die nächste Generation.

Ich wende mich zum Gehen. Heimkehren darf ich noch nicht. Mein Trainingsbedarf ist nicht gestillt. Ich brauche mehr Höhenmeter, hinauf, hinunter, den Biegungen und Bogen der Aare nach und wieder hinauf. Oh, ich kenne viele Wege, wo keine Leute gehen.

Was vermeid’ ich denn die Wege Wo die andern Wandrer gehn, Suche mir versteckte Stege …

«Durch vereiste Felsenhöhn» mache ich nicht mit. Im Frühling!

Habe ja doch nichts begangen Dass ich Menschen sollte scheun. Welch ein törichtes Verlangen Treibt mich in die Wüstenein?

Habe ich wirklich nichts begangen?

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