Heft 11: Januar/ Februar 2013
ad hoc international Bildungs(um)wege Was bewegt sich in der globalen Bildungslandschaft?
Bildungschancen in Spanien (Seite 2) VIP-Interview mit Xavier Prats-MonnĂŠ (Seite 6) Analphabetismus in Deutschland (Seite 10) Internet als Bildungsinstitution (Seite 12) Schulbildung in Malawi (Seite 13) Bildung fĂźr Kinder in Syrien (Seite 18)
Impressum
ad hoc international Zeitschrift des Netzwerks für Internationale Aufgaben – Stiftungskolleg und Mercator Kolleg Alumni e. V. (nefia) und des CSP-Netzwerks für Internationale Politik und Zusammenarbeit e. V., erscheint halbjährlich. Titelbild: Das Bild zeigt eine Mauer im dichtbesiedelten Viertel „Ruzafa“ in Valencia, Spanien. Auf dem verlassenen Grundstück hinter der Mauer verspricht die Kommunalregierung schon seit zehn Jahren den Bau einer öffentlichen Schule. Foto: Dorothee Fischer Bildnachweis: Dorothee Fischer (Seiten 2–3); blmurch, http://www.flickr.com/photos/blmurch/, wikimedia commons (Seite 4 links); Leandro Kibisz (Loco085), wikimedia commons (Seite 4 mitte); Roberto Robles, http://www.flickr.com/photos/roblesr/4625415384, wikimedia commons (Seite 4 rechts); Cel·lí, wikimedia commons (Seite 5); European Commission (Seite 6); TeachFirst (Seiten 8–9); Bundesministerium für Bildung und Forschung (Seite 11); Caroline Schmidt (Seite 13); Education First (Schaubild Seite 14); Friends International (Seite 16); DAAD (Seiten 18–19); UNHCR (Seiten 20–21); UNHCR / A. Rehrl (Seite 21 rechts) Herausgeber: Netzwerk für Internationale Aufgaben – Stiftungskolleg und Mercator Kolleg Alumni e. V. Neue Promenade 6, 10178 Berlin, Telefon +49 (0)30 28873397, Fax +49 (0)30 28873398 info@nefia.org, www.nefia.org CSP-Netzwerk für internationale Politik und Zusammenarbeit e. V. c/o Haus der Demokratie und Menschenrechte, Greifswalder Straße 4, 10405 Berlin, geschaeftsstelle@csp-network.org, www.csp-network.org Redaktion: Hanna Baumann und Friedrich von Heyl (Projektleitung), Sebastian Boll, Silvia Danielak, Else Engel, Birga Friesen, Camilla Gendolla, Johanna Havemann, Mariko Higuchi, Christina Hübers, Julia Ismar, Anne Knauer, Florian Neutze, Leana Podeszfa (Fotoredaktion), Marcia C. Schenck, Philippe Seidel, Mara Skaletz, Susanne Skoruppa, Stephanie von Hayek Autorinnen und Autoren: Damian Borowski, Dorothee Fischer, Corinna Frey (Gastautorin), Alexander Haridi, Anne Keilig, Steffen Müller, Leana Podeszfa. Christian E. Rieck, Stefanie Rinaldi, Caroline Schmidt, Mira Schneiders, Stephanie von Hayek (Interview) Die Beiträge spiegeln die persönliche Meinung der Autorinnen und Autoren wider. Idee: Ines Wolfslast Gestaltung: Ungermeyer, grafische Angelegenheiten Druck: Herforder Druckcenter Danksagung: Diese Publikation wurde von der Stiftung Mercator GmbH gefördert.
Editorial
Liebe Leserinnen und Leser! Gibt es ein universelles Recht auf Bildung oder ist Bildung ein Luxus nur für Reiche? Welchen Einfluss haben die Bildungsprogramme internationaler Organisationen? Die Autorinnen und Autoren1 der ad hoc befassen sich in dieser Ausgabe mit unterschiedlichen Aspekten von Bildung im internationalen wie auch im nationalen Kontext. Unsere ersten zwei Artikel untersuchen Bildungspolitik im regionalen Kontext. Der eine tut dies im historischen Vergleich in Lateinamerika und der andere im heutigen Europa, wo sich das wirtschaftliche Nord-Süd-Gefälle auch im Bildungssektor immer bemerkbarer macht. Auch im ad hoc-Interview bleiben wir beim Thema Bildung in Europa. Stephanie von Hayek sprach mit dem stellvertretenden Generaldirektor für Bildung der Europäischen Kommission, Xavier Prats-Monné, über die europäische Bildungsidee, die Herausforderungen, die der Arbeitsmarkt an das europäische Bildungssystem stellt und wie die ideale Schule aussehen sollte. Wir bleiben auch vor der eigenen Haustür und untersuchen Bildungslücken in Deutschland. Hier geht es um Analphabetismus, ein immer noch überraschend großes Problem hierzulande und darum, wie sehr Bildungserfolg vom Elternhaus abhängig ist. Programme wie Teach First Deutschland sind 1 Im Sinne einer guten Lesbarkeit wird in den nachfolgenden Artikeln nur die männliche Form der Nomen benutzt, ohne damit die weiblichen Begriffe abwerten oder ausschließen zu wollen.
eine Antwort auf diese Probleme. Neue Perspektiven für Chancengleichheit könnten durch den breiteren Zugriff auf Informationen eröffnet werden, den das Internet durch e-Learning-Angebote bietet. Die Trends von Open Education-Initiativen untersuchen wir in der Rubrik „Bildung der Zukunft“. Die im internationalen Bereich gesammelten Erfahrungen unserer Autorinnen und Autoren spiegeln sich in Artikeln zur Bildung in der Entwicklungspolitik und in Krisensituationen wider. Hier geht es zunächst auf politischer Ebene um neue internationale Initiativen zur Bekämpfung der Bildungsmisere und dann im konkreten Fallbeispiel um eine NGO, die kambodschanische Straßenkinder durch Berufsausbildungen erfolgreich weiterbildet. Die Beiträge hinterlassen den Eindruck, dass der universelle Zugang zu Bildung trotz vieler Anstrengungen keineswegs einfach und selbstverständlich ist. Ob Bildung während einer Krisensituation lediglich Luxusgut oder ein essentielles Grundrecht ist, erörtern wir am Beispiel der der zeitigen Situation in Syrien. Außerdem erfahren Sie, wie Bildung in wohlhabenden Post-Konflikt-Staaten zur Dienstleistung werden kann, was deutsche Organisationen wie den DAAD wiederum in die ungewohnte Position des Dienstleisters drängt. Wie Flüchtlinge, die eine politische Krise überlebt und eine Ausbildung genossen haben, helfen können ihr Land wieder aufzubauen, berichten zwei unserer Autorinnen anhand des eindrücklichen Schicksals einer jungen Kongolesin.
Hanna Baumann (Mercator Kollegiatin 2011/12) und Dr. Friedrich von Heyl (Stiftungskollegiat 1996/97)
Über Leserbriefe freut sich die Redaktion: redaktion@adhoc-international.org, ebenso wie über Besuche und einen regen Austausch auf www.facebook.com/adhocinternational.
nefia nefia ist der Alumniverein für die Absolventen des Mercator Kollegs und des früheren Stiftungskollegs für interntionale Aufgaben der Robert Bosch Stiftung, um nach der Zeit im Kolleg im Kontakt zu bleiben und berufliche Netzwerke zu p flegen. nefia ist außerdem ein Multiplikator für junge Sichtweisen auf internationale Themen und entwicklungspolitische Fragestellungen. Mit Veranstaltungen und Publikationen mischen wir uns in global relevante Themen ein und vermitteln unser Praxis- und Expertenwissen. nefia ist auch Partner der Stiftung Mercator bei der Gestaltung des Kollegs. Unsere praxiserfahrenen Mitglieder unterstützen die aktuellen aktuellen Stipendiatinnen und Stipendiaten bei der Planung und Durchführung ihrer Projektvor haben. www.nefia.org. Kontakt: info@nefia.org
CSP Das CSP-Netzwerk für internationale Politik und Zusammenarbeit e. V. ist der politisch unabhängige Alumni-Verein des „CarloSchmid-Programms für Praktika in Internationalen Organi sationen und EU-Institutionen“ des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) und der Studienstiftung des deutschen Volkes. Derzeit sind im weltweiten CSP-Netzwerk rund 600 ehemalige Stipendiat/innen mit Praxiserfahrung in der internationalen Politik und Zusammenarbeit organisiert. Das Netzwerk dient ihnen als Forum für den Wissens- und Erfahrungsaustausch untereinander, aber auch mit Wissenschaftlern, Praktikern, Politikern und anderen Engagierten. www.csp-network.org. Kontakt: geschaeftsstelle@csp-network.org
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Bildungspolitik im regionalen Kontext
Südeuropa in der Krise: Wird die Bildung weggekürzt? von Dorothee Fischer Europas Zweiteilung in den wohlhabenden Norden und den armen Süden wird immer deutlicher. Wie wirkt sich dies auf die Bildungschancen junger Menschen aus? Und welche Lösungsansätze gibt es aus Südeuropa? Dorothee Fischer berichtet von ihren Erfahrungen in Spanien und anderen südeuropäischen Ländern, deren Bildungssysteme einer harten Sparpolitik a usgesetzt sind. Zurzeit prägen düstere Bilder den Süden Europas: gewaltsame Demonstrationen vor dem Parlament in Athen, Generalstreik in Portugal und lange Schlangen vor den Suppenküchen und Arbeitsämtern in Spanien. All das scheint in den letzten Monaten schon Alltag geworden zu sein, denn die Regierungen der südeuropäischen Länder beschließen ein Sparpaket nach dem anderen. Und die Kürzungen machen vor keinem Sektor halt, auch nicht vor der Bildung. Und das, obwohl schon jetzt Spaniens Schüler Leistungen unter dem Pisa-Durchschnitts niveau erbringen, die Schulabbrecherrate bei 25 % liegt und über 50 % der unter 25-jährigen arbeitslos sind. In Spanien sind besonders die öffentlichen Schulen von den Einsparungen betroffen. Stipendien wurden gestrichen, die Klassenstärken und die Arbeitszeiten der Lehrer wurden erhöht. Dabei spielen sich immer öfter soziale Dramen ab: Zunehmend viele Familien haben kein Einkommen mehr, werden teilweise aus ihren Häusern zwangsgeräumt, weil sie die Hypotheken nicht mehr zahlen können. Kein Wunder also, dass Eltern immer häufiger verzweifeln, da sie nicht mehr wissen, wie sie Bücher und Schulspeisung bezahlen sollen, seitdem die entsprechenden Subventionen gestrichen wurden. So zahlen die Schüler in vielen Schulen bis zu 6,50 € pro Mittagessen – weitaus mehr als Abgeordnete in der Parlamentskantine. Das stößt bei vielen auf Unverständnis. Außerdem werden schon Dis kussionen darüber geführt, ob nicht alle Schüler in Zukunft wieder ihr eigenes Essen mitbringen sollen. p Bei den Bildern handelt es sich um eine Fotoserie über ein verlassenes Grundstück im Zentrum Valencias, für das die Kommunalregierung schon seit zehn Jahren den Bau einer öffentlichen Schule verspricht. Zeugnisse einer Bürgerbewegung im dichtbesiedelten Viertel “Ruzafa”, wo sich diese Wand befindet.
Ähnlich ergeht es den Schülern und ihren Eltern in den südeuropäischen Nachbarländern. „Wir müssen seit ein paar Monaten eigenes Klopapier mit in die Schule meines Sohnes bringen,“ erzählt auch Mauro Salvani aus Florenz. „Die Stadt hat kein Geld mehr für Schulmaterialien und demnächst werden die Eltern sicherlich am Wochenende die Schule renovieren.“ Die sozioökonomischen Unterschiede zwischen arm und reich werden dabei immer größer und darunter leiden auch oft die Bildungschancen. Nicht nur in Deutschland ist der Grad der Bildung sehr stark an den sozioökonomischen Hintergrund der Familie gekoppelt. Diese Tendenz wird durch die Krise und Kürzungspolitik noch verstärkt. Die Familien in Spanien, die es sich noch leisten können – und immerhin sind die Reichen seit Beginn der Krise trotz der wachsenden Armut noch reicher geworden – schicken ihre Kinder zunehmend auf teure Privatschulen, die von Chinesischkursen bis hin zu e igenen Tennisplätzen oder Schwimmbädern alles bieten. Sehr gefragt ist dabei auch die deutsche Schule, weil man auf eine Arbeit in Deutschlande hofft. Für viele Deutsche, die im Ausland leben, ist das deutsche Gymnasium jedoch unerreichbarer Luxus, denn es gibt kein Stipendiensystem, es sei denn, der Arbeitgeber kommt für die ca. 600 € Schulgeld pro Monat auf. Der „Europa-2020-Strategie“ zufolge wird die EU in den kommenden sieben Jahren in „intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum“ investieren. Und auch für die Bildungspolitik gibt die Europäische Kommission ganz klare Vorgaben wie zum Beispiel die Schulabbrecherquote auf unter 10 % zu reduzieren, das Auslandsstudium zu erleichtern und junge Menschen besser auf den Arbeitsmarkt vorzubereiten. Das passt aber so gar nicht mit den zuletzt veröffentlichten nationalen Haushaltsplanungen im Bereich Innovation und Entwicklung zusammen. In Spanien allein wurden in den vergangenen Jahren 30 % des Forschungsetats gekürzt.
Bildungspolitik im regionalen Kontext
p Schon die Jüngsten gehen regelmäßig demonstrieren, . um für ihre Zukunft zu kämpfen. In diesem Fall Lola, die Tochter der Autorin.
Die Kürzungen betreffen nicht nur die Schulen, sondern auch die Universitäten und Forschungsinstitute. Erst im Oktober 2012 machte die Schlagzeile die Runde, dass unter anderem Spanien und Frankreich das Erasmus-Programm auf ein Minimum zusammen kürzen werden. Und das, obwohl gerade dieser Austausch zwischen Studenten und Universitätsmitarbeitern zu den Vorzeigeprojekten der Europäischen Union zählt, welches mit verhältnismäßig wenig Geld viel erreicht hat. Im gleichen Monat verfasste eine Gruppe von 42 europäischen Nobelpreisträgern einen Brief an die Europäische Kommission und die Vertreter der 27 Mitgliedsstaaten und forderte diese auf, nicht in der Wissenschaft zu sparen. „Im Falle einer drastischen Kürzung des EU-Budgets für Forschung und Innovation riskiert Europa, eine ganze Generation talentierter Wissenschaftler zu verlieren – just zu dem Zeitpunkt, in dem sie am dringendsten gebraucht werden,“ heißt es in dem Schreiben. Kommissionspräsident Barroso gestand kürzlich selbst ein, dass die Kommission noch so viele schöne Vorschläge machen könne; wenn die Mitgliedsstaaten nicht bereit sind dafür Geld auszugeben, seien auch ihm die Hände gebunden.
So scheint das Recht auf Bildung in Gefahr zu sein und sich eine immer größer werdende Nord-Süd-Schere aufzutun. Erfahrene Lehrer wie Vicente Aguado (54) aus Valencia, der seit 1985 an Grundschulen unterrichtet, können den mangelnden Weitblick der Politiker nicht verstehen: „In der Bildung zu sparen ist eine soziale Regression für unsere Gesellschaft. Wir brauchen einen neuen Bildungspakt auch über religiöse und Parteigrenzen hinaus. Den Erfolg Finnlands in der Bildung kann man mit einem Satz zusammenfassen: Jeder Schüler ist wichtig.“
Dorothee Fischer, Jg. 1977, lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Töchtern seit vier Jahren in Valencia, Spanien. Dort arbeitet sie als Communication and Project Development Officer für das INTERACT Programm der EU. Sie ist aber auch immer wieder als freie Journalistin tätig und engagiert sich in europäischen Kulturprojekten. Ihr CarloSchmid-Praktikum absolvierte sie 2003 beim Europarat in Strasbourg, wo sie im Anschluss für die internationale NGO „ALDA“ CapacityBuilding-Projekte in Südosteuropa und im Kaukasus durchführte und sich um die Medienarbeit kümmerte.
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Bildungspolitik im regionalen Kontext
Die Universitätsreform in Lateinamerika: Eine Bilanz von Christian E. Rieck Die lateinamerikanische Universitätsreform von 1918 beeinflusst das Hochschulbildungswesen auf dem gesamten Kontinent bis heute. Das Hochschulwesen hat sich seitdem in Argentinien und Mexiko, den Brennpunkten der Reform, sehr unterschiedlich entwickelt, wie hier anhand von Profilen der prominentesten Universitäten der beiden Staaten gezeigt wird. Vor beinahe einem Jahrhundert fand in Lateinamerika eine Universitätsreform statt, welche die dortige Hochschullandschaft bis heute nachhaltig prägt. Die Reform von 1918 veränderte nicht nur die Verwaltungsstrukturen, sondern auch das Selbstverständnis der Universität als Organismus von emanzipatorischem Charakter mit gesamtgesellschaftlichem Auftrag. Damit ist bis heute die zentrale Stellung der Universitäten in den lateinamerikanischen Gesellschaften definiert, ebenso wie ihr kulturelles und soziales Aufgabenprofil. Argentinien und Mexiko waren dabei die zwei Brennpunkte der lateinamerikanischen Universitätsreform und Studierendenbewegung von 1918. Es waren zunächst argentinische Studentengruppen, die an der Nationalen Universität in Córdoba Hochschulautonomie, paritätische Mitbestimmung, Gebührenverbot, Wissenschaftsfreiheit und Einheit von Forschung und Lehre forderten. Die Verpflichtung der Universität in die Gesellschaft hineinzuwirken und lateinamerikanische Solidarität waren weitere wichtige Themen für die Studierenden. Diese Forderungen machte sich der erste internationale Studierendenkongress, der 1921 in Mexiko Stadt stattfand, zu eigen.
s UBA – Facultad de Ingenieria: Dorische Klassik für Evita, Säulen heilige Argentiniens. Peróns Gattin ließ für ihre Stiftung 1951 diesen Monumentalbau am Paseo Colón fertigen, der 1966 der Ingenieur wissenschaftlichen Fakultät der UBA übertragen wurde – im Jahr der Besetzung der Universität durch . die „Argentinische Revolution“.
Bis heute sind die Hochschulen Argentiniens und Mexikos Vorbilder für die gesamte Region. Die Hauptstadtuniversitäten Schaufenster zweier sich sehr unterschiedlich entwickelnder Wissenschaftssysteme und Symbole zweier entgegen gesetzter Nationenbildungsprojekte. Sie sind Gralshüter nationaler academia – und doch stehen sie auch für die Idee lateinamerikanischer Einheit durch Wissenschaft, Bildung und Kultur. Als sich die Universität in Argentinien 1918 von der Fessel politischer Einflussnahme, religiöser Überwachung und ideologischer Indienstnahme befreite, wurde die koloniale Peripherie zum Vorreiter der Wissenschaftsfreiheit. Schon 1821 war die Universidad de Buenos Aires (UBA) nach europäischem Vorbild als Volluniversität gegründet worden, das heißt als eine Hochschule im Geiste eines universellen Bildungsideales, an der das Studium aller wichtigen Wissenschaften möglich ist. Die im Zuge der Masseneinwanderung angeworbene europäische Wissenschaftlergeneration gab dem modernen Forschungsstandort Argentinien entscheidende Impulse und integrierte das Land in die globalen Wissensströme. Das dichter besiedelte und stärker kolonial erschlossene Mexiko hingegen verfolgte ein entgegengesetztes Nationenbildungsprojekt: Statt auf Europäisierung setzte Mexiko auf Vermischung, was der Realität der stark hybridisierten Bevölkerung Rechnung trug. Das Bekenntnis zu dieser sollte die ethnische und kulturelle Fragmentierung der Kolonialgesellschaft überwinden. Die Universidad Nacional Autónoma de México (UNAM) wurde erst 1910, kurz vor der Mexikanischen Revolution in diesem Geiste als republikanische und säkulare Hochschule gegründet.
s Europäisch inspirierter Historismus: Der Bau der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät von 1908 der Universität von Buenos Aires an der Avenida Córdoba steht für den Glanz der Jahrhundertfeier und das Selbstverständnis Argentiniens als europäischer Staat.
s UNAM – Biblioteca central: Aztekenkult. Der Campus der Autonomen Nationaluniversität von 1954 im Süden von Mexiko Stadt beherbergt ein Welterbe, das die Verschmelzung von indigenem und euro päischem Erbe ebenso ausdrückt wie den Modernitätsanspruch Nachkriegsmexikos.
Bildungspolitik im regionalen Kontext p 1968 in Mexico City: “Únete pueblo!” – Am 26. August 1968 besetzte eine Menge unter Führung der Studentenbewegung den Zentralplatz der Hauptstadt, an dem auch der Präsidentenpalast liegt. Antwort auf die friedliche Demonstration war dieser Aufmarsch von Schützenpanzern zwei Tage später.
Aufgrund dieser Entwicklung in Mexiko und Argentinien, wie auch in der ganzen Region, waren Studierende und Lehrpersonal der Universitäten noch ein halbes Jahrhundert später ein Hort der gesellschaftlichen Modernisierung, aber auch der sozialen Radikalisierung. Hochschulautonomie und Wissenschaftsfreiheit blieben denn auch bis in die 1980er Jahre hinein äußerst fragile Rechtsgüter. Die belagerte Universität musste weiter um ihre Freiheiten bangen. Die Attraktivität der Hochschulen blieb trotz dieser Schwierigkeiten ungebrochen: Heute studieren an UBA und UNAM jeweils über 300 000 Studenten, was sie zu den beiden größten Universitäten der Region macht. UNAM und UBA werden meist unter den besten 200 Universitäten der Welt verortet. Doch während andere mexikanische Universitäten in den Rankings kontinuierlich regionale Spitzenplätze belegen, gelingt es dem argentinischen Wissenschaftssystem außerhalb von Buenos Aires nicht, zum Niveau der UBA aufzuschließen. Die Qualitätsunterschiede liegen auch in der unterschiedlichen Finanzausstattung der beiden Volluniversitäten begründet: Die UNAM erhält vom Bundesstaat jährlich umgerechnet etwa 1,9 Mrd. Euro (2012), die UBA lediglich ein Achtel dieses Betrages. Was Argentinien neben einer besseren Mittelausstattung jedoch fehlt, ist eine Vision für sein Wissenschaftssystem im vernetzten und technologischen 21. Jahrhundert. Nicht zuletzt mangelt es an einer kohärenten Internationalisierungsstrategie, die sowohl die positiven Entwicklungen in den Nachbarstaaten – vor allem in Brasilien und Chile – aufnimmt und als Chance zur nachhaltigen Zusammenarbeit begreift als auch mit den USA und den EU-Mitgliedstaaten neue Potentiale der Kooperation erschließt, die über ad hoc Initiativen hinausgehen. Mexiko startete seine wissenschaftliche Karriere später als Argentinien und hat es doch vermocht, im 20. Jahrhundert seiner Hauptstadtuniversität durch weniger politischen Druck, stärkere Mittelkonzentration und vor allem mehr Vollzeitstellen bei besserer Bezahlung günstigere Rahmenbedingungen zu schaffen. Von der neuen Hochtechnologieförderung im Weltraumbereich profitiert die UNAM ebenfalls. Für die Regierungen von Vicente Fox und Felipe Calderón im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts spielte Wissenschaftsförderung keine besondere Rolle. Mexiko hat jedoch geschickt seine Nähe zum nordamerikanischen Bildungsmarkt genutzt, um durch Austauschprogramme und Gastprofessuren den Aufstieg seiner Universitäten zu flankieren. Seit 1994 wirtschaftlich eng an die Vereinigten Staaten gebunden, haben mexikanische Hochschulen vom nordamerikanischen Beispiel gelernt und Studenten- und Professorenschaft internationalisiert, anstatt in Wissenschaftsprovinzialismus zu verfallen, der mancherorts im argentinischen Bildungssystem noch immer akzeptiert wird.
Auf einem sehr hohen Niveau der Hochschulbildung gestartet hat die Qualität der argentinischen Hochschulen immer wieder stark unter der unsteten politischen und wirtschaftlichen Entwicklung gelitten. In Mexiko gab es im Gegensatz dazu unter der langen Herrschaft der Partido Revolucionario Institucional (1929–2000) zwar Korruption, aber keinen einzigen Staatsstreich. Die Ausrichtung argentinischer Hochschulen nach Europa hin war historisch erfolgreich, dennoch befinden sie sich seit dem gewaltsamen Einschnitt durch die Militärdiktatur von 1966, der zu einer Massenemigration von akademischem Personal führte, in einer Abwärtsbewegung. Die Regierung von Präsidentin Kirchner seit 2006 versucht durch ein Hochschul- und Hochtechnologieprogramm diese Entwicklung zu korrigieren. Die gegenwärtigen Finanznöte der Regierung werden diese positive Entwicklung jedoch wieder verlangsamen. Trotz Rückschritten in Argentinien, einem der regional erfolgreichsten Wissenschaftssysteme im 20. Jahrhundert, scheint zu Beginn des 21. Jahrhunderts der Aufstieg Mexikos, aber auch von Ländern wie Brasilien und Chile nicht mehr aufzuhalten zu sein. Es besteht also Hoffnung für die Gelehrtenrepubliken Lateinamerikas.
Christian E. Rieck, Jg. 1978, ist Senior Analyst am Global Governance Institute in Brüssel, mit Schwerpunkt auf aufstrebenden Schwellenländern und Lateinamerika. Davor arbeitete er sechs Jahre für die KonradAdenauer-Stiftung in Berlin und das Leibniz-Institut für Globale und Regionale Studien GIGA in Hamburg. Er studierte in Bayreuth, Sevilla, Berlin, Florenz und Oxford und war 2002 Stipendiat des Carlo-Schmid- Programms in der Wirtschafts- und Sozialkommission der Vereinten Nationen für Lateinamerika CEPAL in Mexiko Stadt. Er ist derzeit Forschungsstipendiat des Instituts für Auslandsbeziehungen in Stuttgart zum Thema Außenwissenschaftspolitik.
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Interview
„A Tsunami in Education“: Interview mit Xavier Prats-Monné Anlässlich der Konferenz des Bundesministeriums für Bildung und Forschung "Berufliche Bildung in Europa – Perspektiven für die junge Generation", traf ad hoc den stellvertretenden Generaldirektor für Bildung der Europäischen Kommission, Xavier Prats-Monné, 57, zu einem Gespräch im Hotel Maritim am Potsdamer Platz in Berlin. Der fröhliche Katalane sprach mit ad hoc über die europäische Dimension der Bildung, Tsunamis, Don Quijote und Entrepreneurship Education. ad hoc: You are here in Berlin for a conference on vocational education organized by the German Ministry of Education and six other EU member states. – what exactly is the Commission's interest? Xavier Prats-Monné: Our interest here, apart from being invited by a member state, is a broader one: We want to give a European dimension to education and youth employment. There is actually a problem of skills mismatches. ad hoc: You mean mismatches between what you learn at school and what you have to deliver on the labor market? Prats-Monné: Not just that. We currently have youth unemployment rates of 23 % in the EU, with 55 % in Greece and Spain, which means five and a half million young people unemployed. This is really staggering. At the same time, you have two million unfilled jobs in the EU, especially in the health, science and information technology sectors. This is very striking because it is not just unemployment but a mismatch. And this is unprecedented. Other recessions did not produce this kind of mismatch. ad hoc: Speaking of the European dimension of education: Do you think there is something specifically 'European' about our education systems compared to those of other countries, such as China? Prats-Monné: Yes. Not surprisingly, universities are a European invention. Maybe this is actually the most important European contribution to humanity. The way we see the link between education and society: education is not just for productivity and work, but also for creating critical citizens. The European idea of education has a very clear sense of the rights of indivi duals, of democracy being linked to citizens capable of making critical judgments. Some emerging economies like China have a very determined focus on education as a way towards p rosperity and also to address inequalities. They see education as it was seen in Europe maybe fifty years ago: as an extraordinary way of social progress.
ad hoc: How does this translate into the understanding of education? Prats-Monné: It is a big difference and has many consequences, for example an extraordinary increase in the quantity and quality of education. If you look at the PISA indicators you see that some Asian countries like South Korea or the city of Shanghai have top results. At the same time, we see evidence that for the 21st century and the very rapid changes of our societies, pure accumulation of information are less important because it is obsolete very quickly. Yet, cognitive skills are the ones that are easy to teach and on which many emerging economies focus on, with young people spending up to twenty years of their lives studying to accumulate knowledge rather than developing the capacity for creativity, innovation, communication and entrepreneurship. ad hoc: And are these European qualities? Prats-Monné: Yes, in the sense that in Europe there is a sophisticated view on what education should be. But we do have a big challenge in adapting education systems to what I think is a tsunami in education. ad hoc: A tsunami in education? Prats-Monné: Demography, technology and globalization combined are having an extraordinary impact on education, promising great potential and opportunity. Ever since school has existed, the main principle has been that you get informa tion at school and do homework at home. Now we actually can get information at home. This means that we have a much nobler function of school, namely to discuss how this information is understood. This is what education is about. This is a very fundamental change in who provides education and in the balance between equity and excellence. With every technological innovation such as the invention of the radio, the television and the computer there were great hopes that have not been met with regard to their implications for education. But I really think that we are now at a turning point. To give you an example: Don Quijote was written 400 years ago. For 390 years, the availability of Don Quijote was exclusively based on one thing: the number of hard copies available. For the past ten years, anybody, at any time, for free, and simultaneously can have a copy of Don Quijote. This is so extraordinary and such an important change it we have to look at that and how we can exploit it.
Interview
ad hoc: How is the EU addressing these challenges? Prats-Monné: It is everybody's task to ensure that we do not just suffer these tsunami waves, but that we manage change. In the field of education as in many others, the EU has limited competencies. We cannot and should not and do not intend to tell countries what to do, but we should tell them how they are doing. The first thing is to provide more evidence. The second, that we have policies and funding, which is significant. We provide an incentive and a complement to the modernization strategies of member states in education institutions. Education systems by nature are very slow to react to social changes, but now things are so quick that we must provide the support to institutions, teachers, ministries of education. Former Harvard Dean Derek Bok once said: "If you think education is expensive, try ignorance." But not only do we need more money in education, we also must find the ways in which education is effective.
ad hoc: Let's talk about visions. When my 9-year-old son threw a snowball at school, which is forbidden, he had to write an essay about the school of his dreams. He started out: "In my school we would have snowballs made of cotton …". What does the school of your dreams look like? Prats-Monné: I would have much more imagination if I were 9 years old. That is actually one of our problems: Somehow, as we grow, we are gaining in information, but not in fantasy. What your son said is not just clever, it is out of the box. This is what we need. I find it very striking that schools are like 19th century factories which produce products with an expiration date. Differences between students due to age are much smaller than the difference due to personality, capacity, inventiveness. If we really look at the education in the 21st century, classrooms should look like the society of the 21st century where differences in age, race, background are less important.
ad hoc: Could you name some of the tools that the EU offers? Prats-Monné: The Europe 2020 strategy has one merit: From the broad Christmas tree of policy priorities, there are only a few top concerns, one of them is education. That means education is at the forefront of EU policy priorities. We have a EU quantified target for tertiary attainment of 40 % and a target for the reduction of early school leaving in the EU: 10 %. Also, not just having education as a satellite but having it as part of a growth strategy. Important for us is also the EIT, the European Institute of Innovation and Technology. It links business, research and education. In November, we published a strategy paper, "Rethinking Education", where we sum up our policies and tools.
ad hoc: So would your school mix different ages and cross boundaries? Prats-Monné: It would be a school based more on the needs of the learner instead of what people should learn theoretically. This should be the focus of education policy, to try to ensure that teaching and learning become what they were meant to be a long time ago: interesting – as your son surely also wants it to be. ad hoc: Thank you very much for this interview. It was a pleasure.
ad hoc: This paper clearly states that good education will contribute to innovation and growth … Prats-Monné: The link between education and growth is not automatic and not a linear relationship. But we must make sure that the world of education and the world of work are closer together. And we need to analyze together with countries how they are ensuring, particularly in times of fiscal discipline, investments in education. ad hoc: Finland and Sweden have integrated entrepreneurship education in their curricula and foster entrepreneurship education early at school. Prats-Monné: In Europe there is a pretty low level of interest in participation in entrepreneurship education compared to other developed economies like the USA. And this is more than fear of the crisis, as the US labour market is looking more and more like the European one – and still you see more young people interested in entrepreneurship. The Nordic countries with a strong welfare state and a very high level of social equality do foster entrepreneurship. This is interesting because the simplistic view sometimes suggests that in order to have entrepreneurs you have to have a jungle, and that only in a jungle people will be competitive. This is not true. You can be creative and have a strong sense of equality, which is exactly the example of social democracies in Northern Europe.
Das Interview führte Stephanie von Hayek. Fachliche Vorbereitung in Zusammenarbeit mit Ulrike Storost.
Stephanie von Hayek, Jg. 1971, war 2000/01 Stiftungskollegiatin und verbrachte ihr Jahr beim United Nations Office for Project Services in New York sowie bei der Weltbank-Gruppe in Washington D.C. Danach arbeitete sie als Beraterin in einer Berliner Public Affairs Beratung, bevor sie mehrere Jahre als Referentin für die Versammlung der Regionen Europas in Straßburg tätig war. Heute arbeitet sie freiberuflich als Politikberaterin, Moderatorin und Journalistin in Potsdam. Sie promoviert an der Humboldt-Universität zum Thema „Berufung.“
Ulrike Storost, Jg. 1977, war 2003 Carlo-Schmid-Stipendiatin in der Bildungsabteilung des United Nations High Commissioner for Refugees. In Bildungsfragen arbeitete sie im Anschluss bei der Studienstiftung des deutschen Volkes, der UNESCO in Paris und im Brüsseler Büro der Bertelsmann Stiftung. Heute ist sie bei der Europäischen Kommission als Policy Co-ordinator im Bereich der Jugendbeschäftigung tätig.
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Bildungslücken in Deutschland
Die Abitur AG auf der Hauptschule: Ein Bericht über die Initiative Teach First Deutschland von Steffen Müller Welche Erfahrungen sammelt ein Absolvent, der nach seinem Studium an einem zweijährigen Einsatz für Bildungsgerechtigkeit teilnimmt? Der Bericht gibt Einblick in einen oft vernachlässigten Bildungsbereich in Deutschland. Im Herbst 2009 erfuhr ich durch einen Zeitungsartikel von der Bildungsinitiative Teach First Deutschland. Die aus den USA stammende Idee von Teach for Amercia besteht darin, dass Hochschulabsolventen verschiedenster Fachrichtungen nach ihrem Studium für zwei Jahre an einer Schule in sozial schwierigem Umfeld arbeiten – und diese Idee wird nun auch in Deutschland umgesetzt. Mir war sehr schnell klar, dass ich dabei mitarbeiten wollte. Aber das hieß zunächst eine aufwendige Bewerbung und ein anstrengendes Assessment Center durchlaufen. Nach der Zusage erfolgte ein dreimonatiges pädagogisches Qualifizierungsprogramm von Teach First Deutschland, welches uns 40 Fellows für unsere Einsätze in Schulen in Berlin, Hamburg, Thüringen, NRW und Baden-Württemberg vorbereitete. Das war gut, denn von Haus aus bin ich Ingenieur für Elektrotechnik und hatte nach dem Studium mehrere Jahre lang Kraftwerke in Betrieb gesetzt. Außer meiner eigenen Schulzeit hatte ich damals wenig Ahnung von Schule, aber ich war immer davon überzeugt gewesen, dass ich persönlich viel Glück auf meinem Bildungsweg gehabt hatte – und nun wollte ich etwas davon an benachteiligte Jugendliche zurückgeben. Mir wurde eine Schule in der Nähe von Stuttgart vorgeschlagen und ich unterschrieb einen Vertrag für zwei Jahre. So wurde ich Mitarbeiter an einer Haupt- und Werkrealschule. Eines meiner Projekte war die Abitur AG. Aus meinen eigenen Schulerfahrungen kenne ich den zu erwartenden Leistungssprung beim Übergang von der 10. Klasse Werkrealschule auf ein Gymnasium. Ich wollte Schüler auf Phasen in ihrer Schullaufbahn vorbereiten, die mir selbst schwer gefallen waren. Und dieser Wechsel auf ein Gymnasium, den mehrere meiner Schüler nach ihrer Abschlussprüfung planten, ist sicherlich so eine Phase.
Ich bestärkte meine Schüler in ihren Plänen und erklärte ihnen gleichzeitig mit Erzählungen aus meiner eigenen Schulzeit, welch ein Anforderungssprung auf sie zukommen würde. Das war sicherlich ungewohnt und führte dazu, dass vier Schüler mit mir einmal pro Woche freiwillig nachmittags zwei Stunden schwierigen Stoff in Mathematik und Englisch nacharbeiten wollten. Trotz Bedenken der Schulleitung und einiger Kollegen wurde die Abi AG gegründet dies obendrein mit Schülern aus der schlechtesten 10. Klasse seit Jahren! Unter den vier Schülern war auch Arno, ein besonders schwer zu durchschauender und schwieriger Junge, der aber für die Abi AG motiviert schien. Er sagte zu mir: „Ich mache da auf jeden Fall mit! Nach der 10. Klasse werde ich auf ein berufliches Gymnasium gehen. Mein Ziel ist mindestens ein abgeschlossenes Studium!“ Ich war beeindruckt, denn Arno sagte nicht: „Ich will“, er sagte: „Ich werde.“ Trotz aller, auch meiner eigenen, leisen Zweifel lief die erste AG sehr gut. Während in anderen AGs Fußball gespielt oder Musik gemacht wurde, paukten wir richtig schweren Mathematikstoff. Arno entwickelte sich prächtig im Kurs, war schnell der zuverlässigste und pünktlichste Teilnehmer von allen und machte sogar als einziger immer wieder zuhause Zusatzaufgaben. Erst später sollte mir klar werden, dass er zwar fachlich gut mitkam, dass es aber an anderen Stellen ganz andere Probleme für ihn und seine Mitschüler gab. Einige Wochen nach dem Start der AG saß ich mit Arno zusammen an einer Bewerbung für „Talente im Land“, einem Stipendienprogramm der Robert Bosch Stiftung. Ich hatte Arno davon erzählt, und er hatte mich gefragt, ob ich ihm vielleicht helfen könne, denn weder seine Mutter noch er wussten, was er da genau schreiben sollte. Natürlich half ich, denn ich war bewegt von seinem Willen: Etwas wollen, nicht wissen, wie es geht und niemand, der einem dabei hilft. Arno hat das Stipendium am Ende nicht bekommen. In der Rubrik „Soziales, gesellschaftliches oder politisches Engagement“ hatte er nichts
Bildungslücken in Deutschland
i Schüler in der Abi AG arbeiten konzentiert an anspruchsvollen Mathematikaufgaben. Auch Gespräche über Weichenstellungen in der Schullaufbahn waren ein fester Bestandteil der Abi AG.
einzutragen. Alle anderen Bewerbungsvoraussetzungen – aus einer Migranten-Familie stammend, wenig Geld im Haushalt, schwierige Lebensverhältnisse, die einer erfolgreichen Schulkarriere im Wege stehen, besondere schulische Leistungen, Motivation, Leistungsbereitschaft und Zielstrebigkeit – hätten ihn geradezu für das Programm empfohlen. Neben Arno haben sich noch acht weitere Schüler meiner Schule für das Programm beworben. Ich konnte sie alle beim Ausfüllen der Bewerbung besser kennen lernen, jeder einzelne hat mir viel von Zuhause erzählt. Und ich musste zu meinem Leidwesen erkennen, dass die meisten meiner Schüler keine Chance auf eine Förderung hatten, weil sie alle kein soziales Engagement vorweisen konnten. Aber wie denn auch, wenn es ihnen niemand vorlebt? Es wurde zum regelmäßigen Bestandteil der Abi AG, dass ich mich mit meinen Schülern über schwierige Situationen einer Schullaufbahn austauschte. Dabei wurde mir immer wieder klar, dass und wie sehr mich meine Eltern unterstützt hatten; im Gegensatz zu den Eltern meiner Schüler. Die Eltern meiner Schüler können oder wollen solche Aufgaben oft nicht wahrnehmen. Gerade deshalb ist es ja so wichtig für die Schüler, dass die Schule von heute das auffängt. Nur so hängt der Bildungserfolg in Deutschland irgendwann nicht mehr vom Elternhaus ab und wir könnten von Chancengerechtigkeit sprechen. Die Abi AG war meine Lieblingslerngruppe. Die Schüler machten gut mit, und ich stellte immer wieder fest: Wenn sie wissen, wofür sie lernen, macht es nicht nur ihnen Spaß, sondern auch mir. Alles, was vorher so schwer und zäh war, wird auf einmal leicht. So, als ob man plötzlich von der Klasse angeschoben wird, anstatt mühsam zu versuchen diese zu schieben. Einige Monate vor den Abschlussprüfungen fuhren wir auf Studienfahrt nach Berlin. Während der intensiven gemeinsamen Woche fiel sehr deutlich auf, was ich in der Schule schon oft geahnt hatte. Arno stand sozial am Rand seiner Klasse. Er begeisterte sich mehr für Naturwissenschaften als für die neueste Musikgruppe oder angesagte Klamotten. Er war auch gar nicht darauf bedacht, bei den anderen anzukommen.
Ich machte mir Sorgen, dass diese zwischenmenschlichen Schwierigkeiten sich auf seine schulischen Leistungen übertragen und ihn von seinen Zielen abkommen lassen könnten. Von der Klassenlehrerin erfuhr ich außerdem, dass Arno in den letzten Jahren bereits mehrfach schwere Situationen in der Klassengemeinschaft erlebt hatte und dass einmal sogar die Polizei zu ihm nach Hause kam, weil er gedroht hatte Amok zu laufen. Er hatte zwar tatsächlich so etwas gesagt, aber es war auch so, dass er nicht zu Ende gedacht hatte, was er da sagte. Denn er stolperte manchmal beim Reden über seine eigenen Worte, wenn er versuchte, sich so auszudrücken, wie es in den physikalischen Fachartikeln, die er öfter las, angemessen ge wesen wäre, aber nicht auf dem Pausenhof. In Berlin gelang es uns, Arno immer wieder in verschiedene Kleingruppen zu integrieren, so dass er mit allen mal Kontakt hatte. Tatsächlich lernten Arno und die Gruppe so, besser miteinander umzugehen. Kurz vor Ende des Schuljahres erfuhr ich in der Notenkonferenz, dass Arno bei der Abschlussfeier als bester Schüler des Jahrgangs geehrt werden sollte! Auch wenn er mit seinen Mitschülern keine besten Freundschaften geschlossen hatte, wurde ihm bei der Abschlussfeier viel anerkennender Applaus zuteil. Arno konnte stolz sein. Und er war es – man sah es ihm an. Ich freue mich, dass zwei Schüler aus meiner AG Abi 2015 den Weg auf ein Berufliches Gymnasium gehen werden. Ein Schüler entschied sich für das Berufskolleg und wird dort das Fachabitur anstreben. Ganz bewusst entschied sich Arno, auf das Biotechnologische Gymnasium zu gehen und zeigt damit einmal mehr, wie klar er seinen Weg vor Augen hat. Die Schüler haben mir versprochen zu berichten, wie es ihnen weiterhin ergangen ist. Ich bin gespannt und hoffe, dass ich 2015 meinen ehemaligen Schülern zum Abitur gratulieren kann. Oder bin ich es diesmal, der sagt: ich werde!?
Steffen Müller, Jg. 1982, studierte Elektrotechnik in Karlsruhe und arbeitete parallel für den Energieversorger EnBW. Seine ersten drei Jahre internationaler Berufserfahrung sammelte er als Inbetriebsetzungsingenieur für Siemens mit Projekten in Aserbaidschan, Großbritannien und Italien. Zuletzt arbeitete er zwei Jahre über die Bildungsinitiative Teach First Deutschland an einer Hauptschule bei Stuttgart. Im Rahmen des Mercator Kollegs beschäftigt er sich mit nicht-akademischen Berufsqualifizierungsprogrammen für erneuerbare Energien in Nordafrika.
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Bildungslücken in Deutschland
„Können Sie mir das mal bitte vorlesen? Ich hab’ meine Brille vergessen …“: Analphabetismus in Deutschland von Anne Keilig In diesem Jahr endet die von den Vereinten Nationen aus gerufene Weltalphabetisierungsdekade. Überraschenderweise ist Deutschland nicht ganz am Ziel, denn auch hier gibt es mehrere Millionen Analphabeten. Einige Initiativen versuchen daher, gegen Unwissenheit, Stigma und letztendlich Analphabetismus selbst anzukämpfen. Beipackzettel, Antragsformulare, die Führerscheinprüfung – unüberwindbare Hürden für über sieben Millionen Erwachsene in Deutschland. Sie können nicht richtig lesen und schreiben und gelten als sogenannte funktionale Analphabeten. Mit den Ergebnissen der leo. – Level-One Studie ging 2011 ein Ruck durch die Gesellschaft. Die empirische Untersuchung der Universität Hamburg brachte erstmals valide Daten hervor und verwies auf 7,5 Millionen funktionale Analphabeten im Alter von 18 bis 64 Jahren. Wer als funktionaler Analphabet bezeichnet wird, hängt davon ab, welcher Grad der Schriftsprachbeherrschung in einer Gesellschaft erforderlich ist, um im alltäglichen Leben zurechtzukommen. Der sichere Umgang mit Wort und Schrift wird in Deutschland als selbstverständlich erachtet. Eine Selbstverständlichkeit, die es dennoch für viele nicht gibt. Gebrochene Biografien, ein schwieriger familiärer Hintergrund oder Krankheit können Gründe für mangelnde Lesekompetenz sein – trotz eines erreichten Schulabschlusses. Die Betroffenen zeichnen sich oftmals durch überdurchschnittliche Konzentrationsfähigkeit und Erfindungsreichtum aus, sie haben ein hervorragendes Gedächtnis und sind meistens besonders gute Zuhörer. Über die Hälfte aller Menschen mit Lese- und Schreibschwierigkeiten ist berufstätig. Das sind fast 15 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung. Ein Großteil dieser Menschen sind an- oder ungelernte Hilfskräfte. Sie arbeiten im Baugewerbe, in der Gastronomie oder der Hauswirtschaft. In diesem Jahr endet die 2003 von den Vereinten Nationen ausgerufene und von der UNESCO koordinierte Weltalphabetisierungsdekade. Erklärtes Ziel war es, die Rate der Analpha beten weltweit um die Hälfte zu reduzieren. Wie die Zahlen des aktuellen Education for All Global Monitoring Report der UNESCO belegen, sind weltweit noch immer etwa 775 Millionen Menschen Analphabeten. In der internationalen Wahrnehmung liegt der Fokus nach wie vor auf Ländern in Subsahara-Afrika, wie etwa Burkina-Faso mit einer Analpha betenquote von 71 Prozent oder Mali mit 69 Prozent Analpha-
beten im Erwachsenenalter. Dass Analphabetismus auch in westlichen Industrienationen, sogar im wirtschaftlich robusten, fortschrittlichen Deutschland ein Thema ist, wissen die wenigsten. Der Deutsche Bundestag beauftragte das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) daher im Herbst 2011 damit, die Wahrnehmung für das Thema zu stärken und es aus der Tabuzone in die Öffentlichkeit zu rücken. Gemeinsam mit verschiedenen Partnern für Alphabetisierung in Deutschland wie den Ländern, dem Deutschen Volkshochschul-Verband oder der Stiftung Lesen arbeitet das BMBF aktuell an einer Informations- und Motivationskampagne zum Thema funktionaler Analphabetismus. Unter dem Motto „Lesen & Schreiben – Mein Schlüssel zur Welt“ sollen nicht nur die Betroffenen angesprochen und ermutigt werden, sich ihrem Defizit zu s tellen. Es geht auch um eine gesellschaftliche Enttabuisierung des Themas Analphabetismus und darum, das Umfeld – im Arbeits-, Freundes- und Familienkreis – zu sensibilisieren und Vorgesetzte, Bekannte und Verwandte zu ermutigen nicht länger weg zuschauen. Gemeinsam mit Experten und Betroffenen wurden verschiedene Kommunikationsinstrumente entwickelt, die das Thema über unterschiedliche Kanäle in die Breite tragen. Im Zentrum stehen TV- und Kinospots. Sie erzählen Erfolgsgeschichten von Betroffenen in verschiedenen Lebenssituationen – im Berufsleben, in der Freizeit oder im familiären Umfeld. Gezeigt werden selbstbewusste Akteure, die den Mut aufbringen, sich der Herausforderung zu stellen, Lesen und Schreiben zu lernen – auch noch im fortgeschrittenen Alter. Die Protagonisten der Spots sind gleichzeitig die Gesichter der Kampagne. Sie tragen die Botschaft auf Großflächenplakaten in die Bundesrepublik. Mit dem Zitat „Endlich hab’ ich es gelernt“ vermitteln sie, dass es nie zu spät ist, um richtig Lesen und Schreiben zu lernen. Im Zentrum der Kampagne steht ein klarer Handlungsanreiz, der prominente Verweis auf das kostenlose Serviceangebot des alfa-Telefons. Hier finden Betroffene und deren Umfeld Beratung und Unterstützung bei der Suche nach dem passenden Kursangebot. Um die überraschend hohe Zahl der Betroffenen tatsächlich zu senken, reicht es jedoch nicht, dem Thema in der Öffentlichkeit mehr Sichtbarkeit zu verleihen. Erfahrungsgemäß nehmen jährlich höchstens 20 000 Personen an Alphabetisierungskursen
Bildungslücken in Deutschland
i Entscheidungsträger und Wissenschaftler bei der Regionalveranstaltung in Trier (v.l.n.r. Brigitte Erzgräber (Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Weiterbildung und Kultur des Landes Rheinland-Pfalz), Rudolf Hahn (Leiter „Lernen vor Ort“und vhs Trier), Klaus Jensen (Oberbürgermeister der Stadt Trier), Kornelia Haugg (BMBF)
o 7,5 Millionen Menschen in Deutschland können nicht richtig lesen und schreiben. Quelle: leo.-Level-One Studie, Universität Hamburg; Bildnachweis: Bundesmini sterium für Bildung und Forschung (BMBF)
teil. Das BMBF fördert seit vielen Jahren arbeitsplatzorientierte Alphabetisierungsmaßnahmen, Fortbildungen für Kursleiter sowie die Entwicklung von Lehr- und Lernmaterialien. Doch die Zuständigkeiten auf dem Gebiet der Alphabetisierung sind geteilt. Alle Verantwortlichen – auf kommunaler, auf Landeswie auf Bundesebene - müssen ihrer Aufgabe nachkommen, Barrieren abzubauen und Zugänge zu konkreten Hilfsangeboten zu erleichtern. Chancen, aber auch Herausforderungen der Alphabetisierung diskutieren Wissenschaftler und Politiker mit Betroffenen im Rahmen von regionalen Fachveranstaltungen. Diese Gesprächsformate tragen dazu bei, die lokalen Alphabetisierungsangebote bekannter zu machen und das Engagement der Akteure vor Ort zu würdigen. Zusätzlich eröffnet eine multimediale Ausstellung neuartige und attraktive Zugänge zum Thema Analphabetismus in Deutschland. Die Infostellen sind aktuell in zahlreichen Städten Deutschlands zu sehen. In verschiedenen Interviews, Erklärfilmen und Infographiken halten sie Daten und Fakten bereit, zeigen auf sensible Weise aber auch, welche Techniken und Kreativität die Betroffenen entwickeln, um ihr Geheimnis zu verbergen und gängigen Vorurteilen zu entgehen.
Es gibt aber auch im echten Leben wahre Erfolgsgeschichten – nicht nur in der Kampagne. Tim Thilo-Fellmer zum Beispiel, der nach zehn zähen Jahren seine Schwäche in eine Stärke verwandelt hat und inzwischen erfolgreicher Kinderbuchautor ist. Oder Ernst Lorenzen, der seiner Tochter mit 55 Jahren unter Tränen den ersten Brief geschrieben hat. Da ist auch Jutta Stobbe, die es nicht mehr ertragen konnte, ihren Kindern nicht bei den Hausaufgaben helfen zu können und die letztlich erfolgreich die Meisterprüfung absolviert hat. Sie alle engagieren sich in Selbsthilfegruppen oder sind als Botschafter des Bundesverbands für Alphabetisierung und Grundbildung e. V. aktiv.
Die Anrufe beim alfa-Telefon sind seit Oktober 2012 von sechs Anrufen pro Tag auf sechzig signifikant gestiegen. Oft wird die Hotline nachts gewählt, wenn Partner und Kinder im Bett liegen. Nicht selten herrscht Stille am anderen Ende der Leitung und dann – ein Besetztzeichen. Ein solcher Anruf ist ein erster Schritt. Er bedeutet aber nicht, dass der Anrufer sich auf den langen Weg begibt. Und auch nicht, dass er ankommt.
kollegs für internationale Aufgaben ( Jg. 2008/09). Sie hat im UNESCO
Anne Keilig (geb. Darmer), Jg. 1982, war nach ihrem Studium der Kulturwissenschaften, Kommunikations- und Medienwissenschaft und Frankreichstudien an den Universitäten Leipzig und Lyon Stipendiatin des Stiftungs Headquarter an der Koordinierung der Weltalphabetisierungsdekade der Vereinten Nationen mitgewirkt und im UNESCO Institute for Lifelong Learning (UIL) die Umsetzung des Rahmenprogramms LIFE – Literacy Initiative for Empowerment begleitet. Seit 2010 ist sie Referentin im Bundesministerium für Bildung und Forschung. Aktuell ist sie im Referat Öffentlichkeitsarbeit für die Koordinierung der Alphabetisierungskampagne „Lesen und Schreiben – mein Schlüssel zur Welt" zuständig. (anne.keilig@gmail.com)
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Bildung der Zukunft
Open Education – Wie das Internet neue Bildungsmodelle schafft von Damian Borowski Im vergangenen Jahrzehnt haben sich immer mehr Universitäten und private Anbieter der freien Verfügbarkeit von Informationen und Lehrmaterialien verschrieben. Doch w elche Trends werden die Zukunft des sogenannten Open Education-Sektors bestimmen und wie wird dies traditionelle Bildungsinstitutionen beeinflussen? Die schnelle Entwicklung des Internets im letzten Jahrzehnt hat unseren Zugang zu Informationen grundlegend verändert und somit einen enormen Einfluss auf Bildungssysteme. Wikipedia oder Google, die uns in wenigen Sekunden Zugang zu enormen Ressourcen verschaffen, haben neue Möglichkeiten des Lernens eröffnet. Schüler und Studenten können sich heutzutage nur schwer vorstellen, ohne das Internet eine Hausarbeit zu schreiben, aber auch Lehrer und Dozenten erwarten, dass man die im Netz verfügbaren Ressourcen nutzt. In diesem Sinne hat das Internet bisher den traditionellen Bildungsprozess unterstützt, doch seit einigen Jahren werden im Bereich e-Learning Projekte initiiert, die den Lernprozess als Ganzes in das Internet übertragen. Ein Aspekt hiervon ist Open Education, die auf volle Zugänglichkeit durch Reduzierung von Eintrittsbarrieren setzt. Kurz: Jeder, der einen Internetzugang hat, kann umsonst lernen. Open Education geht unter anderem auf die Veröffentlichung von Lehrvideos der Universität Tübingen im Jahr 1999 zurück. Ein Durchbruch gelang 2002, als das Massachusetts Institute of Technology das Projekt MIT OpenCourseWare initiierte. Darauf aufbauend wurde ein Konsortium gegründet, das heute hunderte Hochschulen umfasst. Auch edX, das neben MIT auch die Harvard Universität zu seinen Mitgliedern zählt, wurde als Plattform für kostenlose Onlinekurse entwickelt, ist aber gleichzeitig ein Forschungsprojekt, welches die Rolle von Technologie im Lernprozess untersucht. Das Konzept von Open Education ging in der letzten Dekade einen weiten Weg und wird in Zukunft einen erheblichen Einfluss auf traditionelle Bildungssysteme haben. Drei Trends spielen dabei eine besonders wichtige Rolle: Personalisierung, Dezentrali sierung und zunehmende Interaktion und Kollaboration. Während man zu Beginn allenfalls Videoaufzeichungen aus Vorträgen abrufen konnte, gehört es heute zum Standard, dass Nutzer von Plattformen wie der Khan Academy Gelerntes durch individuell gestaltete Übungen vertiefen und ihren Fortschritt verfolgen können, was den Lernprozess effizienter gestaltet. Weiter werden immer mehr Start-ups die Position von Schulen und Universitäten, die als etablierte Institutionen den Bildungsmarkt dominieren und auch im e-Learning-Bereich aktiv sind, unterminieren und das System dezentralisieren. Außerdem hat sich mit dem Aufstieg von sozialen Medien das Verständnis des Internetnutzers als passivem Konsumenten als falsch erwiesen. Es entstehen immer mehr Lernplattformen, die uns helfen sollen, direkt von anderen zu lernen, aber auch unser Wissen weiter zu
geben. Die seit 2009 existierende Peer to Peer University (P2PU) zum Beispiel funktioniert anhand von Kollaboration und ohne eine klare Einteilung in Lehrende und Lernende. Dass ein personalisiertes, dezentralisiertes und auf Kollaboration basierendes Lernen im Netz die traditionelle Bildung vollkommen ersetzen könnte, scheint zumindest heute unrealistisch. Neue Bildungsmodelle stellen noch keine seriösen Alternativen zum traditionellen Bildungssystem dar. Denn neben der Wissensweitergabe müssen sie noch etwas anderes anbieten können: glaubwürdige Qualifikationen. Bei den besten Online-Prüfungen ist die Wahrscheinlichkeit, dass geschummelt wird, viel höher als bei einer traditionellen Klausur. Dies ist auch der Hauptgrund dafür, dass man bei keinem der Open Education-Anbieter ein Diplom erlangen kann. Solange dieses Zertifizierungsproblem nicht überwunden wird, kann Open Education die Chancen auf dem Arbeitsmarkt nicht wirklich erhöhen. Deshalb sind neue Bildungsmodelle zur Zeit vor allem für Menschen in der entwickelten Welt interessant, beispielsweise Studenten aus der Mittelschicht, die mit dem Kursangebot ihrer Hochschule nicht zufrieden sind. Doch es gibt auch Ausnahmen. Die Khan Academy engagiert sich mit ihrem Angebot in den Entwicklungsländern, und eine der bekanntesten Studentinnen der Lernplattform Udacity ist die elfjährige Khadijah Niazi aus Lahore (Pakistan), die den Physics 100 Kurs erfolgreich abgeschlossen hat. Obwohl der Weg zu einer Bildungsrevolution noch weit ist, spielen neue Bildungsmodelle eine wichtige Rolle und erweitern somit das klassische Bildungsangebot. Dies ist auch dringend nötig, denn moderne Bildung muss den Anforderungen der Zeit standhalten. Verschwimmende Grenzen zwischen den wissenschaftlichen Disziplinen, eine Flut von Informationen, der Bedarf an Kreativität – dies sind nur einige Herausforderungen für Bildung im 21. Jahrhundert. Während die Reaktion der traditionellen Bildungswelt bisher eher langsam war, versuchen neue Bildungsmodelle wie Open Education hierfür Antworten zu finden.
Damian Borowski, Jg. 1986, studierte Internationale Beziehungen in Krakau ( Polen) und Siegen, sowie Public Policy und Europäische und Internationale Governance an der Hertie School of Governance in Berlin. Er arbeitete in der Botschaft der Republik Polen in Berlin als Referent für Wissenschaft und Forschung und untersuchte 2011/12 als Mercator-Kollegiat im Bundesministerium für Bildung und Forschung, der Europäischen Kommission und dem Unternehmen InnoCentive in London die EU-Innovationspolitik als Quelle wirtschaftlichen Wachstums.
Bildung als Teil der Entwicklungspolitik
Education First: Neue Initiativen zur Bekämpfung der Bildungsmisere in Entwicklungsländern von Caroline Schmidt Ein Zusammenhang zwischen verbesserter Bildung und sozialem Aufstieg wird allgemein angenommen. Um auch Kindern in den ärmsten Ländern die entsprechenden Bildungschancen zu bieten, liegt jedoch noch ein weiter Weg vor der Entwicklungszusammenarbeit. Neue Initiativen sollen hier einen Anschub geben. Vor kurzem unterhielt ich mich mit Joseph, einem 28-jährigen Gärtner in Lilongwe, Malawi. Ich fragte ihn, ob es ihm wichtig sei lesen zu können. Dabei bezog ich mich auf das Motto des Fotowettbewerbs „Reading Changed My Life“ der Global Partnership for Education, für die ich die letzten vier Jahre gearbeitet habe. Ich war überzeugt, dass Lesen wichtig für ihn ist, um seinen Kindern beim Lernen zu helfen und seinen Betrieb aufzubauen. Joseph erzählte mir, er sei nur ein paar Jahre zur Schule gegangen, bis er im Alter von elf Jahren zu seinem älteren Bruder zog. Lesen sei ihm nicht so wichtig, außer wenn er sich in der Zeitung über Neuigkeiten informieren wolle. Seine Frau sei überhaupt nicht in der Schule gewesen. Sein ältester Sohn besuche eine staatliche Grundschule, weil diese bis zur siebten Klasse bis auf die Kosten für Schulkleidung, Hefte und Bücher kostenlos sei. Seinen zweiten Sohn werde er auch zur Grundschule schicken, aber Sekundarschulbildung könne er sich für beide nicht leisten. Für die muss man bezahlen, und weil es danach sowieso unmöglich ist, die Jungen aufs College zu schicken, brauchen sie auch nach der Grundschule nicht weiter zur Schule zu gehen. Mit den Möglichkeiten für ein besseres Leben, welche Bildung bieten kann, schien sich Joseph nicht auseinandergesetzt zu haben, vielleicht deshalb, weil es dafür in seiner Lebensumgebung, einem der ärmsten Viertel in Lilongwe, keine Anregungen oder Hilfestellung für Eltern gibt. p Schulklasse einer Grundschule in Lilongwe, Malawi
s Schülerinnen einer Mädchenschule in Malawi
International wurde in den letzten Jahren viel Arbeit geleistet, um die Möglichkeiten von Zuschüssen aus nationalen sowie bi- und multilateralen Bildungsprogrammen zu steigern. Im Vergleich mit anderen sozialen Bereichen, wie zum Beispiel dem Gesundheitssektor, gibt es hier noch Nachholbedarf. Die komplexen Wirkungs- und Abhängigkeitsketten im Bildungsbereich – von Schulgebäuden über Lehrpläne bis hin zu Lehrerausbildung, Tests für die Schüler und Finanzierung des Schulbetriebs – erfordern eine langfristige, kohärente, umfassende und zuverlässige nationale Zuwendung und internationale Unterstützung. Um Wirkungen einschätzen zu können, bedarf es längerer Zeiträume. Seit langem setzt sich der UN-Generalsekretär Ban Ki-moon für bessere Bildungschancen ein. Um das Profil und die globale Arbeit für Bildung in Entwicklungsländern zu stärken, setzte Ban Ki-moon deshalb im Juli 2012 Gordon Brown als Special Envoy for Global Education ein und rief am 26. September 2012 die neue UN-Initiative Education First! ins Leben. Education First verfolgt drei übergeordnete Ziele: (1) Jedes Kind im Grundschulalter einzuschulen; (2) die Qualität von Bildung zu erhöhen; und (3) die Förderung globaler Bürgerschaft. Education First wird helfen, Bildung weiter oben auf die globale Entwicklungsagenda zu setzen und in der Diskussion über die Zeit nach 2015 als Priorität zu erhalten. Gleichzeitig soll mehr Geld für Bildung beschafft werden: Nationale und internationale Bildungsinvestitionen in Entwicklungsländern sollen auf US$ 24 Milliarden pro Jahr erhöht werden. Dafür sollen die staatliche Förderung des Bildungssektors bei mindestens fünf bis sechs Prozent des Bruttoinlandsproduktes liegen und die Unterstützung von Bildungsmaßnahmen innerhalb humanitärer Hilfe verdoppelt werden. p
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Bildung als Teil der Entwicklungspolitik
EDU CAT ION FIRS T The United Nations Secretary-General’s initiative:
Put every child in school
Improve the quality of learning
Foster global citizenship
WRITE OR COUNT WELL, 250 MILLION CHILDREN CANNOT READ,have a fundamental right to free primary schooling of even those with at least four years in school. Children children yearn for the opportunity to fulfill their good quality. Parents want their children in school, and economies, better health, political stability and a dreams. Educated nations are more likely to enjoy vibrant respect for human rights.
“When we put Education First, we can reduce poverty and er hunger, end wasted potential—and look forward to strong and better societies for all.” —Ban Ki-moon #EducationFirst
Insbesondere aber muss die Frage geklärt werden, ob die Partnerländer, in denen die Bildungssysteme die meiste Unter stützung brauchen, überhaupt mehr Geld effektiv verwenden und umsetzen können. Die notwendige Aufklärungsarbeit wird bereits durch lokale zivilgesellschaftliche Organisationen geleistet und muss von Geberpartnern zuverlässig unterstützt werden, um offenen Austausch, Transparenz, Vertrauen und Verantwortung vor allem auf lokaler Ebene zu stärken. Ansätze wie Eltern-Lehrer-Vereinigungen oder Schulmanagementkomitees, die unter anderem von der Weltbank, UNICEF und NGOs seit Jahren gefördert werden, gehören zu den Möglichkeiten, Schulbildung besser an lokale Bedürfnisse anzupassen sowie Kontrollmechanismen und Mitbestimmung zu stärken. Im September 2012 haben führende Akteure in der internationalen Bildungskooperation den Aktionsplan „Education Cannot Wait“ vereinbart, um Bildung in Katastrophen- und Konfliktsituationen zu schützen. Zur gleichen Zeit haben die Globale Bildungskampagne und Education International eine neue Kampagne ins Leben gerufen, die sich auf die zentrale Rolle von Lehrern für die Gewährleistung von Bildungsqualität bezieht: „Every Child Needs a Teacher“. Beide Organisationen sind wichtige zivilgesellschaftliche Vertreter im Leitungsgremium der Global Partnership for Education, die über große Netzwerke in Entwicklungsländern verfügen und einen wichtigen Teil zum Informationsaustausch zwischen globaler, nationaler und lokaler Ebene beitragen. Am 10. Oktober 2010 fand zum ersten Mal der Internationale Mädchentag der Vereinten Nationen statt, an dem eine neue globale Aktionskampagne, 10 ×10, vorgestellt wurde.
Die Entfernung von Eltern wie Joseph, die arm sind und nur wenig oder gar keine Schulbildung erfahren haben, zum öffentlichen Sektor, zu Institutionen und der Regierung ist extrem groß. Sie denken oft, dass man nichts bewirken kann und dass öffentliche Stellen in die eigene Tasche wirtschaften anstatt für das Wohl der Familien zu arbeiten. Auch andere Gespräche, die ich in Lilongwe führte, zeigen, dass Bildung für Kinder nicht unbedingt als ein Recht von Eltern wahrgenommen wird, sondern als ein Angebot, dass ihnen für einen gewissen Zeitraum gemacht wird. Ob dieses Angebot bewirkt, dass die Kinder künftig lesen, schreiben, rechnen und logisch denken können, scheint weniger wichtig zu sein. Diese Haltung ist insbesondere bei jenen Eltern ausgeprägt, die selbst nicht zur Schule gegangen sind und ein sehr geringes Einkommen haben, für deren Kinder weiterführende Schulbildung nicht in Frage kommt und die bezweifeln, dass mehr Schulbildung zu einer (besseren) Arbeit führen kann. Doch die Statistiken scheinen zu belegen, dass Bildung eine positive Wirkung auf die Gesundheit von Müttern und Kindern, auf Armutsminderung, Wirtschaftswachstum und soziale Stabilität hat. Zwischen 1970 und 2009 haben 8,2 Millionen mehr Kinder das fünfte Lebensjahr erreicht. Ein maßgeblicher Grund dafür war, dass junge Frauen zur Schule gegangen waren. In Bangladesch fielen die Fälle von Müttersterblichkeit von 724 pro 100 000 Geburten im Jahr 1990 auf 338 im Jahr 2008, nachdem der Zugang zu kostenloser Grund- und Sekundarschulbildung eingeführt wurde. Ein 2007 erschienenes Arbeitspapier der Weltbank zeigt, dass eine verbesserte Qualität der Schulbildung zur Erhöhung des Bruttoinlandsproduktes beitragen kann. Die UNESCO schätzt, dass die Armutsrate um bis zu 12 Prozent sinken könnte, wenn alle Kinder eines Entwicklungslandes lesen könnten. Der Weltentwicklungsbericht 2007 zeigt, das sich jedes zusätzliche Schuljahr, dass ein Mensch in einem Entwicklungsland abschließt, mit einer bis zu zehnprozentigen Erhöhung auf sein oder ihr Einkommen niederschlagen kann. Es lohnt sich also für alle, weiterhin in Bildungsprogramme zu investieren!
Caroline Schmidt, Jg. 1981, studierte Politikwissenschaft und Volkswirtschaftslehre in Chemnitz. Im Stiftungskolleg für Internationale Aufgaben 2007/08 beschäftigte sich Caroline mit aid effectiveness im Bildungssektor und war im BMZ, in Washington, DC im Sekretariat der Global Partnership for Education (GPE) und bei UNICEF Sierra Leone. Von 2009 bis 2012 hat Caroline im GPE Sekretariat gearbeitet und ist seit November Bildungsberaterin in der Deutschen BACKUP-Initiative „Bildung in Afrika“.
Bildung als Teil der Entwicklungspolitik
Beruf statt Straße: Ein Berufsbildungszentrum in Kambodscha bietet jungen Menschen einen Weg aus der Armut von Mira Schneiders Die Straßenkinder von Phnom Penh haben keine Zeit zum Lernen, denn jede Stunde auf der Schulbank ist eine Stunde ohne überlebensnotwendiges Einkommen. Staatliche Hilfe, um die Straße verlassen zu können, gibt es für diese Kinder nicht. Eine NGO mit Social Business-Ansatz bietet Lösungen an. Srey Mom (Name geändert) war 12 Jahre alt, als sie das erste Mal von ihrer Mutter zum Betteln geschickt wurde. Nachdem ihr Vater an AIDS gestorben war, trieb die Armut ihre Familie aus der Provinz nach Phnom Penh, die Hauptstadt Kambodschas. Ohne Wohnung, ohne Geld, mit einem kleinen Bruder und mit einer von HIV geschwächten Mutter war Srey Mom alleine für das Überleben ihrer Familie verantwortlich. Durch Betteln konnte Srey Mom am Tag weniger als einen US-Dollar einnehmen: kaum genug, um sich über Wasser zu halten. Srey Mom schnüffelte Klebstoff, um ihren Hunger zu unterdrücken. Es gibt zahlreiche Schicksale wie das von Srey Mom. Weltweit leben nach Schätzung von UNICEF zirka 100 Millionen Kinder und Jugendliche auf der Straße. In Kambodscha sind es knapp 6 000 in den sechs größten Städten, mehr als die Hälfte von ihnen lebt in der Hauptstadt Phnom Penh. Viele dieser Kinder haben keinen Kontakt mehr zu ihren Familien und einige sind Waisenkinder. Andere leben und arbeiten zusammen mit ihrer Familie auf der Straße, um durch Betteln, Verkaufen oder Müllsammeln zum Überleben ihrer Familien beizutragen. Sie alle sind besonders gefährdet, Opfer von Gewalt, Menschenhandel und Prostitution zu werden; viele sind mit HIV infiziert, unterernährt und drogenabhängig. Ohne Schulausbildung und andere Berufsqualifikationen haben diese Kinder alleine kaum eine Chance, der Armutsspirale zu entkommen. Das niedrige Bildungsniveau unterscheidet Kambodscha wesentlich von seinen Nachbarn Thailand, Vietnam und Laos. Nur jeder vierte Kambodschaner über 25 hat heute die Primärschulausbildung abgeschlossen. Das niedrige Bildungsniveau ist unter anderem ein Erbe der Roten Khmer-Diktatur, die von 1975 bis 1979 in Kambodscha an der Macht war und als gesellschaftliches Ideal eine Bauerngesellschaft propagierte. Die darauf folgenden, politisch unstabilen Jahre führten auch in den 1980er und 1990er Jahren zu Ausfällen im Bildungssystem.
Erst im Laufe des letzten Jahrzehnts hat sich das Bildungssystem Kambodschas etwas erholt: Schätzungen von UNICEF zufolge besuchten 2008 etwa 80 % der 6–14 jährigen wieder regelmäßig die Schule, ein deutlicher Anstieg im Vergleich zu den Vorjahren. Bei den 15–25 jährigen waren es jedoch nur noch etwa 50 %, die eine Schule besuchten. Die Straßenkinder von Phnom Penh sind nicht unter ihnen, denn jede Stunde auf der Schulbank ist eine Stunde ohne überlebensnotwendiges Einkommen. Es gibt keine staatlichen Ressourcen oder Programme, die diesen Kindern die Möglichkeit bieten, die Straße zu verlassen. Das Mith Samlanh Berufsbildungszentrum in Phnom Penh greift genau diesen Kindern unter die Arme. Seit 1994 hat sich die NGO Friends-International hiermit zur Aufgabe gemacht, den Straßenkindern von Kambodscha durch allgemeine Bildung und Berufsbildung eine bessere Zukunft zu schaffen. Beruf statt Straße, so lautet das inoffizielle Motto des Berufsbildungszentrums. Mit Hilfe von 250 Mitarbeitern werden hier jedes Jahr etwa 750 Jugendliche im Alter von 15–24 Jahren in einem von neun Berufen ausgebildet. Das Programm soll Kindern und Jugendlichen nicht nur eine Ausbildung und einen Berufsweg, sondern auch ein gefestigtes soziales Umfeld und einen geregelten Alltag in einem sonst von Unsicherheit geprägten Leben bieten. Auch Srey Mom gehört jetzt zur Friends-International-Familie: Mit 15 wurde sie beim Betteln von einem Sozialarbeiter der NGO angesprochen. Im Berufsbildungszentrum hatte sie die Wahl, den Beruf der Kosmetikerin, Automechanikerin, Zweiradmechanikerin, Schneiderin, Friseurin, Schweißerin, Computertechnikerin, Elektrikerin oder Köchin zu erlernen. Srey Mom entschied sich für eine Ausbildung zur Kosmetikerin. Der Tag von Srey Mom beginnt früh. Um 7 Uhr wird sie von einem der Mith Samlanh-Busse aus einem Vorort von Phnom Penh abgeholt und in das Berufsbildungszentrum nahe des Königspalastes gebracht. Im Zentrum angekommen läuft ihr Kosmetikkurs bis zum Mittag. Dann versammeln sich alle in der großen Kantine. Wie jeden Tag haben die Schüler der Kochschule für alle frisch gekocht. Am Nachmittag stehen abwechselnd Grundkurse wie Lesen, Schreiben, Rechnen, Khmer Literatur, Englisch und IT und wahlweise Theater, Sport und Musik auf ihrem Stundenplan. p
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Bildung als Teil der Entwicklungspolitik
Auch Srey Moms kleiner Bruder fand Platz im Bildungs zentrum von Mith Samlanh. Hier werden alle Kinder unter 15 Jahren auf den Bildungsstand einer nationalen Schule g ebracht, um zu Beginn des akademischen Jahres in das nationale Schulsystem integriert zu werden. In diesem Jahr ist dies bei 210 der 300 Schüler gelungen. Srey Moms Bruder bleibt noch ein weiteres Jahr im Bildungszentrum. Einige seiner älteren Mitschüler haben eine Ausbildung im Berufsbildungszentrum begonnen. Für viele Schüler ist es unmöglich, das Berufsbildungszentrum für länger als ein paar Wochen oder Monate zu besuchen, da der hiermit verbundene Einkommensausfall sie und ihre Familien finanziell zu sehr belasten würde. Deswegen muss jedes Trainingsprogramm zeitlich flexibel sein. Auch Srey Mom konnte anfangs die Berufsschule nur halbtags besuchen. In der Kosmetikschule schloss sie daher innerhalb eines Monats zunächst die erste Stufe ab (die „Basics“ wie Maniküre und Pediküre). Nach Rücksprache mit ihrer Mutter absolvierte sie später die weiteren Stufen des Programms. Egal bis zu welchem Level es ein Schüler schafft, der jeweilige Betreuer hilft aktiv mit bei der Suche nach einem Job und betreut die Schüler auch in der Zeit danach. Nach einem Jahr verbleiben 78 % der Abgänger in ihrem Job. Mit einem Social Business-Ansatz sichert sich die NGO Friends-International die nötige finanzielle Unabhängigkeit und Nachhaltigkeit. In Phnom Penh hat Friends-International drei große Geschäfte, in denen Produkte aus eigener Her stellung verkauft werden, wie z. B. die der Schüler aus der Schneiderei; e inen Kosmetik-Salon, in dem die Schüler der Beauty-School arbeiten und zwei Restaurants, in denen Abgänger der Kochschule kochen, bedienen und managen. Sie alle sind bei den Touristen und hier ansässigen Ausländern besonders beliebt, die hier mit g utem Gewissen einkaufen,
sich verwöhnen und gut essen können. Das Friends Social Business-Modell trägt wesentlich zur Finanzierung des Programmes bei: 2011 konnten 54 % der Kosten von Mith Samlanh durch den Gewinn von US $ 2 030 770 getragen werden. Weitere finanzielle Unterstützung erhält die NGO von zahlreichen Förderern wie der EU, dem Globalen Fond, der Deutschen Bank, UNICEF, Stiftungen und Privatpersonen. Auch Srey Moms Mutter wird durch das ganzheitliche Programm von Friends-International unterstützt; sie bekommt regelmäßig HIV-Medikamente und verkauft Taschen und Ketten über das Friends-Geschäft. Die Familie hat so ein gesichertes Einkommen von US $ 30 pro Woche. Srey Mom hat ihre Ausbildung fast abgeschlossen und bereits einen Job in einem der zahlreichen Beauty Salons in Phnom Penh in Aussicht. Srey Mom wird hoffentlich nie wieder auf der Straße arbeiten müssen. Das Modell „Beruf statt Straße“ hat Srey Mom und ihrer Familie einen Weg aus der Armut gezeigt und ihr das Handwerk für eine bessere Zukunft vermittelt.
Mira Schneiders, Jg. 1988, studierte Psychologie und Global Health in Manchester und Oxford. Sie ist derzeit Stipendiatin des Mercator Kollegs. Sie beschäftigt sich mit der Frage, wie internationale Organisationen effektivere und nachhaltigere HIV-Programme gestalten können, indem sie sich auf empirische Forschung stützen. Bis Dezember 2012 arbeitete sie im Drogenprogramm der NGO Friends-International in Kambodscha im Bereich der HIV-Prävention.
Bildung in und nach der Krise
Das Recht auf Bildung: Ein Luxus in Krisensituationen? von Stefanie Rinaldi In Krisensituationen geht es für die Zivilbevölkerung oft um das blanke Überleben. Grundversorgung und Sicherheit haben oberste Priorität, Bildung wird zumeist erst wieder thematisiert, wenn sich die Lage stabilisiert. Doch das eine ist nicht vom anderen zu trennen, wie die anhaltende Krise in Syrien zeigt. Seit mehreren Monaten begleiten uns Schreckensbilder aus Syrien täglich in den Medien. Man sieht verstörte, fliehende Kinder; Kinder, die mit Angst und Gewalt leben. Im Juni 2012 legte ein Bericht des UNO-Sonderberichterstatters für Kinder in bewaffneten Konflikten dar, wie Kinder in Syrien als lebende Schutzschilder missbraucht und Opfer von Folter und Massakern werden. Angesichts solch offensichtlicher Menschenrechtsverletzungen wird – verständlicherweise – alltäglicheren Verletzungen von Kinderrechten, wie dem Recht auf Bildung, wenig Beachtung geschenkt. Syrien hat die Kinderrechtskonvention 1993 ratifiziert – nur ein Jahr nach Deutschland und vier Jahre vor der Schweiz. Damit verpflichtete sich Syrien, jedem Kind das Recht auf Bildung zu gewähren. 2009 betrug die Einschulungsquote in der Primarstufe in Syrien noch 94 %, doch angesichts anhaltender Gewalt ist damit zu rechnen, dass diese Zahl seither beträchtlich gesunken ist und auch weiterhin sinken wird. Darauf lassen Berichte des UNO-Hilfswerkes für Palästina-Flücht linge (UNRWA) schließen, wonach mehrere der 118 Schulen der Organisation in Syrien nach den Sommerferien ihre Tore nicht mehr öffnen konnten, weil die Sicherheitslage zu instabil war oder Vertriebene und Schutzsuchende in den Schulhäusern Zuflucht suchten. In den Sommermonaten waren es bis zu 10 000 Personen, die hofften, in den Gebäuden der UNRWA in Sicherheit zu sein, mehrheitlich Frauen und Kinder. Doch weshalb ist es so wichtig, dass Kinder unter allen Umständen in den Genuss von Bildung kommen? Ist es nicht viel dringender, dass sie in Sicherheit sind und ihre Gesundheits- und Nahrungsmittelversorgung gewährleistet ist? Das organisationsübergreifende Netzwerk für Bildung in Krisensituationen (INEE) widmet sich genau diesen Fragen. Dort ist man überzeugt, dass Bildung dazu beiträgt, dass die Lernenden zu aktiven, mündigen und verantwortungsbewussten Mitgliedern der Gemeinschaft werden, die informierte Entscheidungen treffen können. Bildung kann jedoch auch Leben retten, indem sichere Lernorte zur Verfügung gestellt werden, in denen Kinder vor Missbrauch und Leid beschützt werden und in denen die Gefahr gering ist, dass sie von bewaffneten Gruppierungen rekrutiert werden. In Syrien setzen sich aus genau diesen Gründen verschiedene UN-Unterorganisationen sowie Nichtregierungsorganisationen dafür ein, dass Kinder von ihrem Recht auf Bildung Gebrauch machen können. UNRWA beispielweise kündigte an, spezielle
Lernmaterialien zu entwickeln, damit die Kinder den Schulstoff zu Hause bearbeiten können. Für Kinder, die über die Grenzen geflohen und in den Nachbarländern entweder in Flüchtlingscamps untergebracht sind oder von Privatpersonen aufgenommen werden, suchen UNICEF, UNHCR und die UNESCO nach Lösungen. In Jordanien wurde Anfang Oktober eine erste Schule im Za‘ atari Camp eröffnet. Während die Bereitstellung von Infrastruktur und Lehrpersonen für 2 200 Kinder einen Schritt in die richtige Richtung bedeuten, ist es offensichtlich, dass weitere Maßnahmen ergriffen werden müssen, wenn man bedenkt, dass mehr als 10 000 Kinder im Camp untergebracht sind. Für jene Kinder, die sich in Privatunterkünften befinden, gestaltet sich der Zugang zum Bildungssystem noch schwieriger, weil gezielte Hilfe oft schwierig ist. Vor diesem Hintergrund drängt sich die Frage nach Verpflichtungen im Bereich der Bildung in Krisen und Konflikten auf. Wer ist dafür zuständig, dass Kinder Zugang zur Bildung haben, wenn der Herkunftsstaat im Chaos versinkt oder ein Aufnahmestaat nicht die notwendigen Mittel und/ oder den notwendigen Willen hat, diesen zu gewähren? Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft ist in solchen Fällen nicht nur moralisch geboten, sondern auch eine menschenrechtliche Verpflichtung, welche die Mitgliedstaaten der UN mit der Anerkennung des Rechts auf Bildung selbst eingegangen sind. Die internationale Gemeinschaft muss daher konkrete Schritte einleiten, um das Recht auf Bildung auch in Krisensituationen zu verwirklichen. Dies soll nicht nur durch die Bereitstellung von mehr finanziellen Mitteln zu Händen der UN-Organisationen und der in den betroffenen Gebieten tätigen Nichtregierungsorganisationen, sondern auch durch nicht-finanzielle Unterstützung geschehen, wie zum Beispiel durch das zur Verfügung stellen von Infrastruktur, ausgebildetem Personal und Lehrmitteln.
Stefanie Rinaldi, Jg. 1984, war 2011/12 als Mercator-Kollegiatin unter anderem beim UN-Hilfswerk für Palästina-Flüchtlinge (UNRWA) tätig. Sie hat internationale Beziehungen in Genf und wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte in Galway, Irland studiert. Dazwischen arbeitete sie beim Schweizerischen Bundesamt für Migration. Seit 2012 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Zentrum für Menschenrechtsbildung der Pädagogischen Hochschule Luzern.
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Bildung in und nach der Krise
Wenn der Zuwendungsempfänger zum Kunden wird: Außenwissenschaftspolitik mit reichen Postkonfliktstaaten von Alexander Haridi Deutsche Bildungsangebote für ausländische Studenten, Akademiker und Universitäten in Postkonfliktstaaten werden immer mehr als Dienstleistung wahrgenommen, für welche wohlhabende Partnerländer auch gerne zahlen. Doch Institutionen wie der DAAD sind nicht immer an diese neuen Umstände angepasst. Durch das Brennglas des Falles Irak macht der Autor auf ein bislang in der bildungsorientierten Entwicklungspolitik wenig beachtetes Problem aufmerksam. Als Frank-Walter Steinmeier im Februar 2009 als erster Bundesaußenminister seit 22 Jahren nach Bagdad reiste, um deutsche Hilfe beim Wiederaufbau anzubieten, hatte die deutsche Politik etwas gutzumachen. „Kein Blut für Öl“ überzeugte zwar auf deutschen Marktplätzen im Wahlkampf, doch warum Deutschland nicht geholfen hatte, den Schlächter des Iraks zu beseitigen, war auf dem Bazaar von Bagdad schwieriger zu begründen. Es fiel auch in Washington nicht leicht. Unter den mit Steinmeier reisenden Abgeordneten und Wirtschaftsvertretern befand sich auch der Repräsentant einer deutschen Institution, die keine Gewinne macht, doch ihren Umsatz stetig mehrt: Christian Bode, Generalsekretär des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD). Einige Wochen zuvor war ein Anruf der für Kultur zuständigen Abteilung des Auswärtigen Amtes (AA) beim DAAD eingegangen, der ein Millionenbudget für ein Sonderprogramm für Hilfe beim Wiederaufbau der irakischen Hochschulen in Aussicht stellte. Der DAAD, der öffentlich finanziert und vom AA als Instrument der auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik eingesetzt wird, hatte aus seinem Baukasten rasch ein attraktives Maßnahmenbündel zusammengestellt: Mit länderübergreifenden Hochschulpartnerschaften, Stipendienprogrammen für irakische Master- und Promotionsstudierende, Gerätespenden und Workshops waren alle Mittel dabei, die sich über die Jahre im akademischen Austausch bewährt haben.
Rund drei Jahre später ist die offizielle Bilanz noch nicht gezogen, doch dürfte der akademische Austausch zu den wirkungsvollsten und am besten funktionierenden Instrumenten der deutschen soft diplomacy im Irak gehören. Wo die schwierige Sicherheitslage, die grassierende Korruption und die konfessionelle und ethnische Fragmentierung die Kultur- und Spracharbeit, die Aktivitäten der politischen Stiftungen und sogar den Außenhandel schwierig bis unmöglich machen, funktioniert die Ausbildung von Hunderten irakischer Nachwuchswissenschaftler an deutschen Hochschulen insgesamt gut – bei allen Schwierigkeiten im Einzelfall. Wenn die Stipendiaten mit ihren Master- und Doktorentiteln nach der Ausbildung in den Irak zurückkehren und an ihren Heimathochschulen die Chance zur Entfaltung erhalten, werden wir von Dohuk bis Basra bereits in wenigen Jahren über ein dichtes Netz von exzellenten Fachleuten mit Deutschlandbindung verfügen. Jeder Einzelne kann eine neue Generation von Schülern heranziehen und als Fachmann oder Fachfrau den Wiederaufbau der Gesellschaft begleiten. Soweit so gut – und bekannt aus der Entwicklungspolitik. Tatsächlich zeichnet sich hinter dem bekannten Muster nach und nach ein neues Paradigma ab, das die Institutionen der auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik noch nicht wirklich verstanden haben. Denn der Irak ist nicht nur reich an Konflikten, er ist es auch an Erdöl – und die Einnahmen aus den Rohölverkäufen steigen rapide an. Obgleich Korruption und Sicherheitsvorkehrungen einen hohen Preis fordern, bleiben Milliarden für Investitionen übrig, auch im Bildungsbereich.
Bildung in und nach der Krise
Wenn aus dem Empfänger von außenpolitisch motivierten Zuwendungen ein Kunde wird, verändert dies die Anforderungen an den Geber, nun: Dienstleister. Der Kunde gibt den Rhythmus vor, nicht die Jahresplanung des DAAD.
Auf dem Weltmarkt für Bildung sind die angelsächsischen Systeme bestens aufgestellt und bieten alles an, was ein Hochschul- und Wissenschaftsministerium sich wünschen mag bzw. sich leisten kann. Doch inzwischen macht sich auch Ernüchterung breit, insbesondere, was den Bildungsstandort Großbritannien betrifft. Zu viele Iraker mit akademischen Titeln britischer Hochschulen sind ohne ausreichend tiefgreifende Kenntnisse nach Hause zurückgekehrt, einige sogar angeblich ohne wirklich Englisch gelernt zu haben. Overseas students, welche die höchsten Studiengebühren zahlen und damit die britischen Universitäten maßgeblich finanzieren, erhalten zwar einen Abschluss für ihr Geld, aber offenbar nicht immer eine solide Ausbildung. Demgegenüber erscheint das deutsche Bildungsangebot plötzlich sehr attraktiv. Zwar mag es in mancher Hinsicht sperrig sein, doch verlangt es seinen Studierenden viel ab – und lässt sie manchmal gar scheitern. Dies kann auch als Beweis für Ernsthaftigkeit gesehen werden. Immer häufiger wenden sich jedenfalls Hochschulministerien wohlhabender Partnerländer an den DAAD, um mit eigenen Mitteln Leistungen aus dem deutschen Hochschulbereich einzukaufen. Plötzlich wird aus dem Zuwendungsempfänger ein Kunde. Der Kunde heißt nicht ausschließlich Irak, er könnte auch Libyen, Tschetschenien, Aserbaidschan oder Angola heißen. Statt der jährlich 20 von Deutschland finanzierten Stipendien möchte das Hochschulministerium in Bagdad beispielsweise 100, bezahlt aus eigenen Mitteln. Zudem ein Managementtraining für sämtliche Institutsleiter einer Universität, nicht lediglich einen Platz. Vielleicht sogar eine Fakultät für Medizin mit Lehrkrankenhaus. Oder gleich eine deutsche Universität im Irak. „Money is not an issue“ lautet der meistgehörte Satz in diesem Zusammenhang.
Die Reaktionen in den deutschen Institutionen selbst sind ambivalent. Sicherlich freuen sich deren Haushälter über frei einsetzbare Mehreinnahmen, doch der Apparat ist darauf ausgerichtet Geld auszugeben, nicht es zu verdienen. Wie sind die Einnahmen für einen auf Gemeinnützigkeit ausgerichteten Verein steuerlich zu bewerten? Wie setzen wir Programmwünsche um, die in den eigenen Regelwerken nicht vorgesehen sind, die wir allerdings gar nicht aus öffentlichen Mitteln finanzieren müssen? Wie dokumentieren und evaluieren wir unsere Leistung gegenüber dem Kunden? Wie schulen wir unsere Mitarbeiter, die bislang trainiert worden sind, die öffentlichen Mittel sachgemäß „abfließen“ zu lassen, darin, Drittmittel zu akquirieren und zur Zufriedenheit des Kunden umzusetzen? Hier stehen die Mittlerorganisationen der auswärtigen Kulturund Bildungspolitik, anders als die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit, vor einer Veränderung, die heute noch randständig erscheinen mag, aber an Bedeutung zunehmen wird. Sollte der große Zuwendungsgeber, das Auswärtige Amt, die ganze Dynamik im Keim ersticken wollen, hier ein Tipp: Die eingeworbenen Fremdmittel einfach von der Zuwendung abziehen. Dann bliebe alles, wie es war, aber schon seit einiger Zeit nicht mehr gut ist.
Alexander Haridi, Jg. 1967, absolvierte das damalige Bosch-Stiftungskolleg 1997/98. Sein erster Job ergab sich aus seinem Praktikum im Studienkolleg: Er wurde Büroleiter der NGO „Euro-Arab dialogue from below“ in Rabat, Marokko. Danach arbeitete er für den DAAD von 1999 bis 2009 erst als Leiter der Außenstelle Kairo, dann im Hochschulmarketing. Seit 2009 ist er Referatsleiter für den Irak und den Iran.
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Perspektiven für Flüchtlinge durch Hochschulbildung von Corinna Frey und Leana Podeszfa Für Kinder, die in Flüchtlingslagern aufwachsen, ist es bereits sehr schwierig, die Grundschule zu besuchen. So ist es kein Wunder, dass nur ein verschwindend kleiner Anteil aller Flüchtlinge weltweit es schafft, ein Studium zu absolvieren. Die wenigen, die dieses Glück haben, können jedoch in ihren Heimatländern eine wichtige Rolle spielen. Wenn Kave Bulambo spricht, hängt das Publikum an ihren Lippen. Selbstbewusst sitzt die 26-jährige Kongolesin auf dem Podium vor Dutzenden von Ministern, Diplomaten und UN-Mitarbeitern bei einer Veranstaltung des Flüchtlingswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) zum Thema Hochschulbildung in Afrika. Kave Bulambo hat zu diesem Thema einiges zu sagen, denn als sie im Jahr 2000 ihr Heimatland, die Demokratische Republik Kongo, verlassen musste und mit ihren Brüdern und Schwestern nach Südafrika floh, schienen Schule und Bildung zunächst unerreichbar. Doch jeder hart verdiente Cent der Geschwister wurde in Schuluniformen und Bücher gesteckt. Mittlerweile gehört Kave zu den wenigen Flüchtlingen ihrer Generation, die studieren konnten. Diese Möglichkeit bot ihr ein Stipendium der Deutschen A kademischen Flüchtlingsintitiative (DAFI).
„Dieses Stipendium hat mein Leben verändert und mir die Möglichkeit gegeben, die Person zu werden, die ich heute bin“. Das vom UNHCR koordinierte Programm, das von der deutschen Bundesregierung finanziert wird, unterstützt jedes Jahr etwa eintausend Flüchtlinge bei einem Hochschulstudium, meist in ihren Aufnahmeländern.
Fehlende Finanzierung ist allerdings nur ein Grund, warum weniger als ein Prozent aller Flüchtlinge studieren, im Gegensatz zu 26 % aller jungen Menschen weltweit. Viele Flüchtlinge haben keinen Zugang zu Grundschulen, geschweige denn Sekundarschulen. Zwar besuchen weltweit ca. 76 % aller Flüchtlingskinder die Grundschule, doch in vielen Krisensituationen liegen die Zahlen weit niedriger. Im Flüchtlingslager Dadaab in Kenia sind es sogar nur 52 %. Noch niedriger ist die Zahl der Flüchtlinge in Sekundarschulen. Sie liegt bei nur 36 %, wobei Mädchen besonders benachteiligt sind. So gehen etwa am Horn von Afrika nur halb so viele Mädchen wie Jungen zur Schule. Die Schüler, die das Glück haben, eine Schule zu besuchen, lernen unter erschwerten Bedingungen. Die meisten Lehrer haben selbst nur eine eingeschränkte Ausbildung genossen. Die Klassen sind viel zu groß und oft wird im Schichtbetrieb unterrichtet; es fehlt an Büchern und anderen Lehrmaterialien. Unter solchen Umständen verwundert es nicht, dass beispielsweise nur 6 % der eritreischen Flüchtlingskinder in Äthiopien in der 4. Klasse ihrem Alter entsprechend lesen können. Woran liegt es, dass Bildung in Flüchtlingssituationen so vernachlässigt wird? Audrey Nirrengarten, UNHCRBildungsreferentin und Verantwortliche für das DAFI-Stipendienprogramm betont, dass das UNHCR nur über ein beschränktes Budget verfügt und in Krisensituationen zuerst die sogenannten „immediate basic needs“ deckt. Darunter fällt vor allem die Versorgung der Flüchtlinge mit genügend Wasser und Nahrung, einer Unterkunft und Gesundheitsleistungen. Bildung ist keine Priorität – was auf den ersten Blick Sinn machen mag. Doch bei genauerem Hinsehen wird schnell klar, dass Bildung nicht von der Bereitstellung von Grundversorgung zu trennen ist. So können beispielsweise ausgegebene
s Ein ruandischer Flüchtling. Sie arbeitete als Parkplatzwärterin und b ekam dann ein DAFI Stipendium, um Medizin zu studieren. Sie a rbeitet jetzt in einem Krankenhaus in Durban, Südafrika.
Bildung in und nach der Krise
f Viviane Wandja lebt in einem Flüchtlingslager in Kenia. Sie träumt davon zur Schule zu gehen und Pilotin bei Kenyan Airways zu werden.
Medikamente nur richtig eingenommen werden, wenn man die Packungsbeilage lesen kann. Zudem bieten Schulen Schutz vor Rekrutierung durch Rebellen und Normalität für traumatisierte Kinder. Laut Nirrengarten ist das überzeugendste Argument jedoch, dass Bildung und Wissen persönliche sowie gesamtgesellschaftliche Perspektiven eröffnen, die Friedens förderdung und Wiederaufbau aus eigener Kraft überhaupt erst ermöglichen. Deshalb schlägt das UNHCR in seiner Bildungsstrategie 2012–2016 zum einen „distance-learningprogrammes“ vor. Zum anderen werden Partnerschaften mit lokalen Universitäten vor Ort angestrebt, um Hochschul bildung auch in Flüchtlingssituationen zu ermöglichen.
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i Sudanesische Flüchtlinge aus Darfur konzentrieren sich in einer weiter führenden Schule auf Prüfungen, die ihnen den Zugang zur Universität in Chad verschaffen können.
Dank ihres Studiums hat auch Kave heute eine Perspektive. Sie ist nun studierte Psychologin und absolviert derzeit einen Master in Gender Studies, den sie sich selber finanziert. Ihr Erfolg hat auch ihre kleine Schwester, Colette, angespornt, die nun an der Harvard Universität studiert. Doch ihre Motivation und ihr Wissen gibt sie nicht nur an ihr direktes
Umfeld weiter. Sie möchte viele Menschen erreichen und gründete deshalb die NGO Women Across Borders. Diese hilft benachteiligten Frauen durch verschiedene Kurse und Workshops bei Familienplanung, Alphabetisierung oder Umgang mit Geld. Auch andere Flüchtlinge, die eine Hochschulbildung genossen haben, geben ihren Erfolg an ihre Gemeinden weiter. Ein DAFI-Stipendiat, der mittlerweile in sein Heimatland zurückkehren konnte, ist heute Minister der liberischen Regierung im Bereich Forschung und Kultur. In Ghana legen DAFIStipendiaten einen Teil ihres Stipendiums zusammen und finanzieren dadurch jedes Jahr einem Mädchen aus dem Flüchtlingslager Krisan in Ghana den Besuch der Oberschule. Genau darin liegt die große Chance von Hochschulbildung: Sie gibt jungen Leuten die Möglichkeit, ihre Gemeinden zu unter stützen, Führungsrollen zu übernehmen und ihre krisengeplagten Länder wieder aufzubauen. Auch Kave plant, in den Kongo zurückzukehren, um mit ihrer NGO anderen Vertriebenen die Chancen zu geben, die sie selbst in ihrem Heimatland nicht hatte.
Corinna Frey, Jg. 1987, studierte Sozialpädagogik und Politik-
Leana Podeszfa, Jg. 1986, studierte Politik und Entwicklungsstudien
wissenschaften mit dem Schwerpunkt Internationale Beziehungen/
in Nottingham und Oxford und ist derzeit Kollegiatin des Mercator
Friedens- und Konfliktforschung in Erfurt und Frankfurt am Main.
Kollegs. Sie arbeitete für das Rote Kreuz und die Internationale Orga-
Mit besonderem Interesse an langfristigen Lösungen für Flüchtlings-
nisation für Migration im Schutz von Migranten und Flüchtlingen.
situationen arbeitete sie mit Caritas in palästinensischen Flüchtlings-
Zurzeit baut sie für das Fahamu Refugee Programme ein Netzwerk auf,
lagern sowie mit dem Jesuit Refugee Service in Lagern in Südafrika.
welches Organisationen vernetzt, die mit abgelehnten Asylbewerbern
Zur Zeit arbeitet sie in der Bildungsabteilung des UNHCR in Genf
nach der Abschiebung arbeiten. Außerdem arbeitet sie für das UNHCR
mit besonderem Fokus auf Stipendienprogramme für Flüchtlinge.
in der Abteilung Ostafrika im Flüchtlingsschutz.
Heft 12 erscheint im im Herbst 2013