ad hoc 7: Happy Birthday ?!?

Page 1

Heft 7: Juli 2010

ad hoc international Happy Birthday?!? 50 Jahre Unabhängigkeit in Afrika „Was Afrikas Unabhängigkeit bedeutet“ – Interview mit Prof. Nour ­(Seite 2) Reformprozesse in Mali: Das Volk muss entscheiden (Seite 5) Kongo – Unabhängigkeit ohne Selbstständigkeit? (Seite 6) Somalia: Ein Kontinent lernt Demokratie (Seite 12) Afrikanische Innovation: Handys als elektronische Geldbörsen (Seite 13) Auf dem Weg nach Europa – Gestrandet im Niemandsland (Seite 17)


4

Impressum Social Business Konzept

ad hoc international Zeitschrift des Netzwerks für Internationale Aufgaben – Stiftungskolleg und Mercator Kolleg Alumni e. V. (NefiA) und des CSP-Netzwerks für Internationale Politik und Zusammenarbeit e. V., erscheint halbjährlich. Titelbild: Lesende Frau am Brunnen, aufgenommen in N‘sele, Demokratische Republik Kongo; Foto: Florence Poppe Bildnachweis: Nils Barnickel (Seite 2); Daniel Braun (Seiten 7, 9); Daphne Büllesbach (Seiten 17–18); Hanhil, Nederlandstalige Wikipedia (Seite 8); Johanna Havemann (Seite 2); Arne Hoffmann (Seite 20); Humanitarian and Development Partnership Team in the Central African Republic (Seiten 17–18); Anne Knauer (Seiten 4–5, 14); Noa Kumpf (Seiten 10–11); Johanna Mantel (Seite 12); Jan Ortgies (Seiten 13, 19); Florence Poppe (Seiten 6, 7, 14); Water.org (Seite 15, 16); Katharina Welle (Seite 1); www.shine2010.co.za (Seite 21) Herausgeber: Netzwerk für Internationale Aufgaben – Stiftungskolleg und Mercator Kolleg Alumni e. V. Senefelderstraße 28, 10437 Berlin, Telefon +49 (0)30 31102298, Fax +49 (0)30 31016229 info@nefia.org, www.nefia.org CSP-Netzwerk für internationale Politik und Zusammenarbeit e. V. Schillerstraße 57, 10627 Berlin, Telefon +49 1212 580170985, www.csp-network.org Redaktion: Amelie Hinz (Projektleitung), Stephanie von Hayek, Christina Hübers, Else Engel, Benjamin Krug, Sabine Kloss-Tullius, Constanze Schimmel, Martina Vatterodt, Zacharias Ziegelhoefer, Anne Knauer, Julia Schad, Julia Pohle, Daniel Maier, Friederike Kärcher Autorinnen und Autoren: Daniel Braun, Daphne Büllesbach, Feline Freier, Martin Hofmann, Anne Knauer, Noa Kumpf, Johanna Mantel, Sabine Schulze, Dr. Leonie von Braun, Stephanie von Hayek und Else Engel (Interview) Die Beiträge spiegeln die persönliche Meinung der Autorinnen und Autoren wider. Idee: Ines Wolfslast Gestaltung: Ungermeyer, grafische Angelegenheiten Druck: Herforder Druckcenter Danksagung: Diese Publikation wurde von der Stiftung Mercator GmbH gefördert.

Netzwerk für internationale Aufgaben Stiftungskolleg und Mercator Kolleg Alumni e. V.


Editorial

Liebe Leserinnen und Leser! in diesem Jahr rückt ein Kontinent ins Zentrum der medialen Aufmerksamkeit, der ansonsten in der schnellen, globalisierten Welt ins Abseits gedrängt wird: Afrika! Doch Afrika 2010 hat mehr zu bieten als die laute und bunte Fußballweltmeisterschaft am Kap. Vor 50 Jahren, im ‚afrika­ nischen Jahr‘ 1960, lösten sich in einer Welle 17 afrikanische Staaten von den europäischen Kolonialmächten. Sie waren weder die ersten freien Staaten Afrikas, noch die letzten. Doch bleibt 1960 aufgrund der Vielzahl an Ländern das Schlüsseljahr der afrikanischen Unabhängigkeit. Grund genug dem afrikanischen Kontinent diese ad hoc international Ausgabe zu widmen! Im Zuge der globalen politischen Neuordnung nach 1945 wuchs der Druck auf die alten Kolonialmächte, deren Bedeutung im­ mer geringer wurde. Die neuen Supermächte hingegen waren ­bestrebt, die kolonialen Bande und Ketten aufzubrechen und ­eigene Allianzen zu schmieden. Auch innerhalb der Kolonien wuchs die Ablehnung des erdrückenden Systems und die Men­ schen forderten Anerkennung und Unabhängigkeit. Der De­ kolonialisierungsprozess wurde begleitet von Gewalt und ­Kriegen, die teilweise in veränderter Form bis heute andauern. Aber dieser Prozess öffnete auch Fenster der Möglichkeiten. Aus verschiedenen Perspektiven blicken die ad hoc Autoren, (fast alle) ehemalige und aktuelle Stipendiatinnen und Stipen­ diaten, durch diese Fenster und berichten von ihren persönlichen Einblicken. Sie nehmen den Leser mit in die malische Provinz, das von Vuvuzelas beschallte Sportstadium in Soweto, an die neue Paradestraße in Kinshasa und ins Kriegsgebiet im Ost­ kongo, dessen Rohstoffsegen mehr Leid als Wohlstand bringt.

Sie stellen uns Taxifahrer in Kairo vor, die eigentlich Anwälte sind und spiegeln die Entwicklung der ägyptischen Judikative ­wider an der Geschichte von internen und externen Machtein­ flüssen. Der Einblick in die Situation ‚gestrandeter‘ subsaha­ rischer Flüchtlinge und Migranten an Europas Außengrenzen bedrückt und weckt Fragen. Die Beiträge verbinden oftmals Vergangenheit und Gegenwart. Sie benennen einige der Herausforderungen und Hürden auf dem Weg der Demokratisierung, Friedens- und Staatsentwick­ lung hin zu mehr faktischer Selbständigkeit. Sie zeigen uns, wie afrikanische Innovationskraft, ob im Mobilfunksektor oder der Wasser- und Ressourcengovernance, auch mal Europa überholen kann! Und sie diskutieren welche entwicklungs- und sicher­ heitspolitischen Beiträge von Deutschland und Europa geleistet werden und werden könnten. Der bekannte Dreiklang von Krisen, Kriege, Korruption ist Teil der Lebensrealität in vielen afrikanischen Ländern, genauso wie Innovations- und Improvisationskraft, Lebensfreude und ­Reformprozesse: das lassen die Artikel erkennen. Über Afrika schreibt der berühmte polnische Journalist Ryszard Kapuscinski: „Dieser Kontinent ist zu groß, als dass man ihn beschreiben könnte. (…) Afrika, das sind Tausende von Situationen. Verschie­ denste, unterschiedlichste, völlig gegensätzliche Situationen.“ Diesen Facettenreichtum an Ländern, Kulturen, historischen ­Erfahrungen, Herausforderungen, Ideen, Menschen und Be­ gegnungen möchten wir mit unserer Afrika-Ausgabe skizzieren. Mein Dank gilt all denen, die so engagiert und tatkräftig diese Ausgabe der ad hoc international mitgestaltet haben!

Viel Vergnügen beim Lesen wünscht Amelie Hinz

Great Ethiopian Run p

1


2

Interview

„Mobutu ist gestorben, aber seine ‚Söhne‘ sind da“ Was Afrikas Unabhängigkeit bedeutet

Ad hoc international sprach mit Professor Salua Nour über die Feierlichkeiten zur 50jährigen Unabhängigkeit Afrikas. Über o­ ffizielle Diskurse, die Realität für die Menschen in Afrika und berufliche Optionen für junge Idealisten. Die Politologin Salua Nour wurde 1944 in Kairo geboren. Mit 18 ging sie nach Deutschland, um dort zu studieren. Sie arbeitete für die Friedrich-NaumannStiftung und die GTZ im Kongo, in Benin und in Sierra Leone. Im Sommer 2008 leitete sie an der FU Berlin das Seminar: Has ­Africa been decolonized? ad hoc: Frau Professor Nour, wer feiert heute in Afrika? Prof. Nour: Angestoßen werden die Feierlichkeiten von ­offizieller Seite. 1960 erhielten insbesondere die französischen Kolonien ihre Unabhängigkeit. Aber alle afrikanischen ­Staaten können heute den Status der formalen Unabhängigkeit ­feiern. Zwischen 1960 und 1966 haben sich 46 von 54 Ländern ­unabhängig erklärt. ad hoc: Wie war die Stimmung 1960 im Vergleich zu 2010? Prof. Nour: 1960 war symbolträchtig. Damals haben die führenden Kräfte die Bevölkerung mit Enthusiasmus in das politische Geschehen eingebunden. Es hieß: Wir kämpfen ­gegen den Kolonialismus. Hoffnungen wurden geweckt. Aber­ tausende wurden mobilisiert. Dieser antikoloniale Kampf war wie eine Energie. 50 Jahre danach hat die Bevölkerung längst gemerkt, dass diese Unabhängigkeitsprozesse nicht zu dem geführt haben, was versprochen wurde. ad hoc: Senegal hat eine immense Statue für die Feierlichkeiten anfertigen lassen. Prof. Nour: Das sind Formen der Phantasielosigkeit und Macht. Die Statue, eine nackte Frau, kostete 27 Millionen Dollar und wurde in Korea gefertigt für eine Gesellschaft, in der Frauen sich bedecken müssen. Es ist das größte Symbol für die absolute Trennung der Welt der Herrschenden von der der Bevölkerung.

f Die neue Mega-Statue im Senegal

ad hoc: Wie gestaltete sich der Übergang vom kolonialen zum nachkolonialen Staat? Prof. Nour: In der nachkolonialen Zeit entstanden in den ­afrikanischen Ländern Klassenverhältnisse. Die Machthaber kontrollierten nationale Ressourcen und die Militärgewalt. Sie führten die Funktion des kolonialen Staates weiter, das ­bedeutete, sie marginalisierten und instrumentalisierten die Be­völkerung. Da keine Opposition aus der Gesellschaft kam, war das eine Entfesselung von Machtgebärden.

„Zwischen 1960 und 1966 haben sich 46 von 54 Ländern unabhängig erklärt.“ ad hoc: Ist Afrika dekolonialisiert? Prof. Nour: Nein. Der offizielle Diskurs seit 50 Jahren sieht so aus: Afrika ist formal unabhängig, also muss sich etwas ge­ ändert haben. Das ist die Sprache innerhalb der internationalen Gemeinschaft und der Entwicklungsländer. Die Realität ist ­etwas anderes. ad hoc: Sie ist gleich geblieben? Prof. Nour: Total! Der einzige Unterschied zum kolonialen Verhältnis ist, dass der Kolonialstaat mit seinem Ausbeutungs­ system jemanden zum Nutzen gereichte. Die ausgebeuteten Reichtümer wurden in geordneter Weise in die Mutterländer transferiert. Dort dienten sie der Akkumulation, der Ent­ wicklung von Technologie und dem Wachstum. Der nach­ koloniale Staat übt die gleiche Form der Ausbeutung aus, die Ressourcen gereichen aber niemanden zum Nutzen. Sie werden auf ­Schweizer Banken transferiert, konsumiert, vernichtet.


Interview

ad hoc: Wie sehen die politischen Strukturen heute aus? Prof. Nour: Seit dem Fall der Mauer und der Wandlung des internationalen Systems haben die afrikanischen Eliten gelernt, mit den Instrumentarien des Westens umzugehen. Die heutigen demokratischen Strukturen, Parlament und Wahlen haben mit Demokratie nach westlichem Verständnis aber nichts zu tun. ad hoc: Geben Sie uns ein Beispiel. Prof. Nour: Über den Kongo hat man gesagt, er sei Ursprung aller Katastrophen in der Region der großen Seen. Nach Vor­ stellung der internationalen Gemeinschaft müsste der Kongo in vier Teile geteilt und entwaffnet werden. Die Ordnungskraft in den großen Seen sei Ruanda, dem man Einfluss auf Ost­ kongo gibt. Dann veranstaltete man Wahlen. Man hat euro­ päische Truppen hingeschickt, um zu kontrollieren. Ein Parla­ ment entstand. Aber es hat sich nichts geändert. Schauen Sie sich die wirtschaftlichen und politischen Strukturen an, die Korruption bis hin zu den Namen der Vertreter im Parlament. Das ist die gleiche Clique. Mobutu ist gestorben, aber seine „Söhne“ sind da. Dann gibt es wieder Wahlen und 20 Millionen Euro Hilfe von Europa. Wenn die Bevölkerung Widerstand leisten möchte, bleibt ihr nur Gewalt. ad hoc: Sie sagen, dass für die Menschen die Unabhängigkeit ­faktisch keinen Unterschied bedeutet? Prof. Nour: Ghana und Botswana sind Ausnahmen. Ruanda präsentiert man als Erfolgsgeschichte. Sie sind auf dem doing business index der Weltbank innerhalb von zwei Jahren von Platz 150 auf Platz 67 geklettert. Man schaut bei Ruanda nicht auf was dahinter passiert. Man ist pro-Ruanda wegen des Völkermordes von 1994. Egal, ob Ruanda den Ostkongo illegal besetzt, man sagt, das geht uns nichts an, Ruanda ist der größte Exporteur von Diamanten auf dem Weltmarkt, aber sie haben kein Milligramm Diamanten. Das kommt aus dem Ostkongo. ad hoc: Braucht Afrika Entwicklungshilfe, um der Armut zu entkommen oder müssen die afrikanischen Eliten, wie es der ehemalige Botschafter Volker Seitz formuliert „ihr Land endlich selbst in die Hand nehmen?“ Prof. Nour: Die Aussage von Seitz ist nicht zu akzeptieren. ­Erstens, weil sie utopisch ist. Er denkt logisch: Entwicklungs­ hilfe geht immer an die herrschende Klasse und die verwenden das für sich, also stoppen wir das. Aber er hat nicht untersucht, welche Funktion die Entwicklungshilfe für Industrieländer und deren Partner hat. Ein solcher Vorschlag würde massive politische und strukturelle Umwälzungen weltweit voraussetzen. Zweitens ist Afrika auf die brutalste und viehischste Art aus­ gebeutet worden. Man kann postkolonial denken wie man will, zurück zu den Zuständen in Afrika des 17. Jahrhunderts

kann man nicht. Afrika ist Bestandteil der modernen Welt und sie brauchen viele Ressourcen, um das zu kompensieren, was verloren gegangen ist. Afrika kann kein Kapital akkumulieren und aus der Not heraus kommen, wenn es kein Kapital hat. ad hoc: Sie waren in Afrika, was ist ihre Empfehlung? Prof. Nour: Sie wollen eine leichte Formel. Warum gibt man Entwicklungshilfe an die Politik? Die fressen 80 % oder 90 % und der Rest wird konsumiert. Entwicklungshilfe darf nicht mehr an die herrschende Klasse gehen, sondern an die organi­sierte Bevölkerung und den Privatsektor. Dorthin, wo sich ­Menschen durch ihre Aktion selbst aus der Not heraus helfen können. Die Millenniumentwicklungsziele der UN sind nicht nachhaltig, sondern wie ein Trostpflaster auf ein Krebs­geschwür.

„Die Millenniumentwicklungsziele der UN sind nicht nachhaltig, sondern wie ein Trostpflaster auf ein Krebs­geschwür.“ ad hoc: Und die Pflaster gehen irgendwann aus? Prof. Nour: Der Mechanismus müsste jedem klar sein: Sie ­erreichen ein permanentes Funktionieren nur, wenn die Wirt­ schaft der Länder funktioniert und Steuern generiert. Warum gibt die internationale Gebergemeinschaft ihr Geld nicht an den Wirtschaftssektor? Das ist zu verstehen, wenn Sie die ­Rationalität des internationalen, kapitalistischen Systems be­ greifen. Hier geht es um Konkurrenz. Man baut sich nicht seine eigene Konkurrenz auf, man vernichtet sie. ad hoc: Das heißt die Funktion Afrikas in der Vor- und der Nachkolonialzeit ist gleich geblieben? Prof. Nour: Ja, Afrikas Rolle im internationalen Wirtschafts­ system ist es, Rohstoffe zu liefern und einen Absatzmarkt für Industriegüter abzugeben. Europa subventioniert seine Agrar­ produkte. Diese sind dann sehr viel billiger als alles, was Afrika produzieren kann. Das ist das Ende jeden Wirtschaftens. Afrika hat keine Grundlage für eine Reproduktion und Erweiterung der Ressourcen über den Anschluss an den Weltmarkt. Afrika wurde abgehängt. ad hoc: Führt die Fußballweltmeisterschaft zu einem „kick of change“ in Afrika? Prof. Nour: Die WM ist eine punktuelle Veranstaltung. Sie wird keine Entwicklungsmaschinerie in Südafrika auslösen. Fuß­ball findet auf der Symbolebene statt. Millionen von ­Menschen begeistern sich. Aber mit der Realität in Südafrika hat das nichts zu tun. p

3


4

Interview

ad hoc: Viele Stipendiaten des Mercator Kollegs und des ­Carlo-Schmidt-Programms gehen nach Afrika mit der GTZ oder der Weltbank. Was raten Sie jungen idealistischen ­Menschen, die etwas verändern möchten? Prof. Nour: Es gibt zwei Optionen. Erstens: Auf der Diskurs­ ebene bleiben und sagen, es hat schon seine Ordnung und ich kann nicht viel machen. Zweitens: Radikales Ablehnen von Bestehendem. Das empfehle ich nicht. Meine Empfehlung ist: Ich gehe in dieses System im Rahmen einer Institution wie der GTZ und nutzte die Handlungsspielräume. Diese sind in der Regel für das Individuum sehr viel größer, als man gemeinhin annimmt oder als man sich zutraut. Ich konnte in der Praxis viel durchsetzen indem ich auch oft nein gesagt habe.

ad hoc: Es braucht also Mut zu widersprechen? Prof. Nour: Ja, ein Verständnis der eigenen Rolle. In dem Mo­ ment, wo man ein Gehaltsempfänger wird, bedeutet das nicht, dass man ein Sklave auf intellektueller Ebene geworden ist, sondern man hat das Recht zu denken und Fragen zu stellen.

Stephanie von Hayek, Jg. 1971, ist Politologin und arbeitet als selbständige

Else Engel, Jg. 1980, hat Geographie und Geschichte studiert und einen

Politikberaterin und Journalistin in Potsdam. Vorher hat sie u. a. vier Jahre

Aufbaustudiengang in Kinderrechten abgeschlossen. 2006/07 war sie

als Referentin für die Versammlung der Regionen in Straßburg gearbeitet.

­Carlo-Schmid Stipendiatin bei der UNESCO in Paris. In den vergangenen

Sie war 2000/01 Stiftungskollegiatin und verbrachte ihr Jahr beim United

Jahren hat sie für verschiedene Menschenrechtsorganisationen, darunter

Nations Office for Project Services in New York und bei der Weltbank-

Amnesty International und Human Rights Watch, und eine Stiftung

Gruppe in Washington D.C.

­g earbeitet.

ad hoc: Frau Professor Nour, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Das Interview führten Else Engel und Stephanie von Hayek.

d Mit großem Interesse beteiligen sich die Bürger Bandiagaras in Mali am Tag der offenen Tür des Rathauses


Mali

Demokratisierung und Dezentralisierung in Mali: Zwischen Bilderbuch und Stolpersteinen von Anne Knauer Sonntagnachmittag in der malischen Provinz. Heiße Luft wabert über staubigem Sand. Im Schatten der Lehmhäuser zucken Esel träge mit den Ohren. Aber im kleinen Rathaus der städtischen Gemeinde Bandiagara ist einiges los. Es ist Tag der offenen Tür. Stände und Poster erklären das Funktionieren des Rathauses und illustrieren den partizipativ erarbeiteten Entwicklungs­ plan der Kommune. Sie erläutern wie man seine Steuern be­ zahlt, eine Hochzeit anmeldet oder sich als Wähler registriert. Eine Schülergruppe diskutiert aufgeregt die Antworten für das Gewinnspiel über Staatsbürgerkunde. Der Bürgermeister be­ trachtet das Treiben zufrieden. Gelebte Demokratie wie aus dem Bilderbuch. Am 22. September 2010 feiert die Republik ihre 50-jährige ­Unabhängigkeit von der französischen Kolonialmacht. Malis Demokratie ist hingegen viel jünger. Erst im Frühjahr 1992 führte der heutige Präsident Amadou Toumani Touré, der das Militärregime des Moussa Traoré zu Sturz brachte, ein demo­ kratisches Regierungssystem ein. Um politische Mitbestim­ mung auf die lokale Ebene zu verlagern, ist die Dezentralisierung des Staates ein zentrales Anliegen des Demokratisierungs­ prozesses. Trotz seiner bitteren Armut gilt Mali daher als eine Vorzeigedemokratie Westafrikas. So weit die Theorie. Nach fast 20 Jahren Demokratie und ­Dezentralisierungsbemühungen scheint jedoch das Bewusst­ sein für politische Meinungsbildung und Mitbestimmung zu­ mindest noch teilweise in den Kinderschuhen festzustecken. Die extrem niedrige Wahlbeteiligung – bei den letzten Präsi­ dentschafts- und Parlamentswahlen waren es 30 % – weisen in diese Richtung. Boubacar Diarra, Koordinator eines Netzwerks zivilgesellschaftlicher Organisationen, beschreibt, dass auch viele lokale Amtsinhaber noch kein Bewusstsein für die Grundprin­ zipien eines demokratischen, dezentralen Staates entwickelt

haben: „Die Gouverneure der Kreise beispielsweise halten ­diese für ihren Besitz. Sie verstehen sich als ,Hausherr‘, begreifen aber nicht, dass sie eigentlich nur der Verwalter, das Volk jedoch der Besitzer und somit der Herr des Hauses ist. Sie wollen keinerlei Kontrolle abgeben. Hier ist es Aufgabe der Zivilgesellschaft ein Gegengewicht darzustellen.“ Doch bei dieser hat das repressive Regime unter Moussa Traoré seine Spuren hinterlassen. Viele Menschen scheuen sich noch immer Autoritätspersonen zu kritisieren. Dies hemmt die Kom­ munikation zwischen Zivilgesellschaft, den lokalen Repräsen­ tanten in den verschiedenen Ebenen und der Regierung und verhindert so die Ausübung gegenseitiger demokratischer Kon­ trolle. Politische Versprechen werden daher selten systematisch mit der Realität abgeglichen. Dies gilt besonders für die länd­ liche Bevölkerung, die oft wenig Zugang zu Informationen poli­tischer Meinungsbildung hat und bei der die Rate der ­An­alphabeten besonders hoch ist. Respekt vor traditionellen ­Autori­täten und soziale Bindungen sind im ländlichen Raum meist stärker als das Verlangen nach transparenter Lokalpolitik und freier politischer Meinungsäußerung. Die geschaffenen dezentralen Strukturen sind demnach nur ein Forum zur bürgerlichen Mitbestimmung. Die Herausbildung einer staatsbürgerlich aufgeklärten und engagierten Gesellschaft ist jedoch zugleich Schlüssel und größte Herausfor­derung für Malis Demokratisierung und Dezentralisierung. Diarra fasst es passend zusammen: „Ein Dorfchef hat mir sein Verständnis von Dezentralisierung einmal so erklärt: Wir müssen uns ­zusammentun, dieses Konstrukt auf unseren Kopf ­setzen und anfangen in die richtige Richtung zu gehen. Will heißen: der Staat kann nur die Bedingungen schaffen, den Weg muss das Volk alleine bestimmen und gehen.“ Die Gemeinde Bandiagara hat sich schon erfolgreich auf den Weg gemacht.

Anne Knauer, Jg. 1984, ist Juniorberaterin für Öffentlichkeitsarbeit und Wissensmanagement beim Deutschen Entwicklungsdienst in Mali. 2007/08 war sie als Stipendiatin des Carlo-Schmid-Programms bei UNDP.

5


6

DR Kongo

Kongo – Unabhängigkeit ohne Selbstständigkeit? von Daniel Braun Der „Boulevard des 30. Juni“ in Kinshasa, Hauptstadt der ­Demokratischen Republik Kongo, erfindet sich seit Anfang 2010 neu. Bauarbeiter verwandeln die früher lauschig-grüne Meile zu einer massiv-grauen Stadtautobahn. Sie fällen die teil­ weise 100 Jahre alten Bäume und schattenspendenden Palmen, einst Markenzeichen der zentralen Verkehrs- und Lebensader. An Kreuzungen und Häusern entlang des Boulevards prangen mehrere Meter hohe Transparente. Sie zeigen Präsident Kabila mit geplanten Prestigeprojekten wie einem neuen Konferenz­ zentrum oder einem modernisierten Flughafen. Der Boulevard soll Symbol einer neuen Dynamik sein, die die politische Elite des Kongo demonstrieren will: Seht her, das größte Land Zentral­afrikas ist stark, modern, selbstständig! Zum Jahrestag der 50-jährigen Unabhängigkeit am 30. Juni wird der Boule­ vard dann Bühne dieser Demonstration – mit einer Parade unter Anwesenheit hoher Staatsgäste sowie 50 extra für diesen Anlass aus der Ukraine bestellten Panzern, die für ein Land mit ­weitgehend straßenlosen Tropenwald-Flächen ansonsten recht wertlos sind. Doch schon jetzt zeigen sich tiefe Rillen und Risse im eben neu aufgetragenen Asphalt. Schwere Lastwagen nutzen ausgiebig die nun breite Straße und hinterlassen immer tiefer werdende Fahrspuren. Auch das Leben rund um den Boulevard hat sich verändert: War er früher, dank zäh fließendem Verkehr, ein ­Paradies für fliegende Händler und Autoputzkolonnen, so ist er heute, wegen übermütiger Autofahrer, überfordert mit der nun möglichen Geschwindigkeit, eine Gefahrenzone für Fuß­ gänger. „Und das absurdeste sind diese neu aufgebrachten ­Zebrastreifen“, meint ein Taxifahrer, als er selbst mit hoher ­Geschwindigkeit die frühere Flaniermeile hinunter rast. Die Taxifahrer waren es auch, die den nun angewachsenen Verkehr der Hauptstadt teilweise wieder zum Erliegen brachten und deutlich machten, dass sich nicht nur im Asphalt, sondern auch in der sozialen Struktur des Landes Risse zeigen. Im Mai ­blockierten sie den Boulevard und seine Ausfallstraßen. Sie ­waren es leid, so hörte man von ihnen, ständig von korrupten Polizisten willkürlich aufgehalten und um ihre Einnahmen ­gebracht zu werden.

Die inneren Brüche, die auf Schwachstellen in der Struktur des Landes wie Korruption und Unsicherheit hindeuten und der gleichzeitige Wille der Politiker, Stärke zu zeigen, haben Ur­ sachen, die in kollektiven, oft gewaltsamen Erlebnissen liegen, die das Land vor und nach seiner formalen Unabhängigkeit ­erleben musste. Statt selbsttragende Strukturen aufzubauen, wurden diese zerstört. Meist waren externe Kräfte beteiligt. Bereits die portugiesischen „Entdecker“ des Gebiets zwischen Afrikanischem Graben und Atlantik zerschlugen Ende des 17. Jahrhunderts die dort existierenden, gut funktionierenden Königreiche. Die von Reichskanzler Bismarck 1884/1885 aus­ gerichtete „Berliner Kongo-Konferenz“ führte dazu, dass der belgische König Leopold II. das Gebiet entlang des Kongo­ flusses zu seinem Privatbesitz erklärte. Die Kolonialmächte ­teilten den restlichen afrikanischen Kontinent unter sich auf. In „Belgisch-Kongo“ errichteten die Kolonialherrscher ein menschenverachtendes Gewaltsystem, um die natürlichen Schätze des Landes auszubeuten. Erst 1959 zog sich Belgien ­zurück und überließ das riesige Land schlagartig sich selbst. Der von den USA gegen sowjetisch-geförderte Gruppen unter­ stützte Joseph-Désiré Mobutu, errichtete eine der längsten Diktaturen Afrikas. Seine Herrschaft brachte zwar eigene, staatliche Strukturen hervor, den Menschen jedoch keine ­Freiheit und Mitbestimmung. 1997 erst stürzte Rebellenführer Laurent-Désiré Kabila Mobutu mit Hilfe der Nachbarländer Ruanda und Uganda. Die Bestrebungen Kabilas, sich anschlie­ ßend von den Einflüssen seiner ehemaligen Verbündeten un­ abhängig zu machen, führten dazu, dass diese den Ostteil des Landes besetzten. Kabila musste daraufhin wieder externe Kräfte – diesmal Angola, Simbabwe und Namibia – zu Hilfe holen. Der folgende „Afrikanische Weltkrieg“ kostete bis zu seinem Ende 2003 zwischen vier und fünf Millionen Men­ schen das Leben. Downtown Kinshasa – der Boulevard 30. Juni d


DR Kongo

7

Demokratische ­Republik Kongo Kinshasa

o Wahlplakat von Joseph Kabila Nach dem gewaltsamen Tod seines Vaters, Laurent, stellte sich dessen Sohn, Joseph Kabila, Ende 2005 zur Wahl als Präsident des Kongo. Diese im Friedensvertrag vereinbarten Wahlen ­waren Scheidepunkt in der Geschichte des Kongo. Die Welt­ gemeinschaft baute nun zusammen mit den Kongolesen einen unabhängigen Staat. Sie stellte umfangreiche Finanzmittel zu Verfügung und Truppen, die die Volksabstimmung schützten. Auch die deutsche Bundeswehr beteiligte sich an dieser ­di­rekten Förderung der kongolesischen Souveränität mit einer der bisher größten und gefährlichsten Auslandseinsätze in Afrika. Mit der UN-Friedenstruppe „Mission de l’Organisation des ­Nations Unies en République Démocratique du Congo“ (MONUC), der inzwischen 20 000 Mann starken und über ­einer Milliarde US-Dollar teuren, größten Mission ihrer Art, unterstützt die internationale Gemeinschaft den Kongo bis heute bei der Stabilisierung der Sicherheitslage. Im Jubiläumsjahr 2010 möchte die politische Elite des Kongo klarstellen, dass man zumindest in diesem Kernbereich eines Staates auf ausländische Hilfe verzichten kann. Man sei nun selbst fähig, so Staatspräsident Kabila, für Sicherheit zu sorgen und werde von MONUC einen entsprechenden Abzugsplan fordern. Die ersten Soldaten sollen zum diesjährigen Unabhängigkeits­ tag das Land verlassen, die restlichen bis Ende 2011. Diese ­Zurschaustellung des Selbstbewusstseins, die auch unter den Augen des explizit eingeladenen belgischen Königs Albert II. stattfinden wird, wird den schwachen Staat, die extreme Armut vieler Menschen und die immer wieder aufflammenden Kon­ flikte jedoch nicht beheben.

Der Kongo ist ein an natürlichen Ressourcen wie Holz, Gold oder Spezialmineralien für Computer und Handys reiches Land. Doch trotzdem gelangt auf Grund von schwachen staat­ lichen Strukturen nicht genügend Geld in den Haushalt, ­so dass ausländische Hilfsorganisationen auch weiterhin Kernfunk­ tionen des Staates, wie das Gesundheits- und Bildungssystem, übernehmen müssen. Selbst der Umbau des sechs Kilometer langen Boulevards kommt derzeit wegen Zahlungsschwierig­ keiten zum Stocken. So besitzt der Kongo eine Unabhängigkeit doch ohne volle Funktionalität. Bis zu einer solchen in allen Landesteilen und Politikfeldern funktionierenden Staatlich­ keit wird es daher noch einige Schritte der Kongolesen selbst, aber auch der Offenheit für Unterstützung durch die inter­ nationale Gemeinschaft bedürfen. Daniel Braun, Jg. 1976, beschäftigte sich während seines Kollegjahres 2004/05 mit dem Thema „Möglichkeiten und Grenzen internationaler Kooperation mit Krisenregionen am Beispiel Palästinas“. Für die „FriedrichEbert-Stiftung“ und UNDP war er in Ost-Jerusalem. Heute ist er als ­Länderreferent im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung für die Zusammenarbeit mit der DR Kongo und ­Burundi zuständig.


8

Internationale Justiz

Ohne Gerechtgkeit keinen Frieden von Dr. Leonie von Braun In der Demokratischen Republik Kongo soll die Kultur der Gewalt durch eine Kultur des Friedens und der Rechtsstaat­ lichkeit mit Hilfe des Internationalen Strafgerichtshofes ersetzt werden.

von ca. 5,4 Millionen Opfern des ­Konflikts und der huma­ nitären Krise allein zwischen 1997 und 2007 aus – nach ­Meinung der Experten der tödlichste Konflikt seit dem Ende des ­Zweiten Weltkrieges.

Rohstoffplünderung, Kindersoldaten und Massengräber – auch das ist das Erbe der Kolonialzeit wie uns die jüngste Geschichte von Staaten wie der Demokratischen Republik Kongo deutlich vor Augen führt. Besonders deutlich werden die Folgen der ­gesellschaftlichen Zerstörungspolitik einer Kolonialmacht in dem früher belgisch regierten Zaire. Als Laurent Kabilas Frei­ heitsbewegung 1996 das Land aus den Zwängen des post-­ kolonialen Despoten Mobutu Sese Seko zu befreien suchte, wurde ein grausamer Bürgerkrieg entfacht, der sein vorläufiges Ende 2006 in, von der internationalen Gemeinschaft über­ wachten, freien Wahlen fand. Bereits 2002 war ein Friedens­ abkommen geschlossen worden, welches den Frieden jedoch nicht sichern konnte. Noch heute werden die Provinzen im Norden und Osten von Rebellengruppen kontrolliert, die teil­ weise aus den benachbarten Ländern Ruanda, Uganda und ­Burundi unterstützt werden, um dort Rohstoffvorkommen aus­zubeuten. Bereits vorsichtige Schätzungen der Nicht­ regierungs­organisation Interna­tional Rescue Committee gehen

Bis zum Eingreifen des Internationalen Strafgerichtshofes 2004 geschah wenig, um diese Spirale der Gewalt zu durch­ brechen. Mit der Eröffnung des ersten Verfahrens gegen den früheren kongolesischen Rebellenführer Thomas Lubanga, der wegen der Rekrutierung und des Einsatzes von Kindersoldaten, also Jungen und Mädchen unter 15 Jahren, angeklagt und nach Den Haag ausgeliefert wurde, griff dieser erste permanente Weltstrafgerichtshof nach der Anklage gegen Joseph Kony (Lord’s Resistance Army, LRA, Uganda) erneut in einen noch andauernden Konflikt ein. Es folgten weitere Haftbefehle gegen die Kongolesen Germain Katanga und Mathieu Ngudjolo Chui für Verbrechen in der Region Ituri. Diese Region sowie weitere östliche Teile des Kongos sind nicht nur der Schauplatz eines ethnischen Konfliktes, sondern vor allem auch ein Beispiel für die Fernwirkung des ­ruandischen Genozids von 1994 und der Instrumentalisierung des ethnischen Konfliktes durch die Nachbarstaaten der ­Demo­kratischen Republik Kongo – Uganda und Ruanda. Mit der Gründung des Internationalen Strafgerichtshofs ver­ folgt die internationale Gemeinschaft nicht nur das Ziel der Ahndung schwerster Menschenrechtsverletzungen, sondern hofft auch auf eine präventive Wirkung in anderen Konflikten. Der Schatten des Gerichtshofes reiche über die unmittelbaren Anklagen hinaus, wie der Chefankläger des Strafgerichtshofes Louis Moreno-Ocampo gerne sagt. Diejenigen Befehlshaber, die derartige Völkerrechtsverbrechen begehen, sollen vor Augen haben, dass Machtmissbrauch ernsthafte Konsequenzen nach sich zieht und nicht geduldet wird. Zudem wird eine Fernwir­ kung für die nationalen Justizsysteme erhofft, um diese zu stärken und in die Lage zu versetzen aus eigener Kraft Verfahren zu führen, die die Rechtsstaatlichkeit fördern.

f Hier werden die Strafprozesse geführt:

Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag


Internationale Jusitz

p Detail eines Wand­

teppichs, der die Zeit ­zwischen 1998 und 2006 im Kongo dokumentiert

Der Internationale Strafgerichtshof bietet Anlass zur Hoffnung, dass durch die Durchsetzung des Völkerstrafrechts langfristig zu einem nachhaltigen Frieden beigetragen werden kann. Da die grausamsten Verbrechen im Kongo zwischen 1996 und 2003 begangen wurden, liegen diese zwar außerhalb der zeitli­ chen ­Zuständigkeit des Gerichtes, er kann jedoch die seitdem begangenen Menschenrechtsverletzungen untersuchen. Sechs Jahre nachdem der erste ständige Strafgerichtshof seinen Betrieb aufgenommen hat, ist schon einiges erreicht – die ­großen Bewährungsproben stehen aber noch bevor. Dazu zählt insbesondere der Lubanga-Prozess. Die Kooperation mit den lokalen Behörden sowie den Vertragsstaaten gestaltet sich schwierig, vor allem bei der Durchsetzung seiner Haftbefehle und der Unterzeichnung von Kooperations­ab­kommen, die ­beispielsweise für den Zeugenschutz dringend ­erforderlich sind. Ermittlungen im Rahmen andauernder Konfliktsitua­

tionen durchzuführen, stellt zudem eine besondere Heraus­ forderung dar, für die es kaum Erfahrungswerte gibt. Darüber hinaus kämpft der Internationale Strafgerichtshof ­gegen die negative Berichterstattung seiner Kritiker, die ihn ­angesichts der ­zahl­reichen Haftbefehle gegen afrikanische Staatsbürger als ­einseitig diskriminierend darstellen. Das Beispiel der Verhaftung und Auslieferung des ehemaligen liberianischen Präsidenten, Charles Taylor, wegen seiner ­Förderung von Völkerrechtsverbrechen während des Bürger­ krieges in Sierra Leone zeigt jedoch, welche Wirkung die ­Arbeit des Strafgerichtshofs haben kann. Denn erst durch das beherzte Eingreifen des Chefanklägers des Sondertribunals der Vereinten Nationen, der Taylor anklagte, wurde der Weg für ­einen nachhaltigen Frieden in Sierra Leone und Liberia frei. Im Kongo wird es hoffentlich nicht anders sein.

Dr. Leonie von Braun, Jg. 1978 ist Staatsanwältin in Berlin, Völkerstrafrechts­ beauftragte von Amnesty International und arbeitete 2003/04 als ­Stiftungskollegiatin u. a. am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag

9


10

Ägypten

Das Garagenproblem: Das ägyptische Rechtswesen zwischen Islamismus und Machtlosigkeit von Noa Kumpf Die Juristerei ist in Ägypten, einem Land, das sein Rechtssystem in viele Länder im Nahen Osten und Nordafrika exportiert hat, nach 29 Jahren unter Hosni Mubaraks Alleinherrschaft in Verruf geraten. Zum einem aufgrund ihrer Machtlosigkeit und Kor­ ruption. Zum anderen aufgrund der scheinbaren Schmuserei mit Islamisten. Mubarak ist mit 82 Jahren kränklich; und was nach ihm kommt, das weiß niemand. Ich bin auf dem Heimweg nach einem langen Arbeitstag in der Kanzlei in Kairo. Wie immer halte ich ein Taxi auf Kairos Straßen an und wie immer heißt mich der Taxifahrer freundlich in Ägypten willkommen. Wie immer will er wissen, was eine ­junge Frau denn in Kairo mache. „Ich bin Rechtsanwältin“ ant­ worte ich, wie immer, und wie so oft, freut sich der Taxifahrer, denn auch er ist Rechtsanwalt – so zumindest auf dem Papier. Doch Jura ist in Ägypten kein Prestigestudiengang, sondern normalerweise ein Zeichen dafür, dass man ein schlechter Schüler war. Mit dem Ziel, die Arbeitslosigkeit hinauszuzögern, hat man dann in der „Garage“, also einer juristischen Fakultät studiert, um später bestenfalls krumme Sachen unter dem Tisch zu verhandeln. Ägyptens Rechtssystem Als Teil des osmanischen Reiches von 1571 bis 1882 galt in Ägypten die islamische Schariah als Basis der Rechtssprechung. Als Großbritannien jedoch 1882 die Staatsgewalt de facto übernahm, verabschiedete die damalige ägyptische Regierung noch rasch ein Gesetzbuch, das stark dem französischen code civil ähnelte und eine krasse Abweichung von der islamischen Schariah darstellte. In der Eile ging alles, nur nicht britisch.

Als Ägypten 1936 die Unabhängigkeit erlangte, verfügte es über eine zentralisierte Gerichtsstruktur, die sich am französischen Rechtssystem ein Vorbild nahm. Allerdings blieb die Judikative grundsätzlich der Exekutive unterstellt. Ab 1954 versuchte ­Gamal Abd El-Nassers sozialistische Republik vergeblich, die Judikative für ihre Ideale zu gewinnen. Deshalb übte sich die Regierung im Umgehen der „aufmüpfigen“ nationalen Gericht­ strukturen, indem sie außerordentliche Gerichtshöfe gründeten. Beispielsweise das 1969 gegründete Verfassungsgericht, dessen Richter der neuen sozialistischen Staatsphilosophie durch an­ gemessene Richtersprüche Ausdruck geben sollten. As-Sadat, der nach Abd El-Nassers Tod 1971 an die Macht kam, unterwarf die Verfassung einer Islamisierungsklausel, um die immer lauter werdenden Stimmen der Islamisten gegen die Regierung zu besänftigen. Dieser unscheinbare Artikel zwei ­machte die Schariah zu einer der wichtigsten Quellen der ­Gerichtssprechung und später unter Mubarak zur Hauptquelle der Rechts­sprechung. Geändert hatte sich in Ägypten jedoch dadurch lange Zeit nichts. Denn seit Amtsantritt regiert Mubarak unter einer Notstandsgesetzgebung. Diese wurde erst im Mai 2010 wieder verlängert und spricht ihm ein Vetorecht gegen jegliche „un­ passende“, und das heißt oft islamistische, Rechtssprechung zu. Die Probleme des heutigen Rechtswesen In der Entwicklung der heutigen Judikative, sind zwei Trends zu erkennen. Erstens hat sich ironischerweise das Verfassungs­ gericht eine Autonomie erkämpft, die es zu einem der effek­ tivsten Regimekritiker machen. Die Regierung hat im Gegen­ zug grundsätzlich liberale Richter ernannt, die Ägypten davor ­bewahren sollen, ein Schariah-basiertes Rechtssystem à la ­Saudi-Arabien zu entwickeln. Diese liberalen Richter haben daher eine sehr aufgeklärte islamische Rechtsprechung unter Artikel Zwei erarbeitet.


Ägypten

o Ägypten Verfassungsgericht

Zweitens herrscht in den niedrigeren ordentlichen Gerichten Machtlosigkeit, Unordnung und Korruption. Diese Missstände hängen mit der totalen Abhängigkeit von der Exekutive, der ständigen Kontrolle durch korrupte Beamte und der sehr schlechten Bezahlung der Richter zusammen. Sie haben dazu geführt, dass sich vor allem Anwälte vom Islamismus positiv angezogen fühlen, weil er Rechtschaffenheit verspricht. Sie ­haben ebenfalls dazu geführt, dass die juristischen Fakultäten zu Abstellkammern wurden. Nach vier Jahren Studium stehen die Absolventen auf der Straße, passen sich dem korrupten ­System an, besinnen sich auf den Islamismus oder werden Taxi­ fahrer. Erst kürzlich hat dies meinen Kollegen veranlasst, zu ­behaupten, dass von 400 000 „Anwälten“ in der Rechts­an­walts­ kammer lediglich 3 000 überhaupt minimal qualifiziert seien. Dank ihres wirtschaftlichen Scharfsinns hat die Regierung schon früh verstanden, dass die Machtlosigkeit der Gerichte ausländischen Direktinvestitionen entgegen steht. Anstatt die tatsächliche Ursache zu bearbeiten, hat die Regierung deshalb schon im Jahre 1994 eine hochmoderne Schiedsgerichtsord­ nung als „Alternative“ erlassen. Ihr verdankt Ägypten heute eine aktive Schiedsgerichtsindustrie. Der arabische Nachrichten­ sender Al-Jazeera schätzte erst kürzlich die jährlichen Schieds­ gerichtsstreitwerte, die Ägypten betreffen, auf 20 Milliarden US-Dollar.

Spätestens seit Mubaraks Aufenthalt im Heidelberger Univer­ sitätsklinikum im Frühjahr 2010 ist klar, dass sein Gesund­ heitszustand eine erneute Präsidentschaftskandidatur nicht mehr zulässt. Spekulationen, dass er seinen Sohn Gamal auf die Machtübernahme vorbereitet, sind ebenso weitverbreitet wie die Überzeugung der Ägypter, dass alles geht, nur nicht Mubarak. Was dann mit Ägyptens Judikative passieren wird, ist ungewiss. Doch erhoffen sich viele, dass erst einmal aufgeräumt wird; mit oder ohne Hilfe der Schariah.

Noa Kumpf, Jg. 1981, war 2006/07 als Carlo-Schmid Stipendiatin am Jugoslawientribunal in Den Haag tätig. Danach arbeitete sie in der ­internationalen Rechtsanwaltskanzlei Clifford Chance in London und Moskau. Seit 2009 ist sie als Anwältin in einer Kanzlei in Kairo tätig, wo sie sich auf internationale Schieds- und Schlichtungsverfahren im Nahen Osten spezialisiert.

11


12

Somalia

Somalia – failed state oder Chance für den Staatsaufbau? von Johanna Mantel

Somalia wird allseits als das klassische Beispiel eines failed state aufgeführt. Nach der Auflösung der zentralen Staatsgewalt hat das Land in den vergangenen zwei Jahrzehnten unzählige ­Kriege, Konflikte und humanitäre Katastrophen erlebt. Das dramatische Versagen der Interventionen der USA und UN 1992/1993 und der spätere Misserfolg des Einsatzes der Afri­ kanischen Union und der mindestens 14 Friedenskonferenzen führte dazu, dass sich heute keine internationale Mehrheit für eine humanitäre Intervention findet.

stützen. Nach dem Inkrafttreten der somalischen Übergangs­ verfassung 2004 organisierte das Institut erste Veranstaltungen zum Verfassungsrecht mit Parlamentariern und Vertretern der Zivilgesellschaft. Seit 2007 schult das MPIL in regelmäßigen Workshops die Mitglieder der somalischen Verfassungskom­ mission im Rahmen eines von UNDP koordinierten Verfassungs­ prozesses. Ziel ist es, die Verfassungskommission IFCC neutral über verschiedene rechtliche Möglichkeiten zu informieren, und ihr so zu ermöglichen, eine friedenssichernde Verfassung zu entwerfen. Neben der engen Zusammenarbeit mit der IFCC bezieht das Institut auch das Parlament sowie die zu­ ständigen Regierungsstellen ein. Da traditionelle religiöse ­Führer in ­Somalia eine zentrale Rolle spielen, werden auch ­diese in den Verfassungsprozess eingebunden.

Vielleicht liegt die Antwort nicht bei internationalen Einsätzen, sondern in regionalem Engagement und bei der somalischen Bevölkerung selbst. Auf Initiative der ostafrikanischen Regional­ organisation IGAD wurde 2004 eine Übergangsverfassung ­ver­abschiedet und eine neue Übergangsregierung eingesetzt. Die überraschende und rückblickend wohl erfolgverspre­ chendste Entwicklung, nämlich die Gründung von islamischen Gerichtshöfen und die Befriedung der Hauptstadt Mogadischu 2005/2006, war die Leistung somalischer religiöser Führer und Geschäftsleute. Auch die weitgehende Stabilisierung ­Somalilands zeigt, dass die somalische Gesellschaft sehr wohl im Stande ist, Frieden zu schaffen und einen funktionierenden Staat aufzubauen.

Freilich ist das Land am Horn von Afrika noch weit von einem stabilen Rechtsstaat entfernt. Derzeit befinden sich weite Teile Südsomalias in der Hand der radikal-islamischen Shabab-­ Milizen. Die jüngste Übergangsregierung, die 2009 als großer Hoffnungsträger begrüßt wurde, droht an internen Macht­ kämpfen zu zerbrechen. Doch gerade die fast hoffnungslos ­erscheinende Lage Somalias sollte ein Grund für ein inter­ nationales En­gagement sein. Internationale Unterstützung muss sich auf die ­entscheidenden politischen und gesellschaft­ lichen Akteure konzentrieren. Die lokalen Strukturen um die Klan­ältesten und religiösen Führer können stabilisierenden Einfluss haben und auch die teilweise florierende Wirtschaft und lokale Verwaltung sollten mit einbezogen werden.

An diese lokalen Dynamiken knüpfen die MPIL Projekte in Konfliktstaaten an und unterstützen lokale Akteure beim ­Aufbau rechtstaatlicher Institutionen. So war das Institut am sudanesischen Friedens- und Verfassungsprozess beteiligt, der 2005 den am längsten andauernden Konflikt auf dem afri­ kanischen Kontinent beendete. Daraufhin wurde das MPIL ­angefragt, auch den Verfassungsprozess in Somalia zu unter­

Somalias segmentierte Gesellschaft braucht unkonventionelle Ansätze, um die Clangrenzen zu überwinden. Das MPIL sucht daher nach Möglichkeiten, traditionelle Organisations- und Rechtsformen mit einer modernen Verfassung zu verbinden und so zur Stabilisierung Somalias beizutragen.

Als Teil eines Konsortiums von internationalen Organisationen berät das Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht (MPIL) die unabhängige somalische Verfassungskommission (IFCC).

Verfassungsworkshop des MPIL d  mit Somalis

Johanna Mantel, Jg. 1980, arbeitete 2005 als Carlo-Schmid Stipendiatin in der Rechtsabteilung der Vereinten Nationen in New York. Seit 2008 ist sie am MPIL in Heidelberg tätig. Dort beriet sie zunächst im Rahmen des Somalia-­Projekts die somalische Verfassungskommission. Inzwischen ­arbeitet sie am Irak Rule of Law Projekt und promoviert zum Thema „Vorbehalte Islamischer Staaten zu internationalen Menschenrechtsverträgen“.


Afrikanische Innovationskraft

Neue Technologien auf dem Vormarsch Der Mobilfunksektor revolutioniert Kommunikation in Afrika von Sabine Schulz Als ein Großteil der afrikanischen Staaten 1960 in die Unab­ hängigkeit entlassen wurde, gab es auf dem Kontinent fast ­keine moderne Kommunikationsinfrastruktur. Die meisten Staaten besaßen nur rudimentär ausgebaute Telefonnetze, meist in staatlicher Hand. Wer in den vergangen Jahren ein afrikanisches Land besucht hat, wird jedoch überrascht fest­ gestellt haben, dass sich hier viel verändert hat. Fast jeder Afrikaner, der in der Stadt lebt, besitzt heute minde­ stens ein Handy und auch auf dem Lande sind die mobilen ­Telefone keine Seltenheit mehr. Auch gesamtwirtschaftlich hat der Informations- und Kommunikationstechnologie­ sektor (IKT) eine signifikante Marke erreicht. So wurden ­zwischen 2004 und 2007 rund 1,3 % des durschnittlichen Wirtschaftswachstums durch den IKT-Markt erwirtschaftet. Besonders rasant hat sich der besagte Mobilfunkmarkt ent­ wickelt, der mit rund 40 % Jahreswachstum, der am schnellsten aufstei­gende Markt weltweit ist. Die Investitionen in den ­Sektor sind jedoch recht unterschiedlich verteilt, denn ein Großteil des Geldes fließt in die ressourcenreichen Küsten­ länder des ­Kontinents, wie Nigeria und Südafrika. Diese sind aufgrund ihrer wirtschaftlichen Stärke und einer relativ hohen Bevölkerungszahl ein attraktiver Markt für Mobilfunk­ anbieter. Aber auch alle anderen afrikanischen Staaten ver­ zeichnen einen boomenden Mobilfunkmarkt. Doch wieso hat das Handy in Afrika eine so schnelle Verbrei­ tung gefunden und warum wurde die Festnetzentwicklung vollkommen übersprungen? Erstens wurden während der ­Kolonialzeit nur sehr wenige Festnetzleitungen gelegt und auch nach der Befreiung von ihren Kolonialherren haben die unabhängigen Staaten diese kaum ausgebaut. Zweitens fand seit den 1990er Jahren eine Liberalisierung in den Telekommu­ nikationssektoren statt, die privaten Investoren die Türen ­öffneten. Beide Faktoren führten dazu, dass sich der Mobil­ funksektor so schnell durchsetzen konnte und ein lebendiger Markt entstand. Darüber hinaus hat die Einführung von ­prepaid-Diensten die Verbreitung von Mobiltelefonen unter­ stützt, da auch Bevölkerungsschichten mit sehr geringen Ein­ kommen für kleine Summen Telefondienste kaufen können. Auch das System der community phones – zumeist auf dem

Werbung eines Mobilfunkanbieters, Mosambik i

Land verbreitet – hat den Markt vergrößert. Community phones sind private Handys, die ein Gemeindemitglied (meist ein Kleinunternehmer) anderen Anwohnern gegen Bezahlung zur Verfügung stellt. Auch wenn die Gebühren für solche Telefon­ gespräche oft sehr hoch sind, kann man so zumindest ab und an mit Freunden, Familie oder Geschäftspartnern telefonieren, ohne gleich ein eigenes Telefon kaufen zu müssen. Mobile Banking – eine afrikanische Erfindung Wie wichtig der Mobilfunksektor auch für Afrikas wirtschaft­ liche und soziale Entwicklung ist, zeigt sich insbesondere an den sich stark verbreitenden bargeldlosen Geldtransfersystemen über Handys. Da die meisten Afrikaner kein eigenes Bank­ konto haben, jedoch oftmals ein Handy besitzen, werden diese jetzt als elektronische Geldbörsen verwendet. Eingeführt ­wurde diese Dienstleistung durch den afrikanischen Mobil­ funkanbieter Safaricom, der 2007 sein M-Pesa System (auf deutsch: „mobiles Geld“) auf den kenianischen Markt brachte. Das Angebot wurde von den Kenianern be­geistert aufgenommen und bis heute haben sich bereits über 9 Millionen Kunden für das M-Pesa System registriert.

13


14

Afrikanische Innovationskraft

Darüber hinaus werden in den meisten Ländern auch eine ­Reihe anderer innovativer Dienstleistungen via Handy ange­ boten: Kredite und Versicherungen können in einigen Ländern über Prepaid-Zeiten eingekauft oder Gesundheits- und Wetter­ informationsdienste über SMS empfangen werden. ­Andere ­Anbieter stellen Farmern aktuelle Informationen zu Preis­ entwicklungen landwirtschaftlicher Produkte zur Verfügung, die man regelmäßig per SMS zugesendet bekommen. Die ­Bauern wissen dann, wo sie für ihre Produkte die besten Preise er­halten. Um die Dienstleistung nutzen zu können, muss man sich ledig­ lich bei M-Pesa registrieren und ein Formular ausfüllen. Hat man das gemacht, ist man Kunde und bekommt ein elektro­ nisches Guthabenkonto, eine dazugehörige Nummer und Passwort, mit der man dann von überall mit dem Handy Geld überweisen oder empfangen kann. Ein- und Auszahlungen kann man an den zahlreichen M-Pesa Shops vornehmen. ­Dieses An­ gebot bietet vielen Kenianern erstmals eine Alter­native zu ­einem regulären Bankkonto und eine Möglichkeit, bargeldlos Rechnungen zu bezahlen, Verwandten und Freunden Geld zu überweisen oder einfach Geld bargeldlos auf einem Konto zu deponieren. Ähnliche mobile Banksysteme wurden seitdem auch von anderen ­Mobilfunkanbietern in verschiedenen Ländern auf den Markt gebracht worden. Der Netzbetreiber Zain (ehemals Celtel) ­ermöglicht seinen Kunden den bargeldlosen Geldtransfer ­sogar über Ländergrenzen hinweg, ohne dafür Roaming-Gebühren zu verlangen. Auch etablierte Geldtransferunternehmen wie Western Union sind unter Druck geraten und bieten mittler­ weile Geldüberweisungen per Handy an. Free Roaming seit Jahren Realität Was für viele Europäer immer noch ein Traum ist, ist in Afrika bereits seit Langem Realität: Telefonieren ohne Roaming-­ Gebühren. In vielen Teilen des Kontinents ist das Telefonieren über Ländergrenzen hinweg ohne zusätzliche Kosten schon seit Jahren möglich. So bietet zum Beispiel Zain durch das ­One-Network seinen Kunden aus 15 afrikanischen Staaten die Möglichkeit, zu Inlandstarifen ins Ausland zu telefonieren und Anrufe aus dem Ausland kostenlos zu empfangen. Darüber hinaus können Zain-Kunden dieser Länder ihr Guthaben mit allen Ladebons aufladen, die in einem der Länder zu kaufen sind. Ermöglicht wird dies durch eine Software, die dafür sorgt, dass die einzelnen Mobilfunknetze miteinander kom­ munizieren können.

Wachstum ohne Ende? Der Wachstumstrend im afrikanischen Mobilfunkmarkt wird vermutlich noch einige Zeit anhalten, denn die immer noch ­relativ geringe Netzdurchdringungsrate, in Kombination mit sinkenden Preisen für Mobilfunkgeräte und weiter voran­ schreitender Liberalisierung der Märkte bieten immer noch Potentiale. Ein Problem stellen jedoch die hohen Steuern dar, die auf die Nutzung und den Verkauf von Mobiltelefonen er­ hoben werden. In Ostafrika zum Beispiel liegen die Steuern auf Mobilfunkdienstleistungen zwischen 25 und 30 % und sind ­damit die höchsten weltweit. Auch die relativ geringen Ein­ kommen der meisten Afrikaner wirken sich wachstumshem­ mend aus, auch wenn durch Dienstleistungen wie community phones das Problem teilweise abgemildert wird. Darüber hinaus ist auch die schlechte Stromversorgung in den länd­ lichen Gebieten eine Herausforderung, die mittelfristig nicht gelöst werden kann, denn Investitionen in die Ausweitung der Stromnetze sind aufgrund der geringen Bevölkerungsdichte und der weiten Entfernungen wirtschaftlich nicht lohnens­ wert. Allerdings können netzunabhängige Anlagen, wie bei­ spielweise auf Solarenergie basierende Systeme, zukunfts­ weisende Alternativen bieten.

Die Gastautorin Sabine Schulze, Jg. 1980, promoviert an der Universität Leipzig zu grenzüberschreitendem Gewässermanagement und Fluss­gebiets­ organisationen im Südlichen Afrika. Darüber hinaus befasst sie sich mit verschiedenen Afrika-spezifischen Themen, unter anderem in den B­ereichen Mobilität und Telekommunikation.


Regionale Dynamik

15

SADC: Ein Vorbild der Resourcengovernance von Martin Hofmann In der Entwicklungsgemeinschaft des südlichen Afrikas (SADC) arbeiten fünfzehn Staaten beim Management gemeinsamer Wasserbestände und Energieresourcen vorbildhaft zusammen und dienen in dieser Hinsicht als Beispiel für andere Welt­ regionen. Dennoch überwiegen in der öffentlichen Wahrnehmung in ­Europa und selbst in der Fachwelt, Zweifel und Skepsis, denn nur ungern wird afrikanischen Eigeninitiativen Erfolg bestätigt. Afrika-Pessimisten mögen zwar mittlerweile von sub-regionalen afrikanischen Konfliktlösungsmechanismen zur Vermeidung von Ressourcenkonflikten erfahren haben. Doch angesichts der verheerenden Folgen des Klimawandels sowie der sozio­ ökonomischen Entwicklungen und des Bevölkerungswachs­ tums sehen Afrika-Pessimisten wenig Hoffnung für Frieden und Entwicklung auf dem Kontinent. Die Nachfrage nach knappen Ressourcen, wie Süßwasser, Uran und weiteren Energieres­sourcen steigt. Konflikte sind daher automatisch vorprogrammiert – oder etwa nicht?! Die afrikanische Politik und Diplomatie sind engagiert – aber sind sie effektiv? Können sie stabilisierend wirken? Natürlich gibt es kein einheitliches „Afrika“, doch auch ein regional ­dif­ferenzierter Blick erscheint zunächst düster. Selbst in ­Ländern mit geringen oder teils sogar stagnierenden Bevölke­ rungswachstumsraten herrscht eine Diskrepanz zwischen dem Ressourcenangebot und der -nachfrage. So steigt die Energieund Wassernachfrage stetig, angetrieben nicht nur durch hohe Wirtschaftswachstumsraten im südlichen Afrika. Beim Lande­ anflug auf Angolas Hauptstadt Luanda sieht der Fluggast das neue „Manhattan von Afrika“ und kann die konstant zwei­ stelligen Wachstumsraten erahnen.

Die Dynamik des Wandels ist nicht nur in Luanda spürbar. Die Urangewinnung in Namibia und die Kohlegewinnung in Botswana schlucken riesige Mengen an Wasser. Entlang des Limpopoflusses werden fruchtbare landwirtschaftliche Flächen großzügig bewässert. Auch in Mosambik können sich mehr Menschen einen verbesserten Lebensstandard leisten und ­konsumieren mehr Wasser und Energie. Die expandierende ­In­dustrie in Südafrika, Kongo und anderen Ländern ver­ schlingt massig Strom und weitere Energieressourcen. Das Bild erscheint folglich eindeutig: Die Ressourcennachfrage im süd­ lichen Afrika steigt bei abnehmenden Reserven. Diese Kluft zwischen Nachfrage und Angebot lässt sich nicht einfach mit Technologien wie Meerwasserentsalzung oder verbesserter ­Energieeffizienz schließen, hierin sind sich Experten einig. Auch Prognosen steigender Wasservorkommen in vereinzelten Gebieten des südlichen Afrikas stoßen auf Vorbehalte. ­Schließlich verringern auch enorme Neuerschließungen und Neu­funde von Energieressourcen diese Skepsis nicht. Der Afrika-Pessimist vollendet die Gleichung: „geringere Res­ sourcen + steigende Nachfrage = Instabilität und Chaos“. Doch ein beeindruckendes Beispiel zeigt, was regionale und sub-regionale Dynamiken nach der Unabhängigkeit tatsäch­ lich erreicht haben. Die 15 Staaten des südlichen Afrikas ­gründeten eine Entwicklungsgemeinschaft (SADC). Sie ver­ folgt ähnliche Ziele wie die EU: Eine gemeinsame Sicherheits­ politik, regionale wirtschaftliche Integration und ein gemein­ sames Management von Ressourcen, wie beispielsweise Energierohstoffe oder Wasser. Gemeinsam erschließt SADC diese Ressourcen, baut Infrastruktur auf und berät bei poten­ tiellen Konflikten. SADC Headquarter in Gaborone, a  Botswana


16

Regionale Dynamik

Die von Politikwissenschaftlern häufig zitierten Konflikte um Wasser eignen sich besonders zur Veranschaulichung der ­Meilensteine, die SADC gesetzt hat: Die meisten bedeutenden grenzüberschreitenden Wasserressourcen managt SADC bereits multilateral. Noch in den 90er Jahren hingegen bewarfen sich angolanische und namibische Kollegen während Wasser­ kommissionstreffen mit Stühlen. Diese From der Konflikt­ austragung ist nun passé. Heute wird kooperiert. SADC-Staaten unterzeichneten multilaterale Abkommen und bauen Foren zur Konfliktlösung auf. Selbst ein Tribunal und eine gemeinsame sub-regionale militärische Eingreiftruppe für das worst-case Szenario stehen bereit. Die Staaten statteten sich sogar gegenseitig mit Interventionsmandaten aus, die weit­ reichender sind als die Regelungen und die Praxis der Vereinten Nationen. Bisher ist diese Politik der Diplomatie erfolgreich. Der letzte grenzüberschreitende Gewaltkonflikt liegt lange zurück. Die Intensität der zwischenstaatlichen Kooperation nimmt stetig zu. Im Ressourcensektor ist folgende Tendenz zu beobachten: Je höher das Konfliktpotential, desto stärker kooperieren die Staaten. Im Ressourcenbereich ist die SADC der EU überlegen. So hat die SADC in einem vergleichsweise kurzen Zeitraum mehr ­erreicht als die EU während ihrer Entstehungsperiode. Die ­Ergebnisse vor Ort überzeugen. So ist etwa das multilaterale Regime der Wassergovernance mit seinen rechtlichen Regel­ werken und Instrumenten das modernste weltweit. Den Vorteil, von den Erfahrungen anderer Regionalorganisationen zu ­lernen, nutzt die SADC geschickt.

Dennoch wird der notorische Afrika-Pessimist weiter nach ­Negativem suchen. Er denkt an den blutigen Konflikt im OstKongo, an den zimbabwischen Despoten Mugabe, oder an den tödlichen Angriff auf das togolesische Fußballteam im Januar 2010 in Angola. Der Erfolg einer Regionalorganisation sollte jedoch nicht nur anhand von ein oder zwei Aspekten bewertet werden. Im Falle SADC ist dies die politische und ökonomische Leistung. Durch geschickte Diplomatie hat es die SADC in kurzer Zeit geschafft in manchen Bereichen bereits als Model für andere Weltregionen zu dienen. Die multilaterale Governance von Ressourcen ist das Aushängeschild der Regionalorganisation geworden. Positive Auswirkungen auf weitere Sektoren sind zu erwarten.

Martin Hofmann, Jg. 1983, arbeitet derzeit mit der UNESCO an der ­Ver­besserung grenzüberschreitender Kooperation am Horn von Afrika. Im Rahmen des Carlo-Schmid Programmes war er 2009 bei der UNESCO in Angola und Namibia. 2008 kollaborierte er mit den Wasser-, Ressourcenund Sicherheitsprogrammen der SADC an deren Sekretariatssitz in ­Botswana. Seit 2006 ist er Mitglied der Afrika-Gruppe der Bundespräsi­ denten.


Nordafrika

Gestrandet in Marokko: Sub-saharische MigrantInnen auf dem Weg nach Europa von Daphne Büllesbach „Man hat fast das Gefühl, dass viele MigrantInnen durch die rigorose Abschottung der EU erst recht glauben, dass sich dahinter das Paradies verbergen muss“, erklärt Francisco ­Rapela. Er ist Arzt und Mitarbeiter bei der spanischen Sektion der Nichtregierungsorganisation Ärzte ohne Grenzen (MSF). Die Europäische Union hat die Grenze zwischen Marokko und Spanien, zwischen Nordafrika und Europa, zu einer der bestgesichertsten Schutzwälle der EU aufgerüstet. Kaum einem Migrant gelingt es noch, diese Hürde zu überwinden. Marokko ist so ungewollt ein Einwanderungsland für circa 4 500 sub-­ saharischen MigrantInnen auf dem Weg nach Europa geworden. Trotz der immer längeren und gefährlicheren Migrations­ routen hat das Ziel Europa nicht an Attraktivität verloren. In Gesprächen mit MigrantInnen – die meisten von ihnen stammen aus ­Nigeria oder der Demokratischen Republik Kongo – wird deutlich, dass Krieg, Verfolgung oder alltägliches Elend sie dazu bringt, ihr Schicksal in die Hand zu nehmen und diese ­risikoreiche Reise anzutreten. Allerdings hat sich das nördliche Marokko für viele von ihnen in eine Sackgasse verwandelt: Der Weg nach Europa ist versperrt, der Weg zurück in ihre Heimat­ länder zu teuer, gefährlich und perspektivlos. Marokkanische Migrationspolitik Insbesondere Transitländer wie Marokko sehen sich dem wach­ senden Druck der EU durch immer höhere Anforderungen an das Grenzregime ausgesetzt. Das Königreich hat den Ruf eines Musterschülers der EU, des Primus in der migrationspolitischen Nachhilfeklasse für nordafrikanische Staaten: Marokko genießt als einziges nordafrikanisches Land einen Sonderstatus mit der EU. Seit einigen Jahren verhandelt die EU mit den nordafrika­ nischen Mittelmeeranrainerstaaten über Rücknahmeabkommen. Diese sollen es ermöglichen, MigrantInnen aus sub-saharischen Drittländern, die sich in den Mittelmeerländern im Transit ­befanden, dorthin abzuweisen. Die EU ist von dem „Erfolg“ dieses Konzepts überzeugt. Die Tatsache, dass die Anzahl der MigrantInnen, die in Lampedusa an Land gehen, um rund 75 % zurückgegangen ist, nachdem Italien bilateral mit Libyen ein solches Abkommen abgeschlossen hat, gibt dieser Argu­ mentation recht. Nach Wünschen der EU würden Länder wie Marokko die Einwanderungsfrage noch im afrikanischen Kon­ tinent vor den Toren Europas für sie regeln.

p Typische Kleinstadt-

Szene in Nordmarokko

Allerdings besitzt Marokko, wie alle nordafrikanischen Staaten mit Ausnahme Mauritaniens, kein gesetzlich geregeltes Asyl­ verfahren. Den Schutz von Flüchtlingen im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention innerhalb der Migrationsströme ge­ währleistet das UN Flüchtlingswerk. Ohne staatliche Unter­ stützung seitens Marokkos ist dieser Schutz allerdings unzu­ länglich. Die Lücke in der Gesetzgebung ist politisches Kalkül: Solange die gesetzliche Lage ungeklärt bleibt, kann Marokko sich auf die unzureichenden Strukturen berufen. Grenzregion Oujda Im Norden Marokkos, im Grenzgebiet zu Algerien, sind die ­katastrophalen Bedingungen gegen die die MigrantInnen zu kämpfen haben am deutlichsten zu sehen. Francisco Rapela zeigt uns wie die MigrantInnen in der Stadt Oujda in selbstge­ machten Zelten leben. Zu Essen gibt es feuchtes Mehl oder Reis mit Brot, manchmal nur einmal am Tag. Der weitläufige Campus der Universität in Oujda hat sich in den letzten Jahren zum Zufluchtsort für einige hundert MigrantInnen etabliert. Hier leben sie innerhalb der Campus-Mauern unter Plastik­ planen. Einige seit mehr als fünf Jahren. Viele der Schlafplätze werden für etwas Geld vermietet. Oujda ist in Marokko der Haupteintrittspunkt subsaharischer MigrantInnen auf ihrer letzten Reiseetappe gen Norden, von hier aus ist Melilla das Ziel. Voll beladene Lastwagen setzen die MigrantInnen im ­Niemandsland, kurz vor Marrokko in Algerien ab und überlassen sie ihrem Schicksal. Zu Fuss und bei Dunkelheit überqueren die MigrantInnen dann das unübersichtliche Grenzgebiet. Hier merken dann viele nach Monaten oder sogar ­Jahren der Strapazen und Ausbeutung endgültig, dass die ­Versprechen der Schlepper nicht einlösbar sind. Hinzu kommt die Gefahr, ­jederzeit von der marokkanischen Polizei aufge­griffen und in das Grenzgebiet zwischen Marokko und Algerien „ab­ geschoben“ zu werden. Hier im Niemandsland hat die ­Mafia aus Menschenschmugglern und Drogenbossen das Sagen, hier werden die MigrantInnen Opfer von Raubüberfällen, ­sexueller Ausbeutung und anderen Formen von Gewalt.

17


18

Nordafrika

MSF hat in Oujda letztes Jahr 5231 ärztliche Behandlungen durchgeführt und so einen Überblick über Schicksale und grausame Einzelheiten gewonnen. Bei 25 % der Patienten war die Diagnose eine Erkrankung infolge extremer psychischer Belastung. Für eine therapeutische Behandlung fehlt allerdings die Ausstattung. Dr. Rapela empfindet Scham vor seiner Hilf­ losigkeit. Die Belastung durch seine Arbeit, die er in einem ­kleinen Team von Ärzten und Helfern direkt vor Melilla ­er­ledigt, ist ihm deutlich anzusehen. Marokko duldet die Hilfe durch MSF – ohne sie zu unterstützen.

Frau und Migrant – doppeltes Leid Wie auch in anderen Teilen der Welt sind laut MSF in den l­etzten Jahren immer mehr Frauen unter den subsaharischen MigrantInnen. Ein im April 2010 erschienener Bericht von MSF bringt die katastrophalen Bedingungen ans Tageslicht. Unter den 63 Befragten gaben 29 % an, vor ihrer Reise im ­Heimatland vergewaltigt worden zu sein, 45 % während der Reise und 59 % im Niemandsland zwischen Marokko und ­Algerien. Hinzu kommt, dass 21,5 % der Opfer minderjährig sind, davon 10 % unter 16 Jahren. „Eine neu angekommene Frau gehört allen, sie kann sich nicht verweigern, sie kann nicht woanders hin, alles wird mit Sex bezahlt. Auch wenn eine Frau mit einem Kleinkind unterwegs ist, muss sie das durchmachen“, berichtet ein Migrant aus der Grenzregion ­Oujda. Es ist davon auszugehen, dass die EU in absehbarer Zeit ein Rückführungsabkommen mit Marokko abschließen wird. Wenn man bedenkt, welches Schicksal die MigrantInnen in Marokko erwartet, kann Marokko nicht als sicherer Drittstaat gelten. Das Problem der subsaharischen Migration wird nicht durch eine Verlagerung nach Nordafrika gelöst, wo nicht zu­ letzt die Auswirkungen der aktuellen Politik den Schutz der Menschenwürde tagtäglich in Frage stellen.

Gesundheitskampagne in der Zentral Afrikanischen Republik, wo viele f

t­ ausende Menschen unter dem Konflikt, der Unsicherheit und Armut leiden („Humanitarian and Development Partnership Team in the Central African Republic”)

d  Die alten Stadtmauern von Ceuta, der spanischen Exklave in Nordafrika, Sinnbild der Festung Europa

Daphne Büllesbach, Jg. 1982, ist derzeit Mercator Kollegiatin zum Thema ­Harmonisierungprozess und Außenwirkung der EU Asyl- und Flüchtlings­ politik mit Stationen in der Europaabteilung im Auswärtigen Amt, bei ­UNHCR in Marokko und der IOM in Nairobi. Zuvor studierte sie Europa­ wissenschaften, Politik und Soziologie in London, Paris und Cambridge.


Europäische Interventionen

Zwischen Anspruch und Wirklichkeit Was europäische Sicherheitspolitik in Subsahara-Afrika wirklich leistet von Alexandra Jonas Das Engagement der Europäischen Union in Subsahara-Afrika ist ambivalent. Denn obgleich sie sich mit einem umfassenden Spektrum an Instrumenten für die von Armut und Konflikten geprägte Region einsetzt, mangelt es der Afrika-Politik der Union an Kohärenz und Kontinuität. Fünfzig Jahre nach der Unabhängigkeit etlicher afrikanischer Kolonien kristallisiert sich dabei insbesondere auf sicherheitspolitischer Ebene ein uneinheitlicher und unsteter Einsatz für Frieden und Stabilität in Subsahara-Afrika heraus. Doch gerade die Beziehungen zu den schwächsten Gliedern im globalen Geflecht definieren, welche Art Akteur die EU auf internationaler Ebene ist – und in Zukunft sein will. Für ein glaubhaftes Engagement ist es noch nicht zu spät. Doch auch ein geradliniges Bekenntnis zu dem, was die EU nicht leisten soll und kann, wäre besser als eine Beziehung in Widersprüchen. Im Juni 2003 bot sich für die vom Irak-Krieg ernüchterten An­ hänger einer multilateralen und wertegeleiteten europäischen Außenpolitik ein Hoffnungsschimmer: Die EU-Staaten ent­ schlossen sich, der Forderung des damaligen UN-General­ sekretärs Kofi Annan nachzukommen und zu Sicherheit und Stabilität in der von gewaltsamen Konflikten zerrütteten DR Kongo beizutragen. Durch die 2000 Soldaten starke Militär­ operation „Artemis“ baute die EU ihr bereits bestehendes ­diplomatisches, entwicklungspolitisches und humanitäres En­ gagement in der Region der Großen Seen aus und bekannte sich seitdem wiederholt zu dem Modell eines ganzheitlichen Einsatzes für Subsahara-Afrika. Davon zeugt auch die EU-Afrika Strategie aus dem Jahr 2007, die als Schwerpunktbereiche glei­ chermaßen die Milleniumentwicklungsziele, die Förderung guter Regierungsführung sowie Frieden und Sicherheit nennt. Dementsprechend ist die Europäische Union heute nicht nur der größte Geber von Entwicklungshilfe für Subsahara-Afrika, auch belegen die mittlerweile insgesamt zehn zivilen und mili­ tärischen EU-Missionen ihr sicherheitspolitisches Engagement in der Region. Dieses findet in enger Kooperation mit den ­Vereinten Nationen sowie der Afrikanischen Union statt und ­umfasst unter anderem die Ausbildung somalischer Sicher­ heitskräfte (EUTM Somalia), eine maritime Anti-Piraterie Operation am Golf von Aden (EU NAVFOR Atalanta) sowie die Unterstützung der Polizeireform in der DR Kongo (EU­ POL RD Congo).

pDie EU macht sich in Afrika sichtbar, in der Sicherheitspolitik und vor allem in der Entwicklungszusammenarbeit.

Die Europäische Union ist – zumindest theoretisch – ein prä­ destinierter Partner für Subsahara-Afrika. Dies liegt erstens ­daran, dass ihr eine normen- und wertegeleitete Außenpolitik zugeschrieben wird, die einhergeht mit dem „Export“ von Wohlstand, Frieden und Sicherheit. Ein dementsprechendes Engagement steht im Gegensatz zu realpolitischen Leitmo­ tiven, welche beispielsweise die energie- und handelspolitisch motivierte Afrika-Politik Chinas kennzeichnen. Zweitens bün­ delt die EU die Fähigkeiten ihrer Mitgliedstaaten und vereint ein breites Spektrum entwicklungspolitischer, diplomatischer sowie ziviler und militärischer Mittel unter einem institutio­ nellen Dach. Damit kann die Union einen gewichtigen Beitrag zu Stabilisierung und Aufbau fragiler und zerfallender Staaten leisten, vorausgesetzt allerdings, dass es ihr gelingt im Sinne ­einer smart power zu handeln – einer Macht, die ihr um­ fassendes Portfolio an Instrumenten auch auf strategisch-­ kohärente Weise einsetzt. Doch bereits ein Querschnitt durch das europäische Engagement in Subsahara-Afrika weckt Zweifel daran, ob das Bild einer wertegeleiteten, smarten und einheit­ lich agierenden EU der Realität standhält. Der Beginn des sicherheitspolitischen Einsatzes der EU für Subsahara-Afrika war vor allem ein Lackmustest für die damals noch junge Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Die Union wollte beweisen, dass sie auch unabhängig von den USA bzw. der NATO agieren kann – was ihr mit der ersten autonomen EU-Militäroperation „Artemis“ auch gelang. Diese Motivation erwies sich als Basis für ein langfristiges und glaub­ haftes Engagement jedoch als unzureichend. Zunehmend ­offenbarte sich, dass eine einheitliche und über nationalstaat­ liche Interessen hinausgehende europäische Vision für Sub­ sahara-Afrika fehlte. So war es seit „Artemis“ hauptsächlich Frankreich, das den Anstoß zu den EU-Einsätzen gab. Paris ­versuchte so, seine Beziehungen zum frankophonen Afrika in einen multilateralen Rahmen einzubetten. Anfänglich gelang es zumindest noch, eine breite Beteiligung europäischer Staaten herzustellen. Im Jahr 2006 nahmen 21 EU-Staaten an der Militäroperation „EUFOR RD Congo“ zur Absicherung der Wahlen in der DR Kongo teil. Deutschland ließ sich sogar überzeugen, als Führungsnation den mit 780 Soldaten zweit­ größten Truppenanteil zu entsenden und das Hauptquartier

19


20

Europäische Interventionen

iVerlassener Panzer in Äthiopien erinnert an die Kriege am Horn von Afrika

zu stellen. Dennoch zeigten verschiedene EU-Staaten, ein­ schließlich Deutschland, eine ambivalente Haltung zu dem Einsatz. Davon zeugte unter anderem, dass ein starker Fokus der Operation auf dem termingerechten Abzug der Truppen lag und dieser nicht der tatsächlichen Entwicklung des Demo­ kratisierungsprozesses in der DR Kongo untergeordnet wurde. Mittlerweile sind die EU-Mitglieder noch weniger bereit, sich jenseits eines eindeutigen nationalstaatlichen Interesses glaub­ haft für Stabilität und Sicherheit in Afrika einzusetzen. Statt­ dessen ist das sicherheitspolitische Engagement der EU auf dem Kontinent geprägt von einer sehr deutlichen Diskrepanz zwischen den politischen Entscheidungen zu zivilen oder ­militärischen Missionen einerseits und der glaubhaften Aus­ führung dieser andererseits. Ersichtlich ist dies daran, dass die EU-Staaten zu wenig personelle, finanzielle und materielle ­Kapazitäten bereit stellen. Eines von vielen Beispielen hierfür ist die Operation „EUFOR Tchad/CAR“ die im Jahr 2008 zum Schutz der vom Darfur-Konflikt betroffenen Zivil­ bevölkerung beitragen sollte. Diese basierte nicht nur ganz maßgeblich auf französischen Finanzmitteln und – da Truppen­ zusagen weitestgehend ausblieben – auf französischem Personal: Aufgrund fehlender Ausrüstung konnte die Mission erst mit mehrmonatiger Verzögerung starten. Ein anderes ­Beispiel ist die zivile Mission „EUPOL Congo“, die als so unterfinanziert gilt, dass eine effektive Umsetzung des Auftrags – einen Beitrag

zum Aufbau der kongolesischen Polizei zu leisten – kaum ­möglich ist. Eine der Ausnahmen ist jedoch die Anti-PiraterieOperation „Atalanta“, unter anderem da es gelang, sie im Jahr 2008 innerhalb kürzester Zeit nach der politischen Entschei­ dung zu starten. Sie trägt neben dem Schutz ziviler Schiffe, wie denen des Welternährungsprogramms, allerdings auch dazu bei, Handelsrouten frei zu halten und spiegelt wirtschafts- und energiepolitische Interessen verschiedener EU-Staaten daher unmittelbar wider. Bisher schaffte es die EU insgesamt nicht, sich als wertegelei­ teter und einheitlich agierender Akteur auf dem afrikanischen Kontinent zu beweisen und den Vorteil ihres großen Portfolios an Instrumenten in einer strategisch-kohärenten Weise um­ zusetzen. Jedoch bietet sich der Union mit dem im November 2010 stattfindenden EU-Afrika Gipfel eine Gelegenheit, um die Weichen ihrer Politik neu zu stellen. Auf Ebene der Staatsund Regierungschefs soll die EU-Afrika Strategie aus dem Jahr 2007 überprüft und überarbeitet werden. Jenseits von punk­ tuellem Aktionismus sollte die EU dann nicht die Chance ­verstreichen lassen, ihren Kurs in Subsahara-Afrika zu korri­ gieren – idealerweise als Alternative zu realpolitischen Heran­ gehensweisen hin zu einer einheitlichen, wertegeleiteten und smarten Politik.

Alexandra Jonas, Jg. 1980, arbeitete nach ihrem Studium am EU Institut für Sicherheitsstudien und als Carlo-Schmid Stipendiatin in der Direktion für Entwicklungszusammenarbeit der OECD. Seit 2008 ist sie wissen­ schaftliche Mitarbeiterin im Forschungsbereich Multinationalität/Europäische Streitkräfte des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr.


World Cup

Der Feldzug der Vuvuzelas: Impressionen aus Südafrika im Vorfeld der Fußball-WM von Feline Freier „Wenn wir uns am Bild der Massenmedien orientieren, lernen wir heute alles darüber, wie Afrikaner sterben, aber nichts ­darüber, wie sie leben“. Die Kritik des schwedischen Autoren Henning Mankell an der Reduktion Afrikas in den westlichen Medien auf Katastrophen, Gewalt und verheerende Epidemien trifft auch auf die internationale Berichterstattung über Südafrika in den vergangenen Monaten zu. Die Reportagen zur Kriminalität und dem angeblichen Rassenhass in der „Nation des zerbrochenen Regen­ bogen“ waren stark überzogen. Ich möchte dieser einseitigen Wahrnehmung Südafrikas positive gesellschaftliche Entwicklungen im Vorfeld der Fußball-WM entgegensetzen. Fußball fesselt in Südafrika die Aufmerksamkeit von Millionen. Dabei ist Fußball traditionell die Sportart der schwarzen ­Bevölkerung, während weiße Südafrikaner sich bei Rugby und Cricket vergnügen. Zunehmend lassen sich aber auch weiße Südafrikaner von der Welle der Begeisterung tragen, die mit den Vorbereitungen zur Weltmeisterschaft ins Rollen kommt. Am Soccer Friday tragen die Menschen in vielen Firmen Jeans und das Bafana Bafana Trikot der südafrikanischen Mannschaft. An verrosteten VW Golfs und Mercedes S-Klassen weht die Fahne Südafrikas.

sWorld-Cup 2010, Südafrika

Sport vereint. Das erfolgreichste Rugby-Team Südafrikas, die Blue Bulls, spielte die letzten Saisonspiele im Mai nicht mehr im stark afrikaans geprägten Stadium Loftus in der Hauptstadt Pretoria, sondern in Soweto, dem bekanntesten Township ­Südafrikas und Symbol der schwarzen Widerstandsbewegung. Das Loftus Publikum gilt als konservativ und gegen Schwarze diskriminierend. Reisebusse bringen nun die überwiegend ­weißen Fans ins überwiegend schwarze Soweto. Im Stadion versuchen weiße Afrikaaner ihren Vuvuzelas Töne abzuringen und schwarze Zuschauer nehmen ihnen die langen Fußball­ tröten ab, um zu zeigen, wie es geht. Viele Bewohner des Townships malen die Fassaden ihrer Wellblechhäuser blau an und schmücken sie mit dem Blue Bulls Wappen. Für Außenstehende ist die versöhnende Bedeutung dieser ­sozialen Annäherung zwischen schwarzen und weißen Rugbyfans und der Vermischung schwarzer Fußball- und weißer Rugby­kultur schwer zu begreifen. Soweto öffnet sich seinen in der Mehrzahl sehr konservativen oder gar der Apartheid ­zu­geneigten afrikaansen Gästen aus Pretoria. Im Vorfeld der WM bedeutet dies für Südafrikaner ein Akt der Versöhnung und der nationalen Einheit und macht Lust auf mehr – auf ähn­liche Gefühle während der Fußballweltmeisterschaft. Feline Freier, Jg. 1984, war 2008/09 Carlo-Schmid Stipendiatin bei der I­nternationalen Organisation für Migration (IOM) im Projektbüro ­Montevideo, Uruguay. 2009 arbeitete sie als Projektassistentin für die IOM in Berlin. Seit 2010 ist sie als Regionale Projektreferentin für die Friedrich-Naumann-Stiftung in Johannesburg, Südafrika, tätig.

21


Heft 8 erscheint im Herbst 2010


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.