5 minute read
Joseph Viktor Widmann und die Bedeutung
Joseph Viktor Widmann und die Bedeutung
«Josef Victor Widmann war mit Sicherheit ein bedeutender Mann. Doch die Betonung muss auf ‹ war › gesetzt werden. Nur weil Widmann gewisse Dinge zur Sprache brachte, die seiner Zeit ‹ voraus › waren, bedeutet keineswegs, dass er heute irgendeine Bedeutung für uns hätte.»
Advertisement
Wer eigentlich hat den Literaturkritikern und -wissenschaftern die Lizenz für Verdammungsurteile erteilt?
Zwar hat der Herr da oben die übliche Methode angewandt: Man federt zuerst ein wenig ab und heuchelt Objektivität, bevor man das Fallbeil sausen lässt. Bedeutung! Relevanz! Wenn ich das nur schon höre!
Was zum Teufel soll das sein? Was bedeutet Bedeutung? Ist es möglich, dass Bedeutung so etwas ist wie ein Virus, etwas zwischen Sein und Nichtsein, das sich erst verwirklicht, wenn es an einer Zelle andockt beziehungsweise einer solchen aufhockt? Ich masse mir nicht an, die Frage beantworten zu wollen. Das gerade nicht! Wenn meine Ausführungen über Widmann eine Winzigkeit dazu beitrügen, dass man im Kunsturteil weniger urteilt und mehr darstellt, wäre ich längst zufrieden. Es gibt das beliebte Spiel «Liebs liebs Büseli – Bösi bösi Chatz», das selbst mit bescheidenen schauspielerischen und dramaturgischen Mitteln bei Kindern erstaunliche Wirkungen entfaltet. Leider spielen viele Leute das Spiel weiter, selbst wenn sie der genialischen Kindheitsphase entwachsen und längst zu faden Durchschnittsbürgern mutiert sind.
Allein steht das Widmannbashing ja nicht: Der junge, zuweilen vorwitzige Paul Klee schrieb noch zu Lebzeiten Widmanns in sein Tagebuch: «Ich habe ein Opus vom Dichter unserer Stadt gelesen, das Drama: Die Muse des Aretin. Der
Italienfreund und Italienwanderer spricht auch hier, nur dass es im Drama ein wenig peinlich ist. Als Feuilleton im Berner Bund ist solche Reisefrucht eher angebracht. Manchmal ist der alte Herr Redakteur ein wenig lüstern. Das soll dann das üppige Tizianische Venedig darstellen. Aber auch hier ist nicht aus dem Vollen geschöpft. [… ] Übrigens klar, dass so ein Nachschössling einer Nachrenaissance schwächlichen Blutes sein muss.»
Und drei Jahre später: «Der Berner Bund kam mit einem Drama Oenone zu Wort. Man feierte einen Stadtdichter, und niemand kann etwas dagegen sagen. Es ist doch ganz natürlich. Ja, wäre er ein Prophet, dann schlössen sich die heimischen Tempel vor ihm.»
Der letzte Satz zeugt von beträchtlicher Hellsicht: Die Berner beharren seit jeher auf einer fast krankhaften Abneigung gegen Überdurchschnittlichkeit. Kaum hebt einer den Kopf etwas zu auffällig, tuscheln sie: «Der soll bloss nicht meinen, er sei etwas Besonderes.» Weibliche Form inbegriffen. Nie werden sie begreifen, dass man zwar nicht besser, wohl aber anders sein kann. Das beginnt schon mit Albrecht von Haller. Als er mit Ruhm bekleckert vom Ausland heimkehrte, versorgten sie ihn als Direktor der Salzbergwerke von Roche. Und als Kaiser Joseph II. einen für damalige Verhältnisse aufwendigen Umweg auf sich nahm, um mit Haller einen halben Tag lang zu konversieren, zuckten sie die Schultern.
Das geht weiter mit Bonstetten, Klee, Hodler, C. A. Loosli, Hugo Marti, Kurt Marti, Dürrenmatt. Letzterer rächte sich damit, dass er anlässlich einer Ehrung, die erst widerwillig absolviert wurde, als er längst weltberühmt war, das Preisgeld noch auf der Ehrentribüne an junge Leute verteilte.
Am unerbittlichsten ging Karl Kraus mit Widmann um. Dieser hatte Krausens krause «Heine und die Folgen» zwar kritisch, aber auch in einem verständnisvollen und differenzierten Ton besprochen, der sich vom Aufjaulen der verletzten Journaille positiv abhob. Das war dem Eitlen zu wenig. Er schrieb in seiner Fackel: «Einer der unausstehlichsten Lobmeier in neudeutschen Literaturteilen ist sicherlich Herr J. V. Widmann in Bern. Zu der Neuen Freien Presse [ der einflussreichsten Wiener Zeitung dieser Zeit] steht er in einem eigenartigen Reclametauschverhältnis. Sie kauft ihm nicht nur Feuilletons ab, sondern lobt auch alle seine Werke in eigenen Feuilletons, worauf er, nicht faul, flugs die Redakteure der Neuen Freien Presse im Feuilleton des Berner Bund lobt. Namentlich Herr Bruno Ganz steht mit Widmann im Verhältnis der Tour- und Retourbegeisterung.»
So geht es fast eine Seite lang weiter mit krassen Beispielen der Tour- und Retourbegeisterung. Das ist ja nicht einmal falsch. Diese Praxis unterscheidet sich von der heute üblichen höchstens dadurch, dass die aktuelle mit weniger feinen Klingen geführt wird. Wir Deutschschweizer nennen das ebenso treffsicher wie selbstkritisch «Söihäfeli – Söitecheli».
Das Zitat beweist immerhin, dass Widmann mindestens im « neudeutschen» Bereich eine führende Stellung gewonnen hatte – und dies aus eigenem Verdienst, denn er war fast der Einzige, der den geschmeidigen Wiener Feuilletonisten gewachsen, wenn nicht teilweise sogar überlegen war. Und es beweist weiter, dass der Berner Bund ganz allein dank Widmann eine «Bedeutung» (!) okkupierte, welche die Neue Zürcher Zeitung vorübergehend erblassen liess.
Nun ist es aber an der Zeit, dass ich erkläre, wer Widmann eigentlich war. Geboren wurde er am 20. Februar 1842. Sein Vater war ein entsprungener Zisterziensermönch, der bald einmal mit seiner Familie nach Liestal ins Baselland umzog,
Foto: Valérie Chételat
Urs Frauchiger Geb. 1936 im Emmental, ist Cellist, Musiktheoretiker und Schriftsteller, war Generalsekretär der europäischen Musikhochschulen, Honorarprofessor der Universität Bern, betreute die Musikabteilung im Studio Bern des Deutschschweizer Rundfunks, wurde 1977 zum Direktor des Konservatoriums und der Musikhochschule Bern gewählt, war von 1992 bis 1997 Leiter der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia. Er lebt in Bern und Lissabon.
Ein roter Faden ist ein roter Faden ist ein roter Faden. Entweder es gibt ihn oder es gibt ihn nicht. Zwingend kann er nicht sein. Darf er keinesfalls sein. Es gibt auch gute Bücher ohne «roten Faden». Sie sind sogar darum gut, weil sie keinen haben.
Dieses Buch da hat einen. Was sage ich? – Mehrere! Ein ganzes Netz von roten Fäden. Es ist Sache der Leserin, des Lesers, sie freizulegen. In diesem Fall sogar einer ganz bestimmten Leserin. Ich weiss, dass sie das kann.
Einmal mehr erweist sich Urs Frauchiger als geistreicher und empathischer Erzähler. Mit ausgewiesener Kenner und Leidenschaft bewegt er sich in den Themenfeldern Musik – Literatur – Natur und Wandern. Seine hier versammelten Geschichten für Ruth sind jeweils in sich geschlossen und doch wie absichtslos ineinander verwoben.
Das Resultat: anregende, auf unterhaltsame Weise bildende Betrachtungen, die leichtfüssig daherkommen und von tiefer Durchdringung zeugen.