Heft 10/05/2007 Heft 2: 1: Dezember 2007
ad hoc international Die neuen Friedensmissionen Editorial (Seite 1) Überblick: Friedenseinsätze, der aktuelle Forschungsstand (Seite 2) VIP-Interview: Tono Eitel (Seite 4) Überblick: Afrika (Seite 5) Dossier: Entwaffnung (Seite 6) Fallstudie Kosovo (Seite 8) Kommentar: Aktueller Stand in Afghanistan (Seite 9)
Russland Werdegang einer Weltmacht? Drehmomente der Gesellschaft (Seite 2) Freier als gedacht – Dr. Thomas Kunze zur russischen Demokratie (Seite 4) Presse nach Politkowskaja (Seite 9) Freundschaft und der Gashahn (Seite 10) Das Große Vaterland und sein Krieg (Seite 16) Lost in Translation? Das Ost-West-Missverständnis (Seite 20)
Impressum
ad hoc international Zeitschrift vom Netzwerk des Stiftungskollegs für internationale Aufgaben e.V. erscheint halbjährlich. Titelbild: Russische Matroschkas, Foto: Frank Stolze Bildnachweis: ad hoc (Seiten 4–5, 19), Carsten Sprenger (Seite 6), Musa Sadulaev (Seiten 6–7), Oliver Rändchen (Seite 7), amnesty international (Seite 9), Frank Stolze (Seite 10), Dirk Seelig (Seiten 4, 11–12), Neubau Berlin (Seite 12), FrontAIDS (Seiten 12–13), Robert Bosch Stiftung GmbH (Seiten 14), Theodor-Heuss-Kolleg (Seite 15), Kristiane Janeke (Seiten 16–18), Jakob Preuss (Seiten 20–21) Herausgeber: Netzwerk des Stiftungskollegs für internationale Aufgaben e. V. Schillerstr. 57, 10627 Berlin, Telefon +49 (0)30 31102298, Fax: +49 (0)30 31016229, gf@stiftungskolleg.org, www.stiftungskolleg.org Redaktion: Ines Wolfslast (Projektleitung), Christina Drees, Max Chrambach, Tania Krämer, Leonie von Braun, Torsten Wegener, Katja Patzwaldt Autoren: Ottilie Bälz, Leonie von Braun, Elke Bredereck, Kristiane Janeke, Ulrike Kind, Corinna Knobloch, Jakob Preuss, Constanze Ruprecht, Dirk Seelig, Carsten Sprenger, Frank Stolze, Torsten Wegener Die Beiträge spiegeln die persönliche Meinung der Autoren wieder. Idee: Ines Wolfslast Gestaltung: V+I+S+K Büro für Visuelle Kommunikation, Berlin Druck: Herforder Druckcenter Anzeigen: Redaktion ad hoc international c/o Netzwerk des Stiftungskollegs für internationale Aufgaben e. V. Schillerstr. 57, 10627 Berlin, Telefon +49 (0)30 31102298, Fax: +49 (0)30 31016229, redaktion@stiftungskolleg.org Danksagung: Diese Publikation wurde von der Robert Bosch Stiftung GmbH gefördert.
Editorial
Liebe Leser, Die Titelfrage als Aufmacher der zweiten Ausgabe dieser jungen Zeitschrift ist ebenso fraglich wie es auch andere Formulie rungen wären, z. B. „Rückkehr einer Weltmacht“. ad hoc interna tional stellt den Lesern Fragen, die sie selbst beantworten können, wenn es überhaupt eine Antwort gibt. Ereignisse werden nicht um ihrer Tagesaktualität willen kommentiert: über die Wahlen in Russland am 2. Dezember 2007 wird nicht hier, sondern wird al lenthalben sonst zu lesen und zu hören sein. Aber aktuell sind alle Beiträge, oft sogar hochaktuell, wie Frank Stolzes Beitrag „Russ lands Machtpolitik mit Energie“ oder Leonie von Brauns „Anna und Goliath“. Was also macht das Besondere dieses Blattes aus?
Die Vielfalt und konzentrierte Abfassung der Artikel, die indivi duelle aus eigenem Erleben gewonnene Einsicht der Autoren, oft verbunden mit hohem internationalen Einfühlungsvermögen, ohne das Beiträge wie Ulrike Kinds „Polens Bild von Russland“ nicht zustande kommen können. Auch aus täglicher Berufser fahrung heraus sind Texte erwachsen: so wenn Kristiane Janeke über „Der zweite Weltkrieg im nationalen Gedächtnis Russ lands“ oder Dirk Seelig über „Business auf Russisch“ berichten. Schlaglichter werfen die Reportagen, Analysen und Traktate auch dieser Ausgabe, sie erhellen Szenen und Konstellationen und sind von hoher Authentizität.
Professor Dr. Klaus Otto Nass Leibniz Universität Hannover Rektor des Stiftungskollegs für internationale Aufgaben 1995–2001
Als Anfang der 90 er Jahre die Sowjetunion zerbrach, verschwand eine Supermacht von der Bildfläche der internationalen Welt politik. Das ist das, was wir alle gesehen haben. Für uns aber weniger sichtbar waren die unglaublichen und allumfassenden Umwälzungen, die im Inneren der Nachfolgerstaaten begannen und auch heute immer noch stattfinden. Faktisch über Nacht war das Riesenreich aufgelöst worden. Alles was bisher galt, war nun anders. Die Menschen waren auf einmal in einem „rechtsfreien“ Raum und in einem neuen Staat. Altes sowjetisches Recht war passé – ein neues russisches noch nicht geschaffen. Der Staat konnte weder international noch gegenüber der Bevölkerung seinen finanziellen Verpflichtungen nachkommen. Staatsbedienstete wie Lehrer, Mitarbeiter in Be hörden und Müllmänner bekamen kein Gehalt oder wenn doch, dann nur teilweise und mit großer Verzögerung; alte Menschen erhielten keine Rente mehr. Mit der alten sowjetischen Ideo logie ging auch die Sicherheit. Die Sowjetbürger waren erzogen worden im Glauben an ihre weltweite Überlegenheit und eine bessere Zukunft. Damit sollten sie die sozialistische Gegenwart mit den Defiziten in der Versorgung und dem niedrigen Wohl stand akzeptieren, denn „in Zukunft wird ja alles besser!“. Aber es kam noch schlimmer: Die Sparkonten weg, die Jobs meist auch, die Rente nicht sicher und niemand wusste so recht, wie es weitergehen sollte. Jeder besann sich in dieser Zeit auf
das, was er konnte und vermochte, um sich und seine Familie durchzubringen. Der unternehmerische Erfindungsreichtum kannte keine Grenzen, ein allgemeines Streben nach Wohl stand setzte ein. Heerscharen von westlichen Beratern kamen in das Land, um es bei seinen Reformen zu betreuen, NGO s wurden gegründet, Gesetze verabschiedet. Ein gigantischer Transformationsprozess kam in Gang, der jedermann und alles in diesem riesigen Land erfasste. Nach und nach meldete sich der neue erstarkte Staat zurück, innenpolitisch und auch auf der Bühne der Weltpolitik. Über 15 Jahre sind seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Entstehen von Russland vergangen. Anfang Dezem ber sind in Russland Parlamentswahlen und im Frühjahr wird ein neuer Präsident gewählt. Zeit für ad hoc international sich mit diesem interessanten und facettenreichen Land zu beschäfti gen. 11 Autoren aus den Reihen des Netzwerks des Stiftungs kollegs für internationale Aufgaben e. V. und drei Gastautoren kommen zu Wort und beschreiben ihre Sicht auf das Land. Themen wie Korruption, Besonderheiten der russischen Ge sellschaft, die schwierigen Arbeitsbedingungen von westlichen NGO s im Land, die Konflikte im Kaukasus, die Herausforde rungen von Unternehmen in einem Land wie Russland und vieles mehr werden aufgegriffen. Wir wollen ein differenziertes Bild von Russland zeichnen und jenseits von Schwarz-Weiß Bil dern die Grautöne der russischen Gegenwart erforschen.
Viel Spaß beim Lesen wünscht Ines Wolfslast
Das Phänomen Russland
Russland: innere Zusammenhänge – außenpolitische Erscheinung von Torsten Wegener Russlands Einbindung in multilaterale Abkommen wurde in den letzten Jahren schwieriger. Im Verhältnis Europa-Russland werden derzeit kaum vertragliche Fortschritte erzielt. Aus Sicht des Westens häufen sich seitens Russlands Störungen der ver trauensvollen Zusammenarbeit. In imperialer Weise scheinen Gaslieferungen an die Nachbarn von politischem Wohlwollen abzuhängen. Bestehende Konflikte im näheren russischen Interessengebiet bleiben eingefroren; Lösungsvorschläge des Westens werden abgewiesen. Aber hilft es weiter, wenn prominente Russlandforscher, wie Hannes Adomeit, das Land als „kleinkariert“ bezeichnen – oder wie Alexander Rahr gar als „infantil“? Herabsetzende Be wertungen verletzen Nationalgefühle und verstellen den eige nen Blick auf die Realitäten. Wendet man sich den „inneren Drehmomenten“ der russischen Gesellschaft zu, fallen mindestens vier Aspekte auf. Die Umverteilung politischer und wirtschaftlicher Ressourcen unterlag in den postkommunistischen Gesellschaften meist einem Transformationsprozess: Weg von der Elitenwirtschaft der Zentralverwaltung hin zu demokratischer und marktwirt schaftlicher Ressourcenallokation. Eine solche Transformation fand in Russland höchst unvollständig statt. Unverändert ge blieben bis heute ist die nicht transparente Verteilung des Ei gentums durch die weitgehend unbeschränkt und willkürlich agierende staatliche Zentralverwaltung. Marktmechanismen, Eigeninitiative, Selbstorganisation, also Zivilgesellschaft (Ver einswesen, freie Presse etc.) und damit die Entwicklung des menschlichen Potentials werden von der Zentralverwaltung eher behindert als gefördert. Eine Wirtschaftspolitik der Diversifizierung wirtschaftlicher Strukturen ist kaum auszu
machen, bestehende Rohstoffexportstrukturen werden konser viert – der wirtschaftliche Erfolg Russlands bleibt so abhängig von den Rohstoffpreisen. Der Stellenwert von Gewalt in der Sozialisation insbesondere der männlichen Bevölkerung ist vergleichsweise hoch. Da ist zum einen eine kaum von der Judikative gezügelte Miliz: Vier von fünf Russen fühlen sich vor Willkür der Rechtsschutz organe nicht geschützt. Jeder Vierte hat bereits persönliche Er fahrungen mit Grobheit, Untätigkeit, Erpressung, unrechtmä ßiger Festnahme und physischer Gewalt gemacht. Zum anderen begegnen junge Männer massiver Gewalt in Militär und Straf vollzug. Die Gewalt, der die jungen Rekruten im Militär durch die üblichen Dedowschtschina-Rituale ausgesetzt sind, hat sich in den letzten Jahren vor allem auch durch die verschlechterte finanzielle Ausstattung des Militärs noch verstärkt. Studien zu den Ausmaßen des Strafvollzugs in Russland zeigen, dass ein Viertel bis ein Drittel aller russischen Männer mindestens ein mal im Strafvollzug gewesen ist. Die Lager-Subkultur mutiert hier von einer „Randkultur“ zu einer „Leitkultur“. Schätzungen gehen davon aus, dass bis zu drei Millionen Menschen in Um ständen extremer physischer Gewalt leben: Durch Rotation in Militär und Strafvollzug kommen jährlich 300 000 Menschen neu in das System. Demographisch ist Russland ein besonderes Phänomen: Es hat inzwischen so niedrige Geburtenraten wie Westeuropa, aller dings eine Sterblichkeit wie ein Entwicklungsland. Insbesonde re die Lebenserwartung der Männer ist in den letzten Jahren rapide auf 58 Jahre gesunken. Hinzu kommen AIDS-Sterblich keit und vergleichsweise hohe Mord- und Selbstmordraten. Russland ist eine schrumpfende Gesellschaft: Die Bevölke rungszahl sinkt jährlich um fast eine Million Menschen. Das anti-westliche Ressentiment bildet den ‚Sozialkitt‘ großer Teile der russischen Gesellschaft. Der noch aus Sowjetzeiten weit verbreitete Antiamerikanismus mischt sich mit einer generell anti-westlichen Stimmung. Nationalistische Auffas sungen finden immer mehr Anhänger; straff organisierte Ju gendorganisationen wie „Naschi“ (Die Unsrigen) erfreuen sich der Unterstützung durch regierende Parteien.
fKenntnisse der russischen Kultur im Westen gehen kaum über folkloristisches oder touristisches Interesse hinaus.
Das Phänomen Russland
St. Petersburg
Moskau
Novosibirsk Irkutsk
An dieser Stelle sollen keine Mutmaßungen darüber angestellt werden, ob eine Gesellschaft mit derartigen „Drehmomenten“ zu mehr Aggressivität nach außen tendieren wird. Vielmehr ist zu hoffen, dass Russland ein friedliches Mitglied der Welt gemeinschaft bleibt. Die russische Gesellschaft unterscheidet sich jedoch strukturell und kulturell sehr von der europäisch-westlichen Gesellschaft. Es stellt sich die Frage, ob diese Differenz nicht beiderseits zu Verhaltensweisen führt, die als cultural containment zu be schreiben sind: Jede Seite beharrt auf den Eigenheiten ihrer Kultur und verhindert ein zu starkes Eindringen der anderen. Über ein folkloristisches (z. B. „Russendisko“) oder touristi sches Interesse am anderen hinaus, gibt es in der Tat wenig Austausch. Ambitionierte kulturelle Austauschprojekte, die ohnehin nur in West-Ost-Richtung existieren, dürften vor so einem Hintergrund immer weniger Wirksamkeit entfalten: In Russland werden sie von staatlichen Stellen beargwöhnt, wenn nicht verdächtigt; im Westen verlieren sie über kurz oder lang den legitimatorischen und damit finanziellen Rückhalt. Die wesentliche Frage lautet hier: Können wir uns wirksam in die russische Zivilgesellschaft einbringen? Auf dem Feld der internationalen und nachbarschaftlichen Zu sammenarbeit der Staaten kann containment nicht das Gebot
der Stunde sein. Andererseits sind wir weit von Gorbatschows Traum entfernt, gemeinsam das „Haus Europa“ zu bauen. Russ land ist im Vergleich zu Europa nicht nur eine signifikant ande re Gesellschaft, sondern ist auch ein Staat, der außenpolitisch eigenwillige Interessen verfolgt. Wie kann sich das auf die Be ziehungen zwischen Europa und Russland auswirken? Erstens ist zu fragen, welche Zielrichtung der europäischen Russland politik zugrunde liegen sollte. Russland an die europäische Werteordnung heranführen? Oder anerkennen, dass Russland ein eigener machtpolitischer Solitär zwischen den Machtzent ren Europa, USA, China und Indien ist und es mittelfristig mangels Bündnislosigkeit auch bleiben wird? Sollte Europa un ter diesen Bedingungen weiterhin versuchen, seine außenpoli tischen Ziele mittels enger Einbindung Russlands zu erreichen oder seine Ziele selbstbewusst verfolgen neben der – wie auch immer gestalteten – Kooperation mit Russland? Zweitens sollte sich die gewachsene Unsicherheit, bezüglich der Einhaltung der Verträge durch Russland, in der Gestaltung neuer Verträge nie derschlagen, indem diese unter entsprechenden Vorbehalten stehen und sanktionsbewehrt sind. Grundsätzlich sollte hier die tit-for-tat-Strategie gelten: Man beginnt, vertrauensvoll zu kooperieren und setzt die Kooperation fort – solange der ande re kooperiert. Beendet die andere Seite aber das kooperative Verhalten, sollte der Westen auf seine Möglichkeiten für nicht kooperatives Verhalten nicht verzichten. Dr. Torsten Wegener, Jhg. 1966, Diplom-Sozialwirt mit wirtschaftswissen schaftlicher Ausrichtung, war Stiftungskollegiat 1997/98 mit einem Projekt in Kasachstan. Er ist derzeit für die Euler Hermes Kreditversicherungs-AG tätig und betreibt daneben sein wissenschaftliches Forschungsobjekt zum Thema „Institutionelle Fragen regionaler Kooperationen“.
Interview
Aus Stabilität wächst Demokratie Dr. Thomas Kunze zieht es zur ersten Person Plural, wenn er über Russen spricht. Sein Lebenslauf zeigt eine langjährige Ver bindung zu Russland und den umliegenden Regionen: Der gebürtige Leipziger wurde im Jahr 2002 Repräsentant der KonradAdenauer-Stiftung für Zentralasien und den Südkaukasus. Im Jahr 2004 wechselte er nach Moskau, wo er die dortige Außenstelle leitete. Seit November 2007 ist Dr. Kunze Leiter der Abteilung Europa/Nordamerika in der Zentrale der Stiftung in Berlin.
ad hoc: Dr. Kunze, wie hat das Gesetz für Nichtregierungsorganisationen (NGO) aus dem Jahr 2006 die Arbeit der AdenauerStiftung in Moskau erschwert? Kunze: Das NGO-Gesetz hat im Vor feld seines Entstehens die Arbeit viel mehr erschwert als danach. Wir mussten uns registrieren lassen, es war ein unge heurer bürokratischer Aufwand. Aber die Befürchtungen, dass sich die Arbeit der ausländischen Organisationen ein schränken würde, haben sich nicht be wahrheitet. Die neue russische Behörde geht sehr tolerant, fast lax mit diesem Gesetz um. Es gibt neue Berichtspflich ten, die alle ausländischen Organisa tionen haben. Aber die Berichte be schränken sich auf das, was wir machen – nicht einmal die Themen unserer Ver anstaltungen werden gefordert. Viel leicht hängt es auch damit zusammen, dass wir uns nicht als „Lehrer aus dem Westen“ verstehen, der den Russen er klären muss, wie sie ihre eigene Zukunft gestalten müssen. ad hoc: Aber die Adenauer-Stiftung hat sehr gute Beziehungen zum politischen Establish ment. Hatte das NGO Gesetz für andere Stiftungen weitreichendere Konsequen zen? Hatten Sie eine bevorzugte Stellung? Kunze: Nein, hatten wir nicht. Für die ausländischen NGOs ist dieses Gesetz gleichermaßen zu betrachten. Es gab natürlich russische Organisationen, die Probleme hatten. Das NGO-Gesetz wur de damit begründet, dass es im Nord kaukasus Organisationen gegeben habe, die massive Unterstützung aus isla mistischen Kreisen bekommen haben. Die se Organisationen hatten natürlich Ärger. Gleichfalls bekamen Organisationen
Schwierigkeiten, denen man vorwerfen konnte, sie bekämen schmutziges Geld für terroristische Tätigkeiten. Die rus sische Regierung hat natürlich dieses Ge setz auch genutzt, um regimekritischen russischen Organisationen gegenüber den Zeigefinger zu heben und sie einzus chüchtern. ad hoc: Das Gesetz wird oft als Beispiel für Putins „gelenkte Demokratie“ genannt. Inwiefern ist das russische System gelenkt? Inwiefern noch demokratisch? Kunze: In den 90er Jahren gab es in Russ land eine ungeheure Freizügigkeit. Im Westen wurde das sehr oft gleichgestellt mit Demokratie, und die Jelzin-Admin istration erfuhr sehr viel Lob. Auf der anderen Seite führte die Politik Jelzins geradezu ins Staatschaos. Es kam damals zur Finanzkrise in Russland, die Be völkerung verarmte, die Schere zwischen arm und reich ging immer mehr auf. Mit dem Wechsel zu Wladimir Putin vollzog sich dann die „gelenkte Demokratie“. Putin erklärte ganz klar, dass er den un gezügelten Ost-Kapitalismus und das Oli garchentum eindämmen wollte. Er wollte die Zügel stärker in die Hand nehmen. Dieser Prozess der Stabilisie rung und der staatlichen Lenkung sollte mit einer demokratischen Entwicklung verbunden werden. Meine Überzeugung ist, dass sich eine Demokratie besser aufbauen lässt auf einer stabilen wirt schaftlichen Grundlage als auf Chaos. ad hoc: Aber wird diese Demokratie in Russland aufgebaut? Nehmen Sie als Bei spiel die Duma Wahlen im Dezember, die so problematisch sind, dass die „Organisa tion für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ (OSZE) ihre Wahlbeobachter
nicht einmal hinschicken will. Kann man die noch als demokratisch bezeichnen? Kunze: Die Wahlen werden sicher eini germaßen fair ablaufen. Problematisch sind die eingeschränkten Möglichkeiten, die vor allem die Opposition im Vorfeld der Wahlen hatte. Der Selektionsprozess wird sich nicht bei den Wahlen abspiel en, den gab es schon im Vorfeld der Wahlen.
„Putin tritt nicht wie ein Mann auf, der weiß, dass er in einem halben Jahr Rentner ist.“ ad hoc: Man bemängelt vor den Wahlen in Russland, dass die Pressefreiheit stark eingeschränkt sei. Wie hat man sich un freie Presse in Russland vorzustellen, als direkte Zensur oder eher Selbstzensur? Kunze: Direkte Zensur in großem Aus maß gibt es nicht. Zensur, wenn Sie das Wort gebrauchen wollen, findet so statt, indem die wichtigen Medien entweder in Staatshand sind oder in der Hand von Wirtschaftsmagnaten, die dem Kreml verpflichtet sind. Diese Verleger, Heraus geber und Intendanten haben natürlich Interesse daran, nicht allzu kritisch zu be richten, was intern zur Selbstzensur führt. Das betrifft vor allem das Fernsehen. Im Hörfunk und in der Druckpresse wird dagegen Kritik am Kreml geübt. Wenn Sie eine russische Zeitung lesen, wie den sehr auflagenstarken „Kommer santen“, werden Sie staunen, was dort an offener Kritik an Korruption oder Machtmissbrauch zum Ausdruck kommt.
Interview
Russland hat ein völlig freies Internet, zu dem jeder Zugang hat. Jede Zeitung und auch jeder Verleger würde sich völlig unglaubwürdig machen, wenn er nur, wie es zu sozialistischen Zeiten war, Erfolgs meldungen verkaufen würde. Es gibt auf jeden Fall eine Grenze, die manchmal über schritten wird, aber es ist nicht so, dass Russland eine völlig unfreie Presse hat. ad hoc: Dagegen hört man oft von Ver stößen gegen die Meinungsfreiheit – regelmäßig werden politische Protestde monstrationen gewaltsam aufgelöst. Wie schwerwiegend ist dieses Problem? Wird es etwa zu hoch eingeschätzt von west lichen Medien? Kunze: Die westlichen Medien schreiben korrekt über diese Ereignisse, wenn sie passieren. Sie berichten auf der anderen Seite nicht über die positiven Entwick lungen. Die negativen Ereignisse interes sieren halt die Leser. Wenn das Monats einkommen eines Lehrers um 200 Euro erhöht wird, ist das vielleicht eine Meldung am Rande. Damit lässt sich aber keine Zeitung aufmachen. Hier gibt es schon ein Missverhältnis. ad hoc: Aber jenseits von einseitiger Be richterstattung: Müssen nicht Menschen rechtsverletzungen und Verletzungen der Meinungsfreiheit klar kritisiert und nicht relativiert werden? Kunze: Ja, man muss ganz klar solche Entwicklungen nennen. Das macht die westliche Presse zu Recht, das macht auch die Bundesregierung unter Frau Merkel. Sie spricht ja Fehlentwicklungen auch Putin gegenüber offen an. Aber man muss auf der anderen Seite sehen, dass es nicht nur diese Entwicklung gibt, und man muss aufpassen, dass sich in den Köpfen im Westen kein Schwarz-Weiß Bild fest setzt. Auch die Russen selbst sind in der Pflicht, dazu beizutragen, dass sich ihr Bild im Ausland verbessert. ad hoc: Wen sehen Sie denn als aussichts reichsten Nachfolger Putins?
Kunze: Ich bin der Meinung, dass Putin auf irgendeine Weise Präsident bleibt. Es gibt ja mittlerweile viele Initiativen in Russland, die, natürlich mit Einverständ nis des Kremls, Putin auffordern, in einer Führungsposition zu bleiben. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass er sich mit der Rolle des Ministerpräsidenten oder des Parteivorsitzenden zufrieden gibt. Es werden natürlich zurzeit viele Kandidaten gehandelt, aber Putin tritt zurzeit nicht wie ein Mann auf, der weiß, dass er in einem halben Jahr Rentner ist. ad hoc: Was ist mit den demokratischen Alternativen? Wie sieht es in der Opposi tion aus? Kunze: Schlecht, selbstverschuldet schlecht. Die „Union Rechter Kräfte“, die ehemalige Regierungspartei, und die liberale Partei „Jabloko“ hätten bei einer Vereinigung das Potenzial zu einer ernst zu nehmenden Opposition. Sie treten aber bis heute nicht vereinigt zu den Wahlen an. Ich befürchte, dass keine von beiden die 7 % Hürde überschreiten wird. In der restlichen Opposition, der Bewe gung „Gerechtes Russland“ des ehemali gen Schachweltmeisters Gari Kasparow, befinden sich leider Leute, mit denen man beim besten Willen nicht regieren kann: Beispielsweise der Vorsitzende der Nationalbolschewiken, der wegen terror istischer Taten bereits verurteilt wurde. Das sind keine Leute, die dem jetzigen Es tablishment in irgendeiner Art und Weise Gefahr bieten können. Leider werden deshalb höchstwahrscheinlich die Kom munisten die Opposition bilden. Ich wün sche mir für Russland keine kommuni stische Partei, die in der Opposition stärker wird und die vielleicht wieder eine Gefahr darstellen könnte. ad hoc: Kehren wir zu Putins aussichts reichstem Nachfolger zurück, Putin selbst. 66 % aller Russen sehen ihre Probleme lieber von einer starken Führungsperson als einer demokratischen Führung gelöst.
Ist Putin dann nicht für eine Mehrzahl der r ussischen Bevölkerung genau der richtige? Kunze: Die Mehrheit der Russen sieht das so. Die einzige Erfahrung, die sie mit der Demokratie bisher gehabt haben, waren die neunziger Jahre, und die Ergebnisse sind bekannt. Die demokra tische Erfahrung verbinden die Russen, und nicht zu unrecht, mit Verelendung. Aber ich gehöre nicht zu den Leuten, die sagen, Russland ist überhaupt nicht demokratiefähig. Wenn Sie heute nach Moskau fahren, erleben Sie ein freies Land, Sie erleben junge Leute, die alle Möglichkeiten haben, die ins Ausland reisen können, die sich frei informieren können. Es ist ungeheuer vorwärts ge gangen seit der sowjetischen Diktatur.
„Die demokratische Erfahrung verbinden die Russen mit Verelendung.“ ad hoc: Aber trotz allen Fortschritts gibt es eben noch Züge, die sehr weit vom demokratischen Geist abweichen. Kann die Demokratie von außen beschleunigt werden? Kunze: Von außen können Sie wenig verändern. Die Veränderung muss von innen kommen. Was man von außen machen kann, ist durch Dialog zeigen, wie es in anderen Weltregionen aussieht. Aber man kann auf keinen Fall in ein Land wie Russland kommen und sagen: „So und so müsst ihr es machen.“ Warum kam es 1989 in der DDR zu Verände rungen? Weil die Leute in der DDR selbst Veränderungen wollten. Ich sehe in Russland von innen überhaupt keinen Willen, etwas zu verändern. Die Leute sind dort zufrieden. Das Interview führte Max Chrambach
Russland und die Region
Fremdes Inland und nahes Ausland – Russlands Interessen im Kaukasus und Zentralasien von Carsten Sprenger Am 1. September jährte sich zum dritten Mal die Geiselnahme in Beslan, einer klei nen Stadt Nord-Ossetiens, etwa 100 Kilo meter vom tschetschenischen Grosny ent fernt. Noch immer ist der genaue Hergang des Dramas ungeklärt. Es gibt jedoch ei nige Indizien, darunter ein kürzlich vom Komitee der Soldatenmütter publiziertes Video, die darauf hindeuten, dass die ge waltsame Einnahme der Schule nicht durch eine Explosion von innen, sondern von au ßen ausgelöst wurde. Ob dies oder die offi zielle Version zutrifft – die Tragödie von Beslan scheint ein Symbol dafür, dass das Leiden so vieler Menschen im Kaukasus sowohl durch die kaukasischen Terroristen als auch durch die harte, oft ungerechte Hand der russischen Sicherheitskräfte und ihrer lokalen Verbündeten verursacht wird. Schon längst geht es im tschetschenischen Konflikt nicht mehr um die Unabhängig keit des Landes, sondern um militant ausgetragene Klankonflikte und um den Versuch, Itschkeria, einen kaukasischen Gottesstaat zu errichten. Russland hat aus dem Tschetschenien-Konflikt sicher ge lernt, dass ein Krieg gegen den Islam durchaus nicht in seinem Interesse liegt. Es sei nur daran erinnert, dass auf dem Gebiet der russischen Föderation zahlreiche mus limische Völker leben, die insgesamt 17 % der Bevölkerung stellen. In Russland hat der Konflikt den ohnehin vorhandenen Fremdenhass gegen „die Schwarzen“ – ge meint sind Kaukasier und Einwohner zentralasiatischer Republiken – enorm angeheizt. Der Autor konnte das Phäno men bei seiner kürzlichen Wohnungs suche in Moskau beobachten, wo zahl reiche Anzeigen den Hinweis enthalten, dass man an alle ordentlichen Leute ver mietet, nur nicht an Kaukasier. Dieser Rassismus, der sich auch in tätlichen Über griffen äußert, schadet dem Selbstver ständnis der Russischen Föderation als Vielvölkerstaat. Es bleibt zu hoffen, dass russische Politiker sich dieses Pulverfasses
bewusst sind und z. B. den Konflikt mit Georgien nicht weiter anheizen, dasselbe gilt freilich für die georgische Regierung. Wie in Tschetschenien, so unterstützt Russ land auch in Zentralasien autokratische Regime, die den politischen Islam ableh nen. Stattdessen lassen sie einen gemä ßigten, staatlich kontrollierten Islam zu. Russland hat seinen Einfluss in Zentrala sien in den letzten Jahren, nach einer De kade der Desintegration wieder enorm ge stärkt – nicht zuletzt weil Russland im Gegenzug zu den USA keine Politik des Regimewechsels betreibt und eine Förde rung der Demokratie in Zentralasien nicht auf seiner politischen Agenda steht. Dies wird vielleicht am deutlichsten am Beispiel Usbekistans, das zunächst, während des Afghanistan-Krieges, zu einem wichtigen Partner der USA wurde. Nach scharfer Kritik aus Washington an der brutalen Niederschlagung der Unruhen in Andijan aber, kündigte der usbekische Präsident Karimow die Verträge zur Nutzung der Militärbasen und wandte sich stärker Russ land zu. Es bilden sich regionale Bündnisse heraus, wobei ein pro-westlicher Block aus Georgien, Ukraine, Aserbaidschan und Moldawien einer Reihe von Ländern ge genübersteht, die sich in der Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Shang hai-Organisation für Zusammenarbeit or ganisiert haben, letztere unter maßgeb licher Beteiligung Chinas. Zur zweiten Gruppe gehören Kasachstan, Kirgisien, Usbekistan und Tadschikistan. Neben Ter rorismusbekämpfung und militärischer Zu sammenarbeit geht es dabei insbesondere um gemeinsame Interessen bei der Nut zung von Energieressourcen.
Kasachstan steht kurz vor einem gewal tigen Ölförderboom und verfügt mit Kashagan über das größte Ölfeld, das in den letzten 30 Jahren entdeckt wurde. Die wichtigste Exportroute wird über den rus sischen Schwarzmeerhafen Novorossijsk gehen. Turkmenistan hat langfristige Lie ferverträge für Erdgas mit Russland ge schlossen. Russland kann somit, in einer Phase stagnierender eigener Förderung und wachsender einheimischer Nachfrage, einen Teil der Gaslieferungen nach West europa mit turkmenischem Gas abdecken. Insofern sind die Kontakte für Russland auch wichtig, um von der Rolle des Ener gielieferanten wegzukommen – hin zu einem stärker diversifizierten Wirtschafts modell. Selbst Kasachstan mit nur 15 Mil lionen Einwohnern und riesigen Ölvor kommen investiert seine Einnahmen aus dem Ölgeschäft in Infrastruktur- und In novationsprojekte. Russland braucht eine Diversifizierungsstrategie sogar noch drin gender, erstens, um sein neuerliches Wirt schaftswachstum nachhaltig zu machen und zweitens, damit sich auch die Regi onen entwickeln können, die nicht direkt am Ölreichtum teilhaben. In Zentralasien und dem Kaukasus spricht vieles für eine Neuauflage des Great Game, der historische Rivalität zwischen dem zaristischen Russland und Großbritannien im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, diesmal mit den Spielern Russland, USA und China. Die Rivalität um die knapper werdenden Energieressourcen dürfte einige gemeinsame Interessen, wie die Terroris musbekämpfung und Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen, überwiegen.
Carsten Sprenger, Jhg. 1972, war Bosch-Stipendiat 1999/2000 mit einem Projekt über Corporate Governance in Russland. 2007 legte er den PhD in Ökonomie an der Universität Pompeu Fabra, Barcelona, ab. Seit Sep tember forscht und unterrichtet er an der Higher School of Economics in Moskau als einer der ersten ausländischen Vollzeit-Professoren für Öko nomie in Russland.
Russland und die Region
Tänze in Weiß – Russlands Tschetschenienpolitik von Elke Bredereck
Die sieben Mädchen auf der Bühne tragen weiße, eng anlie gende Kleider, sie schreiten zur Musik, ihre Hände vollführen grazile Bewegungen. In ihre Mitte tritt ein Junge, an seinem Gürtel trägt er den Kinschal (Dolch), in der Westentasche ste cken Patronenhülsen. Der Saal des Russischen Theaters in der Berliner Kulturbrauerei ist brechend voll, heute sitzen viele Tschetschenen im Publikum. Frauen in Kopftüchern, mit Kin dern auf dem Schoß. Sie sind stolz auf ihre Töchter und En kelinnen vom Tanzensemble „Baschlam“, manche haben Trä nen in den Augen. Jedoch scheint ihnen der Veranstaltungsort unpassend – es ist ein russischer Ort. Vorurteile, Ressentiments, die Erfahrung von Leid und Tod prägen die Sicht beider Volks gruppen.
konnten die überlebenden Tschetschenen in ihre Heimat zu rückkehren. Die Tschetschenen sind Ureinwohner des zentra len Nordostkaukasus und nennen sich selbst „Nachtschi“ (Volk). Sie gelten als besonders freiheitsliebend, alle ihre Gruß formeln enthalten das Wort Freiheit.
Tschetschenien, ein Land von der Größe Thüringens an der süd lichen Peripherie Russlands, gehört zur Russischen Förderation. Nach dem Zerfall der Sowjetunion hat es 1991 seine Unabhän gigkeit erklärt. In den Tschetschenien-Kriegen (1994–1996 und 1999–2004) hat Russland auf grausame Weise signalisiert, dass es die nordkaukasische Republik zur inneren Angelegenheit erklärt. Laut Schätzungen sind in beiden Kriegen 200 000 Tschetschenen umgekommen: Das ist ein Fünftel der 1989 gezählten Zivilbevölkerung. Massive Menschenrechtsverlet zungen, Säuberungen, die gezielte Zerstörung von Infrastruk tur und Kulturdenkmälern haben die tschetschenische Gesell schaft entwurzelt und Teile radikalisiert.
Mutige Stimmen von russischen Journalisten für Wahrheit und Menschenrechte in Tschetschenien, wie die populärste von Anna Politkowskaja, verhallten im eigenen Land nahezu unge hört. Der Mord an Politkowskaja ist bis heute nicht aufgeklärt. Den meisten westlichen Politikern fehlt es an klaren Worten gegenüber dem russischen Präsidenten Putin – zu sehr stehen wirtschaftliche Interessen im Vordergrund. Tschetschenien ist eine vergessene Region, um so wichtiger wäre westliche Ein mischung. Der amtierende Präsident Ramsan Kadyrow hat mit russischer Hilfe eine Diktatur installiert, seine Privatarmee verbreitet Schrecken, er selbst nimmt an Folterungen teil. Den Opfern der massiven Menschrechtsverletzungen durch rus sische Armeeangehörige und tschetschenische Rebellen muss Gerechtigkeit widerfahren, Massengräber müssen geöffnet und dokumentiert werden.
Die russische Eroberungspolitik im Kaukasus reicht bis ins 17. Jahrhundert zurück. Seit langem wird die tschetschenische Widerstandskraft auf harte Proben gestellt. Die Deportation des gesamten Volkes nach Kasachstan, auf Anweisung Stalins im Jahre 1944, gilt als nationales Trauma und signalisierte gleichzeitig einen neuen nationalen Zusammenhalt. Erst 1957
Der Krieg in Tschetschenien machte den Terrorismus zum Fakt in der postsowjetischen russischen Realität, denn vor den Geiselnahmen in Moskau (2002) und Beslan (2004) war er für die russische Gesellschaft fremd und fern. Die kriegsversehrten, rückkehrenden russischen Soldaten erfuhren keinerlei staat liche Hilfe und sind mit ihren traumatischen Erfahrungen auf sich allein gestellt.
Vielleicht vermögen „Tänze in Weiß“ etwas, wie jene Veran staltung in Berlin – eine Chance, dass sich Tschetschenen und Russen persönlich begegnen und voneinander erfahren können. Elke Bredereck, Jhg. 1971, Slawistin und Übersetzerin, absolvierte das Stiftungskolleg 1997/98 mit einem Projekt zur Situation der jüdischen
Russland
Minderheiten in der ehemaligen Sowjetunion. Sie arbeitete als DAADLektorin in Odessa/Ukraine und jetzt als Reiseleiterin bei Studios für Tschetschenien
fGrosny
den Südkaukasus. Seit 2005 engagiert sie sich für die Odessaer Straßen kinder NGO, organisiert Veranstaltungen zu Tschetschenien, die Betreu ung von Flüchtlingen und den Aufbau eines Netzwerkes Tschetschenien
Schwarzes Meer
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hilfe.
Russland und die Region
Polens Bild von Russland von Ulrike Kind Was ist der kürzeste Russlandwitz in Polen? – Russland ist eine Demokratie. Wenn man einen Blick auf polnische Witzseiten wirft, sind Russland und der Russe ein zentrales und sehr beliebtes Motiv. Russland bietet sich in Polen als Negativbild geradezu an. Gleichzeitig kann man nicht von einem einheitlichen Russland bild Polens sprechen. Jeder einzelne Pole hat sein eigenes Bild von Russland – Bilder, die sich aus persönlichen Erfahrungen, aus Überlieferungen und Familiengeschichten, aus der Literatur und aus den Medien ergeben. Aber es gibt eine Reihe von Bil dern, die von vielen Polen geteilt werden – gemeinsam ist ihnen, dass sie wenig Positives enthalten. Untersucht man die Bilder, die in Polen zu Russland bestehen, so sagen die sowohl über den Be trachter und den Erzeuger der Bilder, als auch den Betrachteten und die Beziehung der beiden untereinander viel aus. Ein grundlegender Faktor für das polnische Russlandbild ist die gemeinsame konfrontative Geschichte und ihr heutiger Umgang mit ihr. Das aktuelle polnische Russlandbild verbin det Bilder vom Zarenreich mit denen der Sowjetunion und dem aktuellen russischen Staat. Weitere zentrale Negativbilder sind die Größe des Nachbarlandes, die durch die Rohstoffvor kommen gegebene Dominanz, der russische Großmachtan spruch, der Umgang mit Menschen- und Minderheitenrechten, fehlender Individualismus, Korruption, die russische Mafia und die Person Putin. Positive Faktoren, die aber viel seltener genannt werden, sind die Nähe der polnischen und russischen Sprache, die Schönheit des Landes, die Leidensfähigkeit der russischen Bevölkerung, die Bewunderung für die russische Literatur, die wirtschaftliche Dynamik und die russische Men schenrechtsbewegung. Wenn man sich auf die letzten gut 200 Jahre polnisch-russische Geschichte konzentriert, dominieren Konflikte und Kriege. Bei den polnischen Teilungen Ende des 18. Jahrhunderts waren ne ben Preußen und Österreich das Russische Reich die treibende Kraft. Der polnische Aufstand von 1830/31 gegen die russische Besatzungsmacht wurde brutal niedergeschlagen und alles Pol nische verboten. Im Zweiten Weltkrieg besetzte Russland 1939 den östlichen Teil Polens. Viele Polen wurden daraufhin in Ar beitslager deportiert und 1941 wurden ca. 15 000 Offiziere und Intellektuelle vom sowjetischen Geheimdienst in Katyn er mordet. Beim Warschauer Aufstand ab August 1944 blieb die
erhoffte Unterstützung durch die sowjetischen Truppen aus. Die Einsetzung des kommunistischen Regimes in Polen wurde als von der Sowjetunion aufoktroyiert empfunden, dem sich viele Polen über vier Jahrzehnte hinweg hartnäckig widersetzten. Auch die russischen Entwicklungen nach 1990/91 haben in Polen das Bild nicht wirklich zum Positiven verändert. Nimmt man den Streit um den polnischen Nato-Beitritt in den 90 er Jahren, die russische Tschetschenien- oder Ukrainepolitik oder innerrussische Entwicklungen unter Putin – die Hoffnungen nach 1989 auf ein westliches, demokratisches Russland sind pol nischen Enttäuschungen gewichen und Negativ-Vorlagen aus alten Zeiten wurden lediglich um neue dunkle Aspekte ergänzt. Ein Kern des so negativen Russlandbildes liegt in der Asymmet rie zwischen den beiden Ländern. Für Russland spielt Polen kei ne entscheidende Rolle, für Polen ist Russland ein Schlüsselland. 33 % der befragten Polen nannten bei einer Umfrage 2007 als größtes Beziehungsproblem, dass Russland Polen nicht als gleich berechtigten Partner behandelt. Für 59 % der befragten Polen war und ist Russland das Land, das die meisten Ängste auslöst. Politiker, Analytiker und Wissenschaftler werden nicht müde, zwischen Russland als Staat und Russland als Nation zu unter scheiden. Viele Initiativen in Polen bemühen sich um die Auf arbeitung der gegenseitigen Stereotype und versuchen, das Russlandbild in Polen um positive Aspekte zu ergänzen. Immer mehr junge Polen lernen Russisch und sind beruflich in Russ land tätig. Solange aber die offizielle russische Politik nicht grundlegend ihre Rhetorik und ihre Politikformen ändert, wer den in Polen jederzeit wieder die alten Bilder von Medien und Politik abrufbar sein.
Ulrike Kind, Jhg. 1969, studierte Politikwissenschaft, neueste Geschichte, öffentliches Recht in Heidelberg, Aix-en-Provence und Bonn und ab solvierte ein Polnischstudium in Polen und Mainz. Sie war Stipendiatin 1997/98 mit einem Projekt in Polen. Es folgten Tätigkeiten bei der Polnischen Robert Schuman Stiftung in Warschau, als persönliche Mit arbeiterin von Prof. Wladyslaw Bartoszewski und als Projektleiterin bei socius Organisationsberatung und bei der Europäischen Akademie in Berlin. Seit 2002 ist sie Referentin für Internationale Beziehungen und Ökumene in der Bundesgeschäftsstelle der Evangelischen StudentInnen gemeinde, Berlin. Daneben arbeitet sie als Polenkorrespondentin der Zeitschrift Herderkorrespondenz.
Menschenrechte
Anna und Goliath – ein Nachruf auf Anna Politowskaja von Leonie von Braun
Vor über einem Jahr wurde die russische Journalistin Anna Politowskaja im Treppenhaus zu ihrer Wohnung erschossen. Ihr Tod ist nicht nur eine persönliche Tragödie, sondern wurde zum Symbol für die Knebelung der Meinungsfreiheit und die Unterdrückung der Zivilgesellschaft im heutigen Russland. Folter, Krieg, Zerstörung und Korruption waren ihre Themen. Anna war die Stimme der Opfer der Gräueltaten, die in Tschetschenien durch russische Sicherheitskräfte und tsche tschenische Einheiten verübt werden. Mutig und unter Einsatz ihres Lebens recherchierte und schrieb sie für die russische Zeitung „Novaja gazeta“ über die Situation in Tschetschenien. Regelmäßig erhielt sie Morddrohungen und überlebte nur knapp einen Giftanschlag. Sie hatte Angst um ihr Leben und machte trotzdem weiter. Sie veröffentlichte mehrere Bücher, wovon wohl das bekannteste ihr Werk „Tschetschenien – Die Wahrheit über den Krieg“ ist. Bis heute ist nicht geklärt, wer Anna erschossen hat. Freunde, Kollegen und Bürgerrechtler vermuten die Täter in KremlKreisen. Ihre Arbeit sei zu belastend für die Politik des Kremls gewesen, sagen sie. Es kommen auch die Kreml-treuen Macht haber in Tschetschenien in Frage, denn Anna arbeitete kurz vor ihrem Tod an einer neuen Enthüllung, die am Montag danach hätte erscheinen sollen. Trotz einiger Beteuerungen Putins, man wolle den Mord aufklären, bleiben die Hintergründe der Tat bis heute im Dunkeln. Angesichts der gegenwärtigen Kne belung der Zivilgesellschaft in Russland verwundert dies nicht.
Nicht erst seit dem Tod von Anna leidet die russische Zivilge sellschaft unter dem Einfluss der Behörden. Das NGO-Gesetz, das im Januar 2006 von Putin unterzeichnet wurde und jetzt in Kraft ist, erlaubt nun den Behörden, sich in die Arbeit der Organisationen massiv einzumischen. Es kann beliebig kon trolliert und Einsicht in die Unterlagen der Organisationen verlangt werden. Zudem müssen die Organisationen regelmäßig ausländische Finanzquellen offen legen. Den Behörden muss zu dem Zugang zu den Veranstaltungen der NGOs gewährt wer den. Ausländischen NGOs gegenüber darf die Regierung Pro jekte untersagen. Im äußersten Fall, d. h. wenn ein ungenehmigtes Projekt durchgeführt wird, kann das Büro der Organisation ge schlossen werden. Auch die Arbeit russischer NGOs hat sich erheblich verschlechtert. Human Rights Watch berichten im März 2007, dass viele Organisationen verbal attackiert und unter Druck gesetzt werden. Präsident Putin verkündet regel mäßig, dass NGOs die „Instrumente fremder Länder“ seien. Der Mord an Anna Politowskaja hat auch dazu beigetragen, dass der Widerstand der Journalisten und der Zivilgesellschaft geringer geworden ist. Denn mit ihr hat die demokratische Be wegung in Russland ihre exponierteste Sprecherin verloren. So brauchen diejenigen, die versuchen, ihre Arbeit fortzusetzen, unser aller Unterstützung. Erste zaghafte Ansätze in der deut schen Außenpolitik, vor allem durch Kanzlerin Merkel, sind zu verzeichnen. Allerdings sollte der Fall Anna Politowskaja als Ermahnung aller derjenigen dienen, die meinen, dem Interesse an guten Handelsbeziehungen mit Russland seien auch die Menschenwürde und die Rechtsstaatlichkeit unterzuordnen. Die Erfahrung zeigt, dass autoritäre Regime oftmals nur so weit gehen, wie die internationale Gemeinschaft es zulässt.
Leonie von Braun, Jhg. 1978, absolvierte das Stiftungskolleg 2003/04. Sie ist Juristin in Berlin und hat im Völkerstrafrecht promoviert. Sie ist Sprecherin der Arbeitsgruppe Internationale Justiz von Amnesty International und Vorsitzende des Netzwerks des Stiftungskollegs für Internationale Aufgaben e. V.
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Energie und Partnerschaft
Russlands Machtpolitik mit Energie: Am Ende der „Freundschaft“ von Frank Stolze Die „Druschba Pipeline“ gibt es noch. Freundschaft im Ener giegeschäft schon lange nicht mehr. Heute setzt Russland mit seinen Energieressourcen außenpolitische Ziele durch – oft ganz unfreundschaftlich. Die 27 Mitgliedstaaten der EU können nur dann eine partnerschaftliche Kooperation mit Russland errei chen, wenn sie eine gemeinsame Energieaußenpolitik ent wickeln und auf nationale Einzelgänge verzichten. Schließlich begann auch der europäische Einigungsprozess mit einer abge stimmten Zusammenarbeit im Bereich Energie und Rohstoffe. Russland hat die Erfahrung eines europäischen Integrations prozesses nicht gemacht. Selbst im Rat für Gegenseitige Wirt schaftshilfe (RGW), der wirtschaftlichen Vereinigung der Ost blockstaaten, ging es trotz aller Freundschaftsbekenntnisse darum, russische Rohstoffe gegen Maschinen und Anlagen der „Bruderstaaten“ zu tauschen. Zu diesem Zweck wurde eigens der „Transferrubel“ geschaffen, eine künstliche Währung, die diesen Tausch von Weltmarktpreisen unabhängig machte. Seit Ende des RGWs und des Transferrubels bekamen nur noch einige GUS-Staaten russisches Gas und Öl zu Vorzugspreisen, aber nur solange sie sich politisch auf Kreml-Kurs befanden. Als sich in der Ukraine pro-westliche Kräfte durchsetzten und sich Lukaschenko in Weißrussland weigerte, die Integration mit Russland voranzutreiben, drehten Kreml und Gazprom den Hahn zu. In Westeuropa stotterten daraufhin die Liefe rungen für ein paar Stunden und Politiker sprachen besorgt von „Gaskrise“ und „Ölkrieg“. Man debattierte, ob ein Staat Energiepreise diktieren darf und ob Europa bereits zu stark von russischer Energie abhängig ist. Diese Diskussion ließ wichtige Zusammenhänge außer Acht.
Natürlich darf jeder Staat seine Preisforderungen für Rohstoffe selbst bestimmen. Auf internationaler Ebene ist es allerdings üblich, den Abnehmerstaaten langfristige Verträge anzubieten und Anpassungsfristen zu gewähren. Russland hingegen han delte einseitig und verdoppelte die Tarife über Nacht. Ein Viertel bis ein Drittel aller Gas- und Ölimporte der EU kommen aus Russland. Die EU ist damit nicht einseitig von Russland abhängig. Wer dies behauptet, verkennt auch die Tat sache, dass die EU ihre große Nachfragemacht nutzen kann. Dazu müssen aber die EU-Abnehmerstaaten den Weg bilate raler Abkommen mit Russland verlassen und Energie zu einem zentralen Thema für die Verhandlungen des Partnerschaftsund Kooperationsabkommen machen. Mit den Tarifanpassungen steigerte Putins Regierung den poli tischen Druck auf die benachbarten GUS-Staaten. Sie erpresste für die Gazprom zugleich weitere Anteile am Transportnetz in Weißrussland, Moldawien und Armenien. Stück für Stück soll die Staatsholding neben der Förderung auch die Netze zu west europäischen Abnehmern beherrschen und die Preise diktie ren. Ausländische Firmen hingegen dürfen keine nennens werten Anteile am russischen Transportnetz erwerben – weder bei Öl und Gas noch in der Stromwirtschaft. Westlichen Fir men, die sich (unter Jelzin) an der Energieförderung beteilig ten, wird das Leben schwer gemacht. Einige mussten bereits ihr Engagement stark einschränken. Russland hat aus diesen Gründen die Energiecharta nicht ratifiziert und möchte eigene Spielregeln für den Energiesektor vorgeben. Diese Tatsache ist zu kritisieren und nicht der kurzfristige Lieferrückgang am Ende der „Freundschaft“. Russland und die EU müssen gemeinsame Regeln aufstellen, nach denen Informationen ausgetauscht, Förder- und Abnahme pläne vereinbart und Konflikte gelöst werden. Erst dann kann die Zusammenarbeit ausgebaut werden. Russland besitzt jeden falls riesige Potentiale, nicht nur bei der klassischen Energieför derung, sondern auch bei erneuerbaren Energien. So besitzt Russland das größte, bisher ungenutzte Wasserkraftpotential der Welt, eine Tatsache, die wegen Öl und Gas oft übersehen wird. Frank Stolze, Jhg. 1969, war Stipendiat im Kolleg jahr 1996/97 und bearbeitete da das Projekt: „Die Transformation der tschechischen Außenwirt schaft“, danach folgten Tätigkeiten in der Automo bilindustrie für die Robert Bosch GmbH, in der Telekommunikation für die österreichische Kapsch AG und in der Energiewirtschaft für Voith Siemens Hydro.
Meinungsartikel
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Business auf Russisch von Dirk Seelig Das Thema Russland lässt wohl kaum einen unberührt. Ver schiedenste Gedanken gehen einem durch den Kopf: die un endlichen Weiten Sibiriens, die gewaltigen Rohstoffvorkom men oder die wechselvolle Geschichte. Seit vier Jahren bin ich für die DaimlerChrysler AG in Russland unterwegs. Dabei habe ich etliche Erfahrungen von den wesentlichen Besonder heiten dieses Landes gesammelt, die business im russischen Raum prägen. Erstens, die schiere Größe des Landes. Russland bedeckt ca. 17 Mio. Quadratkilometer Landfläche. Das ist die fünfzig fache Größe von Deutschland. Von West nach Ost erstreckt sich Russland über 10 000 km oder über 11 Zeitzonen. Damit wird die Kommunikation mit unseren Partnern, die sich mittlerweile von Kaliningrad bis Wladivostok erstrecken, zu einer Herausforderung. Dabei geht es weniger um die tägliche Kommunikation sondern vielmehr um den Know-how Trans fer. Unsere Partner müssen heute die gleichen Anforderungen erfüllen wie ein Händler in Westeuropa. Das heißt, Architek turkonzepte müssen 10 000 km entfernt von Moskau, entspre chend aller detaillierten Anforderungen, realisiert werden. Dazu kommen die architektonischen Herausforderungen durch die extremen Klimaunterschiede. Unsere Händlerbetriebe müs sen auf der einen Seite während des sibirischen Winters den niedrigen Temperaturen bis minus 50 Grad und gewaltigen Schneelasten standhalten und auf der anderen Seite ausrei chend Kühlung bei plus 45 Grad im Sommer am schwarzen oder kaspischen Meer bieten.Weiterhin müssen Manager, Ver käufer und Servicemechaniker über gigantische Entfernungen geschult werden. Hier wird insbesondere das Internet zukünf tig eine große Rolle spielen. Dazu kommt noch die Notwendig keit der Übersetzung des gesamten Trainings- und Schulungs material ins Russische. Auch bei allen Schulungen muss eine adequate Übersetzung der oft technischen, automobilspezi fischen Begriffe sichergestellt werden. Der zweite Unterschied zur Wirtschaft in Deutschland besteht in der außergewöhnlichen Dynamik, mit der sich Russland und insbesondere der Automobilmarkt entwickelt. Das Wirtschafts wachstum betrug in den letzten fünf Jahren durchschnittlich 6 %. Das reale Einkommen wächst um jährlich ca. 10 %, was den russischen Kunden den Kauf höherwertiger PKW ermög licht. Dadurch entstand in den letzten Jahren ein wahrhafter Boom auf dem Automobilmarkt. Vom Jahr 2002 bis 2005 stieg der Verkauf neuer ausländischer PKW von 100 000 auf 500 000 Fahrzeuge an. Für 2007 wird ein Absatz von über 1,5 Mio. aus ländischen PKW erwartet. Darüber hinaus hat sich in den letz ten Jahren auch das Kundenverhalten dramatisch verändert. Die durch Reisen in den Westen und Medien erfahrenen
r ussischen Kunden verlangen heute auch in den Regionen die gleichen Kundendienstleistungen wie europäische Kunden. Um schneller zu wachsen als der Wettbewerb, ist die Entwick lung des Vertriebs- und Servicenetzes ein entscheidender Er folgsfaktor. Und dies in zweifacher Hinsicht: Einerseits müssen neue Vertriebsstandorte erschlossen werden, andererseits paral lel dazu das bestehende Netz weiterentwickelt werden, um den Kundenerwartungen zu entsprechen. Eine weitere Besonder heit ergibt sich aufgrund des durch den Wirtschaftsboom leer gefegten Personalmarktes. Die Gehälter im Automobilvertrieb sind innerhalb eines Jahres um 20 % gestiegen. Hier gilt es, die Marktentwicklung permanent zu beobachten, da in Mos kau die Wechselbereitschaft der Mitarbeiter höher ist als in Westeuropa. Zudem gestaltet sich die Suche nach neuen Mitar beitern außerordentlich schwierig. Letztendlich zeigt die Er fahrung, dass bei jährlichen Absatzsteigerungen zwischen 30 und 50 % erhebliche Herausforderungen auf ein Unternehmen zukommen, um dieses Wachstum zu bewältigen. Der dritte Aspekt ergibt sich aus den mentalen Unterschieden zwischen Deutschen und Russen. Eine Gefahr besteht insbe sondere darin, dass man äußerlich einen Deutschen kaum von einem Russen unterscheiden kann und die kulturellen Unter schiede ignoriert. Dabei bewerten Kulturwissenschaftler Russ land als eines der Länder mit den meisten Tabus. Man gibt sich zum Beispiel über einer Türschwelle nicht die Hand oder darf in einem geschlossenen Raum nicht pfeifen – das kann Geld sorgen bringen. Im Geschäftsleben sind kulturelle Besonder heiten allgegenwärtig. Zum Beispiel Alkoholgenuss beim Ge schäftsessen. Aber auch hier Vorsicht vor Vorurteilen: Die erfolgreichen Geschäftsleute trinken mittlerweile Wein und sind hervorragende Weinkenner. In Sibirien gewährt der Gast geber allerdings nur die Wahl zwischen Kognak, Whiskey oder Wodka. Weiterhin sollte man unbedingt die wichtigen rus sischen Feiertage berücksichtigen, die teilweise noch aus der Sowjetzeit stammen, z. B. den internationalen Frauentag am 8. März. Blumen und ein Umtrunk im Büro sind obligatorisch. Russland ist eben ein faszinierendes Land mit vielen Facetten. Bedrohlich scheint immer nur, was wir nicht verstehen. Dirk Seelig, Jhg. 1969, Diplom- Kaufmann, gehörte zum ersten Jahrgang des Stiftungskollegs 1995/96 und bearbeitete ein Projekt zur Mana gerausbildung in Russland. Seit über 8 Jahren ist er für die DaimlerChrysler AG tätig, davon seit 2003 als Mitglied der Geschäftsleitung von DaimlerChrysler Automotive Russia in Moskau, zuständig für die Händlernetzentwicklung.
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Gesellschaft und Innenpolitik
Korruption in Russland von Corinna Knobloch Schaut man auf die gesamtwirtschaftlichen Indikatoren, so sieht Russlands Bilanz auf den ersten Blick recht überzeugend aus: Die großen Erdöl- und Erdgasvorkommen tragen, vor dem Hintergrund einer steigenden weltwirtschaftlichen Nachfrage, dazu bei, die Leistungsbilanz aufzupolieren. Die Wachstums raten sind mit 6 bis 7 % ordentlich. Die Inflation wurde von knapp 86 % in 1999 auf unter 10 % in 2006 reduziert und In vestoren scheinen Schlange zu stehen, um am Aufstieg des großen Marktes teilzuhaben – eines Marktes, der auf der Land karte des Corruption Perceptions Index von Transparency Inter national tief rot eingefärbt ist. Das ist die Kehrseite eines der aufstrebenden Märkte unter den Transformationsländern: 2003 wird der liberale Duma-Ab geordnete Sergej Juschtchenko erschossen. 2004 fällt Paul Klebnikow, Chef der russischen Forbes-Ausgabe, vor seinem Redaktionsgebäude einem Anschlag zum Opfer. 2006 wird Andrej Koslow, Chef der russischen Bankenaufsicht und VizePräsident der russischen Zentralbank, nach der Ankündigung, härter gegen Geldwäsche vorgehen zu wollen, ermordet.
Nach Transparency International versucht jeder fünfte Russe, seine Probleme mit Bestechungsgeldern zu lösen, wobei zu sätzlich mit einer hohen Dunkelziffer zu rechnen ist. Der ge schätzte volkswirtschaftliche Schaden beträgt jährlich ver mutlich mehrere hundert Milliarden Euro. Laut INDEM (Information Science for Democracy), einer russische NGO, die sich für Demokratieförderung einsetzt, verausgaben die Russen jährlich etwa 315 Mrd. Dollar an Bestechungsgeldern (Schätzungen für 2005) – das ist mehr als das Doppelte des russischen Staatshaushaltes. Gesundheitswesen, Hochschulen und Justiz sind die Hauptherde des Korruptionsgeschwürs. Dies wird durch ein System begünstigt, in dem Richter schlecht ausgebildet, schlecht bezahlt und – besonders auch finanziell – nicht unabhängig sind. Hinzu kommt eine lange Tradition der Verwobenheit von Verwaltung, Politik und Justiz unter kom munistischer Herrschaft, in der es nicht ungewöhnlich war, juristische Entscheidungen unter höher stehende Belange in der Hierarchie unterzuordnen.
Russland verzeichnet auf der Korruptionsskala einen traurigen Rekord. Auf dem Corruption Perceptions Index erreicht es mit einem Wert von 2,5 (10 = fast keine Korruption, 0 = sehr kor rupt) für das Jahr 2006 Platz 121 von insgesamt 163 unter suchten Ländern, kurz vor Ruanda und Swaziland. Auch in der regionalen Zusammenschau der östlichen Transformationsö konomien schafft Russland es in das letzte Drittel der korrup testen Länder, nur noch übertroffen von einigen zentralasia tischen Ökonomien und Weißrussland.
So wurde auch ich im Rahmen meines Projektes im Kollegjahr, bei dem ich die Qualität der Zusammenarbeit der einzelnen in ternationalen Akteure bei der Bekämpfung der Korruption – vor allem in Transformationsländern – beleuchten wollte, gleich in der ersten Stage mit dieser Problematik konfrontiert. Ich übernahm bei UNODC einen Teil der inhaltlichen Vorbe reitung eines Trainings in Russland zu judicial independence, ethics and accountability. Mit Hilfe solcher Trainings wird ver sucht, die Richterschaft und andere Verantwortliche zu sensi bilisieren und zu professionalisieren, um damit die Bekämp fung der Korruption innerhalb der Justiz zu stärken.
fKorruption in Russland reicht bis in die alltäglichen Geschäfte. Mindestens jeder fünfte Russe versucht seine Probleme mit Bestechungs geldern zu lösen.
Wie könnte Russland von seinem Geschwür der Korruption geheilt werden? Meine These lautet, dass es ohne demokratische Reformen, die zu mehr Kontrolle der Politik und der Bürokra tie durch die Bürger führen und ohne eine freie und kritische Presse nicht gehen wird. Denn diese sind letztlich die wirkungs vollsten Instrumente im Kampf gegen die Korruption.
Corinna Knobloch, Jhg. 1978, hat Europäische Wirtschaft in Bamberg und Barcelona studiert. Von 2004 bis 2006 arbeitete sie als Referentin in der Abteilung für Globale Fragen im Auswärtigen Amt. Als Stipendiatin des Kollegjahres 2006/07 beschäftigte sie sich mit einem Projekt zu inter nationalen Strategien gegen Korruption, bei UNODC und der OECD. Seit dem 1. März 2007 absolviert sie die Ausbildung zum Höheren Dienst der Deutschen Bundesbank.
Gesellschaft und Innenpolitik
Starke Systeme, lautstarke Stimmen Was der russischen Gesundheitspolitik fehlt, um HIV/Aids erfolgreich zu bekämpfen von Constanze Ruprecht Russland ist eines der Länder in denen sich die Aids-Epidemie seit Ende der neunziger Jahre leise und mit unerwarteter Schnelligkeit verbreitet hat. Es ist das europäische Land mit der höchsten Anzahl von mit HIV und Aids lebenden Menschen. Alle anderen Länder mit ähnlicher Ausbreitungsgeschwindig keit befinden sich in Afrika oder Asien. Trotz eines 2006 von Präsident Putin angekündigten nationalen Aids-Planes, droht eine Gesundheitskatastrophe enormen Aus maßes. Laut der International Treatment Preparedness Coalition haben mit HIV und Aids lebende Menschen in Russland derzeit, im europäischen Vergleich, am wenigsten Zugang zu der lebens notwendigen Kombinationstherapie (hoch aktive antiretro viraleTherapie). Offiziell registrierte Fälle von HIV-Infizierten (353 000) liegen weit unter den von der Weltgesundheitsorgani sation und UNAIDS (der übergreifenden AIDS-Agentur der Vereinten Nationen) veröffentlichten Schätzungen von bis zu 1,6 Millionen. Alarmierend ist dabei die steigende Anzahl von Tuberkulose/HIV Ko-Infektionen: Russland nimmt unter den 22 Ländern mit der höchsten Tuberkulose-Rate den 16. Platz ein. Das marode Gesundheitswesen in Russland präsentiert sich als Auslöser dieser Epidemie und einer der Haupttäter zugleich. Trotz einer im Allgemeinen funktionierenden Infrastruktur hat die Regierung bisher kaum in existierende oder neue, innovative Strukturen und Systeme investiert, und Aids-Interventionen wurden durchgehend unterfinanziert. Auch scheint die Regie rung an einer Beteiligung der von HIV- und Aids-Betroffenen nicht interessiert zu sein – obwohl Aidsexperten weltweit er kannt haben, dass die ernsthafte Einbeziehung dieser Gruppen grundsätzlich zu einer erfolgreichen anti-Aidsstrategie führt. In Russland ist und bleibt der intravenöse Drogengebrauch der Hauptübertragungsweg von HIV. Derzeit haben allerdings we niger als 2 % dieser Drogennutzer, Zugang zur notwendigen Be handlung und Unterstützung. Inzwischen werden aber auch immer mehr Menschen auch auf heterosexuellem Wege mit HIV infiziert, vor allem Frauen und Jugendliche. Behandlung und Pflege der Infizierten, sowie weiterreichende Präventionsbestre bungen waren bisher in Russland abhängig von zivilgesell schaftlich organisierten Projekten, häufig unterstützt von
iobige Bilder: FrontAIDS Demonstration für
den Zugang zu antiretroviralen Medikamenten für Drogengebraucher/-innen, 2004
a usländischen Organisationen. Zu den aktivsten Gebern ge hörten der Global Fund und Stiftungen wie das Open Society Institute von Soros. Die Regierung hat das Engagement dieser sowie nationaler NGOs mit Missfallen gebilligt. Der Druck ei ner aktiven Minderheit, aber auch die Scham, als Empfänger von ausländischen Geldern zu gelten, brachte die Regierung 2006 dazu, ein umfangreiches Programm zur Bekämpfung von HIV/Aids anzukündigen. Es wäre nun eine Transformation endlich möglich. Eine interministeriale, multisektorale Koordinierungskommission für Aids soll alle staatlichen Maßnahmen leiten. Die hierfür zur Verfü gung gestellten Mittel sind das Zwanzigfache von dem, was 2005 budgetiert wurde (ca. 19 Millionen US-Dollar pro Jahr des Fünfjahresplans, 2007–2011). Zudem soll ein umfang reiches Monitoring- und Evaluierungssystem aufgestellt werden. Leider hakt es noch an mehreren Stellen, und beeindruckende Neuigkeiten gab es im ersten Halbjahr 2007 nicht. So wurden die Kommissionsmitglieder, welche die Zivilgesell schaft repräsentieren sollen, von der Regierung ernannt, anstatt von der Zivilgesellschaft nominiert zu werden. Zudem sollen nur 7 % des neuen Aidsbudgets den Bereichen Prävention und For schung zur Verfügung gestellt wurde. Russland kann seine HIV/Aids Epidemie bewältigen, aber eine erfolgreiche Gesundheitspolitik muss mit den aktuellen Gescheh nissen an der Basis verbunden und offen für eine echte Zusam menarbeit zwischen Regierung, Zivilgesellschaft und anderen Sektoren sein. Die zuständigen Behörden müssen transparent ar beiten und für ihre Handlungen und Fehler verantwortlich ge macht werden. Eine Hürde dabei bleibt die finanzielle und struk turelle Unübersichtlichkeit der russischen Regionen. Es bleibt abzuwarten, ob eine neue Regierung nach den Wah len 2008 die von Putin initiierte Aids-Initiative weiterführen wird. Eine nachhaltige Antwort auf diese Epidemie bedarf allerdings mehr als nur oberflächliche „Scheinkosmetik“. Noch ist es nicht zu spät. Constanze Ruprecht, Jhg. 1972, studierte Geografie und Südostasienwis senschaften. Das Kollegjahr 2000/01 verbrachte sie in Berlin, Bangkok, Lampang (ebenfalls Thailand) und Stockholm. Seit 2004 ist sie bei der internationalen NGO Health and Development Networks für die Umset zung innovativer Kommunikationsstrategien im Bereich HIV/Aids und Tuberkulose in Afrika und Asien zuständig; Schwerpunkt: Informati onsaustausch, Dialogaufbau und gezielte Lobbyarbeit unter Einbeziehung zivilgesellschaftlicher Perspektiven und Prioritäten.
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Völkerverständigung
Jugendaustausch und Zivilgesellschaft stärken – Beispiele aus der Russland förderung der Robert Bosch Stiftung von Ottilie Bälz Die Beziehungen zwischen Russland und der Europäischen Union befinden sich in einer schwierigen Phase: Sicherheits-, Energie- und Nachbarschaftspolitik, der Krieg in Tschetschenien und die Diskussion um Demokratieentwicklung, Medien- und Meinungsfreiheit und das neue russische Gesetz für Nicht regierungsorganisationen sind Stichworte, die die aktuelle, zum Teil hitzig geführte Debatte umreißen. Gerade in den deutschen Medien gerät dabei häufig in den Hintergrund, dass sich die deutsch-russischen Beziehungen in den letzten Jahren in vielen Bereichen positiv entwickelt haben. Russland und Deutschland sind längst gute Partner geworden, in der Wirtschaft ebenso wie in Wissenschaft und Kultur. Beide Länder können dabei an Traditionen anknüpfen, die zum Teil seit Jahrhunderten bestehen. Doch auch diese Tradi tionen wollen gepflegt sein, und angesichts rückläufiger Zahlen von Deutschlernern in Russland und Russischlernern und Russ land-Interessierten in Deutschland ist es alles andere als selbst verständlich, dass die Kontakte auch in zwanzig oder dreißig Jahren so eng bleiben wie bisher. Wie kann eine große private deutsche Stiftung wie die Robert Bosch Stiftung – gemäß dem durch ihren Stifter Robert Bosch vorgegebenen Ziel der Völkerverständigung – durch ihre För derung einen Beitrag dazu leisten, die traditionell guten Bezie hungen zwischen Deutschland und Russland langfristig zu sichern und damit auch eine Grundlage für den europäischrussischen Dialog zu legen? Zwei konkrete Beispiele aus der Russlandförderung der Robert Bosch Stiftung, die ein breites Themenspektrum – von Jugend, Bildung und Berufsausbildung über Kultur und Bürgerenga gement bis hin zu Gesundheit und sozialen Projekten – um fasst, sollen illustrieren, wie die Stiftung auf die oben skizzierten Herausforderungen reagiert. Schüler des Gymnasiums Heidberg in Hamburg und der Oberschule Nr. 72 p
in St. Petersburg erarbeiten gemeinsam ein deutsch-russisches Theaterstück mit Unterstützung der Stiftung Deutsch-Russischer Jugendaustausch gGmbH
Die Stiftung Deutsch-Russischer Jugendaustausch gGmH (www.stiftung-drja.de) Die Robert Bosch Stiftung ist einer der maßgeblichen Initia toren und Gesellschafter der Stiftung Deutsch-Russischer Jugendaustausch in Hamburg – einer Fördereinrichtung, die deutsche und russische Jugendliche zusammenbringen, sie für einander interessieren, Vorurteile ab- und Freundschaften aufbauen will. Sie will besonders auch bei den jungen Leuten in Deutschland und Russland Neugier auf das andere Land wecken, die bisher noch keine nähere Beziehung dazu hatten. Ihr Tätigkeitsbereich umfasst Informations-, Vernetzungs- und Öffentlichkeitsarbeit, die Bereitstellung von Qualifizierungs angeboten für Fachkräfte sowie die finanzielle Förderung von Austauschmaßnahmen. Seit Gründung der Stiftung in Ham burg im Februar 2006 hat sie bereits mehreren tausend deut schen und russischen Jugendlichen eine Begegnung mit dem Partnerland ermöglicht. Der Robert Bosch Stiftung war es wichtig, ein innovatives Modell für den Schüler- und Jugendaustausch zu schaffen. Mit der Gründung der Stiftung in Form einer Öffentlich-Priva ten Partnerschaft gemeinsam mit dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, der Freien und Hanse stadt Hamburg und dem Ost-Ausschuss der Deutschen Wirt schaft wurde ein deutliches Zeichen gesetzt: Sie zeigt, dass die deutsch-russischen Beziehungen nicht nur eine öffentliche, sondern eine Aufgabe der gesamten Gesellschaft sind.
Völkerverständigung
Zugleich war es von Anfang an erklärtes Ziel, die Ausweitung und Intensivierung des Jugendaustauschs auf höchster poli tischer Ebene sowohl in Deutschland als auch in Russland zu verankern und den Austausch in beide Richtungen zu sichern: Vertragliche Grundlage für die Gründung der Stiftung Deutsch-Russischer Jugendaustausch ist das am 21. 12. 2004 unterzeichnete jugendpolitische Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Russischen Föderation. Der Stiftung in Hamburg steht auf russischer Seite ein Koor dinierungsbüro bei der Föderalen Agentur für Bildung gegen über, das durch eine unabhängige Stiftung für Internationalen Jugendaustausch unterstützt wird. Das deutsche und das russische Büro arbeiten eng zusammen und werden in ihrer Arbeit durch den gemeinsamen Rat für deutsch-russische jugendpolitische Zusammenarbeit beraten. Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel und Staatspräsident Wladimir W. Putin haben die Schirmherrschaft für den Jugendaustausch über nommen. „Engagement täglich“: Das „Permer Modell“ des TheodorHeuss-Kollegs (www.theodor-heuss-kolleg.de) Das Theodor-Heuss-Kolleg der Robert Bosch Stiftung und des MitOst e. V. bietet bereits seit sechs Jahren jungen Menschen aus Deutschland, Mittel-, Südost- und Osteuropa die Möglich keit, ihr gesellschaftliches Engagement im Rahmen von Som merseminaren und beispielhaften Projekten zu qualifizieren. In Kooperation mit der Gebietsverwaltung des Permer Gebiets wurde 2006 ein regionales Theodor-Heuss-Kolleg in Perm aufgebaut. 2007 haben bereits 60 junge Menschen aus der Permer Region an Seminaren teilgenommen und sich mit Themen wie Männer- und Frauenrollen, Toleranz und Engagement und Verantwortung auseinandergesetzt. Aus vagen Vorstellungen für eigenes soziales Handeln entstanden bis zum Ende der Seminare 33 handfeste Projektideen, von denen 22 von einer Jury zur Förderung ausgewählt wurden. Die Verwirklichung dieser Projekte wird begleitet von weiteren Seminaren und Projektetreffen. Das Besondere am „Permer Modell“ ist die Kooperation mit dem Ministerium für Kultur und Jugendpolitik des Permer Kreises: Es war nicht nur administrativer Unterstützer und vernetzende Instanz, sondern gleichzeitig auch Ideengeber und Mitinitiator und trägt einen Großteil der Kosten. Zusätz lich werden Projektgelder durch Sponsoren aus dem Permer Gebiet bereit gestellt. Zentraler Bestandteil der Förderung durch die Robert Bosch Stiftung ist der Transfer der Philo
i „Engagement täglich“ – Ausschreibung des Theodor-Heuss-Kollegs in Perm
sophie, der Methoden und der Erfahrungen aus der internatio nalen Projektarbeit des Theodor-Heuss-Kollegs, während die Finanzierung schrittweise in Permer Hände übergeben wird. Alle Veranstaltungen finden in russischer Sprache statt, und die gesamte Koordination vor Ort übernimmt die von den Permer Seminarleitern gegründete NGO „Institut für bürgerschaft liches Engagement“. Das Permer Modell des Theodor-Heuss-Kollegs ist einer der ersten Versuche in der Russischen Föderation, durch eine Koo peration zwischen Staat, Wirtschaft und Zivilgesellschaft das bürgerschaftliche Engagement junger Menschen zu fördern. Beide Projekte haben Grundprinzipien gemeinsam, die für die Arbeit der Robert Bosch Stiftung in Russland insgesamt kenn zeichnend sind: Im Mittelpunkt steht die partnerschaftliche Zusammenarbeit zwischen deutschen und russischen Ak teuren. Dabei werden private Partner ebenso eingebunden wie staatliche Strukturen auf föderaler oder regionaler Ebene. Die Robert Bosch Stiftung engagiert sich insbesondere in Form von Aufbau- und Anschubfinanzierungen mit dem Ziel, langfris tige Projekte zu etablieren, die von Partnern in eigener Verant wortung weitergeführt werden. Dabei beschränkt die Stiftung ihr Engagement nicht auf Moskau und St. Petersburg, sondern setzt bewusst Akzente in den russischen Regionen. Schließlich ist die Stiftung überzeugt, dass ein gutes Verhältnis zwischen Deutschland und Russland nicht auf höchster politischer Ebe ne begründet werden kann, sondern insbesondere von jungen Menschen mit konkreten Ideen und Leben zu füllen ist. Nur so kann es gelingen, die Zukunft der deutsch-russischen Bezie hungen gemeinsam positiv zu gestalten. Ottilie Bälz, studierte in Köln und Moskau Slavistik, Germanistik und Osteuropäische Geschichte und war im Anschluss vier Jahre am GoetheInstitut Moskau als Referentin für kulturelle Programmarbeit in den russischen Regionen tätig. Seit 2002 arbeitet sie als Projektleiterin bei der Robert Bosch Stiftung in Stuttgart und ist dort u. a. für die Russland förderung zuständig.
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Vergangenheit und russische Identität
Erinnerung im Umbruch. Der Zweite Weltkrieg im nationalen Gedächtnis Russlands von Kristiane Janeke Wie stark der Zweite Weltkrieg die russische Identität bis heute prägt, hat noch vor kurzem die Reaktion auf die Verlegung eines Mahnmals für gefallene sowjetische Soldaten in Estland gezeigt. Für viele Russen wurde damit ihre nationale Identität in Frage gestellt und ein Gefühl hervorgerufen, der Verdienst um die Befreiung Europas vom Nationalsozialismus solle ge schmälert werden. Dieser Befund macht deutlich: Was die Oktoberrevolution 1917 für die Sowjetunion gewesen ist, ist der Sieg 1945 für das postsowjetische Russland – die historische Legitimation. Immer wieder ist die Erinnerung an den Krieg Teil aktueller politischer oder gesellschaftlicher Debatten. Erst im Juni relativierte Putin die Verbrechen Stalins, die ihre Schat ten auf den siegreichen Ausgang des Krieges werfen, mit dem Hinweis, auch andere Länder hätten Schuld auf sich geladen, die zum Teil weitaus schlimmer sei. Über dem Sommercamp der Putin-Jugend wacht eine ewige Flamme, die von einem Weltkriegsveteranen entzündet und nun von den jungen Leu ten in Uniform bewacht wird. In der deutsch-russischen Aus einandersetzung um die „Beutekunst“ ist der Umgang mit den Folgen des Krieges seit Jahren ein Thema und in Moskau ist der Krieg überall im Stadtbild, in den Parks, in Form von Denkmälern oder Plakaten, zu sehen. Längst hat der Krieg die Oktoberrevolution als zentrales historisches Ereignis der sowjetisch-russischen Geschichte im 20. Jahrhundert abgelöst.
Der offensive Umgang mit diesem Thema in Russland mag erstaunen, allerdings ist die Aktualität geschichtspolitischer Fragen keineswegs ein einzigartig russisches Phänomen. Der Umgang mit dem Zweiten Weltkrieg, seinen Ursachen und Folgen wird derzeit in vielen europäischen Ländern wie dem Baltikum, Polen, Frankreich und Deutschland lebhaft disku tiert. Die jeweils spezifische Situation ist dabei nur mit einem Blick in die Vergangenheit zu verstehen. Die Sowjetunion hat zwischen 1941 und 1945 ca. 27 Millio nen Menschenleben verloren (von 55–60 Millionen Toten des gesamten Weltkrieges). Diese Tragödie, ausgelöst durch den Überfall der Wehrmacht auf die UdSSR am 22. 6. 1941, traf das Land nach Jahren anhaltenden Leidens durch den Ersten Weltkrieg, den Bürgerkrieg und die nachfolgende Hungersnot, die Kollektivierung der Landwirtschaft sowie den seit den 30 er Jahren anhaltenden Terror. In dieser Situation rief Stalin den „Großen Vaterländischen Krieg“ aus, so benannt in Anlehnung an den gescheiterten Russlandfeldzug Napoleons im 19. Jahr hundert. Die Bezeichnung ist bis heute erhalten geblieben. Sie weckt Erinnerungen an eine Zeit, in der der Bevölkerung zwar nochmals zusätzliche Entbehrungen zugemutet wurden, die die Menschen jedoch auch in dem Gefühl einte, sich gemein sam gegen einen klar erkennbaren, äußeren Feind zu vertei digen. Dieses Gefühl der Einheit ging nach dem errungenen Sieg in ein Triumphgefühl über und gab dem Leiden einen Sinn. Es wurde nachträglich noch dadurch gestärkt, dass sich die Hoffnungen auf ein dauerhaftes Ende des Terrors nicht erfüllten.
Wie erinnert man an einen Krieg, bei dem die Sowjetunion 27 Millionen d Menschenleben verloren hat? Die offizielle Erinnerungskultur betont die militärischen Erfolge.
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Unter Wladimir Putin wird die p
Kriegserinnerung zunehmend f unktionalisiert, um die russische Identität zu stärken.
Diese positive Erinnerung an den Krieg, an den Sieg und die Volksgemeinschaft in Abgrenzung zum äußeren Feind, prägte das kollektive Gedächtnis der Sowjetunion jedoch keineswegs zu allen Zeiten. Vielmehr ist diese Form der Kriegserinnerung, die wir mit der Sowjetunion verbinden und die uns heute – in veränderter Form – wieder begegnet, ein Produkt der BreschnewÄra, also der Zeit zwischen 1964–1982. In den Jahren bis zum Tode Stalins 1953 wurde der Krieg zunächst zwangsweise aus dem kollektiven Gedächtnis verbannt, der 9. Mai als Feiertag bereits 1947 wieder abgeschafft, die Veröffentlichung von Me moiren und Kriegsliteratur unterdrückt, die Kriegsinvaliden ignoriert und die Verlustzahlen bewusst auf nur 7 Millionen Menschen beziffert. Stalin wollte die wahre, ungeheure Anzahl der Opfer sowie seine eigenen Fehlentscheidungen und Ver säumnisse verschweigen, um im beginnenden Kalten Krieg sei ne Position als Sieger behaupten und ausbauen zu können. Erst Nikita Chruschtschow öffnete den Blick für das persönliche Versagen Stalins. In dieser so genannten Tauwetter-Periode wurden die Opferzahlen auf „über 20 Millionen“ nach oben korrigiert, waren jedoch noch immer weit entfernt von einer wissenschaftlichen Grundlage. Zwar konnten sich Literatur und Kunst einigen, zuvor tabuisierten Themen wie der Rolle Stalins im Krieg der ungenügenden Versorgung der Kriegsopfer zuwenden, doch wurde das offizielle Bild des Krieges auch jetzt nicht kritisch hinterfragt. Der Sieg Stalins wurde nun in den Sieg der Partei umgedeutet. Mit Beginn der Regierungszeit von Leonid Breschnew fanden diese vorübergehenden Freiheiten ihr Ende. Die politische Führung in Moskau beschloss, das Traditi onsverständnis und Gedenken an den Großen Vaterländischen
Krieg zu funktionalisieren. Im Sinn einer Stärkung des patrio tischen Gedenkens und der militärpsychologischen Abwehrbe reitschaft sollte die Kriegserinnerung gefördert werden. Eine der Folgen war die Gründung von zahlreichen, zum Teil monu mentalen Gedenkstätten und Museen in der UdSSR und im Ausland sowie die militärisch-pompöse Ausgestaltung der Feierlichkeiten zum 9. Mai, der seit 1965 wieder zum Feier tag erklärt worden war. Eine Differenzierung der Erinnerung trat erst mit der Perestroika ein. Michail Gorbatschow sprach erstmals über die Opfer des Krieges, deren Zahl nun mit 27 Millionen angegeben wurde. Neu waren auch Fragen nach militärischen Fehlleistungen, Zwangsarbeit, Judenvernichtung, Vertreibungen, Zerstörungen oder Traumatisierungen. Memoi ren führender Militärs wurden ebenso veröffentlicht wie das Zusatzprotokoll des Hitler-Stalin-Paktes, womit die Folgen des Vertrages für Polen und das Baltikum erstmals zur Sprache kamen. Diese Offenheit im Umgang mit dem Krieg setzte sich auch unter Boris Jelzin fort, der jedoch eine neuerliche Insze nierung der Erinnerung nutze, ein Bündnis mit den westlichen Alliierten herzustellen, in dem der sowjetische Sieg als Aus gangspunkt für die westliche Allianz und ein neues Europa in terpretiert wurde, zu dem Russland, nach wie vor eine Super macht, dazugehört. Daran knüpft auch Wladimir Putin an, funktionalisiert die Kriegserinnerung jedoch vorrangig für eine Stärkung der russischen Identität nach innen wie nach außen. Obwohl diese staatlich gelenkte Demonstration des neuen Selbstbewusstseins die Wahrnehmung von außen prägt, hat der Staat dennoch das alleinige Deutungsmonopol verloren.
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f Kooperative Kriegsaufarbeitung
z wischen Russland und Deutschland ist das Ziel des Deutsch-Russischen Museums in Berlin-Karlshorst, dem Ort der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht am 8. Mai 1945.
Auch in Film und Literatur wird das Thema zunehmend kri tisch bearbeitet und in der Wissenschaft darf längst über alles gesprochen werden. Zwar gibt es durchaus noch Forschungs bedarf, doch erscheint eine Fülle von Publikationen zu früher tabuisierten Themen, wie den Partisanen, Kriegsgefangenen, Kollaboration, Invalidität oder nationalen Unabhängigkeits bewegungen.
Die Kriegserinnerung in Russland ist weniger von einer sowje tischen Deutungskontinuität als von einer Ritualisierung des Gedenkens im öffentlichen Raum geprägt. In der Tat ist eine deutliche Differenzierung der Erinnerungslandschaft festzu stellen, in der öffentliches und privates Gedenken immer mehr auseinander treten. Auf der einen Seite steht die offizielle Erinnerung an den Großen Vaterländischen Krieg. Sie ist militärisch geprägt und stellt das Gedenken an die eigenen Helden in den Vordergrund. Neu gegenüber sowjetischen Erinnerungsmustern sind dabei die starke Präsenz der orthodoxen Kirche sowie die Nationali sierung der Erinnerung. Demgegenüber tritt ein privates Ge denken in immer differenzierterer Form hervor. Noch immer gibt es in Russland nur wenige Familien, die nicht einen oder mehrere Angehörige im Krieg verloren haben. Ein individuelles Erinnern hat sich in vielen Fällen aber erst in den letzten Jahren entwickelt. Immer mehr Menschen gehen am 9. Mai auf die Friedhöfe und nicht zur Parade. Das russische Internet ist voll von Websites zu Einzelschicksalen. In den Schulen finden Ge schichtswettbewerbe zur familiären Erinnerung an den Krieg statt. Jugendliche beteiligen sich an der Arbeit auf den ehe maligen Schlachtfeldern zur Umbettung menschlicher Über reste. Und die so genannten Brüdergräber, in denen deutsche und sowjetische Soldaten ruhen, werden von der Bevölkerung gepflegt.
Die Funktion der Kriegserinnerung im aktuellen Russland be steht nach wie vor darin, die zentralisierte Herrschaft zu stabili sieren und Legitimation zu stiften. Darüber hinaus lenkt das Begehen des kollektiven Sieges von der Erkenntnis ab, dass die Generation der Kriegsteilnehmer zu den Verlierern der gegen wärtigen russischen Gesellschaft gehört. Anders aber als in der Sowjetunion findet diese Erinnerungskultur in einem euro päischen Kontext zum Holocaust und Zweiten Weltkrieg, seinen Ursachen und Folgen statt. Europa wächst zusammen und auch die anhaltenden, bisweilen scharfen Auseinandersetzungen um die Erinnerungspolitik gehören zu diesem Prozess. Dieser Uni versalisierung der Erinnerung vor dem Hintergrund nationaler Auseinandersetzungen mit der jeweils eigenen Geschichte muss auch Russland sich stellen. Dieser Prozess ist gleicherma ßen wünschenswert und notwendig, um den Anforderungen der zunehmend multikulturellen Gesellschaften, und das gilt auch für Russland, gewachsen zu sein. Dazu gehört auch die Anerkennung für die Leistung der Sowjetunion bei der Befrei ung Europas von der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, die in den Jahren des Kalten Krieges so nicht möglich war. Deutschland trägt dabei eine besondere Verantwortung, die in den zahlreichen deutsch-russischen Initiativen, in Kultur- und Forschungsprojekten sowie der Pflege der sowjetischen Ehren mahle durch die Bundesregierung zum Ausdruck kommt. In diesem Herbst stehen sich Bundeswehr und Russische Armee wieder gegenüber – bei der der Pflege von Friedhöfen in Berlin und St. Petersburg.
Dr. Kristiane Janeke, Jhg. 1967, Osteuropahistorikerin und Kulturmanagerin, absolvierte das Stiftungskolleg für Internationale Aufgaben 1996/97 zum Thema „Beutekunst – Perspektiven der deutsch-russischen Kulturbeziehun gen“, nach Tätigkeiten im Badischen Landesmuseum Karlsruhe, dem Militär historischen Museum der Bundeswehr in Dresden, dem Deutschen Histo rischen Museum und dem Metropolitan Museum New York ist sie seit 2006 Leiterin des Deutsch-Russischen Museums in Berlin-Karlshorst.
Interview
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„Die Erinnerung an den Stalinismus wird sich biologisch von selbst auflösen” Wer über Geschichtsaufarbeitung etwas wissen will, fängt bei den Historikern an. Prof. Dr. Jörg Baberowski lehrt seit 2002 als Professor für die Geschichte Osteuropas an der Berliner Humboldt-Universität. Aus Archivstudien in Russland und dem Kaukasus hat er ein detailliertes Bild des Umgangs mit der sowjetischen und zaristischen Vergangenheit in Russland gewonnen. Über seine Erfahrungen sprach er mit ad hoc. ad hoc: Professor Baberowski, wie wichtig ist den Russen und der russischen Bevölke rung die Aufarbeitung der sowjetischen Ver gangenheit? Baberowski: Die Aufarbeitung spielt über haupt keine Rolle. Die Mehrzahl der rus sischen Bevölkerung hat andere Probleme, die sie lösen muss. Es gibt außerdem keinen äußeren Druck, der die Menschen dazu veranlasst, sich damit zu beschäftigen. ad hoc: Wo wird dann kritisch aufgear beitet? Ist das eine Aufgabe der Historiker? Baberowski: Nein, das ist keine Sache der Wissenschaft. Die Aufarbeitung unserer Geschichte haben ja auch nicht die Wis senschaftler gemacht. Es waren hier die kritischen Medien, die es in Russland nicht gibt. So findet in den russischen Medien auch keine Aufarbeitung statt. Ernst zu nehmende Historiker tun auch alles, um die Sowjetphase zu umgehen. Sie be schäftigen sich lieber mit angenehmeren Dingen. Die kritische Aufarbeitung wird letztendlich von Opferverbänden geleis tet, wie von der NGO Memorial. Aber für den Rest der Gesellschaft hat es dann den Anschein: „Jaja, natürlich müssen sich die Opfer damit schon beschäftigen, weil es ihre Vergangenheit ist. Aber uns geht das wirklich nichts an.“ ad hoc: Wie hat man sich den Umgang beispielsweise mit sowjetischen Verbrechen denn vorzustellen? Werden sie einfach geleugnet? Baberowksi: Es wird nicht insofern ge leugnet, als gesagt wird, die Ermordung der Kulaken habe es nicht gegeben. Es wird vielmehr gesagt: „Das musste einfach ge tan werden.“ Man findet sehr selten Per sonen, die die Massenmorde im Stalinis mus schlichtweg leugnen. Das ist ein ziemlich wichtiges, immer wiederkehren des Moment in dieser Debatte. Der zwei te wichtige Punkt ist, dass zwischen Op fern und Tätern schwer unterschieden werden kann. Viele Täter sind sehr schnell
zu Opfern geworden, sodass im Bewusst sein eines großen Teils der Bevölkerung eigentlich nicht so recht klar ist, wer die Täter und wer die Opfer sind. Da kann es keine klare Zuordnung für die Verant wortlichkeit geben. ad hoc: Welches Bild hat die russische Be völkerung etwa von Stalin, wenn seine Ver brechen verharmlost werden? Baberowski: Das hängt davon ab, in welcher Region man über Stalin spricht. Die Georgier haben kein Problem damit, den „Vater des Vielvölkerimperiums“ für sich selbst zu deklarieren, als den großen Sohn der georgischen Nation. Dabei hat er im Verhältnis wahrscheinlich kaum so vie le Menschen umgebracht wie Georgier. Wenn dagegen in der breiten Gesellschaft etwas Positives über Stalin gesagt wird, werden lauter Attribute genannt, die die späte Sowjetunion ausweisen. Die Größe des Imperiums, der volle Kühlschrank, der Großmachtstatus, die Goldmedaillen bei Olympischen Spielen – das verbindet man alles mit Stalin. Die Medien unterstützen das positive Bild. Es gibt seit einiger Zeit eine Seifenoper über Stalin, die im rus sischen Fernsehen zur besten Sendezeit läuft, in der Stalin als eine christlich-ortho doxe Vaterfigur dargestellt wird, die immer nur das Gute will. Es ist erschreckend und auffällig, wie viele Intellektuelle und Gebildete an diesem Stalinmythos mit schreiben und ihn auch popularisieren. ad hoc: Inwieweit spielt für die heutige poli tische Rhetorik, beispielsweise bei Putin, die russische Vergangenheit eine Rolle? Baberowski: Das spielt eine extrem große Rolle. Die Sprache, die die Eliten sprechen, ist die Sprache der späten Sta linzeit und der Chruschtschow- und Breschnew-Zeit: Russland ist dort ein ständig bedrohtes und umzingeltes Land. Das Imperium ist das Bollwerk gegen die Bedrohung von außen. Die Republiken, die sich vom Imperium abgespalten
aben, zählen gewissermaßen als Troja h nische Pferde der Amerikaner. Das ist nicht nur Rhetorik, das sitzt auch tief in den Köpfen dieser Leute fest. Putin ist ein Produkt dieses imperialen Gedankens. Das ist ein Problem, das man im Westen nicht verstanden hat. ad hoc: Verhält sich die Generation, die in den 80 er Jahren geboren ist und die Sowjet union kaum kannte, denn kritischer zur sowjetischen Geschichte? Baberowski: Ich bin da pessimistisch. Die jungen Leute haben überhaupt keine Lust, irgendetwas aufzuarbeiten, weil sie erstmal damit beschäftigt sind, Erfolg und Kon sum zu haben. Putin gibt ihnen außerdem wieder das Gefühl, dass sie was Wert sind. Deshalb akzeptieren sie sehr schnell diese putinsche Feindrhetorik: Nicht weil sie im sowjetischen so gefangen sind, sondern weil das Wertgefühl ganz gut zu ihrer Lebens art passt. Russische Großmacht ist eine prima Sache, und Nestbeschmutzung macht man nicht. Tragisch dabei ist, dass in 20 Jahren Schluss ist mit der Aufarbei tung, weil man dann auch keinen An schluss mehr an die Sowjetzeit hat. Wenn wir beispielsweise erst jetzt in Deutsch land anfangen würden, die NS-Ge schichte aufzuarbeiten, dann würden alle lachen. Man muss Menschen haben, die etwas getan haben. Es wird in 20 Jahren in Russland nicht die Aufarbeitung geben, die wir in Deutschland hatten, weil Opfer und Täter nicht mehr leben werden. Die ganze Geschichte der sowjetischen Erin nerung an den Stalinismus wird sich bio logisch von selbst auflösen. Die Gräuel des Julius Cäsar berühren mich nicht persönlich. Aber mich berühren die Gräuel des Zweiten Weltkrieges noch, weil mein Vater dort Soldat war. In Russ land wird das Problem irgendwann in die Geschichtsbücher geschoben. Das Interview führte Max Chrambach.
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Meinungsartikel
„Russland läuft immer Zick-Zack“ von Jakob Preuss
Es gibt Lautverbindungen, die in verschiedenen Sprachen un terschiedliche Dinge bedeuten. So verhält es sich mit dem Wort liberal, ein sprachübergreifendes Homonym. Bezeichnet es in den USA jemanden, der für strengere Waffengesetze und gleichgeschlechtliche Ehen eintritt, so ist ein Liberaler in Russ land ein gewissenloser, kleiner „Wadenbeißer.“ So beschreibt der Kultautor Viktor Pelewin im „Heiligen Buch der Wer wölfe“ die Schwierigkeit russische Realität mit westlichen Be griffen zu erfassen. Verfassungsrichter Anatolii Kononow sieht die Idee von Demokratie und Recht im heutigen Russland zerstört, da diese Begriffe sinnentleert und manipulierend be nutzt werden. So schreibt er in einer abweichenden Meinung im Urteil von 2005 zur Verfassungskonformität der Ernennung der Gouverneure durch den Präsidenten. Ein Urteil, das die ver fassungsmäßige Ordnung Russlands als Föderation ad absur dum führt, wie auch Kononow empfindet. Der allgemeine Glaube an Demokratie ist in Russland tief er schüttert. Alles lief in den 90 ern schief: Das Parlament wurde erst beschossen, dann blockierte es die Politik. Das Verfassungs gericht schaltete sich zunächst aktiv in politische Konflikte ein, bevor es zu zurückhaltend wurde. Die vom Westen geförderte Privatisierung mündete im Raubtierkapitalismus. Wahlen ver loren durch „schwarze PR“ und Manipulation das Ansehen in der Bevölkerung. „Regionalkönige“ gefährdeten die Einheit des Landes. Militär und Geheimdienst verselbständigten sich; Großkriminalität und Armut nahmen bedrohliche Züge an. Rechtssicherheit gab es keine und der Staat verlor das Gewalt monopol. Schlimmer noch, die vermeintlich „freien“ Medien wurden von Oligarchen für eigene Interessen missbraucht und polarisierten das Land. Heuchlerische Egozentriker hatten mehr die Förderung ihrer Karriere durch ausländische Förder gelder im Auge, als den Aufbau der vom Westen stets gefeierten Zivilgesellschaft. Nur wer dies erlebt hat, kann den Respekt vieler Russen für ih ren Präsidenten verstehen, der das Land teilweise stabilisiert hat. Der Westen hat hingegen seine Glaubwürdigkeit in Russ land verloren. Alle, wohl gut gemeinten, Ratschläge hatten ent gegengesetzte Wirkung. So lässt das Verfassungsgericht den Präsidenten bei der Errichtung der vertikalen Macht gewähren.
Das Problem einer ausgewogenen Berichterstattung Westliche Medien schauen selten genau hin, ob nötige Korrek turen stattfinden oder ob die gesellschaftliche Entwicklung, nach ihren Vorstellungen, nachhaltig gefährdet wird. Putin brachte in seiner ersten Amtszeit wichtige Reformen auf den Weg, wirtschaftliche und gesellschaftliche. Die Festigung der Staatsmacht war aufgrund der Zerfallserscheinungen notwen dig. Das Thema Medien ist ein Beispiel für nötige Differenzie rung: Die Entmachtung von Boris Beresowski und Vladimir Gusinski war kein Übel, die derzeitig fehlende kritische Be richterstattung und die Inszenierung der Machthabenden im Fernsehen ist bedrohlich. Ein Beispiel für Hysterie in westli chen Medien sind die Fälle „Litwinenko“ und „Tregubowa“: Viele reden nur von „Kremlkritikern“ ohne deren Bedeutung, verworrene Machenschaften, Übertreibungen und fragwürdige Verbindungen zu erwähnen; Artikel zum Fall „Arap“ sind ein weiteres Beispiel. Außenpolitisch agiert Russland gekonnt mit Kühle und Logik, nicht amoralischer als die USA oder europäische Staaten. Die oft einseitige Berichterstattung im Westen, z. B. über die Far benrevolutionen oder die Kosovofrage, verstärkt den Eindruck in Russland, dass moralische Empörung nur eigenen Interessen dienen soll. Die realitätsferne Darstellung als „Kampf zwischen Gut und Böse“ während der Orangenen Revolution war hier ein trauriger Höhepunkt.
Meinungsartikel
Es gibt Anzeichen, dass der Kreml eine politische Ordnung nach westlichem Vorbild will, inklusive Machtwechsel durch Wahlen zwischen Parteien, die sich nur in Detailfragen unterscheiden, wie bei uns. Hierfür mangelt es derzeit am gesellschaftlichen Konsens, wirtschaftlicher Stabilität, politischer Ethik und an einem funktionierenden Rechtsstaat. Ein Fehler ist zu denken, dass dies von oben erzwungen werden kann, z. B. mit der künstlichen Schaffung einer „oppositionellen“ Partei und die Annahme, in Demokratien sei alles durch politisches Kalkül motiviert. Das Ergebnis ist der Gebrauch demokratischen Vokabulars als Worthülsen, Zynismus und Sinnleere. Entscheidend wird sein, mit welchen tatsächlichen Ideen, Werten und Ideologie diese Leere gefüllt wird. Derzeit scheinen Nationalismus, Militarismus, Materialismus, Monismus und der Glaube an einen starken, zentralistischen Staat auf Kosten individueller Freiheiten das Rennen zu machen. Der Westen wird für ein liberales Modell nur glaubhaft werben können, wenn er eigene Fehler eingesteht und beweist, auf richtig an andere Werte zu glauben. Unreflektierte und undifferenzierte Berichterstattung wird bei Russen den Eindruck verstärken, durch Einflussnahme auf russische Innenpolitik außenpolitische Interessen zu verfolgen.
Als ich 2002 im Rahmen des Stiftungskollegs an Verhandlungen zum WTO-Beitritt Russlands in Moskau teilnahm, entsetzte ein russischer Verhandlungsführer die jungen EUBeamten mit folgender undiplomatischer Bemerkung: „Wissen Sie, Sie müssen auch die russische Mentalität berücksichtigen. Russen sind nie geradlinig, alles geht im Zick-Zack – wie ein Pendel.“ Es besteht die Hoffnung, dass das Pendel an seinem äußersten, autoritären Rand angekommen ist und sich zurück auf eine freiheitlichere Mitte zu bewegt. Von außen werden nur Stimmen dazu beitragen können, die sich in die russische Situation hineinversetzen und weder relativieren noch polemisieren.
Jakob Preuss, Jhg. 1975, absolvierte während seines Kollegjahres 2001/02 Praktika bei der EU-Delegation in Moskau und im Planungsstab des Auswärtigen Amts. Es folgte die Teilnahme an zahlreichen Wahl beobachtungsmissionen in den GUS-Staaten (3x Russland, Kirgisien, Kasachstan, Aserbaidschan, Moldavien, Ukraine). Er ist derzeit freiberuflicher Dokumentarfilmer und GUS-Referent bei der NGO Reporter ohne Grenzen in Berlin.
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DasHeft n채chste Heft erscheint am 01/09/2007 3 erscheint im Fr체hjahr 2008
Thema: Europa und die Ergebnisse der deutschen Ratspr채sidentschaft