«Mit diesem Buch von Irene Leu werden uns die Erfahrungen von 30 Jahren Arbeit mit Menschen mit Demenz, mit Angehörigen und Pflegenden offenbart.»
Irene Leu
Mit Demenz gut leben – aber wie? Perspektiven für Betroffene und Pflegende
Prof. Dr. phil. Andreas U. Monsch
Irene Leu
Mit Demenz gut leben – aber wie?
Es ist an der Zeit, mit Demenz leben zu lernen – als Einzelne und als Gesellschaft. Irene Leu, Pionierin beim Aufbau einer Demenzstation in Basel, heute Dozentin und Coach für Pflegestationen, die sich auf personenzentrierte Betreuung ausrichten möchten, erzählt aus dem Alltag in der Pflege Demenzerkrankter, der Betreuung von Angehörigen und der Begleitung von Fachpersonen. Sie zeigt, wie oft mit Wenigem viel getan werden kann, und hinterfragt gängige Herangehensweisen und Konzepte. Sie erläutert, wie es möglich ist, zu einem Verständnis zu gelangen, das die Person mit ihren Bedürfnissen, Wünschen und Werten in den Mittelpunkt der Betreuung stellt.
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IRENE LEU MIT DEMENZ GUT LEBEN – ABER WIE?
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Der Zytglogge Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.
© 2019 Zytglogge Verlag Alle Rechte vorbehalten Lektorat: Angela Fessler Layout/Satz: Zytglogge Verlag Druck: Finidr, Tschechische Republik ISBN: 978-3-7296-5018-3 www.zytglogge.ch
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Für Sabine und Hansjörg Duschmalé. Dankbar.
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Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 TEIL 1 – DEMENZ DAHEIM . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
1. 2. 3. 4.
Wirklich? Der «schwierige» Angehörige . . . . . . Getrieben? Der bewegungsfreudige CEO . . . . . . Dumm? Die anpassungsfähige Ehefrau . . . . . . . . Einsam? Der alleinstehende Mann und seine Demenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Ausgeliefert? Der liebende Partner . . . . . . . . . . . . . 6. Machbar? Der organisierende Sohn . . . . . . . . . . . . 7. Kapiert? Das weiterführende Wissen . . . . . . . . . . .
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TEIL 2 – ZWISCHENSTÜCK: DEMENZ UND DER ÜBERGANG INS HEIM . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 TEIL 3 – DEMENZ IM HEIM . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211
1. 2. 3. 4. 5.
Welche Angehörigenarbeit ist notwendig? . . . . . Was heißt gute Körperpflege? . . . . . . . . . . . . . . . . . . Welche Aktivierung macht Sinn? . . . . . . . . . . . . . . Wie macht Essen Freude? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kommunikation und Interaktion – was kommt an? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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6. Was sagt herausforderndes Verhalten aus und was kann deeskalierend wirken? . . . . . . . . . . . 323 7. Selbstbestimmung und Fßrsorge – immer ein Dilemma? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 Schlussworte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370 Im Buch zitierte Bßcher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372 Lesetipps und Kontaktadressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374 Mein Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380
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Vorwort Demenz ist eine schreckliche Krankheit. Die Alzheimerkrankheit – als wichtigste, weil häufigste Ursache einer Demenz – beginnt damit, dass Patienten Schwierigkeiten haben, sich neue Dinge zu merken. Diese Gedächtnisprobleme schreiten unerbittlich voran und führen bald auch im Alltag zu Defiziten. Es kommen Orientierungsstörungen und Sprachprobleme dazu, die den Umgang mit anderen Menschen weiter erschweren. Bald sind auch diejenigen Leistungen, die auf ein gut funktionierendes Frontalhirn angewiesen sind, betroffen: abstraktes Denken, Problemlösen oder Strategien nutzen werden fehlerhaft bis fast unmöglich. Wir denken, dass die Betroffenen in der ersten Phase, in der sie noch in der Lage sind, diese Fehler zu erkennen, am meisten leiden. Später, wenn die Hirnleistungsstörungen so schwerwiegend geworden sind, dass ein selbstständiges Leben zu Hause nicht mehr möglich ist, scheint das (wahrnehmbare) Leiden zu schwinden. Die Angehörigen sind es, die weiterhin leiden und ihr liebes Familienmitglied vermissen. Dieser schreckliche duale Leidensweg ist umso schlimmer, wenn nie eine sorgfältige Diagnostik stattgefunden hat und damit auch keine menschliche Begleitung auf dieser traumatischen Reise initiiert werden konnte. Auch wenn wir typische Verläufe der verschiedenen bekannten etwa 20 häufigsten Demenzen kennen und diese in den Lehrbüchern nachlesen können, sind die individuellen Wege unterschiedlich. Es muss also darum gehen, bei jedem Menschen, dem Patienten, den Angehörigen und den 9
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Pflegenden, genau hinzusehen und zu versuchen, der jeweiligen Individualität Rechnung zu tragen. Ich lernte Irene Leu im Jahr 1989 kennen. Ich war zu dieser Zeit Doktorand und sie kam als erfahrene Psychiatrie- Krankenschwester in die drei Jahre zuvor neu geschaffene Memory Clinic, es war die erste solche Klinik in Kontinentaleuropa. An der Memory Clinic wurden Menschen mit neuen Instrumenten so frühzeitig wie möglich diagnostiziert. Den Patienten und Angehörigen wurden in Form von Gedächtnistrainings und Angehörigenberatung innovative Programme zur Begleitung angeboten und auch evaluiert. Irene Leu konnte in der Memory Clinic viel neues Wissen erwerben und bei der neu gegründeten Alzheimervereinigung beider Basel wichtige Erfahrungen sammeln. Sie visitierte diese Gedächtnistrainings und begleitete Angehörige. Auch erste Schulungen für Interessierte gehörten zu ihrem Aufgabenfeld. Irene erkannte aber schnell, dass diese Angebote zwar willkommen sind, jedoch nicht immer sinnvoll waren. Vor allem die enorm schwierige Zeit nach der ersten Phase von Hirnleistungsstörungen (und Diagnose) und vor dem Eintritt in eine Pflegeeinrichtung war komplex und die Not der Menschen mit Demenz, ihrer Angehörigen, aber auch der professionell Pflegenden war groß. 1999 konnte Irene – mit einem großen Rucksack an Wissen und Erfahrung – ihre Idee einer kleinen Demenzstation für Menschen mit Demenz und mit Programmen für die Angehörigen umsetzen. Mit der Stiftung Basler Wirrgarten rief sie das ATRIUM ins Leben. Die Pionierleistung, die Irene Leu mit dem ATRIUM geleistet hat, kann unmöglich genügend gewürdigt werden.
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Das, was Irene Leu mit ihrer Haltung und Arbeit mit Menschen mit Demenz, die im ATRIUM liebevoll als Gäste bezeichnet werden, praktizierte, hat der britische Psychologe Tom Kitwood die Person-zentrierte Pflege genannt. Diese Pflege stellt die Einzigartigkeit der Person in den Mittelpunkt. Kitwood postuliert, dass eine positive, Person-zentrierte Arbeit und Beziehung den Demenzprozess positiv beeinflussen kann. Es geht darum, die Arbeit nach den grundlegenden physiologischen und sozialen menschlichen Bedürfnissen auszurichten. Die zwingende Voraussetzung hierbei ist, die Notwendigkeit, die innere Welt der Menschen mit Demenz, ihre Wahrnehmung, ihr Erleben und ihr Denken zu verstehen. Eine CoachingMethode, mit welcher dieses Person-zentrierte Hinsehen erlernt werden kann, ist das «Dementia Care Mapping» (DCM). Irene Leu war die erste und ist bislang die einzige DCM-Trainerin der Schweiz und dabei eine außerordentliche Lehrerin. Es ist zu wünschen, dass diese Methode breiten Eingang in den Pflegealltag findet. Mit diesem Buch von Irene Leu werden uns die Erfahrungen von 30 Jahren Arbeit mit Menschen mit Demenz, mit Angehörigen und Pflegenden offenbart. Liebe Irene, ich danke dir dafür! Prof. Dr. phil. Andreas U. Monsch Leiter Memory Clinic Universitäre Altersmedizin FELIX PLATTER, Basel
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Einleitung Es ist lange her, dass sich Bruno Kaufmann zum ersten Beratungsgespräch meldete. Sein Vater hatte eine Demenz und seine Mutter, die ihren Mann pflegte, war überlastet und überfordert. Die Eltern waren beide über 80-jährig, sie waren seit Jahrzehnten verheiratet und der Sohn erzählte, dass sie ein gutes Leben und eine schöne Ehe hatten. Nun häuften sich aber die Konflikte, es kam zu Streitereien und verbalen Aggressionen des Vaters gegenüber der Mutter, manchmal auch gegenüber dem Sohn. Es kam in der Folge zu einigen Begegnungen mit Herrn Kaufmann und seiner Mutter, bei denen wir jeweils Situationen aus dem Alltag besprachen. Sie erhielten Tipps, wie sie anders mit dem demenzbetroffenen Partner und Vater umgehen können. Beide Angehörigen waren lernfähig und es wurde – mit einigen Entlastungsmöglichkeiten für Frau Kaufmann – möglich, Herrn Kaufmann bis zu seinem Lebensende zu Hause zu betreuen. Als ich die Anzeige über den Hinschied des Vaters erhielt, war ein Briefchen des Sohnes beigefügt; der letzte Satz darin lautete: «Bitte schreiben Sie ein Buch darüber, was während dieser ganzen Geschichten sinnvoll und was weniger sinnvoll ist. Ihre praktischen Tipps und Ihre pragmatische Arbeitsweise waren für uns sehr hilfreich, davon sollen auch andere profitieren! Wissen Sie, Theorie ist genügend da, doch uns haben die lebensnahen Tipps geholfen, um gute Situationen zu schaffen.»
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Dies wurde im Lauf meiner Arbeit noch mehrere Male gewünscht: Schreiben Sie doch ein Buch! Das habe ich nun getan. Mein Anliegen mit diesem Buch ist es, mittels wahrer Geschichten aufzuzeigen, wie Arbeit mit Menschen mit Demenz und wie Unterstützung der An- und Zugehörigen der Demenzbetroffenen aussehen kann. Ebenso möchte ich mit vielen Beispielen zeigen, was es in den Institutionen braucht, um die Pflegenden in ihrer anspruchsvollen Aufgabe besser zu unterstützen. Mit dem Ziel: weg von der funktionalen Arbeitsweise, hin zur individuellen, bedürfnisorientierten und Person-zentrierten Pflege. Die funktionale Pflege ist tätigkeitsorientiert und streng arbeitsteilig. Die Pflegenden führen, je nach Qualifikation, die ärztlichen und pflegerischen Anordnungen aus, für die sie sich verantwortlich zeichnen. Sie haben nicht die Gesamtverantwortung und auch die Befugnis für den Pflegeprozess obliegt ihnen nicht. Die funktionale Arbeitsweise orientiert sich stark an den vorgegebenen Betriebsabläufen der Institutionen. Der Person-zentrierte Ansatz in der Pflege von Menschen mit Demenz geht davon aus, dass die Person in ihrer Individualität und mit ihren Bedürfnissen im Zentrum steht. Die Pflegeumgebung passt sich dem Erleben der Demenzbetroffenen an. Damit steht die Person im Mittelpunkt, nicht die Demenz. Die Mitarbeitenden haben die Verantwortung für den Pflegeprozess. Mit dieser Arbeitsweise ist denkbar, dass Strukturen und Abläufe angepasst werden.
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Ich schreibe im Buch von Pflege, nicht von Pflege und Betreuung, weil ich diese Unterscheidung als konstruiert empfinde und sie ablehne. Menschen mit Demenz sollen als Ganzheit angenommen werden; so ist Pflege auch Beziehungspflege, Kommunikation und Aktivitäten sind Alltagspflege für Menschen mit Demenz und natürlich schließt dieser Ansatz auch Grund- und Behandlungspflege mit ein. Ich möchte sowohl die Angehörigen wie die Pflegenden mit praxisnahen Geschichten und Beispielen ermuntern, ihren Weg mutig und selbstbewusst zu gestalten. Ich liefere keine Rezepte, keine akademischen Ratschläge, keine illusorischen Himmelsflüge, sondern erzähle Geschichten aus dem vollen Leben. Es geht im Buch immer wieder um «praktischen Support» und um «Praxisbezug». Damit möchte ich auf keinen Fall suggerieren, dass theoretische Aspekte, also Wissenschaft, nicht nötig seien. Es braucht beide, die Theoretiker und die Praktikerinnen. Praxis ohne jegliche Selbstreflexion kann zu verkürzten Lösungen führen, die nicht nachhaltig sind. Es kann nur darum gehen, von beidem das richtige Maß zu finden, denn «Theorie ohne Praxis ist leer, Praxis ohne Theorie ist blind» (Immanuel Kant). Die Person-zentrierte Arbeitsweise war mir Leitfaden bei der Gründung des ATRIUM der Stiftung Basler Wirrgarten – das Demenzzentrum, das ich fast zwanzig Jahre geleitet habe. Ich erzähle Geschichten über Menschen, die ich begleitet habe, und ich erzähle von erlebten Situationen. Ich beschreibe die Rückschlüsse, die ich jeweils daraus gezo-
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gen habe, und stelle Fragen. Es sind Ausschnitte aus dreißig Jahren Arbeit in der «Demenzszene». Irene Leu Juli 2019 Das ATRIUM Das ATRIUM ist das kleine Demenzzentrum, das von der Stiftung Basler Wirrgarten seit dem Jahr 2000 betrieben wird. Die Angebote sind: -- Beratungsstelle für An- und Zugehörige und andere vom Thema Betroffene. Die Beratung ist zugehend und kostenlos. -- Tagesstätte für Menschen mit Demenz, mit zwölf Plätzen. Die Tagesgäste sind mobil. Sie sind in ihrer Persönlichkeit oft stark verändert. Sie kommen zwischen einem und fünf Tagen pro Woche in die Stätte. -- Wandergruppe für Menschen mit Demenz, die nicht die Tagesstätte im ATRIUM besuchen. Einmal wöchentlich einen Nachmittag. -- Ausdrucksmalen für Menschen mit Demenz, die nicht die Tagesstätte im ATRIUM besuchen. Einmal wöchentlich einen Nachmittag, Kleingruppe von bis zu drei Personen. -- «zuhause unterwegs» – Freiwillige betreuen Menschen mit Demenz zu Hause. Die Freiwilligen werden geschult, durch laufen ein Praktikum in der Tagesstätte im ATRIUM, bekommen ein regelmäßiges Coaching und werden in Einzelgesprächen begleitet. -- Soziokulturelle Angebote wie das monatliche Thé dansant, ca. viermal jährlich Konzerte am Samstagabend, Referate und Lesungen, öffentlich. Diese Angebote sind angepasst für Men-
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schen mit Demenz, auch in einem späteren Stadium der Demenz, sowie für ihre Angehörigen. Anschließender Apéro. -- Schulungen für Angehörige und professionell Tätige, Öffentlichkeitsarbeit. Personenschutz Alle Namen und Orte sind erfunden, die wahren Geschichten so verändert, dass die Personen nicht erkenntlich sind. Gender Aus Gründen der einfacheren Lesbarkeit verwende ich jeweils das Geschlecht, das in der benannten Gruppe häufiger vorkommt, wenn es möglich ist die neutrale Form.
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TEIL 1 DEMENZ DAHEIM
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1. Wirklich? Der «schwierige» Angehörige Manfred Lutz, 66-jährig, und Margrit Lutz, 63-jährig, kannten sich seit ihrer Kindheit in Hinterlauchringen. Sie gingen im gleichen Schulhaus zur Schule und waren früh befreundet, machten zusammen Hausaufgaben und heckten miteinander Streiche aus. Manfred Lutz wusste schon als Bub, dass er das Gritli einmal heiraten würde, und das haben sie jung auch getan. Sie hatten drei Kinder, Zwillingstöchter und einen Sohn. Manfred Lutz war Schreiner mit eigenem Betrieb. Er hatte zwei Angestellte. Margrit Lutz war Haus- und Familienfrau, im Betrieb erledigte sie die Buchhaltung und alle administrativen Aufgaben. Ungelernt, alles «learning by doing». Sie wohnten im eigenen Haus, hatten einen großen Garten, waren Selbstversorger «mit Grünfutter», wie der Schreinermeister mit einem Augenzwinkern erzählte. Frau Lutz hatte seit circa drei Jahren zunehmende Gedächtnisstörungen, so genau ließ sich nicht mehr feststellen, wann es begonnen hatte, die Angaben dazu waren unterschiedlich. Neuerdings hatte sie auch Probleme mit der Wortfindung, und nicht immer sei klar, ob sie verstehe, was mit ihr gesprochen wurde, sagte Manfred Lutz. Sie brauchte bis zu fünf Gänge ins Dorf, bis sie alle Einkäufe beisammenhatte. Dorfbewohnerinnen erzählten immer häufiger, dass sie nicht grüße. Was denn los sei?, fragten sie. Die Körperhaltung von Margrit Lutz hatte sich verändert, sie ging vornübergebeugt, den Blick meistens dem Boden zugewandt.
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Ihr Mann war lange Jahre Gemeinderat gewesen, Ressort Umwelt; sie war engagiert in der örtlichen Museumskommission und im Frauenturnverein. Sie hätten einige gute Freunde und Freundinnen und seien gerne unter Leuten gewesen, auch an Dorf- oder Tanzfesten. Margrit Lutz gefiele das aber zunehmend weniger, erzählte der Ehemann. Die beiden Töchter wohnten etwas entfernt, waren beide in einer Partnerschaft, beide berufstätig, beide bisher kinderlos. Der Sohn war Pflegefachmann HF (Höhere Fachschule) und Berufsbildner in der Langzeitpflege. Er war es, dem die sich verändernde Mutter Sorgen bereitet hatte. Gespräche mit dem Vater darüber hatten regelmäßig mit Streit geendet, obwohl ihr Verhältnis sonst ein freundschaftliches war. Der Sohn wandte sich an den Hausarzt der Eltern, der einer Abklärung (Verdacht auf Demenz) der Mutter zustimmte. Herr Lutz wurde von der ambulanten Demenz-Abklärungsstelle zur Beratung empfohlen. Die Ärztin, die dort arbeitete, berichtete, dass die Diagnose «Demenz vom Typ Alzheimer» gestellt wurde. Herr Lutz weigere sich, die Diagnose anzunehmen. Die Neuropsychologin finde aber, dass er Beratung und Begleitung brauche. Ich bat um die Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse. Die erhielt ich ein paar Tage später, beigefügt ein A4-Blatt, versehen mit der Aufschrift «ACHTUNG! Schwieriger Angehöriger!». Alles dick und rot unterstrichen. Der erste Termin Herr Lutz kam pünktlich zur vereinbarten Zeit, ein großer, schlanker, gut aussehender Mann mit grau meliertem, dichtem Haar, blauen Augen. Er war leger gekleidet, in Jeans 20
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und dezent farbigem Hemd. Er wirkte angespannt. Ich bat ihn Platz zu nehmen, bot ihm einen Kaffee an, den er ablehnte. Ich erzählte ihm, wer ich bin und was das Ziel einer Beratung oder auch länger dauernden Begleitung sei. Er wollte nichts davon wissen. «Meine Frau hat kein Alzheimer! Versuchen Sie nur nicht, mir das auch einreden zu wollen!» «Was ist denn der Grund, weshalb Ihre Frau untersucht wurde?» «Dummes Geschwätz des Hausarztes und meines Sohnes, das ist alles hinter meinem Rücken vereinbart worden.» Das äußerte er einigermaßen gelassen, und weiter, dass er schlussendlich habe mitgehen müssen, er habe ja nicht gewollt, dass die da lauter Lügen erzählen würden. «Unerträglich war das! Die vielen Fragen!» Dann habe man seine Frau auch noch von ihm trennen wollen bei den Untersuchungen. «Aber nicht mit mir! Mit mir nicht!» Ich wartete zu, es fiel mir nichts ein, was ich in diesem Moment hätte sagen können. Ich schaute ihm einfach ins Gesicht, überlegte mir, was wohl in ihm vorging. Plötzlich stand er auf und ging rastlos und aufgeregt im Büro auf und ab. Auf und ab. Auf und ab. Jetzt war ich erst recht ratlos. Was sollte ich nun tun? Ihn aufhalten? Mit ihm zu reden versuchen, während er hin- und herwanderte? Ich beschloss, mit ihm zu gehen, auf und ab, achtete darauf, neben ihm, nicht hinter ihm zu sein. Plötzlich blieb er stehen, baute sich vor mir auf und brüllte wutentbrannt: «Was laufen Sie mir nach?!» «Es fällt mir nichts anderes ein. Ich fühle mich grad ziemlich hilflos.» 21
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«Ach so, hilflos! Sie gehören wohl nicht zu den Superschlauen von da drüben?!» Mit «da drüben» meinte er die Leute, die die Abklärungen vornehmen, nahm ich an, die Station war nicht so weit entfernt von meinem Arbeitsplatz. Er nahm sein Auf- und Abgehen wieder auf, ich auch. Plötzlich setzte er sich hin, stützte das Gesicht in seine Hände und begann zu weinen. Ganz leise weinte er. Ich war froh, jetzt nichts sagen zu müssen, mit meinem Kloß im Hals, den diese Situation verursacht hatte. Ich reichte ihm Taschentücher und wartete. Ich traute mich nicht, ihm über die Schultern oder den Arm zu streichen, was ich in anderen Situationen vielleicht getan hätte. Ich wartete einfach. Es dauerte fast zehn Minuten. Dann begann er leise zu erzählen: «Ich kenne das Gritli seit der Primarschule und ich wusste immer, dass ich sie heiraten würde. Ich habe die beste Frau, die es gibt. Sie war immer fleißig. Sie ließ sich nichts zuschulden kommen. Sie war eine gute Mutter. Und eine Schöne war sie! So eine Schöne! Und so eine Liebe! Und jetzt der Sohn!» Der «schwierige» Angehörige redete sich wieder in Rage. «Der behauptet, dass seine Mutter dement ist! Der Sohn ist Pflegefachmann und glaubt, die Wahrheit mit Löffeln gefressen zu haben!» Jetzt weinte Manfred Lutz wieder. Dann erzählte er, dass er diese Enttäuschung fast nicht schlucken könne. Wie der Sohn das dem Gritli antun könne. Die Töchter seien zurückhaltend, wollten mit der Situation lieber nichts zu tun haben, sich nicht in diesen Konflikt einmischen. Sie kämen jeweils am Sonntag zum Mittagessen, zusammen mit den Partnern. Der Sohn sei alleinstehend. 22
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