Fenster Tamara Wirth

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Fenster BismarckstraĂ&#x;e 77




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Der Raum öffnet sich und es ist schlagartig warm. Unnatürliche Wärme und ein grelles Licht. Die Augen lassen sich kaum öffnen. Schwankend tritt sie ein und der wohlbekannte leicht modrig riechender Geruch lässt sie in der beruhigenden Gewissheit doch im richtigen Raum zu sein. 9


Halb blind versucht sie den bekannten Weg zu ertasten, gleichzeitig sich ihrer Jacke zu entledigen und sich den Kopf zu zerbrechen, wie es zu einer so ungewohnten Situation kommen konnte. Sobald sich die Augen an das Licht gewÜhnt haben, war der Grund klar zu erkennen. Eine Veränderung war sichtbar und stand mitten im Raum in Form einer monstrÜs wirkenden Leiter. Normal war, dass die unterschied10


lichsten Dinge im Raum ihren Platz finden, mal durch Zufall, mal gewollt. Aber nie waren es Objekte, die so groß waren, dass der Nutzen des Raumes plötzlich in Frage stand. Der Weg war versperrt. Das Bein der Leiter ragte über den Holztisch hinweg und durchtrennte die Sitzfläche ihres Stuhles in zwei gleich groß wirkende Teile. Also hatte der Eindringling etwas zerstört. Eine ungesagte Regel heißt: 11


sobald Objekte verschwinden oder Objekte zerstört sind, kann es schlimmer nicht mehr werden. Eine Sünde, eine Straftat, zwar ohne Folgen, aber mit dem garantierten Gefühl eines schweren Herzens und dem Drang danach Gutes zu tun. Für das Gefühl im Raum. Die Leiter stößt an der Decke an. Sie rüttelt; nichts passiert. Steckt fest, eingeklemmt zwischen Decke und Boden. Der Boden ist Linoleum und elastisch. Dafür gemacht, 12


sich der Leiter anzupassen. Anpassungsfähig, und sie selbst ist es nicht. Kein gutes Gefühl. Sie dachte an das gute Gefühl vorher. Der Raum war ein großes Haus, eingeladen waren nur gute Freunde, oder die, von denen man vermuten konnte, dass sie es werden. Ein Ort gedacht zum arbeiten, der sich wandelte in einen viel schöneren Begriff als Arbeit. Dafür gibt es kein Begriff. Sie war dort, vergaß die Zeit, 13


vergaĂ&#x; zu Essen im positiven Sinne und war voll von Gedanken und Ideen. Sie hatte die MĂśglichkeit zu teilen oder zu behalten, das war alles ok. Jeder der dort war, dachte so. Jetzt steht eine Leiter hier.

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Als sie ungef채hr 13 war, 체berredete sie ihre Familie eine Katze anzuschaffen. Die Bedingung war, sie m체sse aus einem Tierheim kommen. Also wurde ein Samstagvormittag ausgesucht, an dem Oma Zeit hatte beide Jugendlichen der Familie mit ihrem alten Volvo in die n채chstgelegene 19


Tiervermittlungsstätte zu fahren. ‚Leider liegen diese oft außerhalb‘, jammerte Mutter. ‚Immerhin gibt es Parkplätze‘, sagte Oma, als sie den Motor abstellte. Sie erinnerte sich an die Lautstärke innen und dann den strengen Geruch von Putzmittel, Heu und Nassfutter. Verzweifelte Schreie abgedämpft durch Wände aus Glas drangen zu ihr durch. Im Nachhinein war das vielleicht auch falsch inter20


pretiert und die Tiere hatten ihren Spaß. Auf sie hatte das einen ziemlich abschreckenden Eindruck gemacht. Ihr Bruder war sofort Feuer und Flamme, rannte an jedes Fenster und versuchte in einem unglaubliche Tempo alles genau wahrzunehmen. Die Entscheidung war nicht schwer. Ziemlich zügig konnte sich auf ein etwas jüngeres, dreifarbiges Exemplar geeinigt werden. Ein Ohr fehlte ihr, doch das tat ihrer 21


sonstigen Eleganz und Schönheit nichts ab. Die Pflegerin hatte viele Fragen, und ich lies Oma alles beantworten. Sie erzählte vom Garten und von ruhigen Straßen um das Gelände,was der Wahrheit nicht entsprach. Doch wir waren still. ‚Mann muss wissen was man solchen Leuten erzählt‘ sagte sie auf der Hinfahrt. Dabei nickten wir uns zu, das war nicht schlimm. Doch wollte sie die Wahrheit zumin22


dest der Katze erzählen, bevor sie sich einfangen lässt. Sie blieb sitzen, auch als sie in einen Karton gepackt wurde. Schon längst ausgepackt saß sie mittlerweile seit gut 20 Jahren in einer Dachgeschosswohnung mitten in der Stadt. Bewegt hat sie sich in der Zeit nicht viel, unzufrieden wirkt sie bis heute auch nicht. Niemand hat damit gerechnet, dass sie so lange leben würde. Zusammen mit Oma saß sie oft 23


am Fenster im sechsten Stock und schaute auf die StraĂ&#x;e hinunter. Dabei gab niemand ein Laut von sich. Der Bruder hatte schnell das Interesse verloren. ,So vorwurfsvoll, doch du selbst bist kein bisschen besser‘, gestand sie sich ein, als sie wieder einmal die schweigende Szenerie vom Sofa aus beobachtete. Vermutlich wusste Oma schon von Anfang an, dass es irgendwann genau so kommen musste. Die Kinder sind ausgezogen, dem Studium 24


wegen, andere Interessen haben sich entwickelt. Vermutlich wusste die Katze schon von Anfang an wie es kommen musste. Schlechtes Gewissen kam auf, als Oma nach dem Nassfutter für die Katze fragte, und sie nicht einmal mehr wusste wo es zu finden war. Zugeben wollte sie das nicht, also machte sie sich auf die Suche. Sie fand kein Nassfutter, jedoch eine uralte Tüte Heu für Kaninchen, schonend 25


verarbeitet, reich an gesunden Nährstoffen, Vitaminen und Ballaststoffen. Und plötzlich waren Erinnerungen wieder da, die von ihr scheinbar komplett verdrängt wurden. Es gab vor der Katze das Kaninchen, vor dem Kaninchen einen Wellensittich und davor das Aquarium mit Fischen, die sich so schnell vermehren, das man nicht weiß wohin damit. Das schlechte Gewissen wuchs rasant und bewegte 26


sich zügig wieder zurück ins Wohnzimmer. Oma hatte das Futter längst gefunden und sagt nichts, als sie sich leicht außer Atem wieder auf das Sofa setzte. Genau so musste es in ihrer Kindheit abgelaufen sein.

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Sie wollte fragen, ob sie gehen soll. Eigentlich spĂźrt man das und eigentlich ist das klar, wenn es soweit ist. Bisher kam kein Moment. Eindeutig ist nichts. Alles ist unklar, und sie fĂźrchtet auch, es wird lange so bleiben. 31


Und wenn sie geht, weiß sie nicht wann. Vielleicht hat irgendwer die Entscheidung schon getroffen. Es könnte sein, es ist niemals zu spät. Dahin können sie immer wieder zurückkehren, auch wenn sie alles verkaufen wird.

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Frühstück ist im Endpreis inbegriffen Minibar / Dusche / Safe / TV / Telefon / Klimaanlage / Haartrockner / Weckservice / Wecker / Radio / Kühlschrank / Schreibtisch / Kostenlose Pflegeprodukte / Ventilator / WC / Video / 37


Badewanne / Dusche / Teppichboden / Laptop-Safe / Safe / Eigenes Badezimmer / Extralange Betten / Heizung / Satelliten-TV / Kabelkanäle / Flachbild-TV / Aussicht / Schrank / Kommode / Nachttisch / Kleiderbügel / Regal / Bücher / Zeitschriften / Magazine / Teppich / BadTeppich / Handseife / Seife / Bidet / Gartenblick / Bergblick / Stadtblick / Straßenblick /Meerblick / Seeblick / Handtücher / Bettwäsche / Bettwäsche zum wechseln / 38


Gartenmöbel / Gartentisch / Gartenstuhl / Topfpflanzen / Palme / Blumenbeet / Obstbäume / Steingarten / Hecke / Brunnen / Pool / Poollandschaft / Liegestühle / Reservierte Liegestühle / Gepflegeter Rasen /Poolhandtücher / Poolreinigungsservice / Poolspielzeuge / beheizter Pool / Sauna / Saunalandschaft / Regelmäßige Aufgüsse / Bademäntel / Obere Stockwerke mit Fahrstuhl erreichbar / Treppenhaus / Kleiderständer / Bügelservice / Bügelbrett 39


/ Bßgeleisen / Klappbett / Ausklappbares Sofa / Sofa / Stuhl / Tisch / Schreibtisch / Schreibtischlampe / Bleistift / Kugelschreiber / Lineal / Bleistiftspitzer / Radiergummi / Zirkel / Marker / Papier / Liniertes Papier / Kariertes Papier / Briefblock / Postkarten / Kartenservice / Briefmarken / Briefumschläge / Karten / Umgebungskarten / Wanderkarten / Wanderwege / Freizeitgestaltung / Angebote in der Umgebung / Restaurantempfehlungen / Seeshut40


tleservice / Wäscheständer / Toilettenpapier / Höheres WC / Taschentücher / Feuerzeug / Kerze / Tagesdecke / Bürste / Service / Spiegel / Spiegel mit Licht / Kosmetikspiegel / Klospülung / Klobürste / Notrufleine im Bad / Boiler / Duschhocker / Duschmatte / Flasche Wasser / Abfalleimer / Mülltüten / Kinderbetten / Babybetten / Shampoo / Rasierer / Einwegrasierer / Haarspülung / Duschgel / Duschhaube / Haargummis / Wattestäbchen / Steckdose in 41


Bettnähe / Adapter / Kissen ohne Federn / Hypoallergenes Kissen / Kissen mit Federn / Erreichbar mit dem Aufzug / Blick auf den Innenhof / Blick auf die ruhige Straße / Balkon mit Blick auf den Innenhof / Balkon mit Gartenblick / Balkon mit Bergblick / Balkon mit Stadtblick / Balkon mit Straßenblick / Balkon mit Meerblick / Balkon mit Seeblick / Vorhänge / Nachttischlampen / Rauchmelder / Aschenbecher / Mehrere Ersatzschlüssel / 42


Rezeption / 24h besetzte Rezeption / Portier / Parkservice / Zutritt mit SchlĂźssel

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Kaum zu glauben, dass es erst zwei Wochen her ist. Wieder eine Situation mit getrennten Räumen auf getrennten Balkonen, ganz so wie sie es mag. Er mag das nicht. Vor zwei Wochen, schien die Sonne und die Blumen im 47


linken Raum haben so schön geblüht, dass sie meinte, lass uns Tee trinken hier am Nachmittag, wenn es wieder beginnt mit der Zeit der ewigen Parkplatzsuche im Stadtteil. Spannend war, wie es an diesem Tag ausartete. Fast schon Krieg. Krieg des Feierabends, lautlos, jedoch mit viel Licht und Vorfreude. Wetter macht abhängig. Und beeinflusst auch Situationen. Mal kann es böse enden, mit Aggresionen. Im Fall wie 48


diesem nie. Licht und Wärme war auch auf dem linken Balkon. Pfefferminztee, lauwarm, mit viel Zucker. So wie er es mag. Die Tochter hatte am morgen Kekse vorbeigebracht, gebacken von der Enkelin. Genauer betrachtet waren manche Kekse mit kleinen silbernen Kugeln verziert worden. Hoffentlich gut verträglich. Sein Magen war so empfindlich geworden. Es war nicht das Gefühl, auf der Straße zu sitzen. Dafür 49


lebten sie zu weit oben. Der Straßenlärm war leise im Hintergrund. Als würden sie in einer Blase sitzen. Alles war weit weg unten. Deshalb waren sie alleine auf dem Balkon. Sie öffnete den Mund, als wollte sie etwas sagen. Aufmerksam schauten sie sich gegenseitig an. Pause, Stille, ein Moment der ewig schien. Er schaut wieder auf die Straße. Lass uns doch wegfahren, 50


meinte sie dann. Für ein paar Tage, es muss gar nicht weit sein. Überrascht schaute er auf seinen Tee. Wir haben das nie gemacht, warum jetzt, war seine Antwort. Lange Pause. Es ist mir zu wenig, das alles hier. Ich schaue auf die Dinge ohne dabei zu sein. Und möchte doch so gerne teilnehmen. Sie dachte das, das weiß er. Nun stand er auf, und kochte eine zweite Tasse Tee. Möchtest du auch? 51


Ja, das möchte sie. Mit zwei Würfel Zucker. Ich setze auch eben schnell die Schildkröten in die Sonne, das mögen sie. Damit war sie einverstanden. Zehn Minuten später setzte er sich. Der Straßenlärm war leise im Hintergrund. Als würden sie in einer Blase sitzen. Alles war weit weg unten. Deshalb waren sie alleine auf dem Balkon. 52


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‚Kleine Nachtmusik‘ hieß das Stück, was damals im Sommer mit der Musikgruppe des Waldgymnasiums einstudiert werden musste und was soeben in einem Bericht im Fernsehen im Hintergrund lief. Erinnerungen an einem typischen Sonntagnachmittag in seinem momentanen 57


Leben als Student. Was wohl die Menschen machten mit denen er viel Zeit im erlernen von Instrumenten verbracht hatte, fragte er sich. Lange nichts mehr von irgendwem gehört, als würde es das alte Leben nicht mehr geben. Als hätten die früheren Zeiten nichts bedeutet. Als hätte nichts eine großartige Bedeutung. Blickt man so später auf sein Leben zurück, fragte er sich. Ist das der Schlüssel zu allem, die Be58


deutungslosigkeit, fragte er sich. Bedeutunglos heiĂ&#x;t verantwortungslos. Vielleicht ein befreiender Zustand. Jetzt waren in seinem kleinen Zimmer in einer Wohngemeinschaft keine Instrumente zu finden. Was sollte er auch mit einer Trompete hier anfangen, das half seiner eher schlechten Situation an der Universität nicht. Zum GlĂźck war Sonntag, und nicht Montag. 59


Eine halbe Flasche Wein war noch 端brig von gestern. Perfekt f端r einen Sonntag. Die Nachrichten kamen, das war das Stichwort um kurz noch Nudelwasser aufzusetzen. Die Eltern riefen an, er antwortete nicht. Daf端r war die Zeit zu knapp. P端nktlich zum Tatort lag er im Bett mit seinem Abendessen.

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Fenster BismarckstraĂ&#x;e 77


Fenster BismarckstraĂ&#x;e 77 2019, Auflage: 10 Text & Gestaltung: Tamara Wirth



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