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Himmel und Hölle
Himmel und Hölle
HIMMEL UND HÖLLE Thomas Kaiser
In mythischer Zeit den Göttern abgerungen, spiegelte die Kunst der indischen Bilderzähler stets das, was die Gesellschaften ihrer Zeit in ihrem tiefsten Kern beschäftigte: die grossen Fragen nach Leben, Liebe und Tod. Die Künstler trugen die Erzählun-gen der grossen, indischen Epen durch die Jahrhunderte, die verschlungenen Berichte von Intrigen und Schlach ten, von Göttern, Dämonen und menschlichen Helden, von Freundschaft, Liebe und Treue, und verbreiteten sie so über weite Teile Asiens. Mehr als alle anderen Themen jedoch bestimmte eines die Bildrollenkunst und ihre Verbreitung von ihren frühsten Anfängen an: Das Schicksal der menschlichen Seele nach dem Tod.
Totat facite net ipsamus, qui dolor maxim inulpa consectis dolum ea nonsecatem harum faccus, volupta sinctec tioreperum eos in et lab ium es ditassin exerepe rectendici officta none earum dolorum es simus, aut aut officime dipit dolore,
Die Legende vom ersten Bild Im Citralakshana, einem ursprünglich aus Indien stammenden, doch nur in seiner tibetischen Fassung erhaltenen Regelbuch der Malkunst, wird erzählt, wie die Malerei auf die Menschen kam durch einen Kampf, buchstäblich, auf Leben und Tod: In einer fernen Zeit, als die Menschen erst im reifen Alter von hunderttausend Jahren zu sterben pflegten und kein Kranksein kannten, lebte ein weiser König, welcher durch Askese und Kontemplation zu solcher Kraft gekommen war, dass ihm selbst die Götter nicht gewachsen waren. Zu ihm kam eines Tages ein verzweifelter Brahmane, der den frühzeitigen Tod seines einzigen Sohnes beweinte und vom König verlangte, diesen wieder lebendig zu machen, anderenfalls er selbst sein Leben „wie einen Grashalm“ 1 wegwerfen wollte. Der
König rief Yama zu sich, den König der Unterwelt und Herrscher über die Toten, und verlangte von ihm das Leben des Brahmanensohnes zurück. Yama jedoch erklärte, nicht er liesse die Menschen sterben, und es liege deshalb nicht in seiner Macht, sie wieder lebendig zu machen. Der König beharrte auf seiner Forderung, und aus dem Gespräch wurde Streit und aus dem Streit ein Kampf, doch der König der Menschen besiegte den König der Toten. Schliesslich erschien Brahma, der Schöpfer des Universums, um den Streit zu schlichten. Er erklärte, Yama trüge keine Schuld am Tod des Jungen, dieser selbst habe ihn zu verantworten mit seinen Taten in früheren Leben, doch als Zeichen seiner Huld erklärte er sich bereit, dem alten Brahmanen seinen Sohn wieder zu geben, und er sprach zum König: „Entsprechend seiner Gestalt und mittels der Farben sollst du den Sohn des Brahmanen in einer ihm ähnlichen Weise trefflich malen; alsdann soll dein Heil gewiss sein.“ Der König malte also den Jungen, und „Brahma liess ihn als eben solchen (wie er gemalt worden war) wieder auferstehen und schenkte ihn dem Brahmanen als einen Lebenden“.2 Berthold Laufer, der deutsche Übersetzer des Textes, fügt an dieser Stelle eine Fussnote ein: „Das Bild wurde beseelt und als etwas Lebendiges empfunden; es war der Stellvertreter des Toten und schloss seine Seele ein.“ Folgt man dieser Interpretation so drängt sich ein Vergleich mit den ostindischen jadopatia auf, welche durch Einsetzen der Pupille in die Zeichnung eines Verstorbenen dessen Seele im Jenseits das Augenlicht verleihen und ihr so ermöglichen, den Weg ihrer weiteren Bestim-
mung zu finden, vielleicht zur Wiedergeburt in dieser Welt. Damit tun sie nichts anderes als der König in dieser Geschichte.3 Zu diesem sagte nun Brahma: „Da ich es gewährte, hast du den Sohn des Brahmanen gemalt und in dieser Welt der Lebenden das erste Bild hervorgebracht.“ 4 Der König bat ihn, ihm die Regeln der Malerei, die richtigen Proportionen der Dinge beizubringen, doch Brahma verwies ihn an Vishvakarma, den Ahnherrn der Künstler.5 Während das erste Kapitel des Citralakshana den Beginn der Malerei bei den Menschen schildert, beschreibt das zweite aus der Warte Vishvakarmas und in religiösphilosophischen Begriffen ihren mythischen Ursprung (bevor dann im dritten und letzten Kapitel das Regelwerk selbst folgt): Aus dem kosmischen Weltenei zu Anbeginn aller Zeit entstand Brahma, und aus Brahmas Gedanken entstanden die materiellen und immateriellen Formen von Natur und Kultur: die Veden, die Mantras und die Namen der Gottheiten. Dieses Wissen teilte sich der Schöpfung mit – den „Wesen, Königen und Göttern“ – und erzeugte bei ihnen ein Gefühl noch unbestimmter religiöser Hingabe, aus welchem sich nach und nach, Glied um Glied, die ikonografische Gestalt der Hauptgottheiten mit ihren Attributen herausbildete. Derart ausgeformt und vollendet malten sich die Götter nun selbst, und als sie ihre Selbstbildnisse betrachteten, gingen ihnen vor Freude die Augen über. Diese Bilder waren die Vorbilder der späteren, von den Menschen angefertigten und verehrten Götterbilder. Als Medium der Verehrung ent-
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Himmel und Hölle
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HIMMEL UND HÖLLE Thomas Kaiser
In mythischer Zeit den Göttern abgerungen, spiegelte die Kunst der indischen Bilderzähler stets das, was die Gesellschaften ihrer Zeit in ihrem tiefsten Kern beschäftigte: die grossen Fragen nach Leben, Liebe und Tod. Die Künstler trugen die Erzählun-gen der grossen, indischen Epen durch die Jahrhunderte, die verschlungenen Berichte von Intrigen und Schlach ten, von Göttern, Dämonen und menschlichen Helden, von Freundschaft, Liebe und Treue, und verbreiteten sie so über weite Teile Asiens. Mehr als alle anderen Themen jedoch bestimmte eines die Bildrollenkunst und ihre Verbreitung von ihren frühsten Anfängen an: Das Schicksal der menschlichen Seele nach dem Tod.
Totat facite net ipsamus, qui dolor maxim inulpa consectis dolum ea nonsecatem harum faccus, volupta sinctec tioreperum eos in et lab ium es ditassin exerepe rectendici officta none earum dolorum es simus, aut aut officime dipit dolore,
Die Legende vom ersten Bild Im Citralakshana, einem ursprünglich aus Indien stammenden, doch nur in seiner tibetischen Fassung erhaltenen Regelbuch der Malkunst, wird erzählt, wie die Malerei auf die Menschen kam durch einen Kampf, buchstäblich, auf Leben und Tod: In einer fernen Zeit, als die Menschen erst im reifen Alter von hunderttausend Jahren zu sterben pflegten und kein Kranksein kannten, lebte ein weiser König, welcher durch Askese und Kontemplation zu solcher Kraft gekommen war, dass ihm selbst die Götter nicht gewachsen waren. Zu ihm kam eines Tages ein verzweifelter Brahmane, der den frühzeitigen Tod seines einzigen Sohnes beweinte und vom König verlangte, diesen wieder lebendig zu machen, anderenfalls er selbst sein Leben „wie einen Grashalm“ 1 wegwerfen wollte. Der
König rief Yama zu sich, den König der Unterwelt und Herrscher über die Toten, und verlangte von ihm das Leben des Brahmanensohnes zurück. Yama jedoch erklärte, nicht er liesse die Menschen sterben, und es liege deshalb nicht in seiner Macht, sie wieder lebendig zu machen. Der König beharrte auf seiner Forderung, und aus dem Gespräch wurde Streit und aus dem Streit ein Kampf, doch der König der Menschen besiegte den König der Toten. Schliesslich erschien Brahma, der Schöpfer des Universums, um den Streit zu schlichten. Er erklärte, Yama trüge keine Schuld am Tod des Jungen, dieser selbst habe ihn zu verantworten mit seinen Taten in früheren Leben, doch als Zeichen seiner Huld erklärte er sich bereit, dem alten Brahmanen seinen Sohn wieder zu geben, und er sprach zum König: „Entsprechend seiner Gestalt und mittels der Farben sollst du den Sohn des Brahmanen in einer ihm ähnlichen Weise trefflich malen; alsdann soll dein Heil gewiss sein.“ Der König malte also den Jungen, und „Brahma liess ihn als eben solchen (wie er gemalt worden war) wieder auferstehen und schenkte ihn dem Brahmanen als einen Lebenden“.2 Berthold Laufer, der deutsche Übersetzer des Textes, fügt an dieser Stelle eine Fussnote ein: „Das Bild wurde beseelt und als etwas Lebendiges empfunden; es war der Stellvertreter des Toten und schloss seine Seele ein.“ Folgt man dieser Interpretation so drängt sich ein Vergleich mit den ostindischen jadopatia auf, welche durch Einsetzen der Pupille in die Zeichnung eines Verstorbenen dessen Seele im Jenseits das Augenlicht verleihen und ihr so ermöglichen, den Weg ihrer weiteren Bestim-
mung zu finden, vielleicht zur Wiedergeburt in dieser Welt. Damit tun sie nichts anderes als der König in dieser Geschichte.3 Zu diesem sagte nun Brahma: „Da ich es gewährte, hast du den Sohn des Brahmanen gemalt und in dieser Welt der Lebenden das erste Bild hervorgebracht.“ 4 Der König bat ihn, ihm die Regeln der Malerei, die richtigen Proportionen der Dinge beizubringen, doch Brahma verwies ihn an Vishvakarma, den Ahnherrn der Künstler.5 Während das erste Kapitel des Citralakshana den Beginn der Malerei bei den Menschen schildert, beschreibt das zweite aus der Warte Vishvakarmas und in religiösphilosophischen Begriffen ihren mythischen Ursprung (bevor dann im dritten und letzten Kapitel das Regelwerk selbst folgt): Aus dem kosmischen Weltenei zu Anbeginn aller Zeit entstand Brahma, und aus Brahmas Gedanken entstanden die materiellen und immateriellen Formen von Natur und Kultur: die Veden, die Mantras und die Namen der Gottheiten. Dieses Wissen teilte sich der Schöpfung mit – den „Wesen, Königen und Göttern“ – und erzeugte bei ihnen ein Gefühl noch unbestimmter religiöser Hingabe, aus welchem sich nach und nach, Glied um Glied, die ikonografische Gestalt der Hauptgottheiten mit ihren Attributen herausbildete. Derart ausgeformt und vollendet malten sich die Götter nun selbst, und als sie ihre Selbstbildnisse betrachteten, gingen ihnen vor Freude die Augen über. Diese Bilder waren die Vorbilder der späteren, von den Menschen angefertigten und verehrten Götterbilder. Als Medium der Verehrung ent-
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Bildrollen
Bildrollen
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Todesthema
Todesthema
Über cokhodan 1
Kali und Jom 1 rezitator: Kinkar Chitrakar
Du willst mir nichts geben? Also muss ich es aus dir herausholen. Und das geht nur, wenn ich dir Angst mache. Also: „Glaubst du eigentlich, ich sitze hier zum Spass? Hast du überhaupt eine Ahnung, wie dein Vater ums Leben kam?! Schau her!“ Ich zeige ihm die Zeichnung von einem Geist. „Schau her – weisst du, was das ist? Dieser Geist hat deinen Vater umgebracht!“ Und ich sage: „Wie viele Leute soll er noch töten, dieser Geist? Denke du darüber nach. Ich steh jetzt auf, ich gehe jetzt. Und du – kommst du klar? Es werden weitere Leute sterben in deinem Haus! Du wirst weitere Verluste erleiden!“ [...] – „In Ordnung... was war es nochmal, was er dir versprach?“2 Wenn ich ein Ding verlange, bringst du mir drei. Weil du das Geisterbild gesehen hast.
(Kinkar spricht:) „Ist jemand zu Hause, Mutter?” – „Oh, thakur – nur wir sind hier. Bitte nimm Platz.” – „Ich werde in deinem Haus die Kali-Rolle zeigen. Ruf die Kinder, bring sie alle her!” – „Thakur, was willst du dafür?” – „Ein paila [900 Gramm] Reis und fünf Rupien.” – „In Ordnung; fang an!” (Er singt:) Heil dir, Mutter Kali Durga – nach Belieben änderst du deine Gestalt! Kali lebte im Schatzhaus der Unterwelt; ein Strom von Blut fliesst über ihr Gesicht. Wenn sie ihren Zauber entfesselt aus den Winkeln ihrer Augen, umgeben sie Hautleiden und Pocken. Heil dir, Mutter Nobi Durga – oh Kali – du Grosse! Für jenen, den der Fluch aus Kalis schmalen Augen trifft, gibt es auf der ganzen Welt keine Rettung. Schwarzer, schwarzer Höllenkönig2 – er ist von fünferlei Farbe. In der Finsternis wird über Lügen gerichtet; es hilft kein Glaube. Einige fesselt er, einige zerrt er, einige führt er fort. Er packt dich beim Haar und ertränkt dich in der Hölle; du schaffst es noch nicht einmal, deinen Kopf zu heben – seine Boten prügeln auf dich ein. Jene, die geblendet waren von Stolz und Reichtum – mit Zangen reissen sie ihnen die Augen aus.3 Jene, die barmherzig waren und Almosen gaben, Nahrung und Kleidung – auf einem mit Blumen geschmückten Wagen werden sie nach Vaikuntha gebracht.
1 Tonarchiv VMZ: <jadopatua_19980617_amadubi_01>; Aufnahme vom 17. Juni 1998. Antwort des jadopatia S.C. Chitrakar auf meine Frage, wie er vorgeht, wenn ihm in einem Haus das von ihm für cokhodan verlangte Honorar verweigert würde. 2 Der jadopatia hatte dem Sohn des Verstorbenen zuvor gesagt, der Tote habe ihm im Traum für die Durchführung von cokhodan bestimmte Dinge des Haushalts versprochen.
Künstler: Dukhushyam Chitrakar Dorf: Naya Thema: Der Künstler illustriert seine Lebensgeschichte. Er wurde als Kind einer patua-Familie im KalighatViertel Kalkuttas geboren. Als sein Vater starb zog seine Mutter zurück ins Dorf ihrer Eltern, wo der Künstler von seinem Grossvater das Malen und Singen von Bildrollen lernte. Dukhushyam wird von den jüngeren Künstlerinnen und Künstlern Nayas als guru geachtet; sein Repertoire umfasst an die hundert Bildrollen-Lieder. (Siehe auch S. xxx und zzz und Abb. 23, 28, 125–130) 37 × 270 cm
(Er spricht:) „Wo bist du zu Hause, thakur?” – „Mein Zuhause liegt sehr weit von hier!” – „Trotzdem, verrate es uns, thakur!” – „Mein Zuhause ist Potka, Polizeidienststelle und Postamt Potka, Polizeidienststelle Potka; ich heisse Kinkar Chitrakar [und stamme aus dem] Singbhum-Distrikt, Singbhum-Distrikt, SingbhumDistrikt!”
1 Kinkar Chitrakar macht hier eine kleine Aufführung: er gibt vor, in ein Haus einzutreten und die Hausherrin zu bitten, eine Bildrolle aufführen zu dürfen. Anschliessend singt er das kurze Stück über die schwarze Göttin Kali und Jom (Yama), den Herrscher im Totenreich. <19990307_jadopatua _ghatsila_01>; Aufnahme vom 7. März 1999 in Ghatsila, Jharkhand. 2 Jom Raja = Yama. 3 Heimat des Gottes Vishnu – ein Paradies.
künstlerin: Manimala Chitrakar dorf: Naya thema: Variation über den Schöpfungsmythos der Santal 37 × 270 cm
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Über cokhodan 1
Kali und Jom 1 rezitator: Kinkar Chitrakar
Du willst mir nichts geben? Also muss ich es aus dir herausholen. Und das geht nur, wenn ich dir Angst mache. Also: „Glaubst du eigentlich, ich sitze hier zum Spass? Hast du überhaupt eine Ahnung, wie dein Vater ums Leben kam?! Schau her!“ Ich zeige ihm die Zeichnung von einem Geist. „Schau her – weisst du, was das ist? Dieser Geist hat deinen Vater umgebracht!“ Und ich sage: „Wie viele Leute soll er noch töten, dieser Geist? Denke du darüber nach. Ich steh jetzt auf, ich gehe jetzt. Und du – kommst du klar? Es werden weitere Leute sterben in deinem Haus! Du wirst weitere Verluste erleiden!“ [...] – „In Ordnung... was war es nochmal, was er dir versprach?“2 Wenn ich ein Ding verlange, bringst du mir drei. Weil du das Geisterbild gesehen hast.
(Kinkar spricht:) „Ist jemand zu Hause, Mutter?” – „Oh, thakur – nur wir sind hier. Bitte nimm Platz.” – „Ich werde in deinem Haus die Kali-Rolle zeigen. Ruf die Kinder, bring sie alle her!” – „Thakur, was willst du dafür?” – „Ein paila [900 Gramm] Reis und fünf Rupien.” – „In Ordnung; fang an!” (Er singt:) Heil dir, Mutter Kali Durga – nach Belieben änderst du deine Gestalt! Kali lebte im Schatzhaus der Unterwelt; ein Strom von Blut fliesst über ihr Gesicht. Wenn sie ihren Zauber entfesselt aus den Winkeln ihrer Augen, umgeben sie Hautleiden und Pocken. Heil dir, Mutter Nobi Durga – oh Kali – du Grosse! Für jenen, den der Fluch aus Kalis schmalen Augen trifft, gibt es auf der ganzen Welt keine Rettung. Schwarzer, schwarzer Höllenkönig2 – er ist von fünferlei Farbe. In der Finsternis wird über Lügen gerichtet; es hilft kein Glaube. Einige fesselt er, einige zerrt er, einige führt er fort. Er packt dich beim Haar und ertränkt dich in der Hölle; du schaffst es noch nicht einmal, deinen Kopf zu heben – seine Boten prügeln auf dich ein. Jene, die geblendet waren von Stolz und Reichtum – mit Zangen reissen sie ihnen die Augen aus.3 Jene, die barmherzig waren und Almosen gaben, Nahrung und Kleidung – auf einem mit Blumen geschmückten Wagen werden sie nach Vaikuntha gebracht.
1 Tonarchiv VMZ: <jadopatua_19980617_amadubi_01>; Aufnahme vom 17. Juni 1998. Antwort des jadopatia S.C. Chitrakar auf meine Frage, wie er vorgeht, wenn ihm in einem Haus das von ihm für cokhodan verlangte Honorar verweigert würde. 2 Der jadopatia hatte dem Sohn des Verstorbenen zuvor gesagt, der Tote habe ihm im Traum für die Durchführung von cokhodan bestimmte Dinge des Haushalts versprochen.
Künstler: Dukhushyam Chitrakar Dorf: Naya Thema: Der Künstler illustriert seine Lebensgeschichte. Er wurde als Kind einer patua-Familie im KalighatViertel Kalkuttas geboren. Als sein Vater starb zog seine Mutter zurück ins Dorf ihrer Eltern, wo der Künstler von seinem Grossvater das Malen und Singen von Bildrollen lernte. Dukhushyam wird von den jüngeren Künstlerinnen und Künstlern Nayas als guru geachtet; sein Repertoire umfasst an die hundert Bildrollen-Lieder. (Siehe auch S. xxx und zzz und Abb. 23, 28, 125–130) 37 × 270 cm
(Er spricht:) „Wo bist du zu Hause, thakur?” – „Mein Zuhause liegt sehr weit von hier!” – „Trotzdem, verrate es uns, thakur!” – „Mein Zuhause ist Potka, Polizeidienststelle und Postamt Potka, Polizeidienststelle Potka; ich heisse Kinkar Chitrakar [und stamme aus dem] Singbhum-Distrikt, Singbhum-Distrikt, SingbhumDistrikt!”
1 Kinkar Chitrakar macht hier eine kleine Aufführung: er gibt vor, in ein Haus einzutreten und die Hausherrin zu bitten, eine Bildrolle aufführen zu dürfen. Anschliessend singt er das kurze Stück über die schwarze Göttin Kali und Jom (Yama), den Herrscher im Totenreich. <19990307_jadopatua _ghatsila_01>; Aufnahme vom 7. März 1999 in Ghatsila, Jharkhand. 2 Jom Raja = Yama. 3 Heimat des Gottes Vishnu – ein Paradies.
künstlerin: Manimala Chitrakar dorf: Naya thema: Variation über den Schöpfungsmythos der Santal 37 × 270 cm
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Todesthema
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KRISHNALILA1
Sängerin: Harmoni Chitrakar
Krishna sagte „Radha Radha“, er spielte die Flöte und sagte „haribol“!2 Krishna spielte seine Flöte in den Wäldern. Krishna sagte „Radha Radha“, er spielte die Flöte und sagte „haribol“! Alle gopi und sakhi3 begaben sich zum Yamuna-Fluss in ihren schönsten Gewändern; beim Yamuna-ghat4 machten sie sich zum Bade bereit. Er nahm ihre Kleider und lief davon. „Wir können das Wasser nicht verlassen!” Die Flöte spielte „Radha! Radha!” Mit Joghurt und Milch gingen die sakhi nach Mathura: 5 „Um die sakhi überzufahren, nehme ich von jeder einen anna: 6 doch um Radha überzuführen, nehme ich ihren goldenen Ohrring!” 7 Als sie die Mitte des Flusses erreichten, begann er das Boot zu schaukeln.8 Bei den Lotosblüten vereinte sich Krishna [mit Radha]; für jede Radha erschien ein zum ras-Tanz9 gewandeter Krishna. Dort in den heiligen Schriften10 findet ihr die Beschreibung von rasalila. Er kämpfte mit dem Dämon; der Kampf von Onkel und Neffe führte zum Tod.11 Wenn es darum geht, die [Konsequenzen von] Handlungen zu erläutern: Manche tun Gutes und geben Spenden,12 andere stehlen; im Kampf um eine Schale mit Essen zerschlagen sie sie mit einer Schaufel.13 Joms Tante mütterlicherseits und Joms Tante väterlicherseits schrieben in den heiligen Schriften: Jeder wird seinem Glück [d.h. seinen Handlungen] entsprechend bestraft – haribol Radha Krishna Radha!
Tonarchiv VMZ; <20000206_jadopatia_ loadih_06>; Aufnahme vom 6. Februar 2000 in Loadih. 2 Radha ist die erste unter Krishnas Gefährtinnen; zur Bedeutung von haribol siehe S. xxx, Fussnote xxx. 3 Gopi: die Krishna ergebenen Hirtinnen; die sakhi waren die ihm am nächsten stehenden gopi; unter ihnen war Radha die erste. 4 Ghat: Flusstreppen, Badeplatz. 5 Krishnas Geburtsort. 6 Eine alte indische Münze von geringem Wert. 7 Hier spricht Krishna als Fährmann, der die Mädchen über den Yamuna-Fluss fahren soll. 8 Krishnas „Tanz der göttlichen Liebe“ mit den Hirtinnen; für jede von ihnen manifestierte er sich als ihr eigener Partner im Liebesreigen.
künstlerin: Manimala Chitrakar dorf: Naya thema: Variation über den Schöpfungsmythos der Santal 37 × 270 cm
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künstlerin: Manimala Chitrakar dorf: Naya thema: Variation über den Schöpfungsmythos der Santal 37 × 270 cm
9 Shastra: heiliges Wissen, heilige Schriften. 10 Die Sängerin spielt hier auf den Kampf Krishnas mit seinem bösartigen Onkel Kansa an, der seine Eltern eingekerkert hatte. 11 Sie verwendet das Wort dan; siehe S. xxx. 12 D.h. durch die Sünde des Diebstahls zerstören sie ihr künftiges Schicksal und verlieren somit alles. 13 Siehe S. xxx, Fussnote xxx.
Künstler: Dukhushyam Chitrakar Dorf: Naya Thema: Der Künstler illustriert seine Lebensgeschichte. Er wurde als Kind einer patua-Familie im KalighatViertel Kalkuttas geboren. Als sein Vater starb zog seine Mutter zurück ins Dorf ihrer Eltern, wo der Künstler von seinem Grossvater das Malen und Singen von Bildrollen lernte. Dukhushyam wird von den jüngeren Künstlerinnen und Künstlern Nayas als guru geachtet; sein Repertoire umfasst an die hundert Bildrollen-Lieder. (Siehe auch S. xxx und zzz und Abb. 23, 28, 125–130) 37 × 270 cm
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Sängerin: Harmoni Chitrakar
Krishna sagte „Radha Radha“, er spielte die Flöte und sagte „haribol“!2 Krishna spielte seine Flöte in den Wäldern. Krishna sagte „Radha Radha“, er spielte die Flöte und sagte „haribol“! Alle gopi und sakhi3 begaben sich zum Yamuna-Fluss in ihren schönsten Gewändern; beim Yamuna-ghat4 machten sie sich zum Bade bereit. Er nahm ihre Kleider und lief davon. „Wir können das Wasser nicht verlassen!” Die Flöte spielte „Radha! Radha!” Mit Joghurt und Milch gingen die sakhi nach Mathura: 5 „Um die sakhi überzufahren, nehme ich von jeder einen anna: 6 doch um Radha überzuführen, nehme ich ihren goldenen Ohrring!” 7 Als sie die Mitte des Flusses erreichten, begann er das Boot zu schaukeln.8 Bei den Lotosblüten vereinte sich Krishna [mit Radha]; für jede Radha erschien ein zum ras-Tanz9 gewandeter Krishna. Dort in den heiligen Schriften10 findet ihr die Beschreibung von rasalila. Er kämpfte mit dem Dämon; der Kampf von Onkel und Neffe führte zum Tod.11 Wenn es darum geht, die [Konsequenzen von] Handlungen zu erläutern: Manche tun Gutes und geben Spenden,12 andere stehlen; im Kampf um eine Schale mit Essen zerschlagen sie sie mit einer Schaufel.13 Joms Tante mütterlicherseits und Joms Tante väterlicherseits schrieben in den heiligen Schriften: Jeder wird seinem Glück [d.h. seinen Handlungen] entsprechend bestraft – haribol Radha Krishna Radha!
Tonarchiv VMZ; <20000206_jadopatia_ loadih_06>; Aufnahme vom 6. Februar 2000 in Loadih. 2 Radha ist die erste unter Krishnas Gefährtinnen; zur Bedeutung von haribol siehe S. xxx, Fussnote xxx. 3 Gopi: die Krishna ergebenen Hirtinnen; die sakhi waren die ihm am nächsten stehenden gopi; unter ihnen war Radha die erste. 4 Ghat: Flusstreppen, Badeplatz. 5 Krishnas Geburtsort. 6 Eine alte indische Münze von geringem Wert. 7 Hier spricht Krishna als Fährmann, der die Mädchen über den Yamuna-Fluss fahren soll. 8 Krishnas „Tanz der göttlichen Liebe“ mit den Hirtinnen; für jede von ihnen manifestierte er sich als ihr eigener Partner im Liebesreigen.
künstlerin: Manimala Chitrakar dorf: Naya thema: Variation über den Schöpfungsmythos der Santal 37 × 270 cm
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künstlerin: Manimala Chitrakar dorf: Naya thema: Variation über den Schöpfungsmythos der Santal 37 × 270 cm
9 Shastra: heiliges Wissen, heilige Schriften. 10 Die Sängerin spielt hier auf den Kampf Krishnas mit seinem bösartigen Onkel Kansa an, der seine Eltern eingekerkert hatte. 11 Sie verwendet das Wort dan; siehe S. xxx. 12 D.h. durch die Sünde des Diebstahls zerstören sie ihr künftiges Schicksal und verlieren somit alles. 13 Siehe S. xxx, Fussnote xxx.
Künstler: Dukhushyam Chitrakar Dorf: Naya Thema: Der Künstler illustriert seine Lebensgeschichte. Er wurde als Kind einer patua-Familie im KalighatViertel Kalkuttas geboren. Als sein Vater starb zog seine Mutter zurück ins Dorf ihrer Eltern, wo der Künstler von seinem Grossvater das Malen und Singen von Bildrollen lernte. Dukhushyam wird von den jüngeren Künstlerinnen und Künstlern Nayas als guru geachtet; sein Repertoire umfasst an die hundert Bildrollen-Lieder. (Siehe auch S. xxx und zzz und Abb. 23, 28, 125–130) 37 × 270 cm
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Todesthema
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künstlerin: Manimala Chitrakar dorf: Naya thema: Variation über den Schöpfungsmythos der Santal 37 × 270 cm
künstlerin: Manimala Chitrakar dorf: Naya thema: Variation über den Schöpfungsmythos der Santal 37 × 270 cm
künstlerin: Manimala Chitrakar dorf: Naya thema: Variation über den Schöpfungsmythos der Santal 37 × 270 cm
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künstlerin: Manimala Chitrakar dorf: Naya thema: Variation über den Schöpfungsmythos der Santal 37 × 270 cm
künstlerin: Manimala Chitrakar dorf: Naya thema: Variation über den Schöpfungsmythos der Santal 37 × 270 cm
künstlerin: Manimala Chitrakar dorf: Naya thema: Variation über den Schöpfungsmythos der Santal 37 × 270 cm
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Schöpfungsmythos
Schöpfungsmythos
Hier [versuchten] sie einen Ochsen zu opfern; anstatt [ihn auf den] Kopf zu schlagen trafen sie [seine] Hüfte; [er entkam ins] dichte kaskom-Gras; [sein] Fett troff [von der Wunde].
[Er singt:] Komm, jadav, setz dich, jadav, setz dich! Gebt [ihm zu] essen. Jadav – er machte Vaters Bild. Jadav – zeichne jetzt Vaters Bild; lass uns [das] Bild [unserer] Mutter [sehen]. [Hier] sehen wir wie [das] Bild [unserer] Mutter [aussieht]. [Für] meinen Vater [werde ich] ihm [einen] silbernen Teller geben; [für] meine Mutter [werde ich] ihm [einen] goldenen Teller geben.
Ochsen werden zu Opferzwecken gewöhnlich durch einen Schlag mit der stumpfen Seite einer Axt auf den Kopf getötet; hier wurde der Schlag durch eine Frau am falschen Ende des Tiers ausgeführt. Damit wird begründet, dass Santal-Frauen keinen Anteil vom Kopffleisch von Opfertieren bekommen.
Auch hier stellt der Rezitator die übliche Reihenfolge der Episoden um: die nachfolgenden zwei Zeilen gehören noch zu der Geschichte vom Streit zwischen den Mardi- und Kisku-Klans; die daran anschliessenden zwei Zeilen gehören zur Begegnung von Pilcu Harams und Pilchu Burhis Kindern nach Jahren der Trennung unter dem Banyanbaum, und erst jetzt folgt die Erzählung von Pilcu Harams und Pilcu Burhis Tod und vom Besuch des ersten jadopatia, der für die Verstorbenen cokhodan durchführt und dafür Teller von Silber und Gold (!) erhält.
Damals, hier – lebte Goda Mardi. Seht [hier: sein] Haus, seht den Bräutigam; Seht [sein] Bein [verborgen unter einem] Haufen Reisstroh. Damals lebten diese hier – [hier in der] Mitte [des Bildes] – [an ihrem] Ursprungsort. Hier [in der] Mitte ist ein Kisku-Mädchen.21 Es fand ein Haar [eine] Elle [lang]. Zu jener Zeit sagte es: „Hei, wessen Haar [ist das]?” [Es war] Goda Mardis [Haar]. „Wenn es [das Haar eines] Jungen [ist machen] wir [ihn zu ihrem] Bräutigam; wenn es [das Haar eines] Mädchens [ist machen] wir [es zu ihrer] Blumenfreundin.22 Hier [wird von einem Zwischenhändler die Hochzeit] ihrer Tochter arrangiert. Hier geben sie [ihm das] unschuldige [Mädchen zur] Frau; Sie tragen sie in einer Sänfte [und] brachten sie – haribol!23 Goda Mardi hatte ein durch Elephantiasis entstelltes Bein, dessen er sich schämte und das er beim Flechten von Seilen unter Stroh verbarg. Ein Mädchen des Kisku-Klans fand eines von Goda Mardis langen Haaren im Fluss, und ohne zu wissen, wem es gehörte, erklärte es, den Besitzer des Haares heiraten zu wollen, falls es sich dabei um einen Mann handle. Erst bei der Hochzeitsfeier bemerkte das Mädchen Goda Mardis entstelltes Bein und weigerte sich, die Hochzeit fortzuführen. Wütend und beschämt schlug ihm der Bräutigam den Kopf ab. Hier kremierten sie Pilcu Haram. Hier [zeigt] er24 die Zeichnung [Pilcu Harams dessen] Sohn [und] Schwiegertochter; [es wurde zu] jener Zeit gebracht – hier – [vom] jadav guru.25 Hier hält [er das Bild] des Verstorbenen. Lohn [und] Geschenke26 [werden für] cokhodan gegeben; damals nahm [sie der] jadav guru27 [entgegen]. [Er spricht:] Ich kenne ein Lied; soll ich es singen?
[Ab hier rezitiert er wieder:] Zu jener Zeit packte Goda Mardi das Pferd dieser Kisku-Leute [beim] Schwanz, hier kniff [er es in die] Flanke. [Diese] hier lachten [und] trugen Saris, [hier] waren sie [wie ein] gekrümmter Pfluggriff.28 Die nachfolgende Episode mit einer gehäuteten und gemeinsam verzehrten Python und die an Kinderverse erinnernden Reime haben keinen nachvollziehbaren Zusammenhang mit karam binti, doch sie fehlen in kaum einer karam-Rezitation eines jadopatia: [Hier] häuteten sie eine Python. Hier rührt [ein] Knecht ohne Unterlass;29 damals – hier – trug Kariya [etwas]; hier wickelte Codra [etwas] in Tuch; Lita [bereitete] pitha;30 Karu ass [sie] auf; Suku versteckte sich; Cunu verstreute; Gora [bestrich den Boden mit] Kuhdung;31 Condo stoppte, Canda trat; Dasos Leute [sind] eifersüchtig, sie [waren die] Letzten [und] bekamen gar nichts.
künstlerin: Manimala Chitrakar dorf: Naya thema: Variation über den Schöpfungsmythos der Santal 37 × 270 cm
Damals, hier, lebte Kali [als] Klan-Göttin.32 die ältere Schwägerin krümmt [ihre] Zunge, Stützt [sich auf den Knien ab, um aufzustehen] – [es ist] fertig.33
Künstler: Dukhushyam Chitrakar Dorf: Naya Thema: Der Künstler illustriert seine Lebensgeschichte. Er wurde als Kind einer patua-Familie im KalighatViertel Kalkuttas geboren. Als sein Vater starb zog seine Mutter zurück ins Dorf ihrer Eltern, wo der Künstler von seinem Grossvater das Malen und Singen von Bildrollen lernte. Dukhushyam wird von den jüngeren Künstlerinnen und Künstlern Nayas als guru geachtet; sein Repertoire umfasst an die hundert Bildrollen-Lieder. (Siehe auch S. xxx und zzz und Abb. 23, 28, 125–130) 37 × 270 cm
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