

Freyheitsball Satu Blanc Roman
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Lektorat :Thomas Gierl
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Satu Blanc
Freyheitsball
«Cette révolution ne s ’ opérera que quand toutes les femmes seront pénétrées de leur déplorable sort, et des droits qu ’ elles ont perdus dans la société. Soutenez, Madame, une si belle cause; défendez ce sexe malheureux [ … ]»
Olympe de Gouges, Lettre àlaReine, 1791
DieseRevolutionwirdnur danngelingen, wenn sichalleFrauenihresbeklagenswerten SchicksalsundderRechte,diesieinder Gesellschaftverlorenhaben,bewusstseinwerden. Unterstützt,Madame,eineso schöneSache; verteidigtdiesesunglücklicheGeschlecht[…]
OlympedeGouges,Briefan dieKönigin,1791
Basel, 17. Januar 1798
Anna
Sie ist es. Endlich!Nur wenige Meter noch trennen mich von ihr. Kurz bevor ich sie einholen kann, schiebt sich eine Gruppe Männer zwischen uns. Mit einem Satz zur Seite weiche ich ihnen aus, Nässe durchdringt meine Schuhe. Die Revolutionäre marschieren im Gleichschritt an uns vorbei.
Sie ist auf die Knie gefallen. Ich warte, bis die Frau sich aufgerappelt hat, trete zu ihr, strecke ihr meinen Zettel entgegen. Die braunen, eng beieinanderliegenden Augen unter der pelzverbrämten Kapuze blicken ungehalten, aber die Hand greift mechanisch nach dem Papier.
Sophie Amalie
Ihr Puls schlug heftig, so etwas hatte sie noch nie erlebt!Sie hatte das laute Rufen vernommen, noch bevor die Gruppe durch den mit Pferdemist verunreinigten Schneematsch auf sie zu marschiert war. Sie hatte sich auf die Eingangstreppe des nächstgelegenen Hauses gerettet, war dabei auf die Knie gefallen und zog sich nun umständlich am Geländer hoch, streifte den nassen Schnee von den Röcken und drehte sich nach den Männern um.
«Freiheit!Gleichheit für alle!», skandierten sie und stapften unbeirrt weiter. Sie schaute ihnen hinterher, bis sie um die nächste Ecke bogen;ambesten, man vergaß den peinlichen Vorfall.
Ihr Blick glitt zwischen den hohen Häuserfassaden zum trüben Winterhimmel hinauf, wo ein Rabe lautlos seine Flügel schlug. Nichts hätte je die Mauern dieser herrschaftlichen Häuser durchdringen können, sie musste es wissen:Sie war
verheiratet mit einem Mann, der alles tat, um seine Behaglichkeit nicht von Revolutionsrufen stören zu lassen.
«Gnädige Frau, geht es Ihnen nicht gut?»
Ihr entfuhr ein unwirscher Laut. Sie war jetzt nicht in der Verfassung, Konversation zu machen. Doch als sie das freundliche, von dichten, ein wenig unordentlich vom Kopf abstehenden, weißen Haaren umrahmte Gesicht von Buchhändler Thurneysen erkannte, fiel plötzlich alle Kraft von ihr ab. Sie lächelte matt und ergriff den dargebotenen Arm;inknappen Worten schilderte sie ihm das Vorgefallene.
Das seien Mitglieder des Patriotenzirkels gewesen, meinte er und lachte. Die hätten in ihrem Übermut sogar ihm ein Flugblatt aufgedrängt – aus seiner eigenen Druckerei!«An alle rechtschaffenen Bürger des Kantons Basel:Lasst uns endlich die alte Ordnung abschaffen!», zitierte er. Er könne gleich bei der nächsten Auflage damit beginnen. «Mit einer kleinen Textergänzung», fuhr er fort und dämpfte die Stimme:«An alle rechtschaffenen Bürger undBürgerinnen!»
Sie verzog ihren Mund zu einem Lächeln und meinte, einzelne Gesichter habe sie erkannt.
«Gnädige Frau kennen sie alle», nickte der Buchhändler.
Der städtische Patriotenzirkel, dem namhafte Männer aus den höchsten Kreisen der Stadt angehörten, war federführend bei den Agitationen, zu denen es seit Jahresbeginn auch in Basel gekommen war. Ihr Anführer, Peter Ochs, weilte seit Anfang Dezember in Sachen Revolution in Paris, feuerte aber seine Mitstreiter zu Hause schriftlich zu Aktionen wie der soeben erlebten an.
«Eswurde auch Zeit», befand Thurneysen.
Weitere Erklärungen waren nicht nötig, die Dame an seiner Seite war im Bild. Auf dem Land hatte es schon lange gebrodelt, und die Vereinigung der städtischen Patrioten stand in engem Kontakt mit den aufbegehrenden Untertanen
auf dem Land. Diese forderten die Rechtsgleichheit mit den Städtern und setzten damit die Altgesinnten im Rat mächtig unter Druck.
Der Buchhändler selbst sympathisierte mit der Französischen Revolution. Er stellte seine Werkstatt für den Druck der Flugblätter mit demokratischen Reformforderungen zur Verfügung, ging jedoch selbst nicht auf die Straße.
«Gnädige Frau?», erkundigte er sich noch einmal nach ihrem Befinden.
Die Dame schien zerstreut, hatte schon mehrmals über die Schulter geblickt, wobei sie bemüht war, ihre Unruhe zu verbergen. Ob sich unter die Revolutionäre auch Arbeiter aus der Stadt mischten, fragte sie, ohne die junge Frau auf der Treppe zu erwähnen.
Das sei bekannt, erwiderte Thurneysen, nur Frauen würden nicht geduldet, brummte er und blieb stehen:Sie wisse, wenn es nach ihm ginge, hätten sie sie schon längst bei den Patrioten aufgenommen!Aber in diesem Punkt seien seine Mitstreiter leider mit den Altgesinnten einer Meinung:Die Frau bleibe, wo sie sei!Dass aber dieselben Herren sich wie ungezogene Schuljungen benommen, die Gattin eines ihrer Ratskollegen umgeworfen und sich nicht einmal nach ihr umgedreht hätten, sei unentschuldbar.
Sie wollte etwas erwidern, senkte aber den Kopf, als ihnen ein Bekannter entgegenkam;dieser hatte sie jedoch bereits gesichtet und lüftete seinen Hut. Sie verhedderte sich in ihren nassen Röcken und wäre gestolpert, hätte Thurneysen sie nicht festgehalten.
Verärgert schüttelte sie seinen Arm ab, dankte mit knappen Worten für die Begleitung und schleppte sich, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, nach Hause.
Kurze Zeit später saß Sophie Amalie vor dem Kachelofen. Sie hatte sich geweigert, den Doktor kommen zu lassen, sich stattdessen Mamsell Böckmanns Verordnung gefügt und sich einen essigsauren Wickel um das hochgelagerte Knie legen lassen.
«Freiheit ist das Leben der Welt, Zwang ist ihr Tod!», hallten die Parolen in ihr nach. Sie trommelte gegen die Tasse in ihrer Hand:Dawar diese Arbeiterin gewesen. Alles war so schnell gegangen, sie erinnerte sich nur noch an eine schmale, in ein dunkles Tuch gehüllte Gestalt und vor allem an den fordernden Blick aus seltsam bernsteinfarbenen Augen.
Die junge Frau, fast noch ein Mädchen, hatte ihr einen Zettel in die Hand gedrückt. Das Ridicule, in den sie ihn gestopft hatte, lag auf dem mit dem neuesten Indienne-Stoff überzogenen Sofa. Sie langte danach und wäre beinahe mitsamt dem Sessel umgekippt, schaffte es aber gerade noch, sich abzustoßen, strich das Papier glatt und las:
Freiheit, Gleichheit für alle!Frau erwache!Erkenne deine Rechte!
Anna
Es klopft. Sofort bin ich hellwach. Ich tappe durch die Dunkelheit, der Boden unter meinen bloßen Füßen ist eiskalt.
«Wer da?», flüstere ich.
«Ich bin’ s, mach auf.»
Ich schiebe den Riegel zurück. Das Licht der Laterne blendet. Dennoch erkenne ich Oskar sofort. Er strahlt.
«Nun sag schon!», dränge ich.
«Anna!Sie haben in Liestal den Freiheitsbaum errichtet!»
Er hebt mich hoch und wirbelt mich lachend durch die Luft. «Wirst sehen», triumphiert er, «jetzt werden die Herren in der Stadt auf unsere Forderungen eingehen müssen!»
Er merkt nicht, dass ich sein Hochgefühl nur für einen kurzen Moment teile;ich schiebe seine Hände von mir und schicke ihn nach Hause. Danach ist an Schlaf nicht mehr zu denken.
Freiheit und Gleichheit für alle, in Stadt und Land. Würde es jetzt endlich dazu kommen?Ich war zwölf, als sich die Kunde von der Französischen Revolution wie ein Lauffeuer verbreitete. Ende 1790 beschloss der Rat in der Stadt die Aufhebung der Leibeigenschaft, doch hohe Bodenzinsen und Steuern blieben auf der Landbevölkerung lasten. Noch heute höre ich Vaters Empörung:«Die Herren in der Stadt haben nur den Klang des Worts abgeschafft.»
Wenn nur die Herren in der Stadt das Problem wären, denke ich und entzünde die Tranfunzel auf dem wackligen Tisch. Ich krame in der Schublade nach Papier, dabei kommt mir etwas Weiches in die Finger;das Seidenband ist breit und so dick, als sei es aus Samt. Auf einem etwas helleren Grund winden sich, wellenförmig umeinander fließend, zwei Rosengirlanden in einem dunkleren Rot. Die eine ist zu großen Blumen geflochten, die andere besteht aus kleinen, dicht aneinandergereihten Knospen. Zwischen den Blüten geben dunkelgrüne Blätter dem Ganzen Bewegung. Der darin eingewobene Goldfaden glimmt im Schein des spärlichen Lichts auf. Mutter war eine Meisterweberin.
Auf dem Totenbett hat sie mir das Seidenband der Gräfin in die Hand gedrückt, es hat seitdem nichts von seinem Glanz verloren. Doch nicht einmal als kleines Mädchen habe ich davon geträumt, meine Zöpfe mit Seidenbändern zu binden. Meine Schwestern haben die Mädchen der Herrschaften, die im Sommer im offenen Wagen bei uns auf dem Land spa-
zieren fuhren, um ihre glänzenden Haarschleifen beneidet. Wir hatten keinen Wagen zum Ausfahren, wir haben Spulen gedreht, in Stall und Garten geholfen.
Allzu deutlich habe ich es noch vor Augen:Mutters Buckeln vor den Gnädigen Herren;am Ende haben sie ihr den Webstuhl doch weggenommen. Dabei waren ihre Augen scharf wie die einer jungen Frau, noch immer war sie die geschickteste Weberin weit und breit;nur ganz so schnell wie früher war sie nicht mehr. Dass Mutter nicht mehr hat weben können, hat sie frühzeitig ins Grab gebracht. Ich wollte auf keinen Fall Posamenterin werden.
Für das Zeichnen kann ich nichts, das kommt einfach über mich. Begonnen hat es mit dem Rosenband für die Gräfin, seitdem muss ich zeichnen. Als Mutter damals den Auftrag bekam, wusste ich:Nimm das dunkle Rot, nicht das helle und mach hier kleine Knospen, anstatt große Blüten.
Zuerst wollte Mutter nicht, hatte Angst, der gnädige Herr Sarasin werde sie bestrafen, wenn sie die Vorgabe seines Dessinateurs nicht befolgte. Ich habe ihr versichert, die Gräfin werde begeistert und der gnädige Herr sehr zufrieden mit ihr sein. Ich weiß nicht, was Mutter schließlich dazu bewogen hat, auf mich zu hören. Ich glaube, sie hat mehr von der Wahrheit geahnt, als sie selbst wusste.
Ich habe mit einem verkohlten Ast das Muster auf die Rückseite der Zeichnung des Dessinateurs gekritzelt. Am Ende hat sie das Band, zitternd vor Angst, selbst überbracht.
Mutter nannte Serafina immer nur «die Gräfin». Doch hat mich die rätselhafte Verbindung der beiden für einen Augenblick mit ihr versöhnt.
Sie hätte das Zeug zu mehr gehabt. Doch für Mutter kam zuerst der Herrgott, dann die Gnädigen Herren – die Reihenfolge war nicht immer klar –,danach der Webstuhl, dann Vater, dann das Vieh, die Kinder. Mutter selbst war überall
und nirgends. Ich hätte sie an den Schultern packen und rufen wollen:«Wach auf!», stattdessen habe ich mein Bündel gepackt.
In der Stadt habe ich gleich Arbeit in der Baumwolldruckerei gefunden. Der verbotene Blick in die Stube der Dessinateure hat mir die Augen geöffnet:Angroßen Tischen saßen Männer. Es gab stapelweise leeres Papier, Tiegel mit Farben, Pinsel, Federn, und überall lagen Bleistifte herum, an den Wänden hingen fertige Musterzeichnungen.
Die Zeichnungen waren nicht schlecht, aber – ein Gefühl, wie ich es noch nie gehabt hatte, überkam mich – ich wusste: «Ich kann das besser!»
Bei Thurneysen habe ich Papier, Bleistifte und Farben bekommen. Es war eine Erleichterung, das Geflimmer vor den Augen auf Papier zu bannen, die Muster und Farben in meinem Kopf wenigstens für einen Moment loszuwerden.
Oskar hat die Zeichnungen einem Dessinateur zeigen wollen, ich habe ihm gleich klargemacht, dass das meine Sache sei. Noch immer steigt Wut in mir auf, über das, was dann folgte:
Ich stehe in der Tür zur Zeichenstube, die Männer schicken mich weg, doch ich trete über die Schwelle und entrolle meine Zeichnungen. Sofort leuchtet Gier in ihren Augen auf. Warum der Zeichner seine Frau kommen lasse, will einer wissen. Ich erkenne in ihm Konrad, Thurneysens Sohn, er arbeitet erst seit Kurzem hier. Weil das meine Zeichnungen seien, erwidere ich, ich wolle hier als Dessinateurin arbeiten. Siebrechen in lautes Lachen aus. Ich rolle meine Papierewieder ein, wende mich zumGehen, Konrad versperrtmir denAusgang. Ichsolle ihnen dieRollen überlassen, forderterund klimpert mit ein paar Münzen. Ich zögere – doch ich will endlich einen Anfang machen – und willige in den schlechten Handel ein.
Schon am nächsten Tag färbe ich in der Manufaktur die Druckplatten mit meinen Mustern drauf ein. Die Stoffe finden reißenden Absatz.
Eines Abends fängt Konrad mich auf dem Heimweg ab und verlangt nach mehr. Jetzt ist es an mir, zu lachen:Ich verscherbele meine Zeichnungen nicht noch einmal für ein paar lumpige Münzen!«Nicht so laut!», zischt Konrad. Der Patron verlange mehr von den neuartigen Druckvorlagen, erklärt er flüsternd. Der Herr könne sich jederzeit an mich wenden, erwidere ich, ohne meine Stimme zu senken. Sein Gesicht verhärtet sich, doch die Augen flackern und er tritt von einem Fuß auf den anderen;seine Kollegen hätten meine Muster als die ihren ausgegeben, stößt er schließlich zwischen den Zähnen hervor. Nichts anderes habe ich erwartet, es aus seinem Mund zu hören, nimmt mir dennoch fast den Atem. Augenblicklich habe ich mich wieder in der Gewalt. Ich werfe meinen Kopf nach hinten, grinse und behaupte, jetzt gleich würde ich gehen und mich in einer anderen Indienne-Druckerei als Dessinateurin vorstellen. Er rückt näher, versucht es erst mit Versprechungen, dann mit Drohungen, ich weiche nicht von der Stelle, grinse und lasse ihn stehen.
Am nächsten Morgen marschiere ich ins Kontor des Patrons. Er springt auf, will etwas sagen, dann fällt sein Blick auf meine Zeichnungen, seine Entrüstung schlägt in Ungläubigkeit um:«Wo hast du die gestohlen?» Die Stimme des Patrons ist fast nur ein Flüstern, aber die Drohung darin nicht zu überhören.
Ich trete an seinen Tisch, ergreife einen Bleistift und kritzle ein paar Blumenranken und Paradiesvögel auf ein Blatt, daneben skizziere ich mit wenigen Strichen ein Muster aus ineinander verschachtelten Kreisen und Rechtecken.
Er stutzt:«Woher hast du diese Ideen?»
Ich zucke mit den Achseln, erkläre, als Dessinateurin angestellt werden zu wollen. Ich warte, bis sein Lachen verebbt ist.
Schweißperlen treten auf seine Stirn, er macht eine Bewegung, als wolle er mich schlagen. Ich solle ihm noch mehr Muster liefern, presst er schließlich hervor, dann wolle er darüber nachdenken, wo er mich einstellen könne. Sogar einen Batzen legt er hin.
Natürlich lügt er. Er wird kein Frauenzimmer die Dessinateurenstube seiner Firma betreten lassen, trotzdem lege ich meine Zeichnungen auf den Tisch.
Beim Hinausgehen stoße ich auf zwei Damen. Die Ältere habe ich schon bei Thurneysen gesehen, sie würdigt mich keines Blickes. Die Jüngere, wohl ihre Tochter, gafft mich an, als hätte sie noch nie eine geflickte Schürze gesehen.
Das war im Herbst, seitdem zeichne ich für den Patron. Nachts in meiner Kammer, nach der Arbeit in der Manufaktur.
Seit der Zeit habe ich sie im Visier;dass sie die Frau des Patrons ist, weiß ich von Thurneysen. Er spricht in höchsten Tönen von ihr. Der Trottel. Sieht er nicht den Blick, mit dem diese Frau auf alle herabschaut, die nicht in ebenso feines Tuch gewandet sind wie sie?
Dennoch glaube ich, dass sie, nach dem wenigen, was Thurneysen mir über sie zu erzählen bereit gewesen ist, die Richtige für meine Sache wäre. Ein Treffen mit ihr zu arrangieren, hat er sich jedoch bis jetzt geweigert.
Ich sitze im Dunkeln, der Tran in der Lampe ist abgebrannt, ich lege mich ins Bett. Im Traum erhebt sich eine Fichte vor mir, geschmückt mit den Farben der Freiheit. Sie beginnt zu wachsen, wird immer größer, durchstößt die Zimmerdecke, wächst weiter bis in die Unendlichkeit des Himmels hinauf und – fällt. Fällt auf mich und auf sie.
Ich reiße die Augen auf, aus ihren eng beieinanderliegenden Augen blickt Empörung.
18. Januar
Sophie Amalie
Sie schloss ihr Buch. Sie hatte sich auch heute um fünf Uhr wecken lassen, um sich der Lektüre zu widmen, bevor der Tag sie mit seinen Verpflichtungen in Beschlag nehmen würde.
Man messe der Erziehung und der Unterrichtung der Frauen den gleichen Wert bei, und es werden sich ebenso viele mutige Frauen wie Männer finden.
Seit geraumer Zeit schon vertiefte sie sich in die Schriften Louise dʼÉpinays. Sie bewunderte die Präzision und Schärfe, mit der die französische Schriftstellerin und Salonière Worte und Dinge entfaltete;sie war der Überzeugung, dass es nichts gebe, was die Frauen davon abhielte, dem Manne ebenbürtig zu sein.
Zu wissen, dass es Frauen gab, die – gelehrter und intelligenter als sie – die gleichen Ideen in sich trugen wie sie selbst, erfüllte Sophie Amalie mit verschämtem Stolz und gab ihr die Kraft, nicht an den eigenen Gedanken zu verzweifeln.
Das Schlurfen des Kammerdieners, der seinen Herrn, dessen Schlafzimmer am anderen Ende des Flures lag, täglich Punkt sieben Uhr zu wecken hatte, gemahnte sie daran, dass es Zeit war, aufzustehen.
«Dugehst schon?»
Ihr Mann, soeben im Begriff, vom Frühstückstisch aufzustehen, antwortete gereizt:«Dringende Botschaft von M.» Er schlug mit einer Papierrolle auf die Tischkante:Sie könne nicht glauben, was Barbier Seiler ihm soeben …,erbeendete den Satz nicht;erhatte nicht die Angewohnheit, ihr Dinge
mitzuteilen. Er murmelte etwas von einer unverzüglich anberaumten Ratssitzung – ausgerechnet heute, wo er dringend im Kontor gebraucht werde!
Sie horchte auf, Carl Ludwig wurde für gewöhnlich nicht laut.
Ärger in der Manufaktur, beschwerte er sich, zischte: «Weiber!» und verbrannte sich die Zunge am Kaffee.
Sie verstand seine Gereiztheit nicht, soviel sie wusste, liefen seine Geschäfte gut und seit letztem Herbst sogar glänzend.
Und was mache der Junge?, brauste er erneut auf, vergnüge sich in Frankreich!Damit sei jetzt Schluss, er werde noch heute schreiben und ihm befehlen, sofort nach Hause zu kommen. «Dein Herr Sohn hat mich genug gekostet!», polterte er, und blickte dabei seine Frau zum ersten Mal an; Ludwig solle endlich im väterlichen Geschäft zeigen, was er gelernt habe.
Sie wollte ihn daran erinnern, dass niemand anderer als er selbst den zweitältesten Sohn nach Nantes zu einem seiner Handelspartner geschickt habe, damit Ludwig sich in dessen Geschäft den letzten Schliff zum Kaufmann und IndienneFabrikanten hole, verstummte aber, als sie den Eifleck auf dem blütenweißen Jabot ihres auf Korrektheit bedachten Mannes bemerkte.
Sie solle ihn nicht zum Essen erwarten. Er nickte ihr knapp zu und verschwand.
Erst als sie unten die Haustür zuschlagen hörte, wurde sie des Stubenmädchens gewahr, das sich mit der Kaffeekanne in der Hand an die Wand drückte. Sie winkte es hinaus, doch das Mädchen blieb stehen.
«Lina?», fragte sie und hob eine Augenbraue.
«Inder Küche», stammelte das Mädchen, «Sie sollten dort … »Weiter kam es nicht, drehte sich auf dem Absatz um und verschwand aus dem Zimmer.
Sophie Amalie verdrehte die Augen, zwang sich aber zur Ruhe. Die Pflicht rief:Personal und Gäste mussten davon in Kenntnis gesetzt werden, dass das für heute Abend anberaumte Diner, welches ihr Gatte offenbar völlig vergessen hatte, verschoben werde;doch anstatt nach der Haushälterin zu klingeln, blieb sie, ohne sich zu rühren, sitzen.
Ichtue nur noch,was mirSpaßmacht,undichfühlemich herrlich dabei,klangen weitere Sätze der Morgenlektüre, frei übersetzt, in ihr nach.
Das Hereinkommen des Dieners riss sie aus ihrer Lethargie. Sie erkannte die Schrift schon von Weitem, nahm den Brief vom Silbertablett und stand auf.
Vorder Tür lag ein Zettel:
Freiheit, Gleichheit für alle!Frau erwache!Erkenne deine Rechte!
Anna
Vielleicht war es ein Fehler gewesen, Lina mit der Aufgabe zu betrauen. Ob sie es schaffen wird, das Flugblatt in der Nähe ihrer Herrin fallen zu lassen, ohne sich selbst in Verdacht zu bringen?
Ich haste weiter durch die Kälte. Wie viele der Frauen in der Fabrik wohl schon über die Vorkommnisse auf dem Land Bescheid wissen?
«Anna!Sowart doch!»
Was macht denn die Bärbel zu dieser Morgenstunde schon auf der Straße?Sie keucht, beim Sprechen stößt sie Dunstwolken aus.
«Weißt du es schon?»
Ich nicke. Ihr Gesicht fällt nach unten, sie wäre gern die Überbringerin der Neuigkeit gewesen;doch dann verzieht
sich ihr Mund zu einem Grinsen:«Dein Oskar hat es dir natürlich schon gestern Nacht ins Ohr geflüstert.»
Ich reagiere nicht auf die Anzüglichkeit, die Bärbel ist eine Intrigantin, aber recht nützlich, wenn es darum geht, Informationen zu verbreiten.
«Weiß es deine Herrschaft schon?», will ich wissen.
Sie nickt, unter den Gnädigen Herren herrsche Aufregung. «Ich bin gerade auf dem Weg ins Haus deines Patrons, die brauchen dort heute Verstärkung in der Küche.»
«Sorg dafür, dass es auch die Frau erfährt.»
«Wozu das denn?»
Ich zucke mit den Achseln, doch auf die Bärbel ist Verlass. Auch wenn sie behauptet, keine Anweisungen von mir anzunehmen, wird sie so viel Radau machen, dass bald das ganze Haus Kopf stehen wird.
Und falls es Lina gelungen sein sollte, ihre Herrin in die Küche zu locken, wird auch die Frau des Patrons erfahren, wie es um die Revolution steht. Und wenn sie dann immer noch nicht begreift, dass sie besser daran täte, mit uns zusammenzuspannen, ist sie dümmer, als ich geglaubt habe.
Sophie Amalie
Schon von Weitem drangen Geschirrgeklapper und das Schimpfen der Köchin an ihr Ohr. Das Stimmengewirr erinnerte sie daran, dass sie sich für das heutige Diner zusätzliches Personal von ihrer Schwester erbeten hatte.
Abrupt blieb sie stehen. Hatte es etwas mit dem Gestotter des Stubenmädchens zu tun, dass sie, anstatt die Treppe hinauf in ihr Zimmer zu steigen, weiter den Flur entlang in Richtung Küche gegangen war?Das Unbehagen, welches jetzt von ihr Besitz ergriff, irritierte sie;sie führte ihr Personal mit sicherer Hand und duldete keinen Schlendrian. Doch im
Dienstbotentrakt herrschten eigene Gesetze, hier war sie eine Fremde, «die Gnädige»nicht erwünscht.
Am Ende war es gar nicht Lina gewesen, die das Flugblatt im Flur hatte fallenlassen, ging es ihr durch den Kopf. Zumindest konnte sie sich nicht vorstellen, dass das bis anhin so anstellige Stubenmädchen etwas mit den Machenschaften dieser Arbeiterin zu tun haben könnte. Sicher hatte sie oder jemand anderes vom Personal den Zettel auf der Straße in die Hand gedrückt bekommen, ihn nicht verstanden, und zu Hause war er aus der Tasche gefallen.
Sophie Amalie durfte nicht zulassen, dass sich in ihren Haushalt Unregelmäßigkeiten einschlichen. Sie zerknüllte das Papier in der Faust und trat über die Schwelle;Hitze und Dampf schlugen ihr entgegen. Sie wich einem hereinhastenden Diener aus, der einen Stapel Frühstücksgeschirr auf den Tisch knallte:«Wo ist die Schokolade für das gnädige Fräulein?», fuhr er die Küchenmagd an.
«Ich … », stammelte das Mädchen und sah aus, als breche es gleich in Tränen aus. Die Köchin schritt auf ihn zu, machte ächzend einen tiefen Knicks, drückte ihm einen Korb in die Hand und flötete:«Wenn der gnädige Herr die Güte haben würden, diese Brötchen nach oben zu bringen, solange sie noch warm sind?»
Der Diener stutzte. Sein Gesicht zeigte keinerlei Beschämung, eher Verwunderung und, als er endlich begriffen hatte, Empörung. Er schnappte sich den Korb und verschwand aus der Küche;draußen hörte man ihn über das Weibervolk schimpfen.
«Nimm es dir nicht zu Herzen, Mädchen», tröstete die Köchin, «wenn der so weiter macht, steht der bald auf der Straße. Hier», sagte sie und reichte ihr eine Schüssel mit Eiern, «bring die in die Speisekammer.»
Die Magd drehte sich um, erblickte die Hausherrin und ließ die Schüssel scheppernd auf den Boden fallen. Augenblicklich verstummten die Stimmen, alle Köpfe wandten sich Sophie Amalie zu.
«Mädchen, schließ deinen Mund und wisch den Boden auf!», sagte die Köchin nicht unfreundlich. Es sei ja nichts passiert, die Eier seien ja schon gekocht gewesen und würden heute Abend gebraucht werden, erklärte sie und wandte sich dann an den Gast:«Gnädige Frau wünschen?»
Sophie Amalie wich einen Schritt zurück, so viel Geradlinigkeit erschreckte sie. Ein Blick der Köchin genügte, und das Gekicher der Mägde verstummte.
«Ich, das Diner heute Abend … », fing sie an und ärgerte sich über ihr Gestammel.
«Gnädige Frau können unbesorgt sein, es wird wie immer alles bereit sein», erklärte die Köchin ein wenig pikiert.
Die Herren seien heute Abend verhindert, die Damen kämen allein zum Essen, hörte Sophie Amalie sich sagen;sie schwankte und tastete nach dem Türrahmen. Die Köchin wischte mit der Schürze über einen Stuhl, Sophie Amalie ließ sich darauf fallen.
«Gnädige Frau haben heute Morgen nichts gegessen», stellte die Köchin fest und brachte ihr einen Teller mit einer mit Butter und Honig bestrichenen Scheibe Brot.
Sie wagte nicht, abzulehnen.
«Andie Arbeit!», scheuchte die Köchin die Bediensteten an ihre Plätze.
Sophie Amalie gelang es nicht, das Kichern und die Blicke um sie herum zu ignorieren;plötzlich wusste sie nicht mehr, wie sie hierher gelangt war und was sie hier zu suchen hatte. Sie stand auf, wollte die Situation beenden, hielt aber noch immer den Teller in der Hand und kam nicht vom Fleck. Honig und Butter gleichzeitig auf einem Stück Brot!Den
Luxus erlaubten sie sich doch nur sonntags, war der einzige Gedanke, der ihr durch den Kopf ging.
Der sei von gestern, den könne sie den Herrschaften nicht mehr auftischen, winkte die Köchin ab, als das Küchenmädchen mit einem angeschnittenen Kuchen vor sie trat.
Genug!Sophie Amalie drehte sich um, konnte der hereinstürzenden Person gerade noch ausweichen, stieß an den Stuhl, klammerte sich an den Teller und blickte dem Honigbrot nach, das in hohem Bogen durch die Luft flog und mit der klebrigen Seite nach unten auf dem Küchenboden liegen blieb;nur der Stuhl, auf den sie niedersank, verhinderte, dass sie ebenfalls dort landete.
«InLiestal haben sie einen Freiheitsbaum aufgestellt!», stieß die ihr unbekannte Magd atemlos hervor. Bärbel war über die Schwelle gestolpert, hielt sich mit einer Hand am Türrahmen fest und streckte ihr breites, vom Laufen durch den Wintermorgen gerötetes Gesicht Sophie Amalie entgegen.
«Die Leibeigenschaft wird abgeschafft!», japste sie.
Das also war die Nachricht, die Barbier Seiler ihrem Mann heute Morgen überbracht hatte!, durchfuhr es Sophie Amalie.
Rings um sie herrschte Tumult, niemand achtete mehr auf sie. Erst als die Köchin ein Machtwort sprach, legte sich der Lärm so weit, dass sie die Magd wegen ihres Zuspätkommens zur Rechenschaft ziehen konnte.
«Haben Sie nicht verstanden?», rief diese zur Antwort. «Auf der Landschaft steht der Freiheitsbaum!Wisst ihr, was das bedeutet?», warf sie triumphierend in die Runde. Sie blickte in offene Münder.
Nicht lange und die Revolution werde auch in der Stadt siegen!, rief sie.
«Bärbel», fuhr die Köchin dazwischen, «beruhige dich. Woher hast du das?»
Sophie Amalie wollte sich solche Szenen im eigenen Haus verbitten, wusste ihre Schwester, welch eine Unruhestifterin sie ihr da ins Haus geschickt hatte?Doch sie brachte keinen Ton heraus.
Ihre Cousine habe es ihr erzählt, erwiderte Bärbel und schürzte die Lippen. Die sei bei Sarasins in Stellung und wisse es von der Kutschersfrau, dessen Mann es gestern Nacht vom Bott erfahren habe. Und der Oskar, der müsse es wissen, sagte sie und fuhr sich mit Bedacht mit der Zunge über die Oberlippe, der sei nämlich selbst dabei gewesen. Sie senkte ihre Stimme zu einem Flüstern, welches aber für alle Ohren bestimmt war:Der sei einer der Revoluzzer auf dem Land und stehe als Bott in ständigem Kontakt zwischen Liestal und der Stadt, er habe sogar Verbindungen zum Patriotenzirkel;auf den Oskar sei Verlass!
«Obwohl», begann sie, unterbrach ihren Redefluss, verschränkte die Arme vor der Brust und verzog das Gesicht zu einer Schnute. Sie genoss die Aufmerksamkeit, die auf ihr lag, und fuhr erst fort, als der Hausdiener drängte:«Obwohl was?Nun sag schon!»
Ihre Cousine sei schon fast mit dem Oskar verlobt gewesen, tratschte Bärbel fort, stockte, wurde rot und schob sich eine Strähne unter das Kopftuch. Doch dann sei diese Anna gekommen!, zischte sie, und habe ihr den Oskar weggeschnappt.
Sophie Amalies Aufmerksamkeit wurde vom Kopfschütteln des Stubenmädchens Lina abgelenkt.
Diese Anna arbeite übrigens in der Manufaktur des gnädigen Herrn hier im Haus, fuhr Bärbel fort und raunte:Mit der stimme etwas nicht.
Niemand außer Sophie Amalie beachtete Linas Protestversuche.
Diese Anna bekomme immer, was sie wolle, fuhr Bärbel mit ungebremstem Eifer fort:Sie blicke einen an, aus ihren seltsam gelben Augen, und dann müsse man tun, was sie von einem verlange.
«Meine Cousine sagt, sie habe den Oskar verhext!»
Sophie Amalie entfuhr ein Stöhnen, das aber vom Knall des Kaffeekessels auf den Herd übertönt wurde. «Jetzt reichts aber!», rief die Köchin.
Bärbel ließ sich auch davon nicht beeindrucken, trat zur Küchenmagd, die sie noch immer mit offenem Mund anglotzte, stützte sich mit den Händen auf den Tisch und raunte ihr, so deutlich, dass es alle verstehen konnten, zu:Sie rühre jetzt den Teig für die Nachspeise heute Abend und nach Mitternacht spüle sie das Geschirr der Herrschaften. «Unsereins ist ja erst seit fünf auf den Beinen», schimpfte sie und streifte Sophie Amalie mit ihrem Blick. «Aber ich sage dir», prophezeite sie, «inden nächsten Tagen wird sich hier einiges ändern, denn jetzt gibts Revolution!» Wie eine heiße Kartoffel ließ sie das Wort in die Runde fallen und rutschte dabei so nahe an das Mädchen heran, dass dieses den Zwiebeldunst in Bärbels Haube riechen musste. Man könne über die Anna denken, wie man wolle, aber in einem habe sie recht, schloss sie, stieß die Faust in die Luft und rief:«Freiheit!Gleichheit für alle!»
Sophie Amalie lehnte sich im Vestibül an die Wand. Ihr Mann saß im Rat, und sie musste die umwälzenden Neuigkeiten von einer Küchenmagd erfahren und sich dabei vor dem Personal lächerlich machen!
Dass sie nicht allein wie in Trance dagesessen und nicht die Einzige gewesen war, die sich den Worten dieser Bärbel
ausgeliefert hatte, war nur ein schwacher Trost. Sie erschauerte bei dem Gedanken, dass Bärbel selbst auch unter dem unheilvollen Einfluss der Arbeiterin mit den bernsteinfarbenen Augen stand.
Sie ließ den Kammerdiener vorbeischlurfen, schlüpfte aus dem Vestibül und schleppte sich in den ersten Stock hinauf. So hatte sie es sich nicht vorgestellt, sie war sich nicht mehr sicher, ob sie die Revolution noch immer herbeiwünschte.
In ihrem Zimmer angekommen, erinnerte sie sich des Briefs, zog ihn hervor und blickte auf die gestochen scharfe Schrift ihres Sohnes, die in verblüffender Weise derjenigen seines Vaters glich;eine Schrift wie gemacht für das Ausfüllen von Zahlentabellen und akkurat formulierten Geschäftsbriefen. Sie setzte sich an ihren Sekretär und brach das Siegel. Nantes, 30.November 1797 las sie und stutzte. Die Straßen mussten in sehr schlechtem Zustand sein. Sie streckte den Arm weit von sich und dachte einmal mehr, dass sie sich endlich um ein Lorgnon bemühen sollte.
Liebe Mutter, Nantes gefällt mir immer besser. Täglich sehe und lerne ich Neues hinzu. Monsieur Courvoisier ist ein geduldiger Lehrmeister und zuvorkommender Gastgeber. Jeden Tag besuche ich die Manufaktur und bekomme Einblick in alle Arbeitsgänge. Vonden Herren im Kontor bin ich bestens empfangen worden, unser Name ist dank Vater gut eingeführt und wird überall mit Respekt ausgesprochen. Ich versichere Dir, liebe Mutter, dass ich alles tue, um den wenig löblichen Auftritt meines Bruders hier vor ein paar Jahren, vergessen zu machen.
Sophie Amalie spürte einen Stich. Felix, ihr Ältester, hatte Monsieur Courvoisier ins Gesicht gesagt, dass er mit den blu-
tigen Geschäften, die dieser betrieb und an denen auch sein Vater beteiligt war, nichts zu tun haben wolle.
Er wies damit auf die Sklavenschiffe hin, von denen die meisten noch immer von Nantes ausfuhren. Obwohl der Nationalkonvent in Paris offiziell die Sklaverei verboten hatte, profitiere man hier weiterhin vom größten Sklavenumschlagplatz Frankreichs, hatte Felix sich entrüstet und seiner Mutter mitgeteilt:Erwerde ein Jahr früher als geplant in See stechen, aber nicht, um sich mit dem Dreieckshandel vertraut zu machen, sondern, um in den Kolonien die dortige Flora und Fauna zu studieren. Sophie Amalie ließ die goldene Uhr, die sie an einer langen Kette um den Hals trug und mit der sie ihre freie Hand hatte spielen lassen, los.
Felix’ Schrift hatte stets etwas Fahriges, zu Beginn jeder Seite war sie ausufernd, wurde zum Ende hin immer krakeliger und zog sich bis über die Ränder hin. Seine Briefbögen, die er ihr aus Uppsala schickte, wo er seit ein paar Jahren bei Linnés Nachfolger studierte, waren übersät mit Pfeilen, Sternen und Querverweisen.
Sie seufzte, verbot sich jeden weiteren Gedanken an ihren Ältesten und las weiter in Ludwigs Brief:
Apropos, was ist das für ein neuer Zeichner, von dem Papa mir geschrieben hat?Die Stoffe sollen reißenden Absatz finden.
Sie zog die Stirn in Falten:Ihr Sohn wusste doch, dass sein Vater ihr nichts Wichtiges mitteilte. Ihre Hand griff wieder nach der Uhr und begann, die Kette um die Finger zu winden.
Übrigens sei ihm der Sohn des Hauses, der später auch das Geschäft seines Vaters übernehmen werde, ein guter Kamerad geworden, schrieb Ludwig. Er sähe ihn gerne als zukünftigen
Gatten seiner jüngsten Schwester. Das rege gesellschaftliche Leben in Nantes wäre so richtig nach dem Geschmack ihres Nesthäkchens. Laut der hiesigen Damenwelt sei Charles der schönste Mann in der Stadt, was der Eitelkeit Elisabeths gefallen werde, setzte er hinzu. Dass Charles außerdem ein solider Kaufmann und guter Christ und obendrein ein brillanter Gesellschafter sei, verstehe sich von selbst, versicherte er. Er, Ludwig, habe seinem Vater diesbezüglich klare Andeutungen gemacht, und so viel er wisse, seien er und Monsieur Courvoisier bereits in Verhandlungen über eine Eheschließung der beiden.
Sie ließ die Uhr mit einem Ruck los, beinahe wäre dabei die Kette zerrissen, die sich um einen Finger gewickelt hatte.
Ihr Mann hatte gründliche Arbeit geleistet und seinen Sohn auf Bräutigamschau für die Schwester geschickt!Die daraus folgende, noch engere Beziehung der beiden Handelshäuser würde für beide Seiten höchst vorteilhaft sein, schrieb Ludwig. Ihre Firma könnte so auch mit China und Indien in einen noch günstigeren Handel einsteigen.
Sie schloss die Augen:Wie es aussah, war das Geschäft besiegelt, Carl Ludwig hatte es nicht für nötig erachtet, seine Gattin darüber zu informieren, geschweige denn, ihre Meinung einzuholen;die Braut würde wie üblich erst im letzten Moment davon erfahren.
Es gelang ihr, ihren Finger zu befreien, sie brachte aber die Geduld nicht auf, das Kettengewirr zu entknoten, schlug ein Bein über das andere und las das Ende des Briefes:
Natürlich verstehe ich Vaters Drängen, mich im Geschäft haben zu wollen, nachdem sich Felix als eine solche Enttäuschung erwiesen hat.
Sie schnaubte und begann mit dem Fuß auf und ab zu wippen.
Und doch, schrieb Ludwig weiter, wäre auch er gerne in die Kolonien gesegelt und hätte eine Weile zusammen mit den anderen Europäern dort gelebt. Wäre die Reise nicht so beschwerlich, hätte er sogar das ganze Dreieck absolvieren wollen. Er hätte mit eigenen Augen sehen können, wie man es schaffte, so viele Sklaven auf einmal im Schiffsrumpf zu verstauen und …
Sie ließ den Brief sinken. ErstimHafenwerdendieLebendenvon den Totengetrennt,hatte damals in Felix’ Brief gestanden.
Aber bald wird der Schrei der schwarzen Sklaven, die wie Heringe nebeneinander im Schiffsrumpf liegen, diesen sprengen. Sie werden sich nicht mehr wehrlos gegen minderwertige Stoffe, Waffen und billigen Tand eintauschen lassen, um danach auf den Baumwoll- und Zuckerplantagen zu schuften. Wenn die Damen nur wüssten, wie viel Blut an ihren leuchtend farbigen Kleidern klebte, würden sie keinen einzigen Baumwollfetzen mehr auf ihre Haut lassen.
Sophie Amalie zog ihre Hand von dem Polster, über dessen Stoff sie während des Lesens gestrichen hatte.
Er habe sich überlegt, ließ sie ihre Augen weiter über Ludwigs Brief gleiten, ob es nicht doch wirtschaftlicher wäre, nicht ganz so viele Sklaven auf einmal zu verschiffen, da ja doch immer ein Teil davon verhungere und verdurste oder der Enge und des Gestanks der Exkremente wegen die Fahrt nicht überlebe. Außerdem hätte man dann auch nicht den Ärger mit dem Entsorgen der Leichen.
Sie schnappte nach Luft und zerknüllte den Brief. Noch stand ihr klar vor Augen, wie ihr Mann den beiden Heran-
wachsenden den Dreieckshandel erklärt hatte. Felix hatte sich schon damals nur für die Pflanzenwelt in den Kolonien interessiert, während Ludwig sich mit seinem Vater gefreut hatte, dass der Sklavenaufstand nur in Haiti erfolgreich gewesen war. Mit seinen Zinnsoldaten war er «unseren wackeren Schweizer Regimentern zu Hilfe gekommen, um die Unruhen, die diese schwarzen Menschen stifteten, blutig niederzuschlagen».
Sie nahm ein paar tiefe Atemzüge, um ihrer Übelkeit Herr zu werden, und glättete das Papier in ihrem Schoß:
… können nur hoffen, dass dieser Bonaparte die Franzosen wieder zur Vernunft bringt und die Sklaverei erneut überall einführt. Im Gegensatz zu Vater – und Mutter, Du weißt, ich bin sonst immer einer Meinung mit ihm – bewundere ich diesen Mann.
Einen Mann, dachte Sophie Amalie, der im vergangenen November in der Stadt Station gemacht hatte, nachdem er, allen Neutralitätsbekundungen zum Trotz, über Schweizer Territorium zu Friedensverhandlungen ins Badische gereist, sich in Liestal als Befreier hatte feiern lassen.
«Wenn ich ihn doch nur hätte sehen können!», hatte ihre Tochter ausgerufen.
Sophie Amalie hatte ihn gesehen, diesen schmächtigen Jungen mit den Stirnfransen und den langen Strähnen, die sein mageres, blasses Gesicht umrahmten. Keineswegs hatte sie diesen hustenden Soldaten mit dem heldenhaften General, wie er auf den in ganz Europa kursierenden Drucken dargestellt war, in Verbindung bringen können. Doch – und obwohl sie nur einen Blick auf sein Antlitz erhascht hatte, als er durch den Jubel der Menge hindurch über den Münsterplatz
gefahren war – hatte die Entschlossenheit, die trotz der Müdigkeit darauf gelegen hatte, auch ihr Eindruck gemacht.
Sie bückte sich nach dem Brief, der ihr aus der Hand geglitten war. CharleswirdmichimFrühlingaufmeinerHeimreise begleiten und eine Zeitlang bei uns wohnen,stand im Postskriptum, und da sich Ludwig nie kurz fassen konnte, gab es auch noch ein PPS: Mit Bedauern musste ich von Vater erfahren,dassDunochimmerdeinerLektürefrönst.
Sie holte selbst Muff und Mantelet und hastete, ohne jemandem Bescheid zu sagen, aus dem Haus.
Draußen herrschte noch immer Tauwetter, nach wenigen Schritten klebte der Rocksaum an ihren Beinen. Es lag nicht am schmerzenden Knie, dass sie so schnaufte, ihr war übel und sie fühlte die gleiche Trägheit, wie damals während der dicht aufeinanderfolgenden Schwangerschaften, als ihr Kopf monatelang im Nebel gehangen und sie ihren Leib kaum zu bewegen vermochte hatte.
Auf der Pfalz hinter dem Münster lehnte sie sich gegen die Brüstung und blickte auf den Fluss hinab, wo die Wolken ins dunkelfließende Wasser zu fallen schienen. Hier hatte der Vater ihr seine Bedeutung für das Florieren der Handelsstadt erklärt.
«Und von dort, Söpheli», hatte er gesagt und in Richtung Westen gedeutet, «kommt die Freiheit.»
Anna
Das Tauwetter bohrt seine Finger durch die Kleider, kriecht unter die Haut, dennoch verbringe ich die kurze Mittagspause draußen, atme tief durch, bevor mein Kopf wieder von den Farbdämpfen in der Manufaktur vernebelt wird.
«He, Anna!Schläfst du?»
Auf der Straße standen Frauen. Ihre Münder bewegten sich, einige hielten Fackeln in der Hand, deren Flammen unruhig hin und her schlugen. An deren Spitze stand eine schmale, junge Frau mit Augen wie Bernstein, die Faust in die Höhe gereckt, etwas Blaugoldenes blinkte an ihrer Hand. Eine zweite Ladung Kieselsteine prasselte ans Fenster. Erschrocken wich Sophie Amalie zurück.

Basel, im Januar 1798: Auf dem Münsterplatz wird der Freiheitsbaum aufgestellt, die alte Eidgenossenschaft bricht zusammen. Die Patrizierin Sophie Amalie, Anhängerin der Aufklärung und der Französischen Revolution, begrüßt die neue Ordnung. Doch als ihr klar wird, dass der Ruf nach Freiheit und Gleichheit die Frauen nicht miteinbezieht, begehrt sie auf. Wird sie den Mut finden, für ihre Ideale zu kämpfen und mit den gesellschaftlichen Konventionen ihrer Kreise zu brechen? Auch auf die Gefahr hin, alles zu verlieren? Und weshalb kreuzt diese unheimliche Frau mit den bernsteinfarbenen Augen immer wieder ihren Weg?