ad hoc 5: Ideen, Konzepte, Pilotprojekte

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Heft Heft1:5:10/05/2007 Mai 2009

ad hoc international Die neuen Friedensmissionen Editorial (Seite 1) Überblick: Friedenseinsätze, der aktuelle Forschungsstand (­ Seite 2)  VIP-Interview: Tono Eitel (Seite 4)   Überblick: Afrika (Seite 5)   Dossier: Entwaffnung (Seite 6)  Fallstudie Kosovo (Seite 8)   Kommentar: Aktueller Stand in Afghanistan (Seite 9)

Ideen, Konzepte, Pilotprojekte Innovationen aus Deutschland und der Welt Innovationen brauchen Kreativität ­(Seite 2) Farben und Formen für das Gehirn (Seite 8) „Es gibt kein Weltpatent.“ – Interview mit Philippe Baechtold (Seite 10) Leidenschaft in Bolivien (Seite 13) Mikrokredite aus San Francisco (Seite 18) Soziale Internetplattformen (Seite 20)


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Impressum Social Business Konzept

ad hoc international Zeitschrift vom Netzwerk des Stiftungskollegs für internationale Aufgaben e. V. erscheint halbjährlich. Diese Ausgabe wurde in Kooperation mit dem CSP-Netzwerk für Internationale Politik und Zusammenarbeit e. V. erarbeitet. Titelbild: Alles wird neu in Ulan Bator, Mongolei; Foto: V+I+S+K Bildnachweis: Tanja Busch (Seite 4); CAINCO (Seiten 13–14); Nina Cieslak (Seiten 18–19); Natalie Groos (Seite 17); Corinna-Rosa Hacker (Seiten 20–21); Kiva (Seiten 18–19); Benjamin Krug (Seiten 10–11); Sandra Költzow (Seite 12); Vionto (Seiten 8–9); V+I+S+K (Seiten 2–3, 5–7); Katharina Welle (Seiten 15–16) Herausgeber: Netzwerk des Stiftungskollegs für internationale Aufgaben e. V. Schillerstr. 57, 10627 Berlin, Telefon +49 (0)30 31102298, Fax +49 (0)30 31016229 gf@stiftungskolleg.org, www.stiftungskolleg.org Redaktion: Ines Wolfslast (Projektleitung), Christina Hübers, Frederike von Kunow, Stephanie von Hayek, Katharina Welle, Daniel Maier (CSP), Stephan Ulrich (CSP), Kristiane Janeke, Benjamin Krug (CSP), Ilka Ritter (CSP), Marie von Engelhardt (CSP), Katja Rohrer (CSP), Zacharias Ziegelhöfer (CSP) Autoren: Daniel Braun, Tanja Busch, Nina Cieslak, Katharina Cramer-Hadjidimos, Natalie Groos, Corinna-Rosa Hacker (CSP), Beate Heimberger, Sarah Költzow (CSP), Stephan Ulrich (CSP), Stephanie von Hayek Die Beiträge spiegeln die persönliche Meinung der Autoren wider. Idee: Ines Wolfslast Gestaltung: V+I+S+K Büro für Visuelle Kommunikation, ­Berlin Druck: Herforder Druckcenter Danksagung: Diese Publikation wurde von der Robert Bosch Stiftung GmbH gefördert.


Editorial

Liebe Leserinnen und Leser! Wir machen uns die Wahl des Themas für die ad hoc international nicht leicht. Lange gehen gewöhnlich die Vorschläge im Redaktionsteam hin und her. Doch diesmal zündete es sofort: „Lasst uns doch ein Heft zum Thema ‚Innovationen‘ machen!“ war der Vorschlag und das war eine Idee, die uns sofort begeisterte. Januar 2009, die ­Medien überbieten sich im Überbringen schlechter Nachrichten: Finanzkrise, ­Konjunktureinbruch, Kurzarbeit … und wir machen uns an die Arbeit, um ein Heft zu schaffen, dass anders ist als die all­gemeine Stimmung in Deutschland und in der Welt. Es soll die Kräfte aufzeigen, die in ­Innovationen stecken. Inspirierend und ­erfrischend! Das Thema passt hervorragend zu unseren beiden Ehemaligen-Vereinen, dem ­Netzwerk des Stiftungskollegs für internationale Aufgaben e. V. und dem CSP-­ Netzwerk für inter­nationale Politik und Zusammenarbeit e. V. Innovationen sind ­unsere Stärke, und so war auch der Rücklauf mit Themenvorschlägen von den Mitgliedern überwältigend. Spontan entschieden sich die Organisatoren des Jahres­ treffens, das das Netzwerk des Stiftungs­kollegs im Mai 09 am Werbellinsee in Berlin abhält, das Thema „Innovationen“ für die Veranstaltung aufzugreifen. Innovationen stellen eine Chance dar, unsere Welt zu verändern und zwar zum ­Positiven. Dabei ist es weniger die Erfindung, die zählt, sondern deren Umsetzung, sagt der Ökonom Joseph A. Schumpeter. Die Umsetzung einer Innovation, ob sie nun technologischer, institutioneller oder anderer Art ist, ist ein langwieriger Prozess mit oft ­ungewissem Ausgang. Begleiten Sie unsere Autoren gedanklich bei der Umsetzung von Pilotprojekten und spüren Sie die Leidenschaft, die Innovatoren mitbringen. „Mut zum Eigensinn“ nennt es unsere Autorin Tanja Busch in ihrem Artikel zu ­Kreativität und Innovation. Innovative Menschen sind besondere Menschen und wir möchten sie mit unseren Beiträgen unterstützen. Innovative Ideen und Konzepte aus Deutschland und der ganzen Welt können wir in ­dieser neuen ad hoc international bieten: Mikroversicherungen für die Ärmsten der Armen, das „innovativste Unternehmen Berlins 2009“, Veränderungen in einer ­bolivianischen Handelskammer, neue Internetplattformen zum Fundraisung für Nichtregierungsorganisationen und für die Vergabe von Mikrokrediten werden ­ebenso vorgestellt, wie das Konzept des bedingungslosen Grundeinkommens oder die neue Politik der Filmförderung in Deutschland. Das sind nur Beispiele für die Vielfalt an Themen, mit denen unsere Autoren privat oder beruflich befasst sind. Und es gibt auch diesmal eine Neuheit bei ad hoc international: zusätzlichen Stoff zum Lesen im Internet. Auf www.stiftungskolleg.org (Aktivitäten) erwarten Sie drei ­weitere Artikel. André Lieber schreibt über Vorbilder und Leitfiguren bei Innova­ tionen, Dominik F. Schlossstein berichtet aus Südkorea und Daniela Treutlein ­beschäftigt sich mit Innovationen im Rahmen der Lissabonner Strategie. Lassen Sie sich inspirieren! Viel Vergnügen beim Lesen wünscht Ines Wolfslast

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Innovation braucht Kreativität

Verborgene Talente ans Licht bringen Innovationen entstehen durch Menschen mit Mut zum Eigensinn von Tanja Busch Eine ungewöhnliche Idee und die Bereitschaft, sich auf einen kreativen Prozess mit ungewissem Ausgang einzulassen, das geht jeder Innovation voraus. Wer die eigenen Talente wahrnimmt und die Herausforderungen wählt, die zu ihm ­passen, wagt das Abenteuer mit Aussicht auf Erfolg. „Ich würde so gerne etwas Neues hervorbringen, irgendwie ­kreativ sein, aber ich habe ja keine wirklichen Talente, ich bin kein Einstein oder Mozart.“ Die Worte kommen erklärend, ja fast entschuldigend, aus dem Mund einer Politikwissenschaftlerin, die sich eine neue berufliche Herausforderung ersehnt. Fast ist es so, als hätte sie dabei ein schlechtes Gewissen, denn sie gehört zu denen, die „es“ geschafft haben: Anerkennung im Job, guter Verdienst, Entwicklungsperspektiven. Und dennoch – sie will etwas Eigenes schaffen, etwas, das ungewöhnlich ist. Manche Freunde und Kollegen haben wenig Verständnis für ihre Unzufriedenheit: „Hör doch auf zu spinnen, du hast es doch gut. Und überhaupt, was willst du denn machen, du hast doch nichts anderes gelernt.“ Auf der Suche nach einem Raum, in dem sie den Wunsch nach Veränderung ergründen und ­konkretisieren kann, stößt sie auf Storyprojects. In dem ­Onlinekurs „Mut zum Eigensinn“ findet sie den nötigen Spielraum zum Entdecken eigener Talente, Träume und Möglichkeiten. Ein Angebot, das gerade in Zeiten der Krise immer mehr ­bislang erfolgreiche und gut ausgebildete Menschen für sich entdecken: sie wünschen sich Unterstützung bei einem un­ gewöhnlichen Neuanfang – denn ausgerechnet sie trauen sich den Aufbruch ins Ungewisse nicht zu. Woher kommt eigentlich diese felsenfeste Überzeugung, selbst nicht über die nötige Kreativität zu verfügen, um etwas Neues in die Welt zu bringen?

Mut haben, etwas Neues zu machen. s

Fragt man Kreativitätssehnsüchtige, auf welchem Weg ihnen etwas „Neues“ begegnet sei, dann fallen ihnen zuerst die ­großen Errungenschaften der Menschheit ein: Darwins Evolutions­ theorie oder die Gemälde von Caspar David Friedrich, ­Internet, Telefon, Gentechnologie, Freuds Psychoanalyse und Rock’n Roll. Mit ihnen sei etwas bahnbrechend Innovatives in die Welt gekommen: Neue Produkte und Dienstleistungen in der Wirtschaft, Ausdrucksformen eines neuen Empfindens für die Welt in Kunst, Literatur, Musik, ein neues Verständnis für die Welt in der Wissenschaft. Mit den großen Kreativen verbinden ­gerade hervorragend gebildete Menschen das, was sie über ­Kreative gelernt haben: Was ihre Werke, Gedanken, Theorien bedeuten oder wie sie funktionieren und wie sie die Welt ver­ ändert haben. Das Innovative – das steht in ihren Köpfen vor allem für großartige Ergebnisse. Der Innovationsfeind Sich dem Wunsch, etwas Neues hervorzubringen, aus der ­Ergebnisperspektive annähern – darin sehen die Künstler und Autoren des amerikanischen Bestsellers „art and fear“ den ­größten Feind der Kreativität. Ted Orland und David Bayles verweisen darauf, dass das fertige Kunstwerk ein Orientierungspunkt im Nachhinein ist und allein Bedeutung hat für die, die es betrachten oder bewerten. Für den Künstler selbst hingegen zählt nur der Prozess, in dem er sein Kunstwerk erschafft. Am Beispiel der erfolgreich Kreativen lässt sich beobachten, wie sie etwas Neues in die Welt bringen: Indem sie sich auf ein Abenteuer mit ungewissem Ausgang einlassen. So zum Beispiel der Hirnforscher Martin Hirsch, der die Vision für eine neuartige Internetsuchmaschine hatte (siehe hierzu Beitrag S. 8), die sich durch eine besondere visuelle Darstellung das Wissen um die Funktionsweise des Gehirns zunutze macht. Das ist zunächst eine ungewöhnliche Idee. Zur Innovation wird sie erst dann, wenn es ihm gelingt, das Produkt zu entwickeln und ­andere Menschen von dem Nutzen seiner Erfindung zu überzeugen. Ob das gelingt, weiß er erst rückblickend, wenn er es geschafft hat.


Innovation braucht Kreativität

Wer etwas Neues hervorbringen will, muss die Seiten wechseln, vom Betrachter, Rezipienten oder Kritiker, der Wissen über ­Innovationen anhäuft, zum Kreativen, der sich Schritt für Schritt dem kreativen Prozess annähert und ausprobiert, wie das geht, etwas zu erschaffen. Er findet sich gewissermaßen an einer Weggabelung: auf dem einen Weg wartet ein kom­ fortabler BMW auf ihn, um eine gut ausgebaute Autobahn mit klarer Zielkennzeichnung zu befahren. Alles ist sicher und überprüfbar: das Ergebnis, der Weg, auf dem man dorthin ­gelangt und auch, dass auf diesem Weg nichts Neues in die Welt gelangen kann. Der andere Weg ist ein zugewachsener Pfad, von dem ungewiss ist, wo er entlang führt, wo er endet und was unterwegs passiert. Dieser Pfad ist unsicher, bietet aber auch die Chance, etwas Unerwartetes zu finden. Wer sich der Wahl zwischen den Perspektiven nicht bewusst ist, riskiert, sich dem Trampelpfad des Entdeckers halbherzig mit dem BMW an­ zunähern und zu versuchen, sich mit ihm bisher vertrauten ­Erfolgsstrategien gegen die Unsicherheit zu schützen. Auf diese Weise steht er sich selbst im Weg: Er bleibt stecken. Kreativ sein bedeutet, dem Risiko ins Auge blicken: Der Ungewissheit und der Möglichkeit des Scheiterns. „Ich sehe was, was du nicht siehst.“ Als wie riskant sich der „Trampelpfad“ tatsächlich erweist, hängt davon ab, mit welchen Talenten derjenige ausgestattet ist, der sich für die Herausforderung entscheidet. Wie die Harvard-­ Kreativitätsforscher Howard Gardner und Teresa Amabile ­herausgefunden haben, sind kreative Menschen nicht grundsätzlich Abenteurer. Vielmehr wählen sie die Herausforderungen, die zu ihnen passen, weil sie ihre spezifischen Talente bewusst wahrnehmen. Wenn die Besteigung des Mount Everest ohne Sauerstoff einem Laien als verrückt und dem Experten als unwahrscheinlich anmuten mag, erscheint einer Persönlichkeit wie Reinhold Messner das als eine zu ergründende Möglichkeit. Wer seine spezifischen Talente in einem bestimmten Gebiet ­entfaltet, sieht etwas, das für Menschen mit anderen Voraus­ setzungen unsichtbar bleiben muss. Dem beliebten Urteil „das ist ja völlig unmöglich“ gilt es, ein visionäres „ich sehe was, was du nicht siehst“ entgegenzusetzen. Und das wird nur möglich durch die Wahrnehmung der eigenen Begabungen.

Talent spürt man an der Neigung zu einer Sache, etwa so, als ­würde man sich verlieben. Der Jazz-Pianist Michel ­Petrucciani ­beschreibt es so: „Wenn jemand, der das Klavierspielen nicht mag, eine Stunde am Klavier verbracht hat, kommt ihm das vor, als hätte er zehn Stunden damit verbracht. Wenn jemand wie ich, der das Klavierspielen liebt, zehn Stunden spielt, kommt ihm das vor wie eine Stunde.“ Diese Leidenschaft ist dann der­ Motor, durch den mit Leichtigkeit die jeweiligen Fertigkeiten angeeignet und eine tiefe Vertrautheit mit dem Wesen eines ­bestimmten Gebietes erreicht werden kann. Durch die intrinsische Motivation wird der kreative Prozess selbst zu einer Kraftquelle und das Ergebnis ist nur ein willkommenes Zubrot und nicht etwa Belohnung für schmerzhafte Mühen. Damit sind kreative Menschen unabhängiger von äußerer Anerkennung und entwickeln enormes Durchhaltevermögen. Den eigenen Talenten auf die Spur kommen Menschen, die die Sehnsucht nach etwas „Neuem“ verspüren, ohne sie klar konkretisieren zu können, sind sich häufig der ­eigenen Talente noch nicht bewusst. Möglicherweise hat es im Rahmen ihrer bisherigen Lebensumstände noch keinen Raum gegeben, um mit ihren Talenten in Berührung zu kommen. Oder die eigenen Stärken scheinen zu selbstverständlich. So bemerkte die amerikanische Malerin Georgia O’Keeffe ­erstaunt: „Ich habe Dinge in meinem Kopf, Formen und Ideen, die mir so nah sind, so natürlich für meine Art zu sein und zu denken, dass es mir niemals vorher in den Sinn gekommen ist, sie auszudrücken.“

Welchen Pfad soll man beschreiten? s

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Innovation braucht Kreativität

Einen Raum, um die eigenen Talente kennenzulernen, bietet der Storyprojects-Onlinekurs „Mut zum Eigensinn“. Dabei wird eine Fähigkeit genutzt, die jeder alltäglich praktiziert: Das ­Geschichtenerzählen. In der Art, wie ein Mensch Geschichten erzählt, zeigt sich, was ihm wichtig ist. Die 6-wöchige Ent­ deckungsreise in die eigene Kreativität führt auf einen vir­ tuellen Rundgang durch New York City. Dort begegnet der Reisende fiktiven Persönlichkeiten, die in Briefen ihre Geschichten erzählen und ihn ermutigen, eigene Geschichten zu finden und aufzuschreiben. Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt, wenn es zum Beispiel darum geht, sich im Angesicht der Freiheitsstatue die unbegrenzten Möglichkeiten von fünf Wunschleben zu erträumen oder im Gespräch mit einem ­verrückten Talentscout persönlichen Werten, so genannten Karriere­ankern, auf die Spur zu kommen. Oder herauszufinden, wie es bei einem Besuch im Metropolitan Museum of Art ­gelingen kann, die berühmt-berüchtigte Muse zu sich einzu­ laden. Am Ende blickt der Entdecker auf über zwanzig Geschichten, die unterschiedliche Facetten eines Gesamtbilds ­eigener Stärken beleuchten, und einen eigenhändig dokumentierten Stadtplan, der die persönliche Essenz der Reise spiegelt. Aus dem diffusen „ich möchte etwas Eigenes schaffen“ ist jetzt ein „ich weiß, was mir persönlich wichtig ist“ geworden. Die eigenen Talente sind wahrnehmbar, Möglichkeiten und ­Träume können jetzt konkretisiert werden: Eine bewusste Entscheidung an der Weggabelung zwischen Risiko und Sicherheit ist möglich.

Ein Buch über Songwriter, eine Ausstellung von Gemälden, ein Komforthotel für Familien, Diareisevorträge in Kindergärten, erfolgreiches Lobbying in einer Organisation, um die eigenen Ideen endlich in einer Führungsposition in die Tat umsetzen zu können – mittlerweile haben einige Abenteurer den von Story­ projects gebotenen Spielraum genutzt, um dem kritischen „du spinnst ja mit deinen Ideen“ ein selbstbewusstes „ich sehe was, was du nicht siehst“ entgegen zu setzen. Vom Fotografen über die Architektin, der Rechercheredakteurin bis zum Bibliothekar – Menschen, die sich danach sehnen, etwas Neues zu schaffen, finden sich in allen Berufen. Und die Politikwissenschaftlerin vom Anfang hat für sich entdeckt, dass es ihr wichtig ist, solche Kreativitätssehnsüchtige dabei zu unterstützen, mit ­ihren ­Talenten zu überzeugen. Sie hat vor drei Jahren Story­ projects gegründet.

projects Tanja Busch, Jhg. 1972, war 2001/02 Stiftungskollegiatin mit dem Projektthema: „Wie kommt das Neue in die Welt?“. Sie war als wissenschaftliche Mitarbeiterin mehrere Jahre für die Abteilung „Wissen und Innovation“ beim Wissenschafts­ zentrum Berlin für Sozialforschung tätig. 2006 hat sie „Storyprojects“ gegründet und begleitet Menschen bei der beruflichen Orientierung.


Mit neuen Konzepten aus der Krise

Das Grundeinkommen – eine Innovation für die Gesellschaft von morgen? von Stephan Ulrich Noch im April 2008 sah der Ex-Wirtschaftsminister Glos Deutschland „auf dem besten Weg zur Vollbeschäftigung“. Nur ein Jahr später hat sich die Wirtschafts- und Finanzkrise voll auf den Arbeitsmarkt durchgeschlagen. Deutschland rettet sich mit Kurzarbeit über die Runden, trotzdem steigt die ­Arbeitslosigkeit. Zeitarbeiter und Teilzeitkräfte werden als ­erste entlassen – gerade die Gruppen, die am wenigsten durch das soziale Netz abgesichert sind. Dieses orientiert sich noch immer an der Erwerbsbiografie, der ununterbrochenen, lebenslangen Beschäftigung. Dabei nimmt die Flexibilisierung der Arbeitswelt in Form von atypischen Beschäftigungsformen wie Teilzeitarbeit, befristeten Anstellungen, Zeitarbeit, Projektarbeit als Freelancer oder in Scheinselbstständigkeit zu. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes verringerte sich von 1992 bis 2005 die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten in Deutschland um rund 2,4 Millionen Personen. Seitdem nimmt sie wieder leicht zu, aber weil der Boom der vergangenen Jahre auf nicht nachhaltigem Konsum basiert, müssen sich mehr ­Menschen wieder an Ämter und Behörden wenden, von denen sie in Arbeitslosigkeit verwaltet werden. Dieser Verwaltungsaufwand für Arbeitslosengeld I und II ist enorm. Die ein­geschränkten Zuverdienstmöglichkeiten unterbinden zudem Eigeninitiative, und die Überprüfung der Bedürftigkeit ist zuweilen menschenunwürdig. Ist dieses System noch zeitgemäß? Eine innovative Idee für ein soziales Sicherungssystem, das der Veränderung der Arbeitswelt Rechnung trägt, ist das bedingungslose Grundeinkommen. Es stellt eine Erweiterung bürger­ licher Rechte dar, die Existenz sichern und gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen soll. Als universale Grundsicherung er­ halten alle Bürger je nach Modell zwischen 600 und 1500 Euro. Ob reich oder arm, arbeitslos oder arbeitend, das Grundeinkommen wird bedingungslos an jeden ausgezahlt. Die auf­wendige und unwürdige Bedürftigkeitsprüfung entfällt. Im Gegen­zug streicht der Staat andere Transferleistungen wie Kinder­geld, ­Bafög, Arbeitslosengeld I und II – nur um einige der insgesamt 155 unterschiedlichen Sozialleistungen zu nennen. Bei den meisten Modellen vereinfacht die Einführung des Grundeinkommens zudem das System von Steuern und Sozialabgaben.

Anhänger erhoffen sich durch das bedingungslose Grund­ einkommen ein gesellschaftliches Umdenken und mehr individuelle Freiheit. Arbeit müsste nicht mehr primär unter Einkommensaspekten gesehen werden. Diese These vertritt auch Frithjof Bergmann, Philosoph und Begründer der New-WorkBewegung. Nach Bergmann geht Arbeit weit über das hinaus, was das Lohnarbeitssystem zu bieten hat. Arbeiten bedeutet, sich zu engagieren, Verantwortung zu übernehmen, sich ein­ zubringen – ob bezahlt oder unbezahlt. Ein bedingungsloses Grundeinkommen würde es den Bürgern erlauben, unabhängig vom Einkommensdruck ihre Fähigkeiten zu entwickeln. Wenn jedem Bürger die Chance gegeben würde, das zu tun, was er will, ohne das Existenzangst entstünde, könnte dies zu einem Kreati­ vitätsschub führen. Im Schutz des Grundeinkommens könnte man mit Ideen experimentieren, es entstünden neue Unter­ nehmen und damit Arbeitsplätze. Es muss aber nicht jeder Unter­ nehmer werden. Mit dem Grundeinkommen gäbe es auch mehr Raum für gesellschaftliches und soziales Engagement. Mit diesen Argumenten rührt zum Beispiel der Unternehmer und Gründer der dm-Drogeriekette Götz Werner medien­ wirksam die Werbetrommel für das bedingungslose Grundeinkommen. Er schlägt ein großzügiges Grundeinkommen von bis zu 1500 Euro vor, das schrittweise eingeführt wird, und von einer Umstellung von Einkommens- auf Mehrwertsteuer ­begleitet und finanziert wird. Bekannt ist auch das vom ­Thüringischen Ministerpräsidenten Dieter Althaus ersonnene Konzept des solidarischen Bürgergeldes. Dieses sieht ein be­ dingungsloses Grundeinkommen von 800 Euro pro Bürger vor, von dem 200 Euro als Gesundheitsprämie abgezogen werden. Experten am Hamburger Weltwirtschaftsinstitut (HWWI) haben das solidarische Bürgergeld durchgerechnet und eine ­Finanzierung scheint im Rahmen der heutigen Ausgaben für soziale Sicherung machbar. Thomas Straubhaar, Direktor des HWWI und Herausgeber der Studie, sieht im Grund­ einkommen die Chance, den Staatshaushalt nachhaltig zu ­sanieren und den Sozialstaat auch für künftige Generationen ­finanzierbar zu machen. Aufgrund der Kombilohnwirkung des Grundeinkommens rechnet Straubhaar zudem mit über ­einer Million neuer Arbeitsplätze, insbesondere im Niedriglohnbereich.

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Mit neuen Konzepten aus der Krise

Kritiker des Konzepts sehen vor allem Probleme mit der Finanzierung eines Grundeinkommens. Ob das bedingungslose Grundeinkommen langfristig bezahlbar ist, hängt davon ab, ob mit dem Grundeinkommen auch ähnlich viel Wertschöpfung ge­leistet würde wie heute. Falls jedoch die Motivation zu ar­ beiten sinkt, wenn jeden Monat auch ohne Mühe Geld auf dem Konto eingeht, wird der zu verteilende Kuchen kleiner und ein ­Grundeinkommen und andere Staatsausgaben sind nicht mehr ­finanzierbar. Vertreter des aktivierenden Sozialstaats sind zudem der Überzeugung, dass ein Grundein­kommen und der Ausbau der sozialen Infrastruktur sich gegenseitig ausschließen. Sie ­sehen das Grundeinkommen als Tot­stellprämie und bestehen auf ­eine aktivierende Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik.

Das gesellschaftliche Interesse am bedingungslosen Grund­ einkommen scheint, durch die Wirtschafts- und Finanzkrise zuzunehmen. Im Februar 2009 erhielt eine Petition an den Bundestag, die eine Einführung des Grundeinkommens ­fordert, mehr als die notwendigen 50 000 Unterschriften. Unter Vorbehalt des Petitionsausschausses wird sie demnächst im Bundestag diskutiert. Vielleicht ließe sich ja mit einem Grundeinkommen Voll­ beschäftigung erreichen? Vollbeschäftigung, bei der jeder ­Bürger einer sinnvollen Beschäftigung nachgeht – ob bezahlt oder unbezahlt. Dann würde auch der Ex-Wirtschaftsminister am Ende noch Recht behalten.

Welche Effekte ein Grundeinkommen letztendlich haben würde, ist kaum vorherzusagen. Faulheit auf breiter Flur oder Kreativitätsschub und sprießendes Unternehmertum? Das ließe sich wohl nur durch Pilotprojekte herausfinden. In Namibia fand sich im Januar 2008 eine Koalition aus Entwicklungshilfe­ organisationen, Kirchen und Regierungsvertretern zusammen, um solch ein Pilotprojekt zu starten. In der besonders armen ­Gemeinde Otijvero erhält jeder Bürger bedingungslos 100 nami­ bische Dollar, ungefähr acht Euro. Erste Ergebnisse scheinen Befürchtungen von Alkoholismus und Arbeitsunwilligkeit nicht zu ­bewahrheiten. Stattdessen werden Häuser repariert, Mikro-Unternehmen gegründet, Kinder bekommen eine bessere Ernährung und die Kriminalität ging zurück. Inwieweit sich aus diesem Pilotprojekt Schlüsse ziehen lassen, wie Menschen in Deutschland auf ein Grundeinkommen reagieren würden, ist natürlich fraglich.

Stephan Ulrich, Jhg. 1980, studierte Politikwissenschaft, BWL und ­Informatik in Freiburg und Atlanta. Seit seinem CSP-Stipendium 2006 arbeitet er als Berater im Bereich Wirtschafts- und Beschäftigungs­ förderung für die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) in Genf, Bangkok und Accra. Momentan beschäftigt er sich mit den Auswirkungen der Wirtschafts- und Finanzkrise auf Unternehmen und Arbeitsmärkte in Industrie- und Entwicklungsländern.


Neue Wege in der Innovationsförderung

Positive Stimmung am Filmstandort Deutschland von Katharina Cramer-Hadjidimos Mit einem neuen Filmfördermodell ist es Deutschland gelungen, internationale Filmstars und Großproduktionen ins Land zu holen. Das fördert die Wirtschaft, die internationale Ver­ netzung und das Image Deutschlands. Quentin Tarantino, Tom Cruise, Kate Winslet, Angelina Jolie, Brad Pitt geben sich binnen weniger Monate in Berlin ein Stelldichein. Wer hätte das gedacht? Zu Filmen made in Germany zählten in den letzten zwei Jahren Projekte wie „Der Vorleser“, „The International“ oder „Der Baader Meinhof Komplex“ – alle­samt große Publikumserfolge und Aushängeschilder für die deutsche Filmkultur. Der Filmstandort Deutschland ist für internationale Koproduktionen außerordentlich attraktiv geworden. Das ist kein Zufall, sondern unter anderem Ergebnis der jüngsten filmpolitischen Maßnahmen des Bundes, namentlich des seit 2007 bestehenden Deutschen Filmförderfonds (DFFF). Nach britischem und kanadischem Vorbild wurde damit auch in Deutschland erstmals ein Instrument geschaffen, das nicht nur den deutschen Film fördert, sondern auch internationale Produktionen anlockt und die Investitionen im Filmbereich standortpolitisch sinnvoll lenkt. Der DFFF geht damit über die seit mehr als 40 Jahren bestehende traditionelle Film­ förderung von Bund und Ländern hinaus. Dieser Initiative ­waren schmerzliche Einschnitte für die deutsche Filmwirtschaft vorangegangen, insbesondere die Abschaffung der als Steuersparmodelle konzipierten Medienfonds und ein sich verschärfender internationaler Wettbewerb im Filmgeschäft. Gerade internationale Großproduktionen sind für einen Filmstandort höchst interessant, weil sie über Projektvolumina von 20 bis 100 Millionen Euro verfügen. Deutsche Produktionen fallen mit 4,5 Millionen Euro Budget vergleichsweise gering aus. Internationale Großproduktionen sind daher für jeden Drehort willkommen und heiß umworben. Der DFFF verfügt jährlich über 60 Millionen Euro. Ziel war es, ihn möglichst transparent, unbürokratisch und berechenbar zu gestalten und ihm eine einfache Philosophie zugrunde zu legen: Wer in Deutschland investiert, wird belohnt. Der DFFF gewährt Produzenten in Deutschland bis zu 20 Prozent Fördermittel. Voraussetzung ist, dass mindestens 25 Prozent der Gesamt­ herstellungskosten in Deutschland ausgegeben und kulturelle Mindestanforderungen erfüllt werden, wie zum Beispiel die Mitwirkung deutscher Filmkünstler oder Verwendung deutscher Stoffvorlagen.

Der DFFF hat sich als großer Erfolg erwiesen. Seit 2007 hat er 129 Millionen Euro investiert und damit rund 812 Millionen Euro am Filmstandort Deutschland ausgelöst. Das entspricht einem Hebelfaktor von über eins zu sechs. Dabei haben die sechs internationalen Großproduktionen (The International, Valkyrie, Speed Racer, Ninja Assassins, Cheri und Mr. Nobody) ins­ gesamt 170 Millionen Euro in Deutschland gelassen. Auch die Zahl der deutsch-internationalen Koproduktionen hat sich seit Einführung des DFFF fast verdoppelt. Seit 2007 förderte er 75 internationale Koproduktionen. Dies ­relativiert zumindest die teilweise geäußerte Einschätzung, der DFFF sei nicht ausreichend kompatibel mit den Fördermodellen anderer Staaten. Diese internationale Zusammenarbeit ist wichtig für Kultur und Wirtschaft. Je besser Produzenten international vernetzt sind, desto leichter finden sie Partner, mit denen sie Kosten und Risiken teilen können und desto besser sind die Chancen des Films im weltweiten Vertrieb. Schließlich unterstützt die Zufriedenheit der Beschäftigten im Filmbereich die Stimmung in der Branche. Die zunehmende Zusammenarbeit deutscher Talente mit internationalen Teams verschafft ihnen wertvolle Erfahrung und sie machen sich ­international einen Namen. Als Gesichter auf der Leinwand sind deutsche Schauspieler wie David Kross, Bruno Ganz oder ­Martina Gedeck wunderbare Identifikationsfiguren für den Ruf des deutschen Films und Kulturbotschafter Deutschlands. Der DFFF, ursprünglich befristet bis 2009, wird nun bis zum Jahr 2012 verlängert. Im Rahmen dieser Verlängerung, werden auch sinnvolle Anpassungen des Filmförderfonds geprüft, die Vorschlägen aus der Branche entgegenkommen, wie zum ­Beispiel die Berück­sichtigung von Drehbuchhonoraren als ­förderfähige deutsche Herstellungskosten.

Katharina Cramer-Hadjidimos, Jhg. 1970, war 1998/99 beim Stiftungskolleg. Sie hat Jura und Friedens- und Konfliktforschung studiert. Nach beruflichen Auslandsaufenthalten in Griechenland, USA, Türkei und Österreich ist sie als Voll­ juristin beim Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM, Staatsminister Bernd Neumann im Bundeskanzleramt) im Bereich Filmpolitik/ Filmwirtschaft tätig. Zuvor hat sie u. a. für den BKM und den Medienbeauftragten der OSZE auf dem Gebiet der internationalen Medienpolitik, sowie für die Staatskanzlei Baden-Württemberg (Medienstandort/Medienentwicklung) gearbeitet.

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Innovatives Deutschland

Den Einfall locken von Stephanie von Hayek Der Hirnforscher Martin Hirsch und der Vertriebsexperte Ralf von Grafenstein haben ein Internetunternehmen in Berlin ­gegründet. Mit einer hirnähnlichen Wissensmaschine wollen sie den Internetmarkt erobern. Zuckerbäckerbauten heißen die stalinistischen Wohnblöcke der Karl-Marx-Allee in Berlin. Ralf von Grafenstein und ­Martin Hirsch lassen ihre Blicke wandern über den zwei Kilometer langen denkmalgeschützen Straßenzug, der sich vom Strausberger Platz bis hin zum Frankfurter Tor zieht. „Wir finden es super, wenn man auf etwas runter schauen kann“ erzählt ­Grafenstein. Die beiden Gründer des Internetunternehmens Vionto stehen im 9. Stockwerk eines modernen Glasbaus, ­präsentieren die Aussicht und ihre Pokale. Vor sechs Monaten waren sie noch mit der Gründung der Firma beschäftigt, nun halten sie zwei Preise in der Hand, verliehen von der „Initiative deutscher Mittelstand“: Sie sind „innovativstes Unternehmen Berlins“ und sie haben das „zukunfts­orientier­teste Produkt“ für Dienstleistungen im Internet entwickelt. Das hat die 65köpfige Jury bestehend aus Wissen­schaftlern, Journalisten und Unternehmern im März 2009 entschieden. Vionto hat den Eyeplorer erfunden, eine Wissenswerkbank. Eyeplorer leitet sich ab vom englischen explore. Erkunden „das ist der Vorgang vor dem Entdecken“, erläutert der Hirnforscher Martin Hirsch, wenn das Auge auf Erkundungsfahrt durch die weite, ungeordnete Welt des Wissens im Internet geht. Das Auge, das die Information ans Gehirn weitergibt, zieht Bilder reinem Text vor. Diese Erkenntnis hat sich Vionto zu Nutze ­gemacht und eine grafisch-visuelle Wissensmaschine entwickelt, deren „Farben und Formen das Gehirn schnell erfassen und Eine semantische Wissensmaschine: s  der Eyeplorer

i­ ntuitiv verarbeiten kann,“ erklärt Hirsch. Vionto steht daher auch für visuelle Ontologie, weil „wir die Zusammenhänge der Welt, die Unendlichkeit unseres Wissens visuell darstellen und gleichzeitig Ordnung in die Welt der Sprache bringen wollen“. Der Eyeplorer sieht aus wie ein farbenfroher Geburtstags­ kuchen, aufgeschnitten in mundgerechte Wissensteile. Und auch wie ein Rad, um das die eigenen Gedanken kreisen können, ohne sich wie bei Google in andere Wissensgebiete zu verirren. In der Mitte befindet sich das Eingabefeld. Plopp. Eine Grafik erscheint mit bunten Smarties, so genannten Eyespots, großen und kleinen. Zum Beispiel: Karl-Marx-Allee. Plopp. Die ­dicksten Eyespots sind: Sozialistischer Klassizismus, Kategorie „Anderes“, U-Bahn 5, Kategorie „Infrastuktur“ und Josef Stalin, Kategorie „Personen“. „Das Gehirn legt Wissen in so genannten ‚kog­ nitiven‘ Karten ab, in denen Dinge, die zusammen eine praktische Handlungseinheit bilden, auch beisammen liegen“, erklärt Hirsch. Damit auch eine Maschine so funktioniert, muss sie ­semantisch, bedeutungsorientiert, entwickelt sein. So schlägt der Eyeplorer beim Begriff „Golf “ nicht nur das Auto vor, ­sondern auch die Sportart Golf, den Golfstrom, den Golfkrieg. Dahinter stecken komplexe Berechnungen, Algorithmen. „Wenn Google der Bibliothekar ist, der zeigt, an welcher Stelle Dokumente zu finden sind, sind wir der Professor, der weiß, was in den Büchern steht“, so verkauft Ralf von Grafenstein den Eyeplorer an seine Kunden. Statt Suchergebnisse als Links ­aneinander zu reihen, durchleuchtet der Eyeplorer Dokumente nach Information und erspart dem Nutzer das Anklicken jedes Dokuments. Neben dem Rad findet der Nutzer übrigens die Werkbank, einen Notizblock, auf dem er das, was ihn interessiert, mit Quellenangabe ablegen und in Zukunft auch bearbeiten kann.


Innovatives Deutschland

Beinahe jedoch hätte es all das nicht gegeben: Vionto, den ­Eyeplorer, die Pokale. Dann säße Hirsch jetzt vielleicht bei Google mit einem sicheren Arbeitsplatz und Grafenstein mit seinen Kindern zu Hause. Martin Hirsch ist 46 Jahre alt, ­Humanbiologe, Hirnforscher und Enkel des Nobelpreisträgers Werner Heisenberg. Der promovierte Forscher wollte nie ­Unternehmer werden. Lieber Professor und den Menschen ­erzählen von der „Schönheit der Welt, der Natur und des Geistes“. Doch an deutschen Universitäten verbringe man zu viel Zeit mit Verwaltung und Wissensanhäufung. Für kreatives Querdenken bliebe dort wenig Raum. Deshalb schuf er sich seinen eigenen Raum, wurde Unternehmer und verwirklicht heute seine Ideen, „unverwässert“, wie er sagt. Während Hirsch als Elfjähriger grübelte, wie die Gedanken in seinen Kopf gelangen, holte Grafenstein, schon damals unternehmerisch veranlagt, mit einem von ihm angeleiteten Trupp Freunde die Pfandflaschen der Nachbarin aus dem Keller, um den Erlös in einen Computer zu investieren. Seine Schulzeit ­bezeichnet er als „Horror“. Legasthenie war damals noch nicht anerkannt, und so hieß es Nachsitzen und Wörter üben, die das Gehirn anders diktiert. Der 36-jährige gehört zu den ­Internetunternehmern der ersten Stunden, die den Internetboom der 90er Jahre nutzten, um ein eigenes Unternehmen zu gründen. Hirsch ging das Geld für sein Unternehmen aus, nicht aber die Motivation und die Vision: Das Internet in einem künstlichen Gehirn abzubilden. Grafenstein verlor die Lust auf Elternzeit, in die er sich begeben hatte. Im August 2008 trafen sie sich das erste Mal. Innerhalb weniger Monate strukturierten sie die alte Firma um und akquirierten knapp eine Million Euro. Unternehmersein hat zu tun mit Kreativität, Hirnforschung auch. „Innovation macht das Aufbrechen von Wissen erforderlich. Um innovativ zu denken, muss ich ‚den Einfall locken‘, sagt Schopenhauer. Ich muss raus aus meinen linearen Denkketten. Eyeplorer soll durch die nicht-lineare Anlieferung von Informationen den Einfall locken – und Spaß machen,“ freut sich Hirsch auf die Zukunft. Die Versuchsversion wird demnächst mehr Inhalte als die schon vorhandenen Wikipedia­ inhalte erhalten, sowie eine Oberfläche zum Antippen, einen Touchscreen. Konkurrenz kommt aus den USA. Hier sitzt, der unter Fachleuten als Genie bezeichnete Physiker, Stephen Wolfram, an der Entwicklung einer ähnlichen Wissens­ maschine. Mit hundert Entwicklern. Sie soll im Mai auf den Markt kommen.

Assoziationen des menschlichen Gehirns rund um den Apfel i

Kreativleistung oder Schicksal, dass sich zwei wie Hirsch und Grafenstein getroffen haben? Menschen mit einer Lese- und Rechtschreibschwäche sind häufiger Unternehmer, weil sie früh lernen müssen, andere um Hilfe zu bitten, und über eine überdurchschnittliche Fähigkeit im visuell-räumlichen Denken verfügen. Sie lernen in Bildern und erfassen erst das große ­Ganze. Unser Ausbildungssystem konzentriert sich auf den ­linear sequentiellen Lerntypen, der sich logisch Schritt für Schritt zu mehr Komplexität vorarbeitet. Vielleicht war es ­Grafensteins Intuition, die ihn zu einem Hirnforscher geführt hat. Einer, der eine visuelle Denkmaschine gebaut hat, ohne Fließtext. Eine, die die Dinge dieser Welt von oben betrachtet.

Stephanie von Hayek, Jhg. 1971, war 2000/01 Stiftungskollegiatin und ­verbrachte ihr Jahr beim United Nations Office for Project Services in New York und bei der Weltbank-Gruppe in Washington D.C. Sie arbeitet als ­Referentin bei der Versammlung der Regionen Europas in Straßburg und als freie Journalistin. Sie beschäftigte sich im Rahmen ihrer journalistischen Ausbildung mit dem Eyeplorer und Vionto.

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Interview

„Es ist Weitblick, Innovationen zu fördern“ Philippe Baechtold ist seinem Heimatland Schweiz treu geblieben und steht seit zehn Jahren im Dienste der Weltorganisation für geistiges Eigentum (WIPO) in Genf. Er ist Direktor der Patentabteilung, die sich mit allgemeinen Fragen und den norma­ tiven Aspekten des Patentwesens, sowie Innovation und Technologietransfer beschäftigt. ad hoc: Herr Baechtold, Anfang April fand in Genf die 37. Inter­nationale Messe für „Innovation, Erfindungen, neue Tech­ niken und Produkte“ statt. Das Motto lautete „Das Gold von morgen sind die Erfindungen von heute – das ist Weitblick!“. Was halten sie davon? Ich denke, das ist sicher eine ganz richtige Aussage, weil wir wissen, dass Innovationen heute einer der Hauptmotoren der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung sind. Es ist Weitblick, da es für Unternehmen gerade in Krisenzeiten wichtig ist, Innovationen zu fördern, um nach der Krise wieder wettbewerbsfähig zu sein. ad hoc: Wie unterstützt WIPO dabei die Förderung neuer Technologien, Erfindungen und Entwicklungen? Die WIPO hat verschiedene Aufgabenbereiche im Patent­ wesen. Auf der einen Seite haben wir Ausschüsse, die sich um die Weiterentwicklung des internationalen Patentwesens kümmern. Das ist unter anderem das Standing Committee on the Law of Patents. Dann haben wir eine zweite Hauptaktivität, die darin besteht, dass wir Entwicklungsländer auf Anfrage unterstützen, ihre Gesetze auf Kompatibilität mit internationalen Veträgen zu prüfen. Und dann haben wir eine Einheit, die sich der Förderung von Innovation und Technologietransfer widmet. WIPO ist insbesondere im Bereich der Personal- und der Infra­ strukturförderung aktiv. Es werden zum Beispiel Kurse für Mitgliedsstaaten angeboten, wie man ein Patent verfasst, Lizenz­ verträge abschließt oder wie öffentliche Forschungsanstalten Partnerschaften mit dem privaten Sektor eingehen können. ad hoc: Stellen Patente ein Hinderniss für Technologietransfer dar? Die Frage ist umstritten. Es gibt in der Literatur Stimmen, die zu dem Schluss kommen, dass es eine gewisse Korrelation gibt, wohingegen andere Studien zu einem anderen Ergebnis kommen. Allgemein lässt sich jedoch feststellen, dass das ­Patentsystem eine Vorbedingung, aber nur eine unter vielen, für Investition und Innovation darstellt. Technologietransfer hängt von sehr vielen Faktoren ab: Der Größe des Marktes, von der Absorbtionsmöglichkeit der Technologie oder auch von Steuerstrukturen. Es wird immer wieder Fälle geben, in denen es zu einem Technologietransfer kommt, ohne dass ein Patent vorhanden ist und umgekehrt.

ad hoc: Wie kann das Patentwesen zur Förderung von Technologie­ transfer beitragen? Das Patentwesen hat in diesem Zusammenhang zwei Funktionen inne: Eine Transparenz- und eine Rechtsfunktion. Die Transparenz­ funktion der Patente ist für den Technologietransfer förderlich. Sobald ein Patent angemeldet ist, sind die Patent­informationen einsehbar und können genutzt werden, wenn auch nicht immer für kommerzielle Zwecke. Einige NGOs verfolgen so beispielsweise Technologietrends. Zum anderen übt das Patentwesen eine wichtige Funktion als rechtliches Vehikel aus. Dank eines Patents können Technologien weitergegeben werden oder Projekte zwischen Hochschule und Privatsektor initiiert werden.

„Es gibt kein Weltpatent.“ ad hoc: Die Zahl der Patentanmeldung nimmt stetig zu, momen­tan sind ungefähr 1,8 Millionen Patenanmeldungen jährlich erfasst. 2006 gingen davon 76 Prozent auf China, Deutschland, Japan, Südkorea und die USA zurück. Bleiben die Entwicklungsländer auf der Strecke? Man muss zunächst zwei Aspekte unterscheiden: Es gibt nationale und regionale Patentanmeldungen und die bewegen sich im Moment bei knapp 1,8 Mio im Jahr. Und dann haben wir die Patent ccooperation Treaty (PCT)-Anmeldungen, die bei ca. 165 000 pro Jahr liegen und von der WIPO verwaltet werden. Der PCT bewirkt allerdings nur eine Harmonisierung der Anmeldeformalitäten, d. h. eine internationale Patentanmeldung, die die gleiche Wirkung hat, wie wenn nationale Anmeldungen separat in allen 184 Mitgliedsstaaten eingereicht worden wären. Es gibt jedoch kein Weltpatent. Es ist aber trotzdem so, dass die fünf größten Ämter über 75 Prozent der Patentanmeldungen ausmachen. Die Quote der Entwicklungsländer nimmt zu, leider aber mehr­heitlich nur in den großen Schwellenländern wie Brasilien, China, Indien und Südkorea. Es ist beeindruckend, dass China, Japan und Südkorea für ein Viertel aller PCT-Anmeldungen verantwortlich sind. Aber es stimmt, dass ein großer Teil der am wenigsten entwickelten Länder nicht beteiligt ist. ad hoc: Sollten Entwicklungsländer dann überhaupt in das Patent­system investieren? Für viele Entwicklungsländer besitzt das Patentwesen verständ­ licherweise nicht die oberste Priorität. Allgemein gilt, je weniger entwickelt ein Land und je kleiner die ökonomische Struktur,


Interview

desto weniger nützlich ist das Patentsystem. Wir müssen uns in Zukunft vermehrt fragen, was für Entwicklungsländer zumutbar ist und was nicht. Deshalb ist es wichtig, differen­zierter vorzugehen, statt international eine polarisierte Diskussion darüber zu führen, ob Patente nun ein nützliches Hilfs­mittel oder ein Hindernis darstellen. Denn es ist nachgewiesen, dass Patente für Innovation und Technologietransfer nützlich sein können, sofern dies sinnvoll angegangen wird. Die Polemik ein wenig aus der Debatte nehmen, ist im Moment jedoch sehr schwer. ad hoc: In der Öffentlichkeit wird asiatischen Staaten und ins­ besondere China die Verletzung geistigen Eigentums vorgeworfen. Ist dieser Vorwurf Ihrer Meinung nach gerechtfertigt? Das ist keine einfache Frage, da ich als Vertreter der WIPO keine einzelnen Mitgliedsstaaten an den Pranger stellen möchte. Wenn Sie Länder wie China als Beispiel nehmen, dann sollte man nicht vergessen, welchen Hintergrund diese Länder haben. In Asien gibt es keine lange Tradition des Patentwesens, wie in Deutschland oder in der Schweiz. Diese Länder haben erst kürz­ lich begonnen, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Ganz objektiv lässt sich aber feststellen, dass die asiatischen Staaten in den letzten zwei Dekaden unglaubliche Verbesserungen und Fortschritte erzielt haben. China hat beispielsweise vor einigen Jahren eine Innovationsstrategie unter dem Patronat des Premier­ ministers auf die Beine gestellt und danach eine Intellectual Property (IP)-Strategie verkündet. Das heisst nun nicht unbe­ dingt, dass die heutige Situation perfekt ist, aber dass sie sich in die richtige Richtung bewegt. ad hoc: Inwiefern unterstützt WIPO Mitgliedstaaten bei der Entwicklung solcher Innovations- oder IP-Strategien? Wir unterstützen Mitgliedsstaaten, aber nur, wenn wir gefragt werden. Es gibt keine Eigeninitative von Seiten der WIPO, da dies nicht unserem Mandat entspräche. Jedoch hat China nicht nur die WIPO, sondern auch andere Mitgliedsstaaten gebeten, sie bei ihrer letzten Patentgesetzgebungsrevision zu unterstützen. China ist hier ziemlich weit fortgeschritten. Es gibt aber auch andere Länder, die die WIPO von Anfang an bei der Implementierung einer IP-Strategie unterstützt, zum Beispiel Kolumbien. ad hoc: Welchen Image- und Kompetenzverlust hat die WIPO dadurch erlitten, dass das Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte am geistigen Eigentum (engl. TRIPS) außerhalb der WIPO durch das Freihandelssystem GATT ausgehandelt wurde? Ich glaube nicht, dass ein Schaden dadurch entstanden ist. Wir haben ein sehr gutes Verhältnis zur WTO und übernehmen komplementäre Aufgaben und dort, wo wir nicht komplementäre Aufgaben haben, haben wir uns mit einem Abkommen arrangiert. ad hoc: Wie unterscheidet sich die WIPO von der WTO? Die WTO kümmert sich primär um Handelsfragen während die WIPO hingegen das IP-Spezialwissen besitzt. Dies betrifft nicht nur die Normengebung und Verträge für geistiges Eigentum, sondern auch die Entwicklungszusammenarbeit und die Patentsysteme. WIPO verfügt jedoch über gewisse Mittel nicht, die die WTO hat, dazu zählen beispielsweise Handels­ sanktionen oder das Streitschlichtungsverfahren.

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ad h­oc: Im Juli organisiert die WIPO eine Konferenz zu „Intellectual Property and Global Challenges“. Welche Erwartungen und Hoffnungen haben Sie anlässlich der Konferenz? Was wir sicher für die WIPO erwarten, ist zum einen, für die Aussenwelt klarzustellen, dass wir uns nicht davor drücken, den Zusammenhang zwischen dem geistigen Eigentums oder der Patente und den global challenges, wie dem Klimawandel oder der Lebensmittelsicherheit, anzuerkennen. Die WIPO möchte mit der Konferenz ein Zeichen setzen, dass wir uns solcher Themen annehmen und uns nicht auf das Gebiet rein technischer und juristischer Fragen zurückziehen. Der wachsenden Interdependenz solcher Themen bewusst, werden wir enger mit anderen Organisationen wie der WTO, WHO oder UNCTAD zusammenarbeiten. Darüber hinaus, erhoffen wir uns von der Konferenz Einfluss auf die WIPO im Allgemeinen und insbesondere Impulse für die Arbeiten des Standing ­Committee on the Law of Patents.

„Ich bin ein Freund des Multilateralismus.“ ad hoc: Spüren Sie während der Vorbereitung dieser Konferenz Druck von den Mitgliedstaaten, bestimmte Programmpunkte stärker zu priorisieren oder gar überhaupt nicht zu diskutieren? Ich würde es nicht Druck nennen, aber was man sicher merkt ist, dass es verschiedene Interessen gibt und dass gewisse Staaten oder Staatengruppen bestimmte Prioritäten haben. Es geht für die WIPO dann darum, den Dialog zwischen den Mitgliedsstaaten zu moderieren und zu koordinieren, aber letzt­ endlich müssen sich diese untereinander einig werden. Die WIPO kann Vorschläge machen, ist jedoch um Neutralität ­bemüht, und ist mit Sicherheit nicht weisungsbefugt. ad hoc: Herr Baechtold, zuletzt eine persönliche Frage: Wie an­ strengend ist Ihre Arbeit? Das ist eine schwierige Frage. Lassen Sie es mich so ausdrücken: Die WIPO bietet ein spannendes Umfeld, internationale Pro­ zesse mitzuverfolgen und deren Wandel mitzuerleben, beispielsweise die Harmonisierung des Patentwesens. Ich bin ein Freund des Multilateralismus. Der multilaterale Weg ist langwierig und komplex, doch ich bin davon überzeugt, dass ein Ergebnis mehr wert ist, wenn es von allen mitgetragen wird. Soweit dies meine Arbeit hier betrifft, so bleibt festzustellen, dass man eine große Flexibilität an den Tag legen muss, da man ständig mit einer Plethora verschiedener Meinungen konfrontiert ist und das Neutralitätsprinzip, unter dem die WIPO arbeitet, eine Stellungnahme verbietet. Das erfordert manchmal eine hohe Tole­ ranzgrenze. Ausserdem ist es wichtig, damit umgehen zu können, dass keine schnellen Ergebnisse erzielt werden. Ein Prozess kann zwei Jahre, aber auch manchmal zehn Jahre dauern. Intern sollte sich jeder bewusst sein, dass man konstant mit Leuten arbeitet, die anders denken und aus unterschiedlichsten Kulturkreisen kommen, und das ist natürlich sehr spannend.

Das Interview führte Benjamin Krug.


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Pilotprojekt: Verwaltung von Übermorgen

Innovation, du fehlst mir. Deine Verwaltung. von Sarah Költzow „Der Wert einer Idee liegt in ihrer Umsetzung.“ Das sagte der Erfinder der Glühbirne, T. A. Edison. Und noch heute gilt, ob ­Gesundheitsfonds, Nahverkehr oder Müllentsorgung: Eine gesetzgeberische Idee ist immer nur so innovativ, wie sie seitens der Verwaltung auch umgesetzt wird. Bislang ist der öffentliche Sektor jedoch nicht gerade bekannt für seine Innovationskraft. Erst Anfang der 1990er Jahre begann bezüglich der öffentlichen Verwaltung in Deutschland im Rahmen des „Neuen Steuerungs­ modells“ ein Umdenken: Prinzipien wie Kunden- und Effizienz­ orientierung sollten aus dem Privatsektor übernommen werden, die Verwaltung gestrafft und zum modernen Dienstleister umstrukturiert werden. „eGovernment“, das Anbieten von Informationen und Verwaltungsleistungen auf elektronischem Wege, ist jedoch bis heute noch nicht flächendeckend umgesetzt. Kein Wunder, dass man nicht an sein Rathaus denkt, wenn es um ­Innovation geht… Dabei herrscht ein großer Innovationsbedarf im öffentlichen Sektor. Gerade kleine Kommunen stehen derzeit vor zahlreichen Herausforderungen: Die demographische Entwicklung, der ­gesellschaftliche Strukturwandel, Technologisierung und Budget­ knappheit drängen zum Handeln. Wie kann eine Kommune fit gemacht werden für den gesellschaftlichen Wandel? Gemeinsam mit drei anderen Studenten der Zeppelin University habe ich die Vision der „Verwaltung von Übermorgen“ ent­ wickelt, die zum Ziel hat, die bestehenden Potenziale einer ­Gemeinde zu genau diesem Zwecke zu aktivieren. Die Lokalverwaltung von Uslar, einer Kleinstadt bei Göttingen, hat sich mit uns auf ein einjähriges Pilotprojekt eingelassen. Im Mittelpunkt stehen dabei das Zusammenleben in einer ­Gemeinde und die Befähigung der Verwaltungsmitarbeiter zur innovativen partizipativen Gemeindeentwicklung. Innovation durch Kooperation Ein Markenzeichen des Projekts ist die außergewöhnliche interkommunale Kooperation, denn nicht die regionale Nähe ­sondern ein inhaltliches Interesse haben die Städte Uslar und seine Projektpartnerstadt Usingen (Hessen) zusammengebracht. Der Wissenstransfer zwischen den Kommunen wird durch ­unsere Teilnahme am „Innovators Club“ gewährleistet, einem ThinkTank unseres Schirmherrn, des Deutschen Städte- und Gemeindebunds.

Gestaltung statt Verwaltung In vier gemeinsamen Workshops lernen die Verwaltungsmit­ arbeiter aus den beiden beteiligten Gemeinden von- und mit­ einander und entwickeln innovative Lösungen für ihre tägliche Arbeit. Durch eine neuartige Verwaltungskultur und eigens dafür von uns entwickelte Kompetenz- und Rollenprofile lernen die Mitarbeiter, kreativ mit gesellschaftlichen Umbrüchen umzugehen, diese als Chance zu sehen und für die Gemeinden positiv auszugestalten. Die Verwaltungsmitarbeiter von übermorgen sind nicht mehr einfach nur Sachbearbeiter: Sie verknüpfen gezielt Bürger miteinander und fördern die Aktivierung brachliegender Poten­ ziale in der Gemeinde. Verwaltung agiert innerhalb der Gesellschaft und ist treibende Kraft für einen zukunftsgerichteten Wandel. Brauchen wir in Zukunft noch Rathäuser? Sitzen unsere Verwaltungen bald in Indien und arbeiten dort billiger? Wann ant­wortet meine Stadtverwaltung endlich auf meine Emails per Email? Begleitend steht den Workshopteilnehmern unter www.wandel­ gestalter.de eine Plattform zur Verfügung, auf der sie inhaltlich weiterarbeiten und diskutieren können. Wir laden die Öffentlichkeit ein, sich dort über das Projekt zu informieren, zu Verwaltungsthemen querzudenken und mit uns ein Netzwerk von Verwaltungsmodernisierern und innovativen Projekten in ähnlichen Bereichen aufzubauen. Im Mai 2009 findet in Uslar der zweite unserer vier Workshops statt. Wir erwarten viel davon, denn der Wert einer Idee liegt schließlich in ihrer Umsetzung. Und die Umsetzung der Verwaltung von Übermorgen beginnt heute.

Sarah Költzow, Jhg. 1985, studierte Public Management and Governance an der Zeppelin University in Friedrichshafen. Ihre BA-Thesis schrieb sie über Innovationen bei der Betrugsbekämpfung in lateinamerikanischen Rentensystemen. Sarah arbeitete 2008 im Rahmen des Carlo-Schmid-Programms bei der International Organization for Migration in Genf. Zusammen mit ihren Kommilitonen ­Christian Janisch, ­Jonas Kwaschik und Philip Palm entwarf sie noch während des Studiums das Konzept zur „Holistischen Verwaltung von Übermorgen“, das die vier im Jahr 2009 gemeinsam als Pilotprojekt des DStGB umsetzen.


Akteure erfinden sich neu

Mit Inspiration zur Innovation – Bolivien zeigt Flagge in der Organisationsentwicklung von Beate Heimberger Boliviens Flagge zeigt die Farben rot, gelb und grün – diesen Anstrich gibt sich auch Boliviens wichtigste Industrie- und Handelskammer in der Entwicklung ihrer Organisation. „Rote“ Leiden­schaft, „gelbe“ Kommunikation und „grüne“ Fruchtbarkeit und Hoffnung kennzeichnen die innovative Heran­ gehensweise in den drei strategischen Achsen: Management­ instrumente ­Mitarbeiterintegration und soziale Verantwortung. Die Weltbank zählt Bolivien mit einem jährlichen Pro-KopfEinkommen von rund 1 300 Dollar zu den ärmsten Ländern des amerikanischen Kontinents; 40 Prozent der Bevölkerung müssen heute mit weniger als einem Dollar pro Tag aus­kommen und 67 Prozent der Beschäftigen werden als Teil des infor­ mellen Sektors betrachtet. Auch politische und soziale Un­ ruhen prägen Bolivien: Seit 2002 regierten in Bolivien fünf ­Präsidenten; Streiks, Demonstrationen und Blockaden be­ stimmen das Straßenbild. Stark verunsicherte in- und aus­ ländische Investoren und sinkendes Wirtschaftswachstum kennzeichnen die wirtschaftliche Situation. Wie kann ein Unternehmensverband in diesem Land, das einer­seits auf der Weltkarte unbedeutend wirkt und andererseits seit Jahren am Rande eines Bürgerkriegs entlangschrammt, erfolgreich innovative Organisationsentwicklung betreiben? Im bolivianischen Tiefland, in Santa Cruz de la Sierra, hat die privatrechtliche Industrie- und Handelskammer Cámara de ­Industria, Comercio, Servicios y Turismo de Santa Cruz ­(CAINCO) seit fast 100 Jahren mit rund 100 Beschäftigten ­ihren Sitz. Sie fungiert als landesweite Meinungsführerin in Unternehmerfragen und repräsentiert rund 1 600 Mitgliedsunternehmen. Am Anfang des neuen Jahrtausends stand der Wunsch der ­visionären Führung, vor dem Hintergrund einer wachsenden Aufgabenflut mittels einer verbesserten institutionellen Struktur, mit der weltweiten Avantgarde mithalten zu können. So hat die CAINCO in den letzten Jahren keinen Vergleich mit weltweit progressiven Industrie- und Handelskammern gescheut, beispielsweise beim Kräftemessen des World Chambers ­Competition, einem im Zweijahres-Rhythmus weltweit aus­ gerufenen Wettbewerb um unkonventionelle Industrie- und Handelskammer-Projekte. Corporate Design der Cainco, das die soziale p

unter­nehmerische Verantwortung und die unkonventionelle Herangehensweise an Veränderungen widerspiegelt.

Drei Schlüsselbereiche werden in schrittweisen Prozessen in der CAINCO auf- und ausgebaut: ein integratives Managementsystem, eine emotionale Einbindung der Belegschaft und soziale unternehmerische Verantwortung. Inspiriert durch europäische Kammern implementiert die CAINCO – als eines von wenigen Dienstleistungsunternehmen ganz Boliviens – seit 2004 nach und nach ein ganzheitliches ­System von Steuerungsinstrumenten: z. B. die Balanced Score­ card, die auf einer Stärken-Schwächen-Analyse und der stra­te­ gischen Planung basiert; ein umfassendes Qualitätsmanagementsystem und ein Customer Relationship Managementsystem zur maß­geschneiderten Kundenbetreuung und verstärkten Kunden­ orientierung. Dieses Mammut-Programm von Veränderungen geht nicht ohne Schwierigkeiten über die Bühne, in Form von Wider­ ständen wie Ablehnung, Verweigerung wegen Überforderung, Angst und offener Kritik durch einzelne Mitarbeiter. Der ­Umgang mit dem Widerstand? Überzeugende Verantwortung der Führung, geduldiges Zulassen von Verzögerungen, „Rückschritte“ im Denkprozess, Pilotprojekte, Flexibilität, Kontakt. Valeria Kreidler, Leiterin des Referats Organisationsentwicklung der CAINCO, betont: „Wir begegnen Widerstand, ­indem wir Information transparent machen, den persönlichen Nutzen und die Vorteile für die Organisation kommunizieren, die ­Veränderungsvision teilen und dauerhaft eine für Veränderung offene Organisationskultur generieren.“ Als roter Faden ziehen sich Veränderungswunsch und Veränderungsfähigkeit durch das Entwicklungssystem der CAINCO. Mit Herzblut, Leidenschaft und Dynamik zeigt die CAINCO die rote Flagge.

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Akteure erfinden sich neu

Die CAINCO baut die Implementierung des integrierten ­Managementsystems auf der Förderung von eigenmotiviertem Engagement der Mitarbeiter auf. In wiederholten Abständen finden Workshops außerhalb der Büros zu Schlüsselthemen wie Führung, Teamarbeit, Kundenorientierung, Kreativität und Innovation für die gesamte Belegschaft in Form von ­lebendigem und emotionalem Lernen statt. Gemeinsame Feste, eine jährliche Befragung zur Mitarbeiterzufriedenheit, „einen Tag in die Haut eines/einer anderen schlüpfen“ schaffen einen Raum, in dem die Belegschaft gemeinsam Ideen und ver­änderte Haltungen entwickelt. Das umfassende Programm befähigt die Mitarbeiter dazu, die Zukunft nicht als Bedrohung, sondern als Herausforderung zu sehen. Manch eine/r fühlt sich fehl am Platz, unsicher, überwältigt vom Ausmaß der Veränderung. Die Lösung? Die Mitarbeiter/innen werden ernst genommen, sie werden angehört und ihre Leistung und ihre Initiativen werden anerkannt, Fragezeichen bleiben stehen, Zweifel werden ­akzeptiert. Das Gelbe vom Ei: Kontakt! Die gelbe Flagge der Kreativität, Offenheit und Kommunikation wird gehisst. Darüber hinaus basiert die Entwicklung der CAINCO auf ­einem Netzwerk von Kammern, Verbänden und Unternehmen – in einer Gesellschaft, in der ein Konzept strategischer Allianzen nicht verbreitet ist, weil (angebliches) Herrschaftswissen nicht preisgegeben wird. Die Einführung einer moderierten ­Beratung von Unternehmergruppen und der Know-HowTransfer an andere Wirtschaftsorganisationen im Land tragen beispielsweise zu dieser Netzwerkbildung bei.

Schließlich geht die CAINCO noch einen Schritt weiter und ­kümmert sich seit zwei Jahren im Rahmen sozialer unternehmerischer Verantwortung um die Kleinsten der Kleinen, die sogenannten Mikro-Unternehmer/innen. Sie hat sich auf die Fahnen geschrieben, soziale Einbeziehung zu unterstützen. An der Förderung einer Unternehmer-Kultur im Sinne eines schöpferischen und innovativen Unternehmertums wirkt sie durch Arbeit mit Abiturienten als Existenzgründer oder durch gezielte Weiterbildung von Kleinstunternehmen in städtischen Randbezirken mit. Hier sieht sich die CAINCO mit der ­Begrenzung der eigenen Ressourcen konfrontiert, mit geringer Wirkung unglaublich aufwändiger, punktueller Maßnahmen. Der Schlüssel? Die Kräfte des eigenen Personals bündeln, ­Verantwortung mit Unternehmen und anderen Kammern ­teilen, Ideen und Prozesse reifen lassen. Die CAINCO gibt grünes Licht für unkonventionelle Leistungen und für neue Zielgruppen. Sie zeigt die grüne Flagge der Fruchtbarkeit und der Hoffnung. Die drei strategischen Achsen – Managementinstrumente, Mitarbeiterintegration, soziale Verantwortung – stehen nicht nur miteinander in Wechselwirkung, sie weisen auch greifbare Ergebnisse vor. Zum Beispiel stieg die Mitgliederzahl der CAINCO zwischen 2006 und 2008 um acht Prozent; das ­Einkommen der Institution erhöhte sich im selben Zeitraum um etwa ein Drittel. Die Führungsposition unter den boli­ vianischen Unternehmensverbänden wird – wie Umfrage­ ergebnisse belegen – weiter ausgebaut. Fazit: Die CAINCO bewegt sich auf einem politisch, öko­ nomisch und sozial unsicheren Terrain und hat als kritisch ­beäugte Vertreterin des Unternehmenssektors in der aktuellen bolivianischen Regierungskonstellation wenig Handlungsspielraum. Sie meistert das, indem sie die Karten neu mischt, ins kalte Wasser springt, eigene Wege geht und Feuer fängt. Mit Leidenschaft, Kontakt und Hoffnung in der Herangehensweise und im Prozess – mit Inspiration zur Innovation!

Kleinstunternehmerinnen i  Workshop des Programms „Die Zukunft anführen“ o  Beate Heimberger, Jhg. 1967, Diplom-Volkswirtin, Bosch-Stipendiatin 1995/96 mit einem Projekt über die Altschuldenproblematik in Tschechien. Sie war 11 Jahre im Bereich International der Industrie- und Handels­ kammer Region Stuttgart als Referatsleiterin und Abteilungs­referentin ­tätig. Seit Anfang 2008 ist sie selbständige Unternehmerin in internationaler und interkultureller Wirtschafts- und Organisationsberatung.


Innovationen in der Entwicklungszusammenarbeit

Innovationen in aller Welt Vom Brunnenbohren zur Budgethilfe – Wie sich die Entwicklungshilfe zur Entwicklungszusammenarbeit weiterentwickelt hat. von Daniel Braun Brunnen werden zwar auch noch gebohrt, aber sie sind inzwischen die Ausnahme geworden. Wenn es um Projekte der Zusammen­ arbeit ­zwischen reicheren „Geberländern“ wie der Bundesrepublik Deutschland und ärmeren Ländern der Welt geht, deren Ent­ wicklung gefördert werden soll, haben dagegen innovative Ansätze Einzug gehalten. Schon seit den 90er Jahren verändert sich die Politik der reichen Länder gegenüber den Ärmeren – von einer Entwicklungshilfe, die zwischen Außenwirtschaftsförderung und Idealismus pendelte, hin zu einer modernen Entwicklungszusammenarbeit, die die geförderten Länder als Partner betrachtet und auch ­eigene Fehler der Vergangenheit ausräumt. 2005 haben bilaterale und multilaterale Hilfe-„Geber“ und die Entwicklungsländer als „Nehmer“ gemeinsam in der französischen Hauptstadt eine Zeitenwende eingeläutet – mit der sogenannten Paris-Erklärung zur Steigerung der entwicklungspolitischen Wirksamkeit. Darin verpflichten sich die Unterzeichner, so auch Deutschland, auf gemeinsame Ziele: Die Eigenverantwortung der Länder zu stärken, deren Entwicklung gefördert werden soll, eine größere gegenseitige Rechenschaftspflicht an den Tag zu legen und eine Harmonisierung von entsprechenden Verfahren und Zielsetzungen anzustreben. Um diese großen und gleichzeitig generell formulierten Ziele konkret umzusetzen, wurden neue Verfahren geschaffen. Diese stellen eine deutliche Innovation gegenüber der bisherigen Entwicklungshilfe dar. Schlagworte dieser neuen Ära sind etwa „PBA/Programm­ basierte Ansätze“ und „PGF/Programmorientierte Gemeinschafts­ finanzierung“. Hinter diesen Begriffsmonstren verbergen sich jedoch innovative Ideen: Generell – so die Idee der sogenannten Programmorientierung – soll die Entwicklungszusammenarbeit weg von Einzelprojekten unterschiedlicher Organisationen: Hier Wasserleitungen von der Kreditanstalt für Wiederaufbau, dort die Unterstützung eines dörflichen Gesundheitszentrums durch den Deutschen Entwicklungsdienst und in der Hauptstadt Regierungsberatung zur nationalen Armutsbekämpfung durch die Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit. Diese Einzelvorhaben werden nun in Abstimmung mit dem Partnerland zu sektoralen Programmen zusammengebunden. Diese Programme zwingen somit auch die verschiedenen Geberorganisationen zur stärkeren Koordinierung. Zu oft hatte man die Erfahrung gemacht, dass Einzelprojekte trotz großer Anstrengungen wie Tröpfchen aus dem Kopf einer Gieskanne kleinteilig und weiträumig ohne die erhoffte Wirkung

versickerten. Dagegen sollen nun umfassende Gesamtkonzepte – etwa für den Sektor Wasser in Burundi – entstehen und bewirken, dass alle Aktivitäten der verschiedenen Geber und Organisationen mit einem Ziel gemeinsam zusammenwirken – etwa der Erreichung des Millenniums-Entwicklungszieles zur Trinkwasser­ versorgung in Burundi. Einen Schritt weiter, bei der Programm­ orientierten Gemeinschaftsfinanzierung, sollen diese Programme oder Teile davon zudem auch von verschiedenen Gebern mit einem gemeinsamen Finanzierungsmechanismus getragen werden. Dies kann etwa der Schutz von großen Tropenwaldflächen sein oder die Dezentralisierung des politischen Systems. Aufgaben, die für einen einzelnen Geber nicht zu schultern wären. Höchste Ausprägung dieser innovativen, programmorientierten und gemeinschaftlich getragenen Entwicklungszusammen­ arbeit ist die allgemeine Budgetfinanzierung oder Budgethilfe. Hier zahlen die Geber – auf Basis von nationalen Strategien – direkt in das Budget des Partnerlandes ein. Die Regierung des Partnerlandes setzt dann die eigenen Entwicklungsstrategien mit Hilfe der Gebergelder selbst um oder kann Komponenten davon ausschreiben. Mit diesem Instrument überträgt man dem Partnerland die volle Verantwortung für seine Entwicklung. Die Budgethilfe stärkt das politische Verfahren einer Haushaltsaufstellung, -beratung und -umsetzung und harmoni­ siert gleichzeitig mit dem oft vielstimmigen Konzert der unterschiedlichen bilateralen und multilateralen Geber. Für die Partner­ regierung ist die Budgethilfe eine große Herausforderung, die jedoch für sie auch viele Vorteile bietet. Denn durch die vereinbarte Direkteinzahlung in das Budget wird für die Regierung ver­ lässlich kalkulierbar, wann sie wie viel Geld zur Verfügung hat, um ihre Entwicklungsziele anzugehen. Gleichzeitig tragen die Geber durch die Stärkung des Finanzmanagements dazu bei, dass das Partnerland in der Zukunft stärker auf eigenen finanziellen Beinen stehen kann – etwa dadurch, dass ein gerechtes und stabiles System für Steuereinnahmen geschaffen und umgesetzt wird. Wasser fuer die tägliche s

Hygiene in Nepal und im Äthiopischen Hochland

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Innovationen in der Entwicklungszusammenarbeit

Zugang zu Wasser über einen Familien-Brunnen i

in Burkina Faso (links) und über einen Dorf-Brunnen in Malawi (rechts)

So gut dies klingt, so hat dieses Verfahren doch auch Kritik auf den Plan gerufen. Eine oft geäußerte Befürchtung ist, dass Geldströme in undurchsichtigen Kanälen versickern, wenn man sie direkt in das Budget von Entwicklungsländern leiten würde. Zudem könnten diese Mittel – gerade in instabilen Ländern – missbräuchlich verwendet werden oder gar Despoten finanzieren. Hier haben die Geber jedoch vorgesorgt: Budgethilfe wird ­selektiv nur an bestimmte Länder vergeben, die wichtige Kriterien erfüllen und jeder Einzelfall wird geprüft – in Deutschland etwa durch den Haushaltsausschuss des Bundestages. Konditionen, wie transparente und effiziente Haushaltsführung, makro­ ökonomische Stabilität und gute Regierungsführung – einschließlich Menschenrechte, Demokratie und Einhaltung des Friedens – wurden aufgestellt, um eine Auswahl an fähigen und guten Partnerländern zu garantieren. In einem offenen Politikdialog zwischen Gebern und der Partnerregierung können zudem eventuell auftretende Differenzen ausgetragen werden. Falls die Vorgaben trotzdem nicht eingehalten werden, haben die Geber immer die Möglichkeit, die Auszahlung der Finanzhilfen zu verschieben oder sogar einzustellen. Auch einem anderen Argument ist gut zu begegnen: Einige ­politisch Verantwortliche vermissen gerade bei Reisen durch Partnerländer die eigenen Flaggen an den Schulbauten und Wasseraufbereitungsanlagen, die gemeinschaftlich finanziert wurden. Dass dabei auch Steuergelder der eigenen Bürger verwendet wurden, sei nicht mehr sichtbar, so der Vorwurf. Das stimmt. Doch ein System von Partnerschaftlichkeit und (Rück-)Übertragung von Verantwortung zählt mehr für die Lösung globaler Probleme wie Armut, als wenn an jedem „deutschen Brunnen“ auch das deutsche Logo angebracht wäre. Zumal die eigene Stimme im Geberkreis Gewicht hat und man so auch die (etwa von deutschen Steuerzahlern mitfinanzierten) Beiträge von EU und Weltbank mitdiskutieren kann.

All diese Innovationen der Entwicklungszusammenarbeit sind sicher nicht auf alle Länder anwendbar. In moderneren Staaten mit einem stabilen parlamentarischen System, einer reform­ bereiten Regierung und einer funktionierenden Verwaltung, wie etwa Ghana, lässt sich Budgethilfe umsetzen. Es ist aber kaum vorstellbar, dass man Staaten wie der Demokratischen Republik Kongo oder dem halbautonomen Palästina, in denen leider immer wieder gewaltsame Kämpfe ausbrechen, die ­Bürde einer direkten Budgethilfe zumuten kann. In solchen Staaten geht es viel eher darum, Aufbauhilfe zu leisten und die staat­ lichen Strukturen wieder so zu stärken, dass sie in der Zukunft für diese innovativen Ansätze bereit sind. Im Übrigen haben sich, mit den Innovationen bei den Mitteln der Entwicklungszusammenarbeit, auch die „Entwicklungs­ helfer“ verändert. Das Klischee des Sandalen-tragenden Einzelkämpfers in einem afrikanischen Dorf weicht zunehmend dem Bild des Finanzmanagers für große Entwicklungsfonds oder des Politikberaters, der auf höchster Ebene in den Ministerien der Partnerländer mithilft, Budgets aufzustellen oder inter­ nationale Initiativen umzusetzen. Die Entwicklungshelfer von heute arbeiten zumeist nicht mehr am Brunnen im „Feld“, ­sondern an den Quellen der Politik – im Sinne einer modernen und innovativen Kooperation. Und mit der Programmorientierung und der Budgethilfe erhält das gemeinsame Ziel der ­Armutsbekämpfung zusätzliche glaubwürdige und innovative Instrumente. Daniel Braun, Jhg. 1976, war während des zehnten Jahrgangs des Stiftungs­kollegs 2004/05 in Palästina und hat dort Rückschläge von Entwicklungsbemühungen live miterlebt. Seit drei Jahren arbeitet er im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) – erst als Nahostberater, jetzt als Länderreferent für die Demokratische Republik Kongo und Burundi.


Neues Konzept: Mikroversicherungen

„Guten Tag, Herr Kaiser! Sawubona Umnumzana Kaiser!“ Wie (Mikro-)Versicherungen durch innovative Geschäftsmodelle die Lebensbedingungen von Menschen in Entwicklungsländern verbessern. von Natalie Groos Bürger/in eines Entwicklungslandes? Arm? Analphabet/in? HIV-infiziert? Also „Unversicherbar“??? Keineswegs. Durch innovative Geschäftsideen und Technologien werden einst als „unversicherbar“ geltende Zielgruppen in Entwicklungsländern inzwischen mehr und mehr von Versicherern erschlossen. Gerade Menschen, die dicht an der Armutsgrenze leben, haben einen hohen Bedarf an Versicherungen, die auf ihre Bedürfnisse zu­ geschnitten sind. Sie sind ständig in Gefahr, durch unkalkulierbare Risiken wie Invalidität oder Tod des Hauptbrotverdieners, hohe Krankheitskosten, Verlust der Jahresernte oder des Dachs über dem Kopf, ihre Existenzgrundlage wieder zu verlieren. Da in den meisten Entwicklungsländern staatliche Sozialver­ sicherungssysteme fehlen oder diese nur Beschäftigte im formalen Sektor abdecken, stellen Mikroversicherungen, d. h. spezielle Versicherungsangebote für Haushalte mit niedrigem Ein­ kommen, oft die einzige Absicherungsmöglichkeit für die Menschen dar. Bislang hinkt das Angebot der Nachfrage jedoch noch stark hinterher. Zu den größten Herausforderungen für potentielle Anbieter gehören niedrige Bildung und geringe Zahlungsfähigkeit bei den Kunden, hohe Transaktionskosten für die Versicherer, sowie ungenügende gesetzliche Rahmen­ bedingungen.

Hilfe für die Ärmsten s  der Armen

Die Entwicklung innovativer Geschäftsmodelle und Versicherungsprodukte ist für Anbieter von Mikroversicherungen ein absolutes Muss. Von einer echten Innovation kann man aber nur dann sprechen, wenn diese einen Mehrwert schafft, d. h. Bedürfnisse befriedigt. Bedürfnisse sehen jedoch in jedem Kontext anders aus, und so gibt es neben den uns bekannten Lebensund Krankenversicherungen im Mikroversicherungsbereich auch eine Menge zunächst ungewöhnlich klingender Produkte, z. B. Begräbnis-, Ernte- und Viehversicherungen. Da auch langfristige Wirtschaftlichkeit ein wichtiges Kriterium für eine ­erfolgreiche Innovation darstellt, arbeiten Versicherer, um ihre Kosten niedriger zu halten, im Vertrieb oft mit Strukturen mit engen Verbindungen zur Zielgruppe zusammen, beispielsweise Mikrofinanzinstitutionen, Kirchen und Postämtern. Auch ­innovative Technologien wie Mobile Banking, wobei Versicherungsbeiträge über das Mobiltelefon gezahlt werden, spielen vor ­allem im ländlichen Raum eine immer größere Rolle. Mancherorts werden durch Innovationen sogar Dinge jenseits der Vorstellungskraft möglich, wie in Südafrika, wo 12 Prozent aller 15- bis 49-jährigen mit HIV infiziert sind. Hier befindet sich der Sitz von AllLife, ein kommerzielles Versicherungsunternehmen, das eine Lebensversicherung(!) für HIV-Infizierte anbietet. ­Besonders daran ist, dass Versicherte sich im Austausch verpflichten müssen, regelmäßig zu den ärztlichen Untersuchungen zu gehen und antiretrovirale Medikamente einzunehmen, ­wodurch sie viele Jahre mit der Krankheit leben können. Durch die kluge Anreizsetzung der Versicherung kann das Leben ­HIV-Positiver verbessert werden, gleichzeitig werden die ­Familien finanziell abgesichert. Wer hätte gedacht, dass es ­gelingen kann, kommerziell tragfähig eine Lebensversicherung für HIV-Infizierte in Südafrika anzubieten? Ein Beispiel wie dieses gibt Hoffnung, doch man darf nicht ­vergessen, dass bisher lediglich geschätzte 3 Prozent der Be­ völkerung in den 100 ärmsten Ländern über Versicherungen abgesichert sind. Es besteht ein riesiger Bedarf an der Replikation erfolg­reicher Modelle sowie an weiteren Innovationen, welche ­Bedürfnisorientierung und Wirtschaftlichkeit an einen Tisch bringen. Natalie Groos, Jhg. 1979, Betriebswirtin & Entwicklungsökonomin, ist Projektmanagerin bei der Kf W Entwicklungsbank und dort für Finanzsektorprojekte in Kambodscha, Vietnam, Laos, China und der Mongolei zuständig. Während ihres Kollegjahres 2006/07 beschäftigte sie sich in ihren Stationen bei Kf W, GTZ und Weltbank mit Mikroversicherungsprojekten u. a. in Indien, Kambodscha, Bangladesh, Uganda und Ruanda.

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Aktuelle Stipendiatin

Microfinance 2.0 – persönliche Mikrokreditvergabe über das Internet von Nina Cieslak Als ich an meinem ersten Tag in das lagerhallenartige Bürogebäude von Kiva in San Francisco trat, ahnte ich noch nicht, welch inno­ vative Kraft sich hier für das bekannte Thema Mikrokredite verbirgt. „Kann Microfinance von einem Internet Start-up in San Francisco wirklich ernstgenommen werden?“ fragte mich ein Kollege aus einer Enwicklungsbank. Nach meiner Stage im Rahmen des Stiftungs­ kollegs kann ich diese Frage nur bejahen. Mikrokredite über das Internet sind eine der größten Innovationen der letzten Jahre im Bereich Microfinance und bieten noch viel Potenzial für die Zukunft.

Ein Engagement ist heute generell schon ab einer Höhe von 25 US-Dollar möglich, größere Kreditbeträge werden entsprechend von mehreren Geldgebern finanziert. Kiva sammelt das Geld und überweist dieses an den lokalen Partner, ein Mikrofinanz­institut vor Ort, welches sich auch um die Aus­ zahlung des Kredites an den Kleinunternehmer und die Rückzahlung kümmert. Während der Laufzeit des Kredites in­ formieren kleine Berichte den Geldgeber über die Fortschritte des Kleinunternehmers und die Rückzahlung.

Raquel lebt in Puno, einer kleinen Stadt am Titicacasee in Peru. Die Armut ist hier allgegenwärtig. An einem Stand auf dem Zentral­markt verkauft sie gebrauchte Kleidung und versucht, mit dem Einkommen ihre drei Kinder mit dem Nötigsten zu versorgen.

Heute zählt die Kiva Homepage bis zu 60 000 Zugriffe am Tag. Die Besucher können aus einer Vielzahl von Profilen Klein­ unternehmer auswählen, die finanzielle Unterstützung für ihr Gewerbe in Form eines Kredites suchen. Dies kann eine Schneiderin aus Bulgarien, ein Bauer aus Mosambik oder eine Händlerin aus Nicaragua sein. Insgesamt konnten bisher mehr als 91 000 Kleinunternehmer mit Krediten in Höhe von ins­gesamt über 64 Millionen US-Dollar versorgt werden.

Raquel hat Glück. Ein Mikrokredit über 400 US-Dollar ­ermöglichte ihr, mehr Kleidung anzukaufen, ihren Stand zu ­vergrößern und somit die finanzielle Lage ihrer Familie deutlich zu verbessern. Geschichten, wie die von Raquel, sind spätestens seit der Ver­ leihung des Friedensnobelpreises an Muhamed Yunus und die Grameen Bank im Jahr 2006 allgemein bekannt. Doch der Mikrokredit von Raquel ist anders, neuartig. Das Geld für den Kredit stammt nämlich nicht wie üblich aus Mitteln von Entwicklungsbanken, Spenden oder vom Kapitalmarkt. Das Geld kommt von Karoline, einer Studentin aus Norwegen, über eine Internetplattform. Auf www.kiva.org hat sie die benötig­ ten 400 US-Dollar für den Kredit von Raquel zur Verfügung gestellt. Nach einem Jahr, wenn Raquel den Kredit zurück­ bezahlt hat, erhält auch Karoline ihr Geld zurück. Kiva ist eine not-for-profit Organisation aus San Francisco und Pionier der Mikrokreditvergabe über das Internet, des so genannten person-to-person-micrcolending (P2P microlending). Im Jahr 2004 startete Kiva mit einer handvoll Kreditnehmer, deren Profile auf der Internetseite veröffentlicht wurden, um Mittel von privaten Personen zur Finanzierung dieser Kredite ein­ zuwerben. Und das Konzept hat sich etabliert.

Das innovative Konzept von Kiva wurde jedoch anfangs von Entwicklungsbanken und anderen Mikrofinanzakteueren vor allem kritisch gesehen. Kiva vermittelt zwar das Geld der Kredit­ geber über die jeweiligen Mikrofinanzinstitute an die Klein­ unternehmer, die Zinsen für den Kredit gehen jedoch vollständig an das Mikrofinanzinstitut. Weder Kiva noch seine Nutzer ­erhalten einen Anteil an den Zinszahlungen. Kiva selbst finanziert sich seit Beginn aus Spenden von Unternehmen wie ­Microsoft oder Paypal und Stiftungen. Die meisten Geldgeber, die Mikro­ kredite über Kiva vergeben, verzichten aus sozialen Gründen zwar gerne auf Zinsen, das Modell wurde jedoch insgesamt aus diesen Gründen oft als nicht nachhaltig beurteilt. Doch Kiva wuchs beständig weiter. Ein Fernsehauftritt in der Talkshow von Oprah Winfrey machte Kiva in den USA über Nacht berühmt. Persönlichkeiten wie Bill Clinton und Maria Shriver, die Frau des kalifornischen Gouverneurs Schwarzenegger, setzen sich für Kiva ein. Und viele, gerade im Sillicon Valley, sind begeistert, dass Kiva nun jedem ermöglicht, Mikrokredite über das Internet zu vergeben.


Aktuelle Stipendiatin

Kreditnehmerin i

Das Modell ist so erfolgreich, dass es mittlerweile Nachahmer in den USA und auf der ganzen Welt gefunden hat. Auf Micro­ place, einer Tochter von eBay, können zwar keine einzelnen Kleinunternehmer ausgewählt werden, dafür werden im Gegen­ satz zu Kiva Zinsen auf den eingesetzten Betrag gezahlt. In einer aktuellen Studie hat vor kurzem nun auch die Weltbank dieses Potenzial anerkannt und sieht P2P Microlending als wichtige, zukünftige Refinanzierungsquelle für Mikro­ finanz­institute. Der Erfolg von P2P Microlending beruht vor allem auf der Tatsache, dass es bisher für die meisten Menschen schwierig bis ­unmöglich war, sich im Bereich Microfinance zu engagieren. Zwar wächst der Bereich der Social Responsible Investments (SRI), d. h. sozial nachhaltiger Finanzanlagen, aber Investments lohnen sich auf Grund hoher Minimumbeträge und Gebühren meist nur für vermögende Privatkunden.

Zum anderen ist Kiva durch die dahinterstehenden Privat­ personen flexibler als traditionelle Mikrofinanzakteure und kann auch kleinere, noch nicht profitable Mikrofinanzinstitute unterstützen und somit wichtige Aufbauarbeit leisten. Auch wenn es weiterhin Befürworter und Kritiker geben wird, hat sich P2P Microlending als ernstzunehmende Finanzierungsquelle für Mikrokredite etabliert und der Mikrofinanzlandschaft ein neues Gesicht gegeben. Raquel schließlich hat wie 98 Prozent der Kreditnehmer bei Kiva ihren Kredit zurückgezahlt und ist auf dem Weg aus der Armut einen großen Schritt weiter. Die 400 US-Dollar von Karoline gehen nun an Adi, einen Bauern in Tadschikistan, der das Geld in ­einen neuen, moderneren Pflug investieren will.

Im Rahmen des Stiftungskollegs beschäftige ich mich mit dem Thema „Microfinance – Ethik und Kommerzialisierung“. Mit der zunehmenden Professionalisierung von Mikrofinanz­instituten (Transformation in Bankinstitute, Profitabilität, Börsengänge etc.) und dem Eintritt von internationalen kommerziellen ­Banken in lokale Märkte, wachsen Befürchtungen, dass die ­Fokussierung auf arme Bevölkerungsgruppen und Armuts­ bekämpfung an Gewicht verlieren könnte. Mir erschien eine Stage bei Kiva aus zwei Gründen besonders interessant. Kiva hat zum einen den Weg eingeschlagen, keine Zinsen zu nehmen und so auch keine Zinsen an seine Nutzer auszuzahlen. Dies hat natürlich Kostenvorteile für den lokalen Partner, das Mikrofinanzinstitut vor Ort. So ist es möglich, entweder die Zinssätze für die Kleinunternehmer zu senken, ab­gelegene Regionen zu versorgen, für die sich ein Engagement des Mikrofinanzinstituts sonst nicht rechnen würde oder neue innovative Finanzdienstleistungen für arme Bevölkerungs­ gruppen zu entwickeln.

Nina A. Cieslak, Jhg. 1981, hat Philologie und BWL an der LMU München und UB Barcelona studiert. Nach zwei Jahren Arbeitserfahrung im Asset Management der Deutschen Bank bearbeitet sie nun das Thema „Micro­ finance – Ethik und Kommerzialisierung“ im Rahmen des Stiftungskollegs. Ihre Stagen absolvierte sie bisher in der Kf W Entwicklungsbank, Privatund Finanzsektorförderung Asien, in Frankfurt und bei Kiva Microfinance Funds in San Francisco. Weitere Stagen sind bei der Weltbank und einem Mikrofinanzinstitut vor Ort geplant.

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Social Business Konzept

Soziale Internetgemeinschaften schaffen eine neue Art des Spendensammelns von Corinna-Rosa Hacker Neue soziale Internetplattformen verändern die Spendenkultur Deutschlands und können insbesondere junge Geldgeber für sich gewinnen. Helfer können sich so mit Projektverantwort­ lichen vor Ort vernetzen und nicht nur Wissen und Erfahrung austauschen, sondern auch konkrete Projekte finanziell unterstützen. Damit zählen die digitalen Plattformen zu einem der innovativsten Bereichen der gemeinnützigen Zusammenarbeit. Malkreiden für die therapeutische Gruppenarbeit mit Kindern in Delhi, Nachtschränkchen für die Kinderstation eines Kranken­ hauses in Kenia, eine erste Skateboardschule in Kabul oder auch stromunabhängige Heizungen in Kirgistan. Clementine, Karl und Oskar haben sich online für die Kirgistan-Heizungen entschieden und unterstützen das Projekt bei seiner Finanzierung. Ausschlaggebend war für die Jungspender, dass die dortigen Schulkinder nicht nur im Winter im beheizten Klassenzimmer unterrichtet werden können sondern auch, dass eine junge ­Generation zu umweltfreundlichem Verhalten angehalten wird. Von zuhause aus beobachten sie am Computerbildschirm den Fortgang der Initiative vor Ort und sehen so, wie die Heiz­ körper in der Schule ein paar Wochen später aufgestellt und in Betrieb genommen werden. Die neuen sozialen Internetplattformen bieten für jeden Spendengeschmack etwas. www.betterplace.org – so nennt sich die erste in Deutschland gegründete soziale digitale Plattform, auf der sich die verschieden­ sten Hilfsorganisationen aus aller Welt mit bereitwilligen Geldgebern vernetzen können. Das Projekt hatte rasch Nachahmer gefunden, die Namen wie „elargio.de“, „wikando.de“, „gute-tat.de“ oder auch „weltretter.de“ tragen. Der Erfolg der sozialen Internetplattformen – allein „betterplace.org“ hatte im Jahr 2008 mehr als 300 000 Euro Spendeneinnahmen – basiert sicherlich auch auf dem Unicef-Spendenskandal, der im Jahr 2007 eine große Anzahl an Spendenwilligen verunsicherte und eine Reihe an Fragen aufwarf: Wie viel von dem gespendeten Geld erreicht die Hilfsbedürftigen wirklich? Welcher Anteil der Spende wird für Fundraising ausgegeben?

Frauenarbeit, Männer schauen zu, s

Wüste Thar an der Grenze zu Pakistan

Die digitalen sozialen Gemeinschaften haben gemein, dass sie eine neue Art des Spendensammelns in Deutschland etablieren. Geldgeber können sich auf direktem, interaktivem und verhältnismäßig transparentem Wege vom Erfolg ihres Spendeneinsatzes überzeugen. Es erlaubt den Hilfesuchenden aus der ganzen Welt, sich mit Spendenwilligen zu vernetzen. Die Internetplattformen rufen gerade auch jüngere Menschen dazu auf, „Weltretter“ zu werden, sich zu informieren und vor allem: Selbst aktiv zu werden. Die Internetgemeinschaft schließt sich zusammen, um mit kleinen Schritten großen Problemen der Gegenwart zu begegnen. Für Themen wie Hungersnot, ­Bildungsmangel, finanzieller und auch emotionaler Armut sowie Klimawandel können sich potentielle Spender rasch begeistern. Den sozialen Spendennetzwerken gelingt es, einen leichten Zugang für gemeinnützliches Engagement zu vermitteln. Auch den Hilfsbedürftigen auf der anderen Seite der Internetplattform gibt die Web 2.0 Technologie eine Stimme, die weltweit gehört werden kann. Gerade Verantwortlichen für mittlere bis kleinere Projekte fehlen regelmäßig entsprechende Multimediakenntnisse – im Zweifel sogar die gesamte Medieneinrichtung – um einen vergleichbaren Aufmerksamkeitseffekt durch Internetwerbung zu erzielen. Die digitalen Spenden­ gemeinschaften bieten nicht nur Internetmarketing, sondern auch den Zugriff auf ein großes Netzwerk an möglichen Geldgebern und die Möglichkeit eines Wissens- und Erfahrungsaustauschs zwischen den einzelnen Projektverantwortlichen. Diese Form des digitalen Aktivismus eröffnet neue Möglichkeiten für sozial engagierte Menschen. Auch für die gemeinnützigen Internetplattformen gilt die Regel, dass Transparenz Vertrauen schafft, und dass Vertrauen weitere Geldgeber generiert. Immer mehr soziale Plattformen legitimieren sich deshalb durch ein sogenanntes Web of Trust, der für die korrekte Verwendung der Spendengelder sorgt. Netzwerkmitglieder, die das Projekt vor Ort kennen, treten als Paten für die jeweilige Spendenverwendung auf und garantieren den sicheren Spendeneinsatz. Der Großteil der Hilfsportale ist zudem bereits dazu übergegangen, mit Photos, Videos und Erfahrungsberichten vom Erfolg des Spendeneinsatzes zu berichten. Spender können so direkt die Umsetzung des Hilfsprojekts ­verfolgen und diese desöfteren sogar digital kommentieren, ­unterstützen und bewerten.


Social Business Konzept

Straßenkinder in Rajastan i

Die Neuentwicklung auf dem Spendenmarkt ist ein positives Signal, welches nicht nur auf Deutschland bezogen ist. Sie lässt den Schluss zu, dass die deutsche Spenderszene am Anfang ­eines größeren Wandels steht. Das Spendenvolumen der Deutschen wird auf jährlich 4 Milliarden Euro beziffert. Um diesen ­Spendenberg buhlen die „klassischen“ Hilfsorganisationen nun mit den neuen sozialen Internetplattformen, die all das Potential besitzen, ihre Spendenkundschaft weiter auszubauen. ­Gerade durch die digitale Internetgemeinschaft werden jüngere Spender mehr als je zuvor angesprochen. Ob es sich hierbei ­tatsächlich um neue Spendenkanäle handelt oder ob nicht ­vielmehr klassische Einrichtungen Spender verlieren werden, wird sich allerdings erst in der Zukunft zeigen.

Der Markt der digitalen Hilfsportale wird sich langfristig ­konsolidieren. Nur der stärkste Marktteilnehmer wird über­ leben. Die digitalen „Weltretter“ machen sich heute schon große Konkurrenz. Die erste Fusion mit „helpedia.org“ und „elargio.de“ fand bereits statt. Der Macht des Internets als Massenkommunikationsmedium kann sich niemand mehr entziehen. Auch der Non-Profit Bereich hat hier nun endlich sein Potential ­erkannt (siehe hierzu auch den Artikel von Nina Cieslak in dieser Ausgabe). Viele Internetplattformen lassen sich ihren Verwaltungsaufwand durch Werbeträger wie „paypal“ oder „Immobilienscout“ finanzieren. Deren Inhaber können somit richtigerweise als Social Entrepreneurs bezeichnet werden. Sie schaffen eine win-win-Situation: Sie verändern die Welt im positiven und holen sich durch Werbeeinträge ihre Gehaltszahlung herbei. Auch die ehrenamtlich Handelnden können ihrer Eitelkeit freien Lauf lassen und sich im Internet mit der sozialen Feder schmücken. Nur ein kleiner Teil der Internet­ aktivisten ist rein altruistisch tätig. Aber ist dieses win-winModell wirklich zu kritisieren? Letztlich dient es ja der Er­ füllung eines sozialen Zweckes.

Straßenkinderheime helfen benachteiligten Kindern f

und ­Jugendlichen; sie geben ihnen eine Stimme, um gehört zu ­werden und ihre Lage nachhaltig zu ändern.

Dr. Corinna-Rosa Hacker, Jhg. 1977, ist Rechtsanwältin und unterstützte im Jahr 2006 als Carlo-Schmid-Stipendiatin das UN World Water Assessment Programm bei der UNESCO. Nach ihrer Tätigkeit bei der Deutschen Bank ist sie gegenwärtig für die Munich Re Company tätig. Gemeinsam mit Freunden gründete sie www.stella-finance.org, ein international operierender Verein, der Menschen, die keinen Zugang auf Bildung haben, eine Chance auf ein anderes Leben gibt.

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Das Heft n채chste Heft erscheint am 01/09/2007 6 erscheint im Herbst 2009

Thema: Europa und die Ergebnisse der deutschen Ratspr채sidentschaft


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