ad hoc 13: Menschen auf der Flucht

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Heft 13: September 2014

ad hoc international

Menschen auf der Flucht

Wie Europa seine Verantwortung ignoriert Gesprächsrunde mit Nefiaten zur Europäischen Migrationspolitik Interview mit Bundesentwicklungsminister Dr. Gerd Müller Bericht aus dem Vertriebenenlager im UN-Stützpunkt in Juba Fluchthelfer oder Schlepperschlepperbanden? Interview mit Burkhart Veigel Der lange Weg von Syrien nach Deutschland


Autoren „Suche nach menschlicher Asylpolitik“ p Seite 2 Valeska Onken, Jg. 05/06 im Stiftungskolleg, arbeitet seit 2012 als Koordinatorin des globalen Programms Migration für Entwicklung im Centrum für internationale Migration u. Entwicklung der GIZ in Eschborn. Als Migrationsexpertin beschäftigt sie sich besonders damit, wie man die Potenziale von Migranten u. Flüchtlingen für die Entwicklung der Herkunftsländer in Wert setzen kann.

„Der Asylkompromiss in Deutschland und Europa“ p Seite 8 Leana Podeszfa, Jg. 12/13 im Mercator Kolleg, arbeitet als Associate Resettlement Officer ( JPO) für das UNHCR in Pakistan. Zuvor war sie von der NGO RefugePoint an das UNHCR in Burundi als Resettlement Expertin ausgeliehen. Ihre Expertise liegt im Bereich Menschenrechte und Migration im Osten und Horn von Afrika. leanapodeszfa@gmail.com

„Der Schutz von Flüchtlingen im südsudanesischen Bürgerkrieg“ p Seite 16 Nicolai von Hoyningen-Huene, Jg. 11/12 im Mercator Kolleg, ist derzeit als Referent für humanitäre Angelegenheiten für die UN-Mission im Südsudan (UNMISS) tätig. Im Rahmen des Mercator Kollegs beschäftigte er sich mit den Themen Krisenprävention und Konflikt­bewältigung in Nachkriegsländern. nvhuene@gmail.com

„Suche nach menschlicher Asylpolitik“ p Seite 2 Jakob Preuss, Jg. 01/02 im Stiftungskolleg, ist selbständiger Filmemacher, der auch im politischen Bereich tätig ist. Sein LangfilmDebut „The Other Chelsea“ wurde u. A. mit dem Max-Ophüls-Preis 2011, dem First Step Award und dem Grimme-Preis 2012 ausgezeichnet. Derzeit arbeitet er an einem Dokumentarfilm zu Europas Grenzen. jakobpreuss@gmx.net

„Humanitäre Hilfe für Menschen auf der Flucht“ p Seite 12 Christoph Strässer, Gastautor in der ad hoc international, ist seit Januar 2014 als Beauftragter der Bundesregierung für Menschenrechtspolitik und Humanitäre Hilfe im Auswärtigen Amt in Berlin tätig.

„Auf der Flucht“ p Seite 18

Jörg Walendy, Jg. 03/04 im Stiftungskolleg, ist derzeit als Leiter der Rechts- und Konsular­ abteilung Libanon und Syrien im Auswärtigen Amt in Beirut tätig. Er ist Autor des Kriminalromans „Tage der Unabhängigkeit“, der vor dem Hintergrund des arabischen Frühlings spielt und arbeitet gerade Fluchterlebnisse authentischer Personen in Form einer Fiktion auf. rk-1@beir.auswaertiges-amt.de

„Flüchtlinge in Griechenland“ p Seite 5 Katharina Cramer-Hadjidimos, Jg. 98/99 im Stiftungskolleg, arbeitet derzeit als Regierungs­direktorin in der Abteilung Kultur und Kommunikation im Auswärtigen Amt. Sie ist Halbgriechin mit Wohnsitz in Griechenland und beschäftigt sich – in Verbundenheit zum Land – aktuell besonders mit der Situation der irregulären Migranten in Griechenland. hadjidimos@icloud.com

„Grenzen ziehen“ p Seite 13

Stefanie Rinaldi, Jg. 11/12 im Mercator Kolleg, untersucht derzeit in ihrer Promotion an der Universität Magdeburg die Einstellungen von Lehrpersonen in der Sekundarstufe II zur Menschenrechtsbildung. Sie beschäftigte sich bisher mit Fragen der Menschenrechts­bildung und der Rechte von MigrantInnen. stefanie.rinaldi@bluewin.ch

„Enttäuschte Hoffnungen“

p Seite 20

Sarah Hasselbarth, Jg. 12/13 im Mercator Kolleg, arbeitet derzeit als unabhängige Gutachterin, u. A. für die Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit in Berlin. Sie setzte sich bisher intensiv mit Fragen der Flüchtlings- und Außenpolitik in der NahostRegion, insbesondere mit der syrischen Flüchtlingskrise auseinander. hasselbarth.sarah@googlemail.com

Impressum ad hoc international Zeitschrift des Netzwerks für internationale Aufgaben – Stiftungskolleg und Mercator Kolleg Alumni e. V. (nefia), Heft 13, September 2014; ISSN-Print: 2198-4883, ISSN-Online: 2198-4891 Herausgeber: Netzwerk für internationale Aufgaben – Stiftungskolleg und Mercator Kolleg Alumni e. V.

nefia ist der Alumniverein für die Absolventen des Mercator Kollegs und des früheren Stiftungskollegs für internationale Aufgaben, um nach der Zeit im Kolleg im Kontakt zu bleiben und berufliche Netzwerke zu pflegen. Darüber hinaus mischen wir uns mit Veranstaltungen und Publikationen in global relevante Themen ein und unterstützen die aktuellen Stipendiatinnen und Stipendiaten bei der Planung und Durchführung ihrer Projektvorhaben. Redaktion: Hanna Baumann (Chefredaktion), Stephanie von Hayek (Chefredaktion), Sebastian Boll, Jann Böddeling, Silvia Danielak, Sarah Hasselbarth, Johanna Havemann, Christina Hübers (Prozessbegleitung und Endredaktion), Julia Ismar, Daniel Maier (CSP-Netzwerk), Florian Neutze, Leana Podeszfa (Fotoredaktion), Mara Skaletz (CSPNetzwerk), Angelika Wierzba

Redaktionsanschrift: nefia e.V., Neue Promenade 6, 10178 Berlin, Telefon +49 (0)30 288 733 97, Fax +49 (0)28 873 398, Kontakt: info@nefia.org, www.nefia.org Bildnachweis: Titelbild „Thousands Displaced by Floods and Conflict near Jowhar, Somalia“ November 2013, Tobin Jones / UN Photo (Cover), Markus Ortner (Seite 2), PercyGermany (Seite 2), no border network (Seiten 4-5), Efi Latsoudi (Seiten 6-7), Sara Prestianni (Seite 8), no border network (Seite 9) , Strassenstriche.net (Seite 9), Friederike Kärcher / Bundesministerium für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit (Seiten 10-11), Brian Sokol, UNHCR / DFID (Seite 12), Sascha Erni (Seite 13), Dominik Butzmann, Berlin (Seite 14), S. Swierczyna, Caepsele Offenbach (Seite 15), Albert González Farran & Isaac Billy / UNPhoto (Seite 16), DG ECHO (Seite 17), Geoff Pugh / Oxfam International (Seite 17), Jörg Walendy (Seiten18-19), Sarah Hasselbarth (Seiten 20-21) Bezugsmöglichkeiten: Erscheinungsweise: halbjährlich, kostenlos, zzgl. Portokosten bei Versand ins Ausland, Erscheinungsform: online und print; Printauflage: 1000 Exemplare, Anfragen an info@nefia.org Idee: Ines Wolfslast Gestaltung: Ungermeyer, grafische Angelegenheiten Druck: Herforder Druckcenter Danksagung: Diese Publikation wurde vom Mercator Program Center on International Affairs gefördert. Die Beiträge spiegeln die persönliche Meinung der Autorinnen und Autoren wider.


Editorial

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Liebe Leserinnen und Leser! „Es ist damit wie mit unserem Leben; es ist nicht viel wert, aber es ist alles, was wir haben“, schrieb Sigmund Freud. Menschen auf der Flucht wollen dieses Alles, sie wollen ihr Leben retten. Sie fliehen vor Krieg und Armut, sie fliehen in der Hoffnung auf Sicherheit, sie fliehen in der Hoffnung auf ein anderes, ein besseres Leben. Und verlieren Heimat, Familie, Freunde, Haus. Von den 9 Millionen Syrern, die aus ihrer Heimat ge­ flohen sind, hat Deutschland bisher gerade einmal 5 400 auf­genommen. Das ist ein humanitäres Armutszeugnis. Was gerade in einem sehr reichen Land wie Deutschland ein Akt der Menschlichkeit sein müsste – daran hat der Schrift­ steller Navid Kermani in seiner Rede zum 65. Jahrestag des Grundgesetzes im Bundestag erinnert – stößt auf Wider­ stände. Widerstände, errichtet von der Politik, umgesetzt von der Bürokratie; Widerstände im Kopf jedes Einzelnen: „Wir können doch nicht allen helfen.“ Falsch. Finden unsere Autoren und fordern ein beherztes Eingreifen. Europa, was tust du? Auf diese Frage haben wir unseren ersten Scheinwerfer gerichtet: Claus-Ulrich Prölß, Geschäftsführer des Kölner Flüchtlingsrates, stellte schwierige Fragen zur aktu­ ellen EU-Flüchtlingspolitik an die Nefiaten Valeska Onken und Jakob Preuss, beide Experten auf dem Gebiet der Migration, und entfachte damit eine intensive Diskussion innerhalb unseres Netzwerks. Katharina Cramer-Hadjidimos beschreibt die erschütternde Situation für Flüchtlinge und Migranten, die ihren Weg über das Mittelmeer auf die griechische Insel Lesbos finden und fordert mehr deutsches und europäisches Engage­ ment für die EU-Nachbarstaaten, die Flüchtlinge aufnehmen. Leana Podeszfa blickt zurück auf den Asylkompromiss von 1993, ein historischer Wendepunkt im Selbstverständnis Deutschlands in Bezug auf seine Verantwortung gegenüber po­ litisch Verfolgten, der bis heute Nachwirkungen zeigt. Stefanie Rinaldi erörtert am aktuellen Beispiel des Schweizer Volksbe­ gehrens zur Masseneinwanderung die Reibungspunkte zwischen

Hanna Baumann

basisdemokratischem Willen und völkerrechtlichen Verpflich­ tungen gegenüber Flüchtlingen. Der ehemalige Fluchthelfer an der deutsch-deutschen Grenze Burkhart Veigel schildert, wie sich das negative Image der Fluchthelfer ge­wandelt hat. Der zweite Scheinwerfer beleuchtet aktuelle Flüchtlingssitua­ tionen: Nicolai von Hoyningen-Huene berichtet von dem UN-Stützpunkt im südsudanesischen Juba, wo mehr als 70 000 Menschen zu Binnenvertriebenen geworden sind. Jörg Walendys fiktiver Text zeichnet die Schritte der Flucht einer Syrerin nach, die das Glück hat, aus einem Aufnahmelager im Libanon nach Deutschland zu gelangen und doch keineswegs glücklich ist. Sarah Hasselbarth berichtet von den Hoffnungen zweier junger Syrer auf einen Neuanfang in Europa. Besonders freuen wir uns, dass Bundesentwicklungsminister Dr. Gerd Müller bereit war, uns zu beantworten, wie die deut­ sche Flüchtlingspolitik verantwortungsvoller gestaltet werden kann. Christoph Strässer, Beauftragter der Bundesregierung für Menschenrechte und humanitäre Hilfe, beschreibt, wie das Auswärtige Amt Hilfe für Flüchtlinge leistet. Am 20. September 2014 findet das Kolloquium unseres Netz­ werks statt. In einer Diskussionsveranstaltung im Berliner GorkiTheater setzen wir unsere hier begonnene Diskussion zum Thema Flucht fort und laden Sie herzlich ein, mit uns zu diskutieren. Mehr als 50 Millionen Menschen sind derzeit weltweit auf der Flucht. Von ihnen geht ein Appell aus: Bitte, hilf. Hilf mir, hilf meinen Kindern, hilf meinen Eltern. Wir sind gefragt. Im Kleinen können wir sofort beginnen zu helfen: Am Ende unseres Heftes rufen wir zu einer Spende auf, um syrischen Kindern einen Internatsplatz an der religionsübergreifenden Johann Ludwig Schneller Schule im Libanon zu finanzieren. Wir wünschen eine wachrüttelnde Lektüre.

Stephanie von Hayek

Über Leserbriefe freut sich die Redaktion: redaktion@adhoc-international.org, e­benso wie über B ­ esuche und einen regen Austausch auf w ­ ww.facebook.com/adhocinternational.


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nefia-Gesprächsrunde

Auf der Suche nach neuen Ansätzen einer menschlichen Asylpolitik: Nefiaten im Gespräch Auf der Suche nach neuen Ansätzen: nefia-Alumni Valeska Onken und Jakob Preuss im Gespräch mit dem Geschäftsführer des Kölner Flüchtlingsrates Claus-Ulrich Prölß – Ein Plädoyer für mehr Solidarität mit Flüchtlingen und eine menschliche Asylpolitik in der EU. Prölß: Erklären Sie das Asylsystem der Europäischen Union für gescheitert? Preuss: Der Europäischen Union ist es nicht gelungen, ein men­ schenwürdiges System zu schaffen, welches Flüchtlingen ein faires und schnelles Verfahren garantiert; Menschen, die einen Antrag auf Asyl stellen, wird häufig das Gefühl vermittelt, sie seien Kriminelle. Die Anwendung der unsäglichen Dublin-Regelung führt dazu, dass Flüchtlinge oft in Länder zurückgeschickt werden, wo die Aussichten auf Asyl am geringsten sind und wo sie durch die anhaltende wirtschaftliche und soziale Krise wenig bis keine Aussicht auf ein besseres Leben haben. Zwar gibt es zum Beispiel in Griechenland erste Anzeichen einer verbesserten Durchführung des Asylverfahrens. Allerdings werden die neuen Regelungen und Antragsannahmezentren auch dazu genutzt, die Ausstellung von Ablehnungsbescheiden und die Abschiebung zu beschleunigen. Migranten, deren Asyl­ anträge abgelehnt wurden, werden ähnlich wie Straftäter bis zu achtzehn Monate eingesperrt. Die Mitgliedstaaten der EU ha­ ben es nicht geschafft, Solidarität und Schutz für Flüchtlinge zu gewähren. In Anbetracht der humanitären Katastrophe in Syrien und der Anstrengungen der Nachbarländer Libanon, Türkei und Jordanien bei der Aufnahme von Flüchtlingen ist dies ein Armutszeugnis. Prölß: Wie kann man aus Ihrer Sicht das Sterben von Flüchtlingen auf dem Mittelmeer verhindern und gleichzeitig den effektiven Zugang zu einem rechtsstaat­lichen Asylverfahren sicherstellen? Onken: Die irregulären Migranten, welche die gefährliche Reise über das Mittelmeer auf sich nehmen, sind nicht alle Flüchtlinge nach der Genfer Flüchtlingskonvention. Das macht die Reise aus Sicht der Flüchtlinge nicht weniger verzweifelt oder legitim, ist aber wichtig, um die Haltung der Zielstaaten zu verstehen: Diese haben keine international-rechtliche Ver­ pflichtung, Menschen ohne Flüchtlingsstatus aufzunehmen. Die Anerkennung des Flüchtlingsstatus kann erst stattfinden, wenn die betroffenen Menschen die beschwerliche Reise hinter sich haben.

Gleichzeitig haben die Staaten die Verpflichtung, keine Asyl­ suchenden von ihren Grenzen abzuweisen. Die tragischen Ereig­ nisse vor Europas Küsten sind das Ergebnis einer Praxis der bewussten Umgehung dieses Gesetzes. Die EU-Agentur Frontex handelt dabei im Auftrag der EU. Das bedeutet: Anstatt der Schutzverpflichtung nachzukommen, werden die überfüllten Boote zur Umkehr gezwungen.

„Es muss eine Politik gestaltet werden, die mehr legale Wege in die EU ermöglicht.“ Wir brauchen eine Politik, die mehr legale Wege in die EU ermöglicht. Die europäischen Länder könnten viel mehr über­ gesiedelte Flüchtlinge oder Kontingenzflüchtlinge aufnehmen, als das momentan der Fall ist. Wenn diese Menschen die Flüchtlingsanerkennung schon in der Herkunftsregion bekämen, könnten sie sicher in ein Aufnahmeland gebracht werden. Es ist absurd, in Europa von Fachkräftemangel zu sprechen, und Asylbewerbern nicht zu gestatten, zu arbeiten oder sich aus­ bilden zu lassen. Noch absurder ist es, Migranten mit Qualifika­ tionen abzuweisen, die andererseits durch Anwerberprogramme händeringend gesucht werden. Preuss: Allen Flüchtlingen sollte die Einreise gewährt werden, „legal und gefahrenfrei“, wie es die Menschenrechtsorganisation ProAsyl ausdrückt. Das bedeutet: Die Aufhebung der allge­ meinen Visapflicht. Unvermeidbar ist ein fundamentales Umdenken bei der Ein­ wanderungspolitik. In vielen Mitgliedstaaten, gerade auch in Deutschland, werden alle Migranten in das Korsett des Asyl­ verfahrens gesteckt, auch wenn das weder der Realität und den Bedürfnissen der Migranten noch derer der Aufnahmeländer entspricht. Deutschland ist weit davon entfernt, verstanden zu haben, dass die Zukunft Europas, ob man es will oder nicht, auch von einer sinnvoll gestalteten und fortschrittlichen Ein­ wanderungspolitik abhängt.


nefia-Gesprächsrunde p Graffiti von Banksy auf der israelischen Mauer im Westjordanland, nahe Bethlehem

Prölß: Sollte man – abgesehen von vorhandenen Aufnahmeregelungen und Resettlement-Programmen – zusätzliche Instrumente schaffen, um die Einreise von Flüchtlingen in die Europäische Union und nach Deutschland zu legalisieren? Onken: Auf jeden Fall. Man muss nur mal Deutschland und Schweden vergleichen, zwei Länder, die nicht am Mittelmeer liegen und somit keine Ersteinreiseländer sind. In Schweden hat man sich verpflichtet, mehr humanitäre Flüchtlinge aufzu­ nehmen und bietet gleichzeitig denjenigen Migranten, die nicht als Flüchtlinge anerkannt werden und denen somit Asyl verweigert wird, die Möglichkeit, sich über wirtschaftliche Kriterien, also über den Arbeitgeber, für einen permanenten Aufenthaltsstatus zu qualifizieren. In Deutschland ist es so, dass das Asylsystem und die Arbeits­ migration weiterhin zwei komplett getrennte Prozesse sind. Und seien wir doch mal ehrlich: Wir bekommen in Deutschland nicht die Massen an unqualifizierten Migranten. Die Men­ schen, die es schaffen, mit einem Flugzeug in Deutschland ein­ zureisen und gleich am Flughafen Asyl zu beantragen, sind meist gut vernetzt und haben die finanziellen und sozialen Res­ sourcen, sich gut in Deutschland zu integrieren. Wir können ja in Deutschland anfangen, Immigranten als Menschen zu be­ handeln und nicht als Bettler, die uns etwas wegnehmen wollen.

s Wandaufschrift in Leipzig

Preuss: Das stimmt. Herr Prölß, wie sehen Sie das aus der Perspektive Ihrer Arbeit als Geschäftsführer des Kölner Flüchtlingsrates?

„Gerade jetzt bräuchten wir … große Aufnahmekontingente ohne große Hürden.“ Prölß: Ich muss feststellen, dass die nationalen Resettlementund Aufnahmeprogramme der EU-Staaten nur eine geringe Zahl von Plätzen bieten – bezogen auf die vom Flüchtlings­ hilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) geforderten Kontingente. Das Beispiel Syrien macht doch deutlich: Es gibt keine gemeinschaftliche und solidarische Hilfe für syrische Flüchtlinge. Auch die deutschen Aufnahmeprogramme sind Tropfen auf den heißen Stein. Ihre Hürden sind für die meisten unüberwindlich. In der Praxis haben wir es mit Familien­ tragödien im wahrsten Sinn des Wortes zu tun. Ganze Familien­ verbände befinden sich zum Teil in unvorstellbarer Not, sind krank und traumatisiert, leben in Angst und ohne Perspektive. Gerade aktuell müssen wir den in Deutschland lebenden Ange­ hörigen sagen: Die Programme sind größtenteils geschlossen. Es gibt von Seiten Deutschlands und der EU keinerlei weitere Hilfen. Es gibt nur den Weg der illegalen Einreise! Gerade jetzt bräuchten wir aber große Aufnahmekontingente ohne große Hürden – und die nicht nur in Deutschland – für syrische Flüchtlinge. Wir bräuchten eine erleichterte Visaerteilung auch ohne die Verpflichtung zur Lebensunterhaltssicherung. Das wäre effektive und unbürokratische Hilfe! p

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nefia-Gesprächsrunde

Auch würde ich es sehr begrüßen, wenn endlich der Irrglaube abgelegt würde, wonach jegliche Form der Integration dazu führt, dass die Menschen, die nach Deutschland kommen, für immer und ewig hier bleiben wollen. Die meisten Flüchtlinge und Migranten, die ich kenne, haben eine tiefe Verbundenheit mit ihrem Herkunftsland und planen langfristig, wenn es die Sicherheitslage erlaubt, wieder zurück zu kehren. Integration, die Erlaubnis zu arbeiten oder sich auszubilden, ist für diese Menschen eine Befähigung, in ihren Herkunftsländern eine konstruktive Rolle zu spielen. Denjenigen, die hier jahrelang auf ihre Aufenthaltsgenehmigungen warten müssen und in der Zeit nichts machen dürfen, fällt es viel schwerer, jemals wieder zurückzukehren, denn sie gehen mit „leeren Händen“.

„Die Dublin-Regelung ist in ihrer derzeitigen Ausgestaltung unsinnig, unsolidarisch und der EU nicht würdig!“ Prölß: Hat sich aus Ihrer Sicht die europäische Asylzuständig­keitsregelung bewährt? Preuss: Nein, diese Regelung ist ein enormes Problem. Flücht­ linge mit familiärer Bindung in die EU können nicht zu ihren Verwandten reisen oder von ihnen unterstützt werden. Ich werde nie vergessen, wie ein seit zwanzig Jahren in Deutschland lebender Syrer vor einem der Aufnahmelager beim Grenzfluss Evros in Griechenland, in denen die Lebensbedingungen vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in einem Urteil als erniedrigend und menschenverachtend eingestuft wurden, versuchte, seinen Bruder „zu befreien“. Anstatt ihn zu seiner Familie nach Deutschland weiterreisen zu lassen, wurde er nach seiner Flucht über die Türkei eingesperrt. Auch das „burdensharing“ klappt nicht, wie Valeska Onken bereits erwähnte: Die Flüchtlinge, die mit dem Boot über das Mittelmeer kommen, und die, die per Flugzeug nach Deutschland einreisen, haben ganz unterschiedliche Voraussetzungen. Man kann daher nicht nur Asylbewerberzahlen vergleichen, um die Verantwortung sinnvoll unter den Mitgliedstaaten zu verteilen. Die DublinRegelung ist in ihrer derzeitigen Ausgestaltung unsinnig, unsoli­ darisch und der EU nicht würdig!

Preuss: Ich sehe das ähnlich. Wichtig wäre das Recht, zu ar­ beiten, umgehend Sprachkurse anzubieten, und eine adäquate Unterbringung. Derzeit gibt es Unterkünfte für Asylbewerber in völlig abgelegenen ländlichen Regionen, wo die Menschen regelrecht „versauern“. Die Einrichtung von Aufnahmezentren in allen Berliner Bezirken zeigt doch, dass Sichtbarkeit wichtig ist, um zivilgesellschaftliche Unterstützung zu organisieren und eine öffentliche Debatte zu führen. Zunehmende Protest­ aktionen der Flüchtlinge in den letzten Jahren sind ein ermuti­ gendes Zeichen, dass anhaltender Protest Wirkung zeigt. Wir sollten uns fragen, was jeder Einzelne machen kann, um zu einer Willkommenskultur und zu mehr Solidarität mit Flüchtlingen und Migranten beizutragen. Daniel Maier, Jg. 2003/04 im Carlo-SchmidProgramm (CSP) koordinierte das Gespräch für die ad hoc. Er arbeitet für die Friedensmission der Vereinten Nationen im Kongo und ist im Büro des Sondergesandten des Generalsekretärs für Strategie und Planung zuständig. Claus-Ulrich Prölß, seit über 25 Jahren hauptbe­ ruflich in der Flüchtlingsarbeit tätig. Geschäfts­ führer des Kölner Flüchtlingsrates e.V. seit 1999. Mitglied in zahlreichen kommunalen und überörtlichen Gremien sowie Sprecher einer Landesflüchtlingsorganisation. U. a. Autor der „Flüchtlingspolitischen Nachrichten“ und Mit-

Prölß: Welche Eckpunkte umfasst für Sie die Entwicklung einer „Willkommenskultur“ für Flüchtlinge? Onken: Der Begriff der „Willkommenskultur“ ist für mich stark mit der Fachkräfteanwerbung verbunden. In Bezug auf Flüchtlinge ist er mir weniger geläufig – was ich interessant finde, weil man die Frage stellen könnte, wer uns willkommen ist und wer nicht. Im Kern geht es um die Frage der Integration. Für mich wäre die Schulung der zuständigen Beamten und die Vermittlung von interkultureller Kompetenz und Kommunikation ein wichtiger Schritt zur Verbesserung der Willkommenskultur in Deutschland.

heraus­geber von „Flüchtlingsschutz als globale und lokale Herausforderung“ (Springer VS, 2011).


Flucht über das Mittelmeer

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Flüchtlinge in Griechenland – und die Tragödie geht weiter von Katharina Cramer-Hadjidimos Gestatten Sie einen gedanklichen Ausflug, um zu illustrieren, wie weit sich die Realität in Europa von einst erstrebten Idealen entfernt hat: Die Europäische Union entstand nach den Erfahrungen zweier schrecklicher Kriege und als Idee einer besseren Welt. Der EU zugrunde liegt nicht nur die Idee des Wohlstands, des Friedens und der Solidargemeinschaft, sondern über die EU hinaus auch eine humanistische und humanitäre Idee, die unter anderem in der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Gründung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte mündete. i Ein erschöpfter Flüchtling am Strand von Fuerteventura

Der humanitäre Anspruch ist offenbar so stark, dass Deutsch­ land es wagte, einen Teil des Schutzes der Menschenrechte zu relativieren: Das Grundrecht auf Asyl gilt nach Art. 16a Abs. II des Grundgesetzes für denjenigen nicht mehr, der „aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften oder aus einem anderen Drittstaat einreist, in dem die Anwendung des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten sichergestellt ist“. Deutschland geht dabei von der Annahme aus, dass die sogenannten Dublin-Regelungen zu­ friedenstellend funktionieren, wonach jeder Asylsuchende in dem EU-Mitgliedsstaat Asyl beantragen kann, in dem er erst­ mals europäischen Boden betritt; und dass die humanitäre Welt in diesen Ersteintrittsstaaten in Ordnung ist.

„Das Systemversagen der EU-Flüchtlingspolitik wird in Griechenland deutlich.“ Das Gegenteil ist der Fall. Dies zeigt der Blick auf die Flücht­ linge in Griechenland, und die Verantwortung trägt nicht alleine Griechenland, sondern auch die Europäischen Union und ihre Mitgliedstaaten. Es handelt sich um ein Systemversagen.

Dies erkennt man deutlich auf der Insel Lesbos, einer der schöns­ ten, authentischsten und grünsten Inseln Griechenlands: Hier kommen fast täglich Flüchtlinge an. Sie werden von Schleppern von der nur etwa 15 km weit entfernten westtürkischen Küste über das Meer gebracht. Mal sind es einige wenige, an manchen Tagen sind es Hunderte. Sie gelangen mit Schlepperbooten oder – wenn die Schlepper sie auf dem offenem Meer zurück­ lassen – auf Autoreifen oder schwimmend an die Strände der Insel. Andere können von der Küstenwache oder Fischern nur noch tot geborgen werden, unter ihnen viele Kinder. Allein in den letzten anderthalb Jahren zählte man fast 100 Tote. Im März dieses Jahres waren es wieder sieben Leichen, darunter ein kleiner Junge und ein kleines Mädchen aus Syrien. Die Polizei liest die Neuankömmlinge aus Bangladesch, Pakistan, Syrien und Afghanistan von den Stränden der Insel auf. Egal ob Winter oder Sommer, egal wie hungrig, durstig oder durchnässt die Menschen sind, werden sie zunächst in die „Erst­aufnahme“ gebracht, das heißt auf dem nackten Asphalt der Hafenmole abgesetzt. Sie liegt direkt am Eingang des pittoresken Hafens der Inselhauptstadt Mytilini. Zu zwei Seiten eingeschlossen von hohen Zäunen, von zwei Seiten begrenzt durch das Hafen­ becken. Die Flüchtlinge sind nur von zwei primitiven Zelten geschützt. Sonst gibt es nichts: keine Decken, keine Betten, keine Tische, keine Stühle, keine Hygieneartikel wie Seife, Toilettenpapier oder Windeln. Es gibt kein Trinkwasser und keine Nahrungsmittel. p

f Ein Schlauchboot voller Migranten im Mittelmeer


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Flucht über das Mittelmeer

So lässt man sie verharren, bis zu 24 Stunden. Danach erhalten sie Papiere – Syrer erhalten eine Aufenthaltserlaubnis für 18 Monate, die anderen müssen das Land innerhalb weniger Wochen verlassen. Anschließend öffnen sich die Tore und die Menschen verschwinden. Sie sind nun entweder auf sich allein gestellt oder sie werden in die Polizeidienststelle von Mytilini oder in das Lager beim Dorf Moria gebracht. In die Lager in Griechenland jedoch will niemand: Der UNHCR hat Griechenland wiederholt zum Katastrophengebiet erklärt. NGOs berichten von um das zig-Fache der Kapazitäten über­ belegten Lagern, defekten Toiletten, unmenschlichen Hygiene­ bedingungen und von sich ausbreitenden Krankheiten wie Tu­ berkulose, Krätze, Magen- und Darminfektionen, aber auch von Traumatisierungen. Eine gesundheitliche Versorgung ist häufig gar nicht, in jedem Fall aber nicht systematisch vorhanden. Viele Flüchtlinge schlagen sich nach Athen durch und hoffen, von dort mit der Hilfe von Schleusern weiter in ein besseres Europa vorzudringen. Wie viele diese Route einschlagen und wie viele von ihnen unversehrt und lebend ankommen ist unbekannt. Andere finden Unterkunft in den häufig von NGOs organisierten Flüchtlingsunterkünften in Athen. Sie sind von deprimierender Einfachheit, aber besser als die meisten Alternativen. Allerdings betragen ihre Kapazitäten nur etwa 1 000 Plätze. Die Mehrzahl der Flüchtlinge – darunter zehntausende unbegleiteter Minder­ jähriger – dürfte hingegen in der Obdachlosigkeit landen. Hier sind sie noch schutzloser als ihre Schicksalsgenossen den zum Teil tödlichen Hetzjagden der Anhänger der „Goldenen Morgenröte“ ausgesetzt, der rechtsradikalen faschistischen Partei in Griechenland. Die überforderte Nachbarschaft, deren Stadtteile zu Horten des Elends werden, bietet den Opfern wenig Schutz. Viele Menschen wären froh, wenn die Flücht­ linge in den Parks, auf den Geh­wegen, in den Geschäfts- und Hauseingängen fort wären.

„Die griechische Regierung ist überfordert – welche Regierung wäre das nicht?“ Die Regierung in Athen kündigt zwar regelmäßig Verbesse­ rungen an, aber sie ist mit der Situation überfordert. Welche Regierung wäre dies nicht angesichts der finanziellen, wirt­ schaftlichen und politischen Krise in Griechenland? Die wirtschaftliche Lage ist desolat, die Jugend ohne Perspektive, die Arbeitslosenquote liegt bei über 27 Prozent und die Selbst­ mordrate ist seit Beginn der Krise drastisch gestiegen. Zudem hat die gegenwärtige Regierung nur noch eine hauchdünne Mehrheit von zwei Stimmen im Parlament. Die „Goldene Morgenröte“ kam bei der jüngsten Europawahl auf über neun Prozent und ist damit drittstärkste politische Kraft. Als wären dies nicht genug Belastungen, zählt Griechenland seit vielen Jahren dank der Dublin-Regelungen zu den Haupt­ anlaufstellen von Flüchtlingen. Das Land hat eine Bevölkerung von 11 Millionen Menschen, davon etwa eine Million Mi­ granten – etwa die Hälfte davon sind illegal. Allein im Jahr 2012 kamen nach Frontex-Angaben 37 220 Migranten über das östliche Mittelmeer nach Griechenland, in den Jahren zuvor waren es sogar noch mehr. Zum Vergleich: Nach Italien kamen im Vergleichszeitraum weniger als halb so viele Migranten. Der Strom ist groß aber unregel­mäßig, und die Routen sind so vielfältig, dass sich die Behörden bezüglich der Kapazitäten der Aufnahmelager nur schwer einstellen können. Seit Griechenland an seiner nordöstlichen Grenze zur Türkei eine 10,5 km lange Mauer errichtet und die Grenz­ kontrollen verschärft hat, ist die Seeroute wieder attraktiver geworden und damit auch die Inseln Lesbos, Chios, Samos, Thassos und Farmakonisi. Durchgehend scheinen die Kapazitäten der griechischen Lager zu eng kalkuliert zu sein. Menschenrechtsorganisationen be­ schreiben die Situation als katastrophal. Viele Lager tragen in der Zwischenzeit berüchtigte Namen für die dort herrschenden Bedingungen, wie der 2010 in der ZEIT beschriebene und nun­ mehr geschlossene „Kinderknast von Lesbos“ in Pagani. Die alarmierenden Appelle ob der erschütternden Bedingungen an die EU-Mitgliedstaaten von ProAsyl, Human Rights Watch, Ärzte ohne Grenzen und UNHCR verhallen oftmals ungehört. Jedenfalls bleiben sie ohne hinreichende Konsequenz. Zwar gibt es Mittel aus dem Europäischen Flüchtlingsfonds, doch entweder reichen diese nicht oder sie kommen nicht von Athen an ihren Bestimmungsort zu den Flüchtlingen. Diese benötigen Nahrung, Medikamente, Kleidung und psycholo­ gische Betreuung. Ganz zu schweigen von Bildungsangeboten f Migranten in der Erstaufnahme in Mytilini


Flucht über das Mittelmeer

p Im Hafen von Mytilini

für die Kinder, die zum Teil über viele Monate in den Lagern bleiben. In Deutschland sind diese dank vorhandener Mittel und Strukturen eine Selbstverständlichkeit. Die Schlussfolgerungen all derer, die sich näher mit der Situation der Flüchtlinge in Europa befasst haben, sind gleich: Die euro­ päische Flüchtlingspolitik mit den Dublin-Regelungen ist mehr als unbefriedigend. Was aber sind die Konsequenzen? Sollen alle Flüchtlinge auf alle EU-Mitgliedstaaten anteilig nach Bevölkerungsgröße oder wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit verteilt werden? Der Ge­ danke ist naheliegend, aber angesichts der innenpolitischen In­ teressenlage der meisten EU-Binnenstaaten wenig realistisch. Gleichzeitig jedoch liegt es im Interesse aller EU-Mitglied­ staaten, die solidarischen Anstrengungen zu forcieren. Dies nicht nur aus flüchtlingspolitischen Überlegungen (denn mit dem status quo leben die EU-Binnenstaaten ja vergleichs­ weise bequem), sondern vielmehr, weil der Flüchtlingsstrom nach Griechenland zu einer weiteren Stärkung rechtsextremer Kräfte und damit zu einer Destabilisierung der gesellschaft­ lichen und politischen Lage führt. Die jetzige griechische Regierung muss nicht nur in finanzieller, sondern auch in orga­ nisatorischer Hinsicht im Umgang mit Flüchtlingen stärker entlastet werden. Dies gilt umso mehr, als es kein griechisches, sondern ein europäisches Problem ist, ausgetragen in den Staaten der EU-Außengrenzen.

„Die europäische Flüchtlingspolitik ist mehr als unbefriedigend – wir brauchen einen pragmatischen Lösungsansatz.“ Eine kurzfristig umsetzbare und pragmatische Lösung wäre die Einrichtung mehrerer kleiner, mobiler europäischer Beratungsund Unterstützungseinheiten zu den aktuellen Maßnahmen des European Asylum Support Office (EASO): Unter Berück­ sichtigung der nationalen Zuständigkeit für innenpolitische Fragen, in enger Abstimmung mit der griechischen Regierung und in Zusammenarbeit mit dortigen Behörden, könnten diese in das Gebiet mehrerer Ägäis-Inseln entsandt werden. Aufgaben des multinationalen Expertenteams wären unter anderem:

− die Flüchtlingsaufnahmekapazitäten zu evaluieren und die Vor-Ort-Strukturen zu stärken; − Überbelegungen nach Athen und Brüssel zu melden, und bei Bedarf flexibel Kapazitäten mit EU-Mitteln ausbauen zu helfen; − Beobachtung struktureller, organisatorischer, medizinischer, hygienischer, sozialer oder sonstiger Defizite und Beratung der Einrichtungen vor Ort; − schnelle, unbürokratische Bedarfsmeldung und Anforderungen nach Athen und Brüssel zur Koordinierung eines unmit­ telbaren, zweckgebundenen Mittelflusses an die Flüchtlings­ einrichtungen vor Ort. Damit wäre zugleich eine bessere Kontrolle über die Zuschreibung und die Verwendung der Mittel aus dem EU-Flüchtlingsfonds ermöglicht und die Einhaltung der humanitären Mindest­ standards sichergestellt. Die Task-Force könnte aus einem Sozialarbeiter, einem Mediziner oder Psychologen und einem Berater für Verwaltungsfragen in Migrationsangelegenheiten bestehen und müsste von Übersetzern begleitet sein. Durch ihre Mobilität wäre gewährleistet, dass sie flexibel auf die unregelmäßigen Flüchtlingsströme und -routen reagieren kann. Ein derartiges (Pilot-)Projekt würde Griechenland in organi­ satorischer und finanzieller Hinsicht erheblich entlasten. Zugleich könnte Europa seinen solidarischen Gedanken im Bereich der Flüchtlingspolitik wiederbeleben und beweisen, dass es seine humanitären Werte ernst nimmt.

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Deutschland

Der Asylkompromiss in Deutschland und Europa– Abschreckung statt Willkommenskultur von Leana Podeszfa Am 26. Mai 1993 blockierten rund 10 000 Demonstranten aus ganz Deutschland die Zugänge zum Bonner Regierungsviertel. Sie wollten die Parlamentarier davon abhalten, Artikel 16 des Grundgesetzes zu debattieren, und wohlmöglich zu ändern. Dieser Artikel („Politisch Verfolgte geniessen Asylrecht“) gab politisch Verfolgten das Recht, sich um Asyl zu bewerben, wie es die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte fordert. Artikel 16 verpflichtet den Staat, allen politisch Verfolgten Asyl zu gewähren. Nur wenige Male zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik waren die in Artikel 1 bis 19 aufgelisteten Menschenrechte substantiell geändert worden. An jenem Dienstag jedoch ver­ abschiedete das Parlament den 1992 vereinbarten Asylkom­ promiss – mit großen Auswirkungen auf die deutsche und da­ mit auch auf die europäische Asylpolitik. Die Asyldebatte spaltet Deutschland bis heute. Von Beginn an waren die Fronten klar: SPD und FDP, sowie später die Grünen, die katholische und evangelische Kirche und große Teile der Zivilgesellschaft befürworteten, mit Blick auf die Nazivergan­ genheit, die deutsche Verantwortung gegenüber politisch Verfolgten. Artikel 16 sollte unantastbar bleiben. Auf der an­ deren Seite standen CDU und CSU, die schon Anfang der 70er Jahre anfingen, Asylbewerber als „Asylbetrüger“ und „Schein­asylanten“ zu bezeichnen. Für eine Grundgesetzänderung hatten CDU /CSU die nötige Zweidrittelmehrheit jedoch nicht. In den 1970er und 1980er Jahren wurden deshalb mehrere Gesetze verabschiedet, welche das Recht auf Asyl aushöhlten und der Abschreckung dienten. So wurde Ende der 1970er Jahre der Visumszwang eingeführt, der Flüchtlinge dazu bringen sollte, sich schon vor ihrer Ab­ reise ein Visum bei einer deutschen Außenstelle zu besorgen – meist vor den Augen ihrer Verfolger. Auch für Asylsuchende, die es bereits nach Deutschland geschafft hatten, wurden die Bedingungen schlechter. Der Familiennachzug wurde be­ schränkt, Gemeinschaftsunterkünfte mit Lagercharakter ge­ baut und Sachleistungen gestrichen. Mit dem Fall der Mauer wuchs der Migrationsdruck auf West­ deutschland. Zwischen 1989 und 1993 kamen etwa drei Milli­ onen Aussiedler, Migranten und Asylbewerber in die alten Bun­ desländer. Zudem zogen etwa eine Million Ostdeutsche nach Westdeutschland. Die Neuankömmlinge mussten in Sporthallen, Kriegsbunkern und Gemeindezentren untergebracht werden.

Im Jahr 1992 stieg die Zahl der Asylanträge auf über 438 000, mehr Anträge als in den restlichen EU-Mitgliedstaaten zusam­ men. Kommunen waren überfordert; gleich­zeitig kam es zu fremdenfeindlichen Übergriffen. In Rostock-Lichtenhagen etwa belagerten Rechtsextreme mehrere Tage eine zentrale Auf­ nahmestelle für Asylbewerber und setzten schließlich ein Wohnheim in Brand – unter dem Beifall von über tausend Schaulustigen. Politischer Druck führte bei SPD und FDP schließlich zu Verhandlungen mit der CDU/CSU. Ergebnis war der Asyl­ kompromiss vom 6. Dezember 1992: Die Formulierung „poli­ tisch Verfolgte geniessen Asylrecht“ blieb bestehen, wurde aber durch Zusatzklauseln eingeschränkt. So legte etwa die Dritt­ staatenregelung fest, dass es kein Asylrecht für Menschen gibt, die aus einem Land einreisen, in dem die Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschen­ rechtskonvention sichergestellt ist. Per Gesetz wurde zudem bestimmt, in welchen Ländern die Rechtslage erwarten lässt, dass dort keine politische Verfolgung stattfindet. Asylanträge aus solchen Ländern wurden oft als „offensichtlich unbegründet“ abgelehnt. Die Möglichkeiten der Einreise für Asylbewerber wurden dementsprechend restriktiver. Am Ende blieb den Fliehenden nur noch der Luftweg, doch auch der endete meist bereits am Flughafen. Laut Flughafenregelung werden Asylverfahren für Bewerber, die aus „sicheren Drittländern“ einreisen, schon im Transitbereich der deutscher Flughäfen verhandelt. Asylbewer­ ber können somit abgelehnt werden, bevor sie überhaupt deut­ schen Boden betreten haben. Die Änderung von Artikel 16 hatte nicht nur Auswirkungen auf die deutsche Asylpolitik, sondern beeinflusste auch die europäische Politik nachhaltig. Zehn Jahre nach dem Asylkom­ promiss wurde 2003 die sogenannte Dublin-II-Verordnung auf EU-Ebene verabschiedet. Diese regelt, dass der Mitgliedsstaat, in dem der Asylsuchende zuerst einreist, für das Verfahren zuständig ist. So soll sekundäre Migration innerhalb der EU verhindert werden. Das Dublin-System übernimmt hierdurch die im Asylkompromiss festgelegte Drittstaatenregelung. Tausende von Asylbewerbern in Deutschland bekommen jedes Jahr den sogenannten Dublin-Bescheid. Das heißt, ihr Asyl­antrag wurde vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge als „unzulässig“ abgelehnt (also gar nicht erst geprüft), weil sie


Deutschland

aus einem EU-Land eingereist sind, in das sie im zweiten Schritt wieder abgeschoben werden. Ländern an den Außengrenzen der EU, wie beispielsweise Italien, Griechenland, Malta, und Spanien werden damit die größten Bürden aufgeladen und sie sind dementsprechend überlastet mit der Vielzahl von zu bear­ beitenden Anträgen. Problematisch ist diese innereuropäische Abschiebung jedoch insbesondere aus Menschenrechtsperspektive: ProAsyl, eine Organisation, die sich für Flüchtlingsrechte einsetzt, berichtet, dass Abgeschobenen in Italien und Griechenland unmensch­ liche und erniedrigende Behandlung, etwa Obdachlosigkeit und Verelendung droht. Abschiebungen nach Griechenland erfolgen daher seit 2011 nicht mehr und hunderte von Ab­ schiebungen nach Italien wurden von deutschen Verwaltungs­ gerichten ausgesetzt. Deutsche Politiker bemängeln gerne die Bedingungen für Asyl­ bewerber in diesen Ländern, verhindern jedoch gleichzeitig konstruktive Lösungsvorschläge. „Dublin […] bleibt unverändert, selbstverständlich“, sagte der ehemalige Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) letztes Jahr bei einem Treffen der EU-Innenminister. Dabei gibt es verschiedene Maßnahmen, die Deutschland einführen könnte, um gleichzeitig dem deut­ schen Wunsch nach kontrollierter Migration gerecht zu werden

p Das sogenannte Sonnenblumenhaus in Rostock wurde 1992 von Rechtsradikalen angegriffen

und Asyl menschlicher zu gestalten. Zum Beispiel könnte die EU die Aufnahme von Asylbewerbern je nach wirtschaftlicher Stärke der Mitgliedsstaaten regeln und auf diese Weise Länder an den europäischen Außengrenzen entlasten. Deutschland könnte auch sein Resettlementprogramm zur Umsiedlung von Flüchtlingen nach Deutschland als Drittland ausbauen. Zwar hat Deutschland versprochen, 10 000 syrische Flüchtlinge als humanitäre Geste aufzunehmen, doch das reguläre Resettlement­ programm in Deutschland bleibt klein: Es beschränkt sich auf rund 300 Personen pro Jahr. Im Vergleich zu den jährlichen Asylgesuchen (64 539 Anträge im Jahr 2012) oder der Resettle­ mentaufnahmequote der USA (bis zu 80 000 pro Jahr) ist dies eine verschwindend geringe Zahl. Die gegenwärtige Debatten zum Thema Migration und Einwanderung lassen nicht vermu­ ten, dass sich die Anzahl in naher Zukunft signifikant erhöhen wird. Ein trauriges Resümee für ein Land wie Deutschland, das die Einhaltung von Menschenrechten fordert und langfristig dringend auf Einwanderung angewiesen sein wird.

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Interview

„Wir müssen uns solidarisch zeigen und Menschen in Not Zuflucht gewähren.“ Interview mit Bundesentwicklungsminister Dr. Gerd Müller Viele Nefiaten sind als Vertreter der deutschen Politik an ver­ schiedenen Orten der Welt eingesetzt, und sind besonders an der deutschen Position zu internationalen Flüchtlingskrisen in­ teressiert – und daran, wie diese in naher Zukunft humanitärer gestaltet werden kann. Darum wollten wir vom Bundesentwick­ lungsminister Dr. Gerd Müller vor allen Dingen eines wissen: Was muss dafür von wem konkret bis wann getan werden? ad hoc: Herr Minister Müller, die Bekämpfung von Fluchtursachen ist eine kaum lösbare Aufgabe. Was tut und wird das BMZ im Rahmen seiner Flüchtlingsinitiative tun, um Fluchtursachen wirkungsvoll zu bekämpfen? Müller: Wir stehen vor der schlimmsten Flüchtlingskrise seit dem 2. Weltkrieg: 51 Millionen Menschen weltweit sind auf der Flucht. Allein 2013 sind 11 Millionen hinzugekommen – das sind 30 000 pro Tag. Zwei Drittel aller Flüchtlinge verbrin­ gen durchschnittlich 17 Jahre in Flüchtlingscamps. Das zeigt: Wir müssen handeln, und zwar schnell. Wir dürfen nicht immer erst dann handeln, wenn es eigentlich längst zu spät ist, wenn Konflikte längst ausgebrochen sind, staatliche Entwicklungs­ zusammenarbeit an ihre Grenzen stößt und Hunderttausenden nur noch die Flucht bleibt. Stattdessen müssen wir die Anzei­ chen für drohende Gewaltausbrüche frühzeitig erkennen – und ebenso frühzeitig entschieden gegensteuern, und zwar ent­ wicklungspolitisch. Denn viele Konflikte sind im Grunde Verteilungskämpfe, denen nachträglich ein anderes Etikett angeheftet wird, ein religiöses oder ethnisches zum Beispiel. Womöglich hätten wir in der Zentralafri­kanischen Republik die akute Katastrophe und die damit verbundene massenhafte Flucht verhindern können, wenn wir als Weltgemeinschaft rechtzeitig eine Entwicklungsoffensive gestartet hätten. Oder blicken Sie nach Nigeria, wo ich im Juni war: Es ist doch kein Zufall, dass die Terroristen der Boko Haram gerade im ärmeren Norden so stark sind. Die Ungleichheit im Land bietet dort den Nährboden für die Gewalt. Nigeria ist so ein Fall, in dem wir jetzt handeln sollten – oder wollen wir warten, bis wir in drei, fünf oder zehn Jahren UN-Truppen entsenden müssen? Nein, wir müssen jetzt aktiv werden – und unsere zivilen Instrumente gezielt einsetzen. Wir müssen den jungen Men­ schen in unseren Partnerländern Perspektiven aufzeigen, wir

müssen in Friedens- und Versöhnungsarbeit und in die Zukunft investieren. Und wir müssen gegen Armut vorgehen. Das ist bei­ leibe keine einfache Aufgabe – aber sie lohnt sich. Denn die beste Flüchtlingspolitik ist eine, die dafür sorgt, dass Menschen nicht zur Flucht gezwungen sind – ob wegen eines Bürger­ kriegs, aus schierer Not heraus oder weil die Zukunftspers­ pektiven fehlen. Deshalb habe ich eine Sonderinitiative gestartet für schnelle und unbürokratische Hilfe in den am meisten betroffenen Regionen. Es geht darum, einerseits Fluchtursachen wie Hunger, Armut und Gewalt zu bekämpfen, aber auch Gemeinden zu unterstützen, die Flüchtlinge aufnehmen – zum Beispiel durch eine Verbesserung der Wasserver- und Abwasserentsorgung. Schließlich helfen wir Flüchtlingen bei der Reintegration in ihre Heimatländer, zum Beispiel durch den Bau von Schulen oder Projekte zur Ernährungssicherung. Wir arbeiten dabei eng mit zivilgesellschaftlichen und kirchlichen Organisationen zusammen, die vor Ort flexibel agieren können.

„Die beste Flüchtlingspolitik ist eine, die dafür sorgt, dass Menschen nicht zur Flucht gezwungen sind.“ ad hoc: Das Thema Flüchtlinge berührt die Zuständigkeiten verschiedener Ressorts: das Auswärtige Amt, das Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und das Innenministerium. Inwiefern könnte ein ressortübergreifendes Ministerium für „Migration, Integration und Flucht“ der gewaltigen humanitären Aufgabe, vor der Europa steht, gerecht werden? Müller: Sie sagen es ja ganz richtig: Europa steht als Ganzes vor dieser Herausforderung. Deswegen glaube ich nicht, dass wir hier auf nationaler Ebene im Alleingang weiterkommen. Seit der Flüchtlingskatastrophe vor Lampedusa ist zwar die Rettung der Flüchtlinge verbessert worden – ihre Zahl steigt aber weiterhin, und die Europäische Union hat bislang kaum Antworten auf diese Herausforderung. Syrien liegt unmittel­ bar vor unserer Haustür – und trotzdem haben wir als Euro­ päer die Krise dort weit von uns geschoben. Jetzt kommt die


Interview

Krise zu uns, Flüchtlinge, die hier Schutz suchen. Und wieder tut die EU sich schwer. Wir brauchen dringend eine einheit­ liche Flüchtlingspolitik – ganz besonders auf europäischer Ebene!

„Solidarität innerhalb der EU bedeutet auch, dass jeder sich gemäß seiner wirtschaftlichen Stärke solidarisch zeigt und entsprechend Verantwortung übernimmt.“ ad hoc: Einer der Ursprungsgedanken bei Gründung der Europäischen Union war die europäische Solidarität. Die italienische Initiative „Mare nostrum“ zur Rettung von Flüchtlingen verschlingt 300 000 Euro täglich. Italien fühlt sich von seinen europäischen Nachbarn allein gelassen. Mit welchen Maß­nahmen hilft und wird Deutschland seinen Nachbarländern, insbesondere Italien und Griechenland, konkret helfen, damit Flüchtlinge schnell, reibungslos und menschlich aufgenommen werden? Müller: Es kann nicht sein, dass einige wenige Länder in der Europäischen Union die Hauptlast tragen – und die anderen nur diskutieren. Solidarität innerhalb der EU bedeutet auch, dass jeder sich gemäß seiner wirtschaftlichen Stärke solidarisch zeigt und entsprechend Verantwortung übernimmt. Blicken Sie nur einmal in die Nachbarländer Syriens: Allein der Libanon mit seinen vier Millionen Einwohnern hat eine Million syrische Flüchtlinge aufgenommen – das ist eine ganz unglaubliche Leistung und verdient unseren Respekt ebenso wie unsere Unterstützung. Im Juni einigten sich die Innenminister und -senatoren von Bund und Ländern auf ihrer Frühjahrstagung darauf, die bundesweite Aufnahme um weitere 10 000 auf ins­ gesamt 20 000 syrische Bürgerkriegsflüchtlinge zu verdoppeln. Deutschland nimmt damit den größten Anteil aller syrischen Flüchtlinge auf, die weltweit durch humanitäre Programme außerhalb der Krisenregion Schutz finden. Trotzdem können wir mehr tun, auch über unsere entwicklungspolitische Zu­ sammenarbeit. Die Bekämpfung von Fluchtursachen und die Unterstützung von Flüchtlingen habe ich daher zu einem Schwer­punkt der nächsten Legislaturperiode gemacht. ad hoc: Als stärkste Wirtschaftsmacht könnte Deutschland eine Führungsrolle in der Reformulierung der europäischen Flüchtlingspolitik übernehmen und auf diese Weise auch seine historischen Verantwortung wahrnehmen. Wie wird Deutschland sich für eine europäische Flüchtlings- und Asylpolitik einsetzen? Müller: Ich habe unlängst einen eigenen EU-Kommissar für Flüchtlingsfragen und damit eine Bündelung der Kompetenzen

der EU gefordert, denn hier sehe ich die eigentliche Herkules­ aufgabe: auf europäischer Ebene. Gerade im Hinblick auf die nicht absehbare Syrienkrise brauchen wir darüber hinaus ein europäisches Sonderprogramm zur Unterstützung der An­ rainerländer, für humanitäre Hilfe und Krisenbewältigung. Deutschland setzt sich neben der Bekämpfung von Fluchtur­ sachen und Unterstützung von Flüchtlingen auch dafür ein, die Flüchtlinge von heute eines Tages wieder in ihren Heimat­ ländern zu reintegrieren. Denn die meisten von ihnen wollen ja eines Tages zurück. Wir müssen Flüchtlingen hier und jetzt helfen – aber zugleich auch über den Tag hinaus planen. ad hoc: Als internationales Netzwerk wünschen wir uns ein breites überparteiliches Bündnis der großen Verantwortung, getragen von Deutschland und der EU, sowie ein deutliches Bekenntnis zu mehr Solidarität und Bereitschaft zur Aufnahme von Flüchtlingen in Deutschland. Wie viel „Teilen“ kann die Politik ihrer Ansicht nach den Bürgern zumuten? Müller: Ich habe in Jordanien eine Bauernfamilie nahe der syrischen Grenze besucht, die selbst in einfachsten Verhältnissen lebt, mit fünf Kindern. Der Bauer hat seinen Ziegenstall aus­ geräumt – für eine syrische Flüchtlingsfamilie mit noch einmal fünf Kindern: ein Baby auf dem Arm, der 16-Jährige verwundet, ihm fehlt ein Fuß. Ich erwarte von niemandem hier in Deutsch­ land, dass er dasselbe tut. Aber ich erwarte schon, dass wir uns in einem der reichsten Länder der Welt solidarisch zeigen und Menschen in Not Zuflucht ge­währen, ohne immer sofort Angst um unseren Besitzstand zu verspüren. Das ist unsere humanitäre Verantwortung und zugleich eine Verpflichtung unserer Geschichte gegenüber. ad hoc: Herr Minister Müller, wir danken Ihnen für das Gespräch. Die Fragen stellte die ad hoc Redaktion in Zusam­ menarbeit mit Experten und Expertinnen des Netzwerks für internationale Aufgaben, e. V.

o Besuch von Bundesentwicklungsminister Dr. Gerd Müller im Flüchtlingscamp auf dem Gelände von UN-Mission für Südsudan (UNMISS) bei Juba, Ende März 2014

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Gastbeitrag

Humanitäre Hilfe für Menschen auf der Flucht von Christoph Strässer, Beauftragter der Bundesregierung für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Nach Naturkatastrophen oder in Konflikten brauchen Men­ schen – egal wo auf der Welt – Unterstützung und Hilfe, um zu überleben. Sie brauchen Trinkwasser, Essen, medizinische Hilfe, ein Dach über dem Kopf oder Schutz. Viele Menschen verlassen ihre Heimat, suchen als Flüchtlinge Hilfe in anderen Ländern oder als Binnenvertriebene Schutz und Hilfe im eigenen Land. Wenn das Ausmaß einer Katastrophe oder die Zahl von Flüchtlingen den betroffenen Staat überfordert, sind die Menschen auf humanitäre Hilfe von außen angewiesen. Das Auswärtige Amt erbringt gemeinsam mit seinen Partnern solche Hilfe. Nach verheerenden Naturkatastrophen, in Krisen- und Konflikt­situationen sind Flüchtlinge und Binnenvertriebene oft auf externe Hilfe angewiesen, um zu überleben. Die Vereinten Nationen, die Rotkreuz-/Rothalbmond-Bewegung und NGOs leisten dann humanitäre Hilfe. Sie ermitteln, was Vertriebene, Flüchtlinge und auch aufnehmende Gemeinden sofort brauchen und wenden sich mit Hilfsaufrufen an die internationale Gemeinschaft. Ende 2013 bezifferte der UNHCR den Bedarf zur Unterstützung der in seinem Mandat liegenden Flücht­ linge und Vertriebenen mit 5,3 Milliarden US-Dollar. Die Bundesregierung ist einer der größten Geber humanitärer Hilfe weltweit. Innerhalb der Bundesregierung liegt die Zu­ ständigkeit für humanitäre Hilfe im Ausland beim Auswärtigen Amt. Das Auswärtige Amt leistet humanitäre Hilfe in Zusam­ menarbeit mit seinen Partnern in den Vereinten Nationen, der Rotkreuz-/Rothalbmond-Bewegung und NGOs. 2013 hat das Auswärtige Amt insgesamt rund 360 Millionen Euro für humanitäre Hilfe bereitgestellt. Ein Großteil dieser Hilfe wurde zur humanitären Unterstützung von Vertriebenen und Flüchtlingen verwendet.

Dabei spielt es keine Rolle, zu welcher Partei, Religion oder Gesellschaftsschicht betroffene Menschen ge­hören. Humanitäre Hilfe verfolgt keine politischen, wirtschaftlichen oder sonstigen interessengeleiteten Ziele und dient nicht der Unterstützung einer bestimmten Gruppierung oder Regierung, sondern will den betroffenen Menschen ein Überleben in Würde sichern. Die humanitäre Arbeit wird unter Wahrung der humanitären Prinzipien der Menschlichkeit, Neutralität, Unabhängigkeit und Unparteilichkeit geleistet. Neben der konkreten Unterstützung durch Hilfsprojekte arbei­ ten wir gemeinsam mit unseren Partnern daran, die Qualität, Effi­zienz und Professionalität der humanitären Hilfe weiter zu verbessern, die Aktivitäten noch enger zu koordinieren und gemeinsam Wege zu finden, um die Wahrung der humanitären Prinzipien überall sicherzustellen. Unter den oftmals schwie­ rigen Bedingungen nach einer Naturkatastrophe oder in Kriegs- und Konfliktgebieten ist all das nicht einfach. Die humanitäre Arbeit in vielen Krisensituationen wird immer gefährlicher; betroffene Menschen und Vertriebene können zum Teil nur sehr schwer erreicht werden. Humanitäre Helfer werden oftmals Opfer von Gewalt, Aggression und Entfüh­ rung. Gemeinsam mit ihren Partnern setzt sich die Bundes­ regierung für die Achtung der humanitären Prinzipien und die Ausrichtung der humanitären Hilfe an den Bedürfnissen der Betroffenen ein. Angesichts der Zahl von über 50 Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen weltweit, die der UNHCR gerade veröffentlicht hat, sind die humanitären Herausforderungen enorm. Es geht darum, schnelle Hilfe für neue Vertriebene zu leisten und gleichzeitig Lösungen für diejenigen Vertriebenen zu finden, die schon seit Jahrzehnten ohne Perspektive auf Rückkehr in ihre Heimat leben. Es ist unsere Pflicht zu helfen, denn klar ist: Hinter all den Zahlen stehen oft tragische menschliche Einzel­ schicksale. Der Beitrag wurde unter Mitwirkung von Björn Hofmann (Stiftungskolleg 2007/08) und Andreas Lang, Referenten in der für Humani­ täre Hilfe zuständigen Abteilung des Auswärti­ gen Amtes, erstellt.

f Das Zatari Flüchtlingscamp für syrische Flüchtlinge in Jordanien, November 2012


Schweiz

Grenzen ziehen – Demokratie zwischen Menschenrechten und Volkswillen von Stefanie Rinaldi Die Grenzen zwischen nationaler Autorität und internationalen Abkommen überschneiden sich nicht selten. Muss oder darf sich ein Staat durch Kontingente gegen die Einwanderung „fremder Massen“ schützen? Und wenn ja, wer schützt dann die Asyl­ suchenden und wo? Stefanie Rinaldi diskutiert diese Fragen am Beispiel der Schweiz. Seit dem 9. Februar 2014 wird in der Schweiz heftig diskutiert. Wie so oft entbrannten die Diskussionen um die sogenannte Masseneinwanderungsinitiative erst richtig nach Bekanntgabe des Abstimmungsresultats. Die Gegner der Initiative erwach­ ten jäh aus ihrem Dornröschenschlaf und organisieren seitdem Demonstrationen, um für eine offene und tolerante Schweiz zu werben. Ohne konkrete Lösungsvorschläge zu präsentieren, forderten Befürworter hingegen die umgehende Umsetzung. Nun stehen Schweizer Diplomaten vor der schwierigen Auf­ gabe 50,3 % Ja-Stimmen zur Einführung von Höchstzahlen und Kontingenten für Aufenthaltsbewilligungen von Ausländern auf Verfassungsebene zu erklären – insbesondere gegenüber den EU-Mitgliedstaaten. Gemäß der Initiatorin der Initiative, der Schweizerischen Volkspartei (SVP), liegt das erklärte Ziel darin, die Landesgrenzen wieder zu stärken und die schweiz­ erische Bevölkerung vor fremden Massen zu schützen. Doch welche Grenzen schützen eine Demokratie vor der Tyrannei der Mehrheit? Eine solche Grenze findet sich im Völkerrecht. Die Schweiz hat sowohl die Genfer Flüchtlingskonvention als auch die Europä­ ische Menschenrechtskonvention und die UN-Antifolterkon­ vention ratifiziert. Dies bedeutet, dass Ausländer in der Schweiz Anspruch auf Aufenthalt erheben können, sofern sie Schutz brauchen oder ihr Recht auf Familie geltend machen möchten. Der durch die Abstimmung verabschiedete neue Verfassungs­ artikel schließt in den festzusetzenden Höchstzahlen ausdrück­ lich auch Asylsuchende und Flüchtlinge ein. Völkerrechtliche Verträge, die mit dieser Bestimmung in Widerspruch stehen, müssen innerhalb von drei Jahren neu verhandelt oder angepasst werden. Die Masseneinwanderungsinitiative tangiert folglich nicht nur bilaterale Abkommen mit der EU, sondern auch Schlüsselkonventionen auf europäischer und internationaler Ebene. Denn ein eng definiertes Kontingenzsystem widerspricht diesen Abkommen: Entscheide über Aufenthalts­bewilligungen würden von Höchstzahlen und nicht von individuellen Kriterien

abhängig gemacht. Solche Kontingente können auch zwin­ gendes Völkerrecht verletzen, wenn sie dazu führen, dass Personen in Länder abgeschoben werden, in denen ihnen Folter oder andere unmenschliche, erniedrigende Behandlungen drohen. Ironischerweise ist dieses sogenannte Prinzip des nonrefoulement auch in der Schweizerischen Bundesverfassung verankert. Wenn die Schweiz künftig ein Kontingenzsystem auch auf schutzsuchende Personen anwenden und diese ab­ schieben würde, würde die Schweiz ihre eigene Verfassung verletzen. Das Schweizer Szenario erinnert an eine Aussage Winston Churchills: „Das größte Argument gegen die Demokratie ist ein fünfminütiges Gespräch mit einem durchschnittlichen Wähler“. Fast wäre ich geneigt, Churchill zuzustimmen. Doch Demokratie bedeutet nicht, dass eine Gruppe von Menschen frei jeglicher Grenzen entscheiden kann. Sie ist nicht absolut.

„Auch der Demokratie sind Grenzen gesetzt – durch die Menschenrechte, um Minderheiten und verletzliche Personen zu schützen.“ Dies ist auch der Fall, wenn sich auf Verfassungsebene Wider­ sprüche finden und es in einem demokratischen Staat wie der Schweiz vorkommt, dass menschenrechtliche Abkommen in Frage gestellt werden. Die Demokratie selbst wird durch die Menschenrechte geschützt und könnte ohne sie kaum fortbe­ stehen.

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Interview

„Im Zeichen der Humanität müsste man großzügiger sein“ Interview mit Burkhart Veigel, Fluchthelfer

Burkhart Veigel, 76, ist Arzt, ehemaliger Fluchthelfer an der deutsch-deutschen Grenze, Autor und Pragmatiker. Er hat Pässe gefälscht, Tunnel gegraben, Flüchtlinge im Armaturenbrett eines umgebauten Cadillacs versteckt und Fluchten so genau geplant wie kaum ein anderer. Etwa 650 Menschen verhalf er zur Flucht aus der ehemaligen DDR. Für sein Engagement für Freiheit erhielt er 2012 das Bundesverdienstkreuz am Bande. ad hoc: Herr Veigel, welche Eigenschaften braucht ein Fluchthelfer? Veigel: Man muss ein Bedürfnis haben, sich für Grundwerte ein­ zusetzen. Für mich war immer wichtig, dass man in Wahrheit und Gerechtigkeit lebt und die Freiheit hat zu denken, zu sagen und vielleicht auch zu tun, was man will. ad hoc: Fluchthelfer an der Berliner Mauer hatten zum Teil ein negatives Image. Veigel: Ab Sommer 1963 hatte der Berliner Senat zwischen den frühen, guten und idealistischen Fluchthelfern unterschieden und den späteren, bösen und kommerziellen, die mit ihrer Hilfe Geld verdient haben. Für mich war immer entscheidend, ob ein Fluchthelfer seinen Job beherrscht, ob die Flüchtlinge heil im Westen ankommen oder ob sie bei der Flucht verhaftet oder erschossen werden. Die Gesinnung ist dem gegenüber absolut zweitrangig. Leider haben die Medien dieses Bild übernommen. Daraus ist das negative Image der Berliner Fluchthelfer ent­ standen, das über viele Jahre bestand.

„Für mich ist entscheidend, ob ein Fluchthelfer seinen Job beherrscht.“ ad hoc: Das heißt, ab 1963 hat sich das negative Bild des Fluchthelfers festgesetzt? Veigel: Total. Wenn du vor sechs Jahren jemanden auf Flucht­ helfer angesprochen hast, war das Bild noch immer negativ. In den fünf Jahren, seitdem ich hier in Berlin bin und trommle, hat sich das Bild sehr verändert. Fluchthilfe gilt jetzt als ehrenvoll. Nicht umsonst haben wir das Bundesverdienstkreuz erhalten.

ad hoc: Heute ist weniger von Fluchthelfern die Rede als von Schleusern, Schleppern oder Schlepperbanden. Wie kann man differenzieren? Veigel: Wir Fluchthelfer an der Berliner Mauer haben Men­ schen über Grenzen aus einem Land gebracht, aus dem sie nicht raus durften. Die heutigen Schlepper bringen Menschen über Grenzen in Länder, in die sie nicht rein dürfen. Unsere Flücht­ linge waren im Westen willkommen. Die Menschen, die von den Schleppern hereingebracht werden, müssen sich verbergen oder um Asyl bitten. Aber sie bewirken für die Flüchtlinge etwas Ähnliches wie wir damals: Sie helfen Menschen in Not, nur mit einem anderen Touch. Wenn wir gewusst hätten, dass Gesetze gebrochen werden, hätten wir wahrscheinlich keine Flucht­ hilfe geleistet, und wäre es verboten gewesen, hätten wir sicher auch Geld genommen wie die Schlepper heute. Ich sehe diese nicht negativ. Warum hat ein Deutscher, weil er hier geboren ist, mehr Rechte als jemand, der aus Afrika hierherkommt? Der muss genauso geschützt werden. Ich kann nicht akzeptieren, dass man die Menschen, die vom Mittelmeer kommen, heraus­ halten will und zurücktransportiert. Im Zeichen der Humanität müsste man sehr viel großzügiger sein. ad hoc: Sie haben über 600 Menschen zur Flucht verholfen. Was, würden Sie sagen, bedeutet Flucht für einen Menschen? Veigel: Damals hat es unglaublich viel bedeutet, aber es hat lange gedauert, bis die Flüchtlinge den Fluchthelfern Dankbarkeit entgegengebracht haben. Wir haben mit ihnen auch keine Verbindung gehalten. Das war ohnehin schwierig, weil sie ja nicht wissen konnten, wie wir heißen. Wir hatten alle Deck­ namen. Ich hieß „Schwarzer.“ Die Dankbarkeit kam sehr viel später. Dass sie so spät kam, habe ich mir so erklärt, dass sich Menschen während der Flucht einen Kokon anlegen. Alle Gefühle werden ausgeschlossen, Angst, aber eben auch Dank­ barkeit. Die Flüchtlinge legten ihr ganzes Leben in die Hand des Flucht­helfers. Sie mussten Vertrauen haben.


Interview

„Menschen legen sich während der Flucht einen Kokon an.“ ad hoc: Wie bei einem Arzt. Veigel: Noch schlimmer. Beim Arzt kannst du dich erkundigen, ob der Erfahrung hat. Die Flüchtlinge wussten oft nicht, auf welche Weise sie flüchteten. Sie mussten Vertrauen haben, aber sie hatten es auch. Es ist eine seltsame Konstruktion, die Ge­ fühle abzuschalten, um funktionieren zu können. ad hoc: Was bedeutet für Sie Grenze? Veigel: Eine von anderen Menschen gezogene Grenze, die für mich nicht unbedingt gilt. Eine Grenze kann ich akzeptieren, aber sie ist keine Bremse. ad hoc: Fluchthelfer sind permanente Grenzgänger. Kann man sagen, dass sie sich nicht nur über Staatsgrenzen hinweg setzen, sondern auch über rechtliche Grenzen? Veigel: Uns waren damals rechtliche Grenzen egal. Wir haben geholfen, weil wir einfach helfen mussten. Dass wir und unsere Aktivitäten durch den sogenannten „Übergesetzlichen Not­ stand“ geschützt waren, habe ich erst später erfahren. Er besagt, dass an sich ungesetzliche Mittel eingesetzt werden dürfen, um das Grundrecht eines Menschen auf Freizügigkeit wiederher­ zustellen. ad hoc: Haben sich deutsche, speziell westdeutsche, und ausländische Unterstützer in der Art, wie sie Hilfe leisteten, unterschieden? Veigel: Eindeutig. Die Westdeutschen haben gefragt, „ist das auch legal, was Sie da machen?“ Diese Frage habe ich nie von Aus­ländern gehört, obwohl gerade sie nicht durch einen „Übergesetzlichen Notstand“ gedeckt waren und sich strafbar gemacht haben, wenn sie uns ihren Pass gegeben haben. Wie lässt sich dieser Unterschied erklären? In Frankreich oder Tschechien sagen sie: Unser Gesetz ist schön und gut, aber ich mache es jetzt einfach mal so. Das Römische Recht ist in Deutschland die Heilige Kuh, die man nicht schräg anschauen darf. Gesetze können einen Nationalcharakter formen. Wir haben eine Kultur des Ängstlichen und Alles-Richtig-MachenWollens. Ich möchte den Deutschen gerne sagen: Kommt endlich weg davon, dass man sich pingelig an jeden Buchstaben des Gesetzes halten muss!

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ad hoc: Dublin II regelt, dass Flüchtlinge in der EU dort Asyl suchen müssen, wo sie zum ersten Mal über die Grenze treten. Das führt dazu, dass Verantwortungen verschoben werden und die Menschen in ein ungeregeltes ‚Dazwischen‘ fallen, wo niemand entscheidet. Was würden Sie diesen ‚Herren Niemand‘ sagen? Veigel: Wenn ihr es schon nicht schafft, die Verhältnisse im Herkunftsland des Flüchtlings so zu verbessern, dass er nicht zu uns kommen will, dann müsst ihr wenigstens dem einzelnen Menschen, der die Flucht über das Mittelmeer geschafft hat, helfen. In der Europäischen Union sollte jeder, der rein will, auch das Recht dazu haben. In Kanada zum Beispiel muss man nach einem halben Jahr auf eigenen Beinen stehen. Das hilft für die Integration in die Gesellschaft. Ich möchte diejenigen unterstützen, die etwas wollen. Die Menschen, die kommen, wollen in Sicherheit leben, sie sind intelligent und wollen arbeiten. Ein Lehrer auf Lampedusa erzählte mir: Nach einem Jahr sind meine afrikanischen Schüler besser als meine italie­ nischen.

„In der Europäischen Union sollte jeder, der rein will, auch das Recht dazu haben.“ ad hoc: Wie empfinden Sie die Politik der Europäischen Union: Flüchtlingsabwehr- oder Flüchtlingsrettungssystem? Veigel: Wir sind auf Abwehr ausgerichtet. Die UN ist eine Staatsschutzorganisation. Dublin II und Frontex genauso. Wir machen uns von Beamten abhängig, die keine Ahnung haben, was los ist, die beurteilen, was jemand hinter sich hat. ad hoc: Was ist Ihrer Meinung nach heute die Aufgabe der deutschen Politik in der Europäischen Union oder anders gefragt: Was erwarten Sie von Deutschland? Veigel: Dass man sich nicht nur an den vier Jahren des Ge­ wähltseins orientiert. Ich erwarte von Deutschland, dass man versucht, Lösungen politisch durchzusetzen und nicht nur durch Nichtregierungsorganisationen oder Hilfsorganisati­ onen. Das erwarte ich von der Regierung, aber auch von der Gesellschaft. Auch die Gesellschaft sollte auf geistiges Weiter­ kommen erpicht sein. ad hoc: Herr Veigel, wir danken Ihnen für das Gespräch. Die Fragen stellte Stephanie von Hayek.

p „Wege durch die Mauer. Fluchthilfe und Stasi zwischen Ost und West“, erschienen in der Edition Berliner Unterwelten, 2013


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Binnenvertriebene

Der Schutz von Flüchtlingen im südsudanesischen Bürgerkrieg von Nicolai von Hoyningen-Huene Beinahe zwei Drittel aller Flüchtlinge suchen innerhalb ihres Landes Schutz. Der UNHCR spricht aktuell von etwa 28 Mil­ lionen Binnenvertriebenen weltweit. Der erst vor Kurzem als Staat gegründete Südsudan wird zur Zeit von einem Bürgerkrieg zerrüttet. Als Privatperson beschreibt Nicolai von HoyningenHuene, Mit­arbeiter der dortigen UN-Mission, die Auswir­ kungen der Binnenvertreibung auf die Menschen im jüngsten Staat der Welt. Juba, Dezember 2013. Ich wache frühmorgens von Gefechts­ lärm auf. Ich höre Feuer von Maschinengewehren und spüre dumpfe Einschläge, die in meiner Brust vibrieren; Panzer­ geschosse, wie sich später herausstellt. Ich springe aus dem Bett und schalte mein Funkgerät an. Von diesem Moment an erlebe ich, wie der Südsudan von einem Tag auf den anderen in einem blutigen Bürgerkrieg versinkt. Ich arbeite für die UN-Mission im Südsudan, die zum Depart­ ment of Peacekeeping Operations gehört, und bin in der Hauptstadt Juba stationiert. Am 15. Dezember 2013 brechen Kämpfe zwischen den Truppen des Präsidenten Salva Kiir und denen seines ehemaligen Stellvertreters Riak Machar aus. Kiir stammt aus der bevölkerungsreichsten Ethnie der Dinka. Machar gehört zur zweitgrößten Volksgruppe der Nuer. Er steht an der Spitze von Antiregierungstruppen, die sich vor­ nehmlich aus desertierten Nuer-Soldaten sowie Milizen zu­ sammensetzen. Vereinfacht gesehen kämpfen beide Seiten um die Macht im Südsudan. Innerhalb von Tagen schwappt eine brodelnde Welle der Gewalt auf andere Bundesstaaten des Landes über. An einer politischen Lösung scheint niemand ernsthaft interessiert zu sein, auch wenn die Konfliktparteien unter dem Druck der internationalen Gemeinschaft Abkom­ men unterschreiben, die Gegenteiliges versprechen. Neben Syrien herrscht im Südsudan die weltweit größte huma­ nitäre Krise. Etwa 10 % der Bevölkerung, mehr als eine Million Menschen, wurden gezwungen, ihre Häuser zu verlassen. Davon sind 800 000 Binnenvertriebene. Weit mehr als 10 000 Menschen wurden getötet. Genaue Zahlen gibt es nicht. Bei­ den Konfliktparteien werden Massaker und Kriegsverbrechen vorgeworfen.

p Die UN-Polizei sichert ein IDP-Camp in Juba

Es wird von Massentötungen, Folter und Vergewaltigung be­ richtet. Die Nachrichten aus den Kampfgebieten erschütterten mich bis ins Mark. Noch nie in meinem Leben wurde ich mit so viel Tod und Elend konfrontiert.

„Noch nie in der fast 70-jährigen Geschichte der UNO beherbergte eine Friedensmission so viele Menschen.“ Innerhalb weniger Tage nach Ausbruch der Kämpfe strömten zehntausende Menschen in unsere Stützpunkte in verschie­ denen Landesteilen, weil sie sich nirgendwo anders im Land mehr sicher fühlten. Die Zahl der aufgenommenen Flüchtlinge schwankt zwischen 70 000 und 90 000, je nachdem wie heftig die Kämpfe sind. Beobachter gehen davon aus, dass tausende von ihnen getötet worden wären, hätte die UN-Mission nicht ihre Pforten geöffnet. Noch nie in der fast 70-jährigen Ge­ schichte der UNO beherbergte eine Friedensmission so viele Menschen.


Binnenvertriebene

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p Südsudanesische Flüchtlinge kommen in Uganda an

Unsere Stützpunkte waren in keiner Weise darauf ausgerichtet, derart viele Menschen zu beherbergen. Die Flüchtlinge brau­ chen Wasser, Nahrung, sanitäre Einrichtungen, Unterkünfte, eine medizinische Grundversorgung und Schutz durch UNBlauhelme. Die einem Flüchtlingslager entsprechende Infra­ struktur musste innerhalb kürzester Zeit aus dem Erdboden gestampft werden. Diese Herkulesaufgabe konnte nur mit der Hilfe humanitärer Organisationen, beispielsweise Ärzte ohne Grenzen, dem Internationalen Roten Kreuz, sowie auf Flücht­ linge spezialisierte NGOs, notdürftig gemeistert werden. Unsere größten Herausforderungen sind der Mangel an Platz für Flüchtlinge, die Regenzeit, die Teile der momentanen Flüchtlingslager überfluten wird, sowie die damit einherge­ henden Seuchengefahren. Wir arbeiten mit Hochdruck an einer Reihe von Maßnahmen, um diese Katastrophe abzu­wenden. Ein Wettlauf gegen die Zeit. Nach zähem Ringen ist es uns ge­ lungen, zusätzliches Land zu bekommen. Dadurch können wir mehrere UN-Basen erweitern und den Flüchtlingen mehr Platz einräumen.

Die ca. 70 000 Menschen in den UN-Basen sind nur die Spitze des Eisbergs. Mehr als zehn Mal so viele sind innerhalb des Landes vertrieben worden. Sie harren ohne den Schutz von Blauhelmsoldaten und ohne eine gesicherte Versorgung mit Wasser und Lebensmitteln aus. Diese Menschen konnten ihre Felder nicht bestellen. Hilfsorganisationen warnen, dass zwi­ schen Ende 2014 und Anfang 2015 eine Hungerkatastrophe über die Menschen hereinbrechen könnte. Zur Lösung des Konflikts sollte die internationale Gemeinschaft, vor allem die USA und die EU, kontinuierlich Druck auf die beiden Kontrahenten ausüben, um eine politische Lösung zu finden und diese umzusetzen. Ein Friedensprozess müsste die ethnische und politische Vielfalt des Südsudans widerspiegeln und die Zivilgesellschaft miteinbeziehen wie beispielsweise Vertreter aus Religion, Jugend- und Frauenorganisationen. Bis dahin werden viele Menschen sterben.

s IDP-Camp in Minkaman, Awerial, Südsudan


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Ein fiktives Flüchtlingsschicksal

Auf der Flucht von Jörg Walendy Jörg Walendy, Autor des Thrillers „Tag der Unabhängigkeit“, ist in seiner Arbeit im Auswärtigen Amt tagtäglich mit den Schicksalen syrischer Flüchtlinge im Libanon konfrontiert. An­ statt den Resettlement-Prozess aus bürokratischer Sicht zu be­ schreiben, stellte er sich den Weg zur dauerhaften Neuansied­ lung in Deutschland – welche nur für wenige glückliche Flüchtlinge Realität wird – aus einer ganz persönlichen Per­ spektive vor. Hind reibt den Staub von ihrem Pass. Wasserflecken haben sich durch die dünnen Seiten gefressen. Als sie den Fuß über die imaginäre Linie zwischen zwei Steinen setzt, strauchelt sie fast. Das letzte Mal ist sie über die Grenze gekommen, um mit ihrer Familie in Byblos an den Strand zu gehen. Anstelle zweier Taschen mit Kleidung und Schuhen trug sie Bücher und eine Sonnenbrille. Keine drei Jahre ist das her. Das Haus in Aleppo stand noch. Sie geht weiter, bis sie zwischen zwei Wassertanks die Flagge des UNHCR entdeckt. Zelte stehen zwischen Zäunen und Bergen aus Plastikmüll. Als sie das Lager betritt, weiß sie nicht, ob sie lachen oder weinen soll. Ihr Onkel hat in den 80er Jahren nicht weit von hier entfernt in der syrischen Armee gedient. Undenkbar. Tage sind vergangen, seit sie eine Frau mit einem Abzeichen der Vereinten Nationen um den Hals befragt hat. Irgendwann fiel auch das Wort „Deutschland“. Sie hatte mechanisch genickt, war in Gedanken aber bei den Kindern, denen sie im Lager etwas Englisch beibringt. Am Abend, als das Husten und die Diskussionen der Zeltnachbarn abklingen und nur das Brum­ men der Generatoren zu hören ist, versucht sie wieder, die Familie zu erreichen. Gestern war die Leitung tot, heute meldet sich ihr Bruder. Sie solle abwarten, vielleicht halte die Waffen­ ruhe ja an. Die Konversation bricht mitten im Satz ab. Als sie zurück ins Zelt geht, übersieht sie fast die Umschläge mit den Unterlagen und bunten Einlegezetteln. Seitenweise Formulare, die jeweils unterschiedliche Logos tragen.

Hind legt den Kopf gegen die warme Seitenscheibe des Busses. Er ruckelt, als er die Auffahrt Richtung Aley und weiter Rich­ tung Küste nimmt. Die Gipfel sind noch schneebedeckt, zwi­ schen den Hängen drängen sich Bauruinen, Werbetafeln und Kabelstränge. Am Straßenrand Tankstellen, offene Holzkohle­ feuer mit gebratenem Fleisch und Kinder, die dem Wagen miss­ trauisch hinterherblicken. Kurz vor den verspiegelten Bürotür­ men Beiruts hält der Bus vor einem Krankenhaus, in welchem sie eine tief verschleierte Frau abhört und zu einem Röntgengerät führt. Zwischen den wartenden Menschen stehen Männer mit Schirmmützen des IOM und flüstern einander zu. Als sie sich umdreht, lächelt einer der jüngeren und sagt ein paar Worte auf Italienisch. Sie schweigt. Sie überprüft den Inhalt ihrer Tasche. Zwei Wochen sind ver­ gangen. Alle privaten Dinge sind im Zeltlager geblieben, bei einem Cousin, der vor wenigen Nächten über die Grenze gekommen ist. Er sah aschfahl aus und wollte nicht erzählen, wo sich ihr Bruder befindet. Sie senkt den Blick als sie einen Flachbau mit der Aufschritt „qism at-taschira“ betritt und ihre Unterlagen in eine Metallschublade legt. Auf der anderen Seite des Schalters sortiert eine Frau mit geübten Bewegungen die Papiere. Ein Mann mit Anzug und Krawatte blickt ihr über die Schulter, nickt kurz und verschwindet im Hintergrund. Ihr Cousin ist nicht mitgekommen. Er will wieder zurück über die Grenze und auch auf den „kulturellen Vorbereitungskurs“ ver­ zichten. Es gäbe schließlich Hoffnung auf ein schnelles Ende von Assad.


Ein fiktives Flüchtlingsschicksal

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Die Stimme ihres Bruders ist kaum zu verstehen. Die knat­ ternden Geräusche im Hintergrund könnten Kämpfe sein, viel­ leicht auch Schlimmeres. Er rufe aus Yabroud an. Hind presst das Telefon an ihr Ohr und versucht, sich zu konzentrieren. Draußen schießen Plattenbauten und überlebensgroße Bilder von Nasrallah an ihr vorbei. Der Bus wird gleich am Flughafen eintreffen. Sie solle besser nicht zurückkommen, sagt er. Viel­ leicht könne sie von Deutschland aus aber Geld für Antibiotika schicken. Als der Bus anhält, ist die Verbindung wieder unter­ brochen. Hind versucht mit einem der Begleiter zu sprechen, der Mann nimmt sie kaum wahr und drückt sie mit den anderen in das Flughafengebäude. Dort sitzen Männer in Anzügen an Tischen und verteilen gestempelte Papiere. Als ihr Name fällt, reagiert sie zuerst nicht, hebt dann die Hand. Kalter Regen prasselt gegen die Fenster. Eine Heizung brummt. Sie muss ihrem Bruder helfen. Sie hat nur stundenweise Internet, aber gleich wird sie nachsehen können, ob er sich wieder gemel­ det hat. Vor vier Nächten hat er sich kurz für das Geld bedankt, dass sie hier gesammelt hat. Ob es ihn wirklich erreicht hat, weiß sie nicht. Die schlanke, blonde Frau, die ihr gegenüber­ sitzt, nickt ungeduldig und spricht weiter auf Englisch. Sie solle einfach loslassen. Friedland hieße der Ort. Zeit, endlich abzuschalten. Sie sei in Sicherheit.

i Jörg Walendys Krimi handelt von einem Mord in Algier. „Tag der Unabhängigkeit“, Polar Verlag 2014

g Flüchtlingslager Bar Elias (Bekaa-Ebene) ca. 10 km westlich der syrischen Grenze im Libanon


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Ankunft in der Fremde

Enttäuschte Hoffnungen von Sarah Hasselbarth Wenn sie in Deutschland ankommen, haben sie qualvolle und gefährliche Wege hinter sich. Flüchtlinge aus S­yrien hoffen hier auf ein friedliches Leben fernab von Krieg und Gewalt. Sie wollen in Deutschland arbeiten oder studieren. Doch im System der Ämter werden hier Flüchtlinge zu Aktenzeichen. „Was sie wissen wollten, war, wie ich hergekommen bin.“ Als er sich auf der Polizeistation in Deutschland Asyl suchend mel­ dete, wird Hamza (29) nur diese eine Frage gestellt. Der junge Mann ist einer von über zweieinhalb Millionen Syrern, die seit Beginn des Aufstandes gegen Präsident Assad im Februar 2011 aus ihrem Land fliehen mussten. Weil Syriens Nachbar­ länder bereits Tausende von Flüchtlingen aufgenommen haben, und und ein Ende des Krieges nicht in Sicht ist, geht die Reise für immer mehr Syrer weiter – nach Europa oder Ame­ rika. Verzweiflung und Perspektivlosigkeit sind die Antriebs­ kräfte dieser Menschen auf ihrem mühseligen Weg in den Westen, den sie hauptsächlich aus Bildern aus dem Fernsehen kennen. Und Hoffnung – auf Arbeit, eine menschenwürdige Unterkunft und einen Schulplatz für die Kinder. Eigentlich möchten sie ihr ganz normales Leben weiterführen. Yosra, eine junge Arabischlehrerin und Mutter zweier Kinder, lebt seit einem halben Jahr in Beirut und hofft auf eine Umsiedlung nach Schweden oder in die USA durch die Ver­ einten Nationen. Warum diese beiden Länder? „Schweden nimmt in Europa am meisten Syrer auf, sagt man. Und die USA, weil ich ja schon die Sprache spreche“, erklärt sie in sehr gebrochenem Englisch. Sie könne dort weiter unterrichten, am besten an einer Universität in einer großen Stadt. Sie ist zuver­ sichtlich, dass sie dort genug Geld verdienen wird, um sich und ihren beiden Kindern ein gutes Leben zu ermöglichen.

d Unterkünfte für syrische Flüchtlinge in Nord­ jordanien

Ähnliche Vorstellungen hatte auch Hamza. Er hat den Libanon nach einem halben Jahr verlassen und sich nach Deutschland durchgeschlagen. Deutschland war für den jungen Syrer „the Verstand of the world“. Er dachte, die Leute, die er auf den Ämtern trifft, fragen ihn, wer er sei, was er gelernt hätte; und er dachte, dass sie ihm helfen würden, Arbeit zu finden und ein selbstbestimmtes Leben in Deutschland zu führen. Doch Hamza ist längst in der Realität angekommen. Sprachbarrieren und eine fremde Kultur sind nur ein Teil die­ ser Realität. Die größte Herausforderung ist das bürokratische System, das aus Menschen, die von Krieg und Flucht trauma­ tisiert sind, erst einmal Akten macht und Träume von einem ganz normalen Neuanfang platzen lässt. Monatelang, manch­ mal Jahre, müssen sie beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) auf einen Termin warten, um endlich nicht nur ihren Fluchtweg, sondern auch ihre Fluchtgründe und ihre Geschichte darlegen zu dürfen. Dann erst wird auf den Ämtern über ihr weiteres Schicksal entschieden. Während dieser Zeit werden sie in Heime verwiesen, wo sie sich mit mehreren, zumeist fremden Menschen, ein Zimmer teilen müssen. Privatsphäre: Fehlanzeige. Sie dürfen nicht arbeiten und auch nicht studieren. Hamza wartet nun seit über einem Jahr auf seinen Termin beim BAMF. Wie er seine Tage verbringt, kann er nicht sagen. Nachts geht er zwei Stunden putzen in einem Restaurant. Natürlich ist das illegal. Solch einen Job hätte er früher nie angenommen – nur, gar kein eigenes Geld zu verdienen, findet er noch erniedrigender. „Ich will von Deutschland keinen Heimplatz, kein Geld und keine Versicherungen. Alles, was ich möchte, ist die Freiheit, hier mein Studium zu beenden und zu arbeiten. Ich möchte meinen eigenen Beitrag zu diesem Verstand leisten, den ich immer so bewundert habe.“ Ob er trotzdem hierher gekommen wäre, wenn er all das vorher gewusst hätte? „Nein. Niemals.“ Es gibt in unserer Gesellschaft nur noch wenige Menschen, die Flucht und Vertreibung selbst miterlebt haben. Vielleicht ist es an der Zeit, sich ins Gedächtnis zu rufen, dass sich die Schick­ sale von Yosra und Hamza auch in unseren jüngeren Familien­ geschichten wiederfinden. Unsere Großeltern und Eltern haben sich durch ebenso viel Leid und Elend gekämpft, um ihren Kindern und Enkeln, uns, eine Zukunft zu ermöglichen – und sie waren auf ebenso viel Unterstützung und Vertrauen angewiesen. Auf jeden Fall ist es an der Zeit, innezuhalten und das Schicksal des Menschen hinter dem Aktenzeichen zu sehen.


Spendenaufruf

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Spendenaufruf: Eine Zukunft für Syriens Kinder nefia ruft auf zur Unterstützung syrischer Flüchtlingskinder im Libanon Die Johann Ludwig Schneller Schule (JLSS) im Libanon nimmt syrische Kinder in ihr religionsübergreifendes Internat auf und unterrichtet sie. Mit einer Spendenaktion möchte das Netzwerk für internationale Aufgaben, nefia, mindestens einem Kind für ein Jahr einen Internatsplatz in der JLSS finanzieren. Dafür brauchen wir 2 400 Euro. Wir möchten alle Leserinnen und Leser dazu aufrufen, gemeinsam mit uns aktiv zu werden und ein Zeichen für humanitäres Engagement zu setzen. Wir haben über die letzten Monate Vorschläge für Flüchtlingsprojekte gesammelt und dieses über eine virtuelle Abstimmung unter den Mitgliedern des nefia-Netzwerks ausgesucht. Mit unserer Spendenaktion möchten wir ein Projekt des internationalen Missionswerks Evangelische Mission in Solidarität (EMS) unterstützen, das syrischen Flüchtlingskindern im Libanon einen Internatsplatz an der religionsübergreifenden Schule ermöglicht.

heit, sondern werden auch unterrichtet, verpflegt und psychologisch betreut. Während die Religionszugehörigkeit vielerorts für kriegerische Zwecke instrumentalisiert wird, lernen die christlichen und musli­mischen Kinder hier gegenseitigen Respekt und Achtung vor der Religion der jeweils anderen. Ein Platz für ein syrisches Kind an der Schneller-Schule kostet 3 300 Dollar im Jahr, das heißt etwa 2 400 Euro. Für 200 Euro, die gespendet werden, können einen Monat lang Unterkunft, Verpflegung, Schulunterricht, sowie Lernmaterialien für ein Kind finanziert werden. Unser Ziel ist es mit unserer Spendenaktion mindestens einem Kind ein Jahr lang einen Schulplatz zu finanzieren. Doch je mehr Spendengelder wir sammeln können, desto mehr Kinder freuen sich darüber, dass wir ihnen einen Teil ihrer verlorenen Zukunft zurückgeben können. Bitte überweisen Sie Ihre Spende an: Netzwerk für internationale Aufgaben

Die JLS Schulen gehen zurück auf ein syrisches Waisenhaus, welches 1860 von Johann Ludwig Schneller, einem schwäbischen Missionar, in Jerusalem gegründet wurde. Heute gibt es die Schneller-Schulen nur noch im Libanon und in Jordanien. Sie bieten Kindern aus armen Verhältnissen die Möglichkeit, im Internat auf dem Schulgelände zu leben und zu lernen. Dazu kommen noch Tagesschüler aus der Umgebung, welche die Schulen aufgrund der Qualität der Lehre und des guten Rufes der Schneller-Schulen besuchen. Die Trägervereine in Deutschland und in der Schweiz unterstützen die SchnellerSchulen finanziell, sowie durch die Entsendung von Experten, Zivildienstleistenden und Freiwilligen. Seit 2012 nimmt die JLSS in Khirbet Kanafar (Bekaa-Ebene, Libanon) syrische Flüchtlingskinder auf. Momentan besuchen 31 syrische Flüchtlingskinder, zusätzlich zu den 310 libanesischen Kindern, die Schule. Sie sind dort nicht nur in Sicher-

Mittelbrandenburgische Sparkasse Potsdam IBAN: DE67 1605 0000 3637 0217 21 BIC: WELADED1PMB Betreff: Spende Flüchtlingsprojekt EMS   Informationen zum Projekt:  www.ems-online.org

nefia sammelt bis zum 31. Dezember 2014 Spenden für das Flüchtlingsprojekt des EMS. Die eingegangenen Spenden werden dann im Januar 2014 vollständig an das EMS weitergeleitet. Bei Angabe von Name und Adresse des Spenders im Betreff der Überweisung wird eine Spendenbescheinigung ausgestellt.

Ursula Feist (Ansprechpartnerin des Projekts bei EMS): feist@ems-online.org Sarah Hasselbarth (Koordinatorin der nefia-Spendenaktion): sarah.hasselbarth@nefia.org

Leserbrief an die Redaktion zur 12. Ausgabe der ad hoc „Städte – Das Leben des Homo Urbanus im 21. Jahrhundert“:

„Mit großer Freude und Anteilnahme habe ich Ihr Heft über Städte angesehen. Vor ein paar Wochen war ich in Nairobi und habe durchaus das von Ihnen Beschriebene beobachten können. Auch die allenthalben sichtbaren Mauern sind leider Realität.“ Prof. Dr. Dr. h.c. Ernst Ulrich von Weizsäcker, Co-Chair, International Resource Panel, Ko-Präsident, Club of Rome


ad hoc international

„Weil wir nichts wissen, denken wir gerne ans Leben als einen ­unerschöpflichen Brunnen. Und doch passiert alles nur eine bestimmte Anzahl von Malen. Wie oft etwa wird man sich noch an einen bestimmten Nachmittag aus der Kindheit ­erinnern, der so tief drinnen Teil von einem ist, dass man sich kein Leben ohne ihn vorstellen kann? Vielleicht noch vier- oder fünfmal. Vielleicht nicht einmal das. Wie oft wird man noch den Vollmond aufsteigen sehen. Vielleicht zwanzig Mal. Und doch scheint alles grenzenlos.“ Paul Bowles, Himmel über der Wüste


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