ad hoc 8: Afghanistan

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Heft 8: Januar 2011

ad hoc international Afghanistan Persönlich – Positiv – Kritisch Vermeintlich sicher: Anschlag in Kunduz Stadt ­(Seite 2) Afghanistan: Präsent, aber fremd (Seite 4) „Von der Richtigkeit seines Tuns überzeugt sein“ – Interview mit Michael Steiner (Seite 6) Der deutsche Einsatz: Tun wir das Richtige? (Seite 9) Die Position der Frauen: Von der Sowjetzeit bis heute – Elke Jonigkeit erzählt (Seite 13) Nachgefragt: Mitglieder beantworten Fragen von Winfried Nachtwei MdB a. D. (Seite 19)


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Impressum Social Business Konzept

ad hoc international Zeitschrift des Netzwerks für Internationale Aufgaben – Stiftungskolleg und Mercator Kolleg Alumni e. V. (NefiA) und des CSP-Netzwerks für Internationale Politik und Zusammenarbeit e. V., erscheint halbjährlich. Titelbild: Mann auf einem Fahrrad, aufgenommen unweit von Kabul, Afghanistan; Foto: Daniel Maier Bildnachweis: ©Bundeswehr/Piz Heer (Spähtrupp Seite 6); ©Bundeswehr/Herholt (CH-53 im Tiefflug über der Wüste von Termez nach Kunduz Seite 6); ©Bundeswehr/Piz EinsFüKdo (Geländeüberwachung Seite 8/9); ©Bundeswehr/Bienert (Der deutsche Verbindungsoffizier in Kabul Seite 8/9); Else Engel (Portraitfoto Seite 14); Hendrik Schmitz Guinote (Portraitfoto und Foto zweier sitzender Jungen Seite 5); Mirco Günther (Seite 18); Stephanie von Hayek (Portraitfoto Seite 14); Elke Jonigkeit (Seiten 12–14); Daniel Maier (Seiten 2–5, 8–9, 16–17, 19–21); Lukasz Kowalczyk (Seite 15); Winfried Nachtwei (Portraitfoto Seite 19, Portraitfoto mit Kindern Seite 21); Florian Neutze (Portraitfoto Seite 10); Alexander Skiba (Landschaftsfoto Seite 2, Portraitfoto Seite 3, Seite 7, Gouverneur von Kunduz Seite 9, Dorfälteste Seite 13, Waisenkinder Seite 19 rechts unten); Michael Steiner (Portraitfoto Seite 6); Wiki.Commons (Seite 10); NATO (Seite 11); Jan Techau (Portraitfoto Seite 12) Herausgeber: Netzwerk für Internationale Aufgaben – Stiftungskolleg und Mercator Kolleg Alumni e. V. Senefelderstraße 28, 10437 Berlin, Telefon +49 (0)30 31102298, Fax +49 (0)30 31016229 info@nefia.org, www.nefia.org CSP-Netzwerk für internationale Politik und Zusammenarbeit e. V. Schillerstraße 57, 10627 Berlin, Telefon +49 1212 580170985, www.csp-network.org Redaktion: Stephanie von Hayek und Silke Noa Kumpf (Projektleitung), Sebastian Boll, Else Engel, Camilla Gendolla, Amelie Hinz, Christina Hübers, Anne Knauer, Carolin Kugel, Benjamin Krug, Daniel Maier, Julia Schad, Magdalena Silberberg, Alexander Skiba, Martina Vatterodt Beratung: Alexander Skiba; Bildkoordination: Daniel Maier und Benjamin Krug Autorinnen und Autoren: Hendrik Schmitz Guinote, Mirco Günther, Amelie Hinz, Daniel Maier, Florian Neutze, Alexander Skiba, Jan Techau, Stephanie von Hayek und Else Engel (Interview), Christian Resch (Interview). Die Beiträge spiegeln die persönliche Meinung der Autorinnen und Autoren wider. Idee: Ines Wolfslast Gestaltung: Ungermeyer, grafische Angelegenheiten Druck: Herforder Druckcenter Danksagung: Diese Publikation wurde von der Stiftung Mercator GmbH gefördert. Netzwerk für internationale Aufgaben Stiftungskolleg und Mercator Kolleg Alumni e. V.


Editorial

Liebe Leserinnen und Leser! „Persönliches und Positives“ sind unsere Leitgedanken für diese ad hoc international zu Afghanistan. Ohne den kritischen Blick zu verlieren, wollen wir den Versuch unternehmen inmitten ­negativer Nachrichten über kleine Erfolge und persönliche ­Begegnungen zu berichten. CSP- und NefiA-Mitglieder vor Ort und solche, die in Afghanistan gewesen sind, sowie ­Afghanistanexperten erzählen daher in dieser ­Ausgabe über ihre Arbeits- und Lebenserfahrung und geben ihre Ansichten zum ­Thema wieder. Alexander Skiba berichtet von einem Anschlag in Kunduz-Stadt auf ein amerikanisches Unternehmen der Entwicklungshilfe, den seine Freunde nur knapp überlebten. Hendrik Schmitz Guinote schildert Erfolge in der internationalen Entwicklungs­ zusammenarbeit und analysiert die schwierige Konfliktsituation. Der Sonderbeauftragte für Afghanistan und Pakistan, Michael Steiner, spricht mit uns über die Rolle Deutschlands in Afghanistan, den „vernetzten Ansatz“ und darüber, welche Fähigkeiten für eine Karriere im diplomatischen Dienst notwendig sind. Die ­NATO-Strategie in Afghanistan kommentiert für uns Jan Techau während Florian Neutze sich mit der „Warum-Frage“ des deutschen ­Afghanistaneinsatzes beschäftigt: Statt nach dem „Wann“ des Abzugs zu fragen, sollten wir uns auf eine starke zivile Partnerschaft und eine öffentliche Debatte zur ­Rolle Deutschlands in Afghanistan konzentrieren. Trotz des Krieges haben die Menschen in Afghanistan einen Alltag, sie feiern Feste und verlieben sich, stellt die Filmemacherin und Afghanistankennerin Elke Jonigkeit in unserem zweiten Interview fest. Daniel Maier weiß, dass der Straßenbau für die Stabilität ebenso wichtig ist, wie die Einbindung Afghanistans in ein kooperatives Wassermanagement, die Mirco Günther hervorhebt. Eine Besonderheit kennzeichnet diese Ausgabe: Wir haben den Bundestagsabgeordneten und Afghanistanexperten Winfried Nachtwei gebeten, Fragen an unsere Mitglieder vor Ort oder solche, die dort gewesen sind, zu formulieren. Amelie Hinz hat die Antworten gesammelt und zusammengestellt. An dieser Stelle möchten wir uns ganz herzlich bei Herrn Nachtwei für die Konzeption der Fragen bedanken! Während wir diese Ausgabe konzipierten und die Kommunikation mit den Autoren begann, merkten wir bald, wie schwierig und spannungsreich das Thema Afghanistan ist. Viele Autoren, die ursprünglich schreiben wollten, zogen ihre Artikelideen zurück, andere zogen es vor, anonym zu bleiben. Umso mehr freuen wir uns dieses Mal auf Leserbriefe. Was hat Ihnen und Euch ­g efallen? Welchen Artikel möchten Sie, möchtet Ihr kommentieren? Zusendungen an die ­Redaktion bitte an folgende Adresse: redaktion@nefia.org Unser Dank gilt der engagierten ad hoc international-Redaktion, besonders auch ­Alexander Skiba, der uns für diese Ausgabe als Afghanistanexperte beratend zur Seite stand. Eine spannende Lektüre wünschen Stephanie von Hayek und Silke Noa Kumpf

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Sicherheitsgefahren

Kunduz on my mind … von Alexander Skiba Es ist ein Freitag im November. Ich sitze zum Feierabend bei ­einem neuen Friseur in Berlin-Kreuzberg. Der übliche SmallTalk beginnt. Nach wenigen Minuten – ich bin unvorsichtig – findet André heraus, wo in „Zentralasien“ ich bis vor kurzem gearbeitet habe. Seit zwei Monaten bin ich zurück aus Kunduz, Nordafghanistan. Erschöpfende Antworten auf ernste Fragen zu Afghanistan ­lassen sich im Friseursalon kaum geben. Viele Bilder haben sich bei mir festgesetzt. Es sind einzigartige Begegnungen mit ­Menschen, die ihr Land aufbauen wollen, die uns Helfer als ­tatsächliche Hilfe ansehen und als Freunde empfangen. Darunter sind auch viele persönliche Begegnungen mit motivierten, erfahrenen und mutigen Kollegen aus dem zivilen und militärischen Umfeld. Und die Sicherheitslage? Im Juli 2010 erreicht die Bedrohung für uns Zivilisten einen vorläufigen Höhepunkt, der sich ­während der arbeitsintensiven Sommermonate kaum erahnen lässt. Neben der üblichen Sechseinhalbtagewoche steht der Besuch meines obersten Vorgesetzten an, der sich einen Eindruck von der Lage verschaffen und Entwicklungsprojekte besuchen will – ein Planungsmarathon. Daneben bereite ich Gespräche mit Dorfältesten und Stammesführern aus dem Problemdistrikt Chahar Dara vor. Er gilt als Hochburg der Taliban. Es ist ein Dialogversuch mit stolzen Männern, die uns mit misstrauischen Augen vermeintlich ungehaltene Versprechen aus der Vergangen­ heit vorhalten. Hier wollen wir in Schulen, Straßen und eine Gesundheitsstation investieren und die Zusammenarbeit mit der Bevölkerung verbessern. Seit dem Sommer 2010 erhält der Standort Kunduz insgesamt größere Aufmerksamkeit. Neben mehreren hundert US-­ Soldaten kommt auch zivile Verstärkung. Neue Gesichter sind im Restaurant Lapislazuli, dem einzigen sicheren Treffpunkt der Internationalen in der Stadt, zu sehen. Die US-Entwicklungsfirma Development Associates Inc. (DAI) will bedürftige Gemeinden in der Provinz unterstützen. Die Truppe ist bunt gemischt und mir nicht ganz unbekannt. Ihre serbische Leiterin Lilijana gehörte zu meinem Kabuler Freundeskreis, als ich 2009 zum ersten Mal nach Afghanistan kam.

Ab und zu treffen wir uns zum Feierabend privat bei DAI, ­unweit von meinem Gästehaus. Von der Dachterrasse hat man einen guten Blick über die Stadt, die weniger Einwohner als Göttingen zählt: Umfriedete Lehm- und Backsteinhäuser, auf dem östlichen Hügel das Neubaugebiet, in der Ferne die hohen Berge des Hindukusch. Als ich zum zweiten Mal zu Gast bin, wird die entspannte Pokerrunde durch den Knall von AK47Salven unterbrochen. Die Sicherheitssituation in der Provinz Kunduz ist verfahren. Wenn Gefechtslärm zu hören ist, dann kommt er aus den ­Dörfern in Chahar Dara oder Gul Tepa, wenige Kilometer ­außerhalb des Stadtzentrums. Bisweilen sind meine Mitbe­ wohner und ich Zeugen nächtlicher Flugbewegungen, sehen aus der Distanz gemeinsam mit unseren afghanischen Wachleuten zu, wie Leuchtspurmunition den Himmel erhellt, hören Schusswechsel, auch Explosionen. Wie am Set eines Kriegsfilms. Trotzdem fühlen wir uns innerhalb der Stadt sicher. Alle zehn bis zwölf Wochen sind Erholungsphasen vorge­ schrieben. Auf ereignisreiche Sommermonate zurückblickend fliege ich mit einer kleinen UN-Maschine nach Kabul. Von dort geht es am nächsten Morgen weiter nach Frankfurt, dann nach Italien. Zunächst bin ich auf Zwischenstopp in der afghanischen Hauptstadt. Das Kabuler Nachtleben und meine Freunde dort sind eine willkommene Abwechslung zur Beschaulichkeit von Kunduz. In der Nacht zum 2. Juli komme ich erst spät ins Bett. Kurz vor 9 Uhr soll der Flieger gehen. Um sechs klingelt mein Handywecker. Noch bevor ich snooze drücken kann, bemerke ich mehrere SMS vom Sicherheitssystem der deutschen Entwicklungsorganisationen. Über Kurzmitteilungen werden alle Mitarbeiter minutengenau über Vorfälle an ihren Standorten informiert. Fachleute analysieren Lageveränderungen und sprechen Warnhinweise aus.


Sicherheitsgefahren

Mein Herz rast. Ich funktioniere: Die Informationen zum ­Anschlag sind wichtig für meine Vorgesetzten in Deutschland. Ich formuliere eine SMS: „Heftiger Anschlag auf Ziv. in ­Kunduz Stadt heute Nacht. Wahrscheinlich mehrere Tote, Verletzte. ­Meine Kontakte bei DAI gehen nicht mehr ans Tel. Bitte weiterleiten.“

i Jagdbomber Sukhoi Su-17 russischer Bauart am Flughafen Kabul Es sind drei Nachrichten. Noch dazu eine von meinem Übersetzer Hanif, der in Kunduz geblieben ist und mich eifrig auf dem Laufenden hält. Die erste SMS ist um 4:03 Uhr ein­ gegangen: „Heavy explosion inside KDZ city. No security hazard for GGDO employees. Update will follow.“ KDZ steht für ­Kunduz. GGDO ist die Abkürzung für German Governmental Development Organizations, die deutschen staatlichen Ent­ wicklunglungs­organisationen. Die nächste Nachricht ist von 4:23 Uhr: „Security update: SAF & Hand Grenade detonations might be heard, the area is cordoned off by ANSF.“ SAF steht für Small Arms Fire, typischerweise Schüsse aus Kalaschnikow-Gewehren.

Ich telefoniere mit den Sicherheitsexperten vor Ort, um ein Update zu erhalten. Anscheinend sind mehrere Selbstmord­ attentäter in das Gebäude eingedrungen und liefern sich ­weiterhin heftige Schusswechsel mit afghanischen Sicherheitskräften. Das hat es in Kunduz-Stadt noch nicht gegeben. Ich stehe in der Schlange vor der Gepäckaufgabe und telefoniere mit Deutschland. Im Flüsterton gebe ich Zahlen über Tote durch und berichte, was ich in Erfahrung bringen konnte. Ich muss auflegen, als mein Handgepäck wegen Übergewicht ­zurückgewiesen wird. Unterdessen tröpfeln weitere Informationen ein. Um 8:13 Uhr schreibt Hanif: „The organization’s name is DAI and three ­international employees killed and two others wounded so far.“

Dann folgt eine Anweisung, die Häuser nicht zu verlassen.

Bald darauf sitze ich im Flugzeug. Als wir abheben, schießen mir quälende Gedanken durch den Kopf. Sind vielleicht zwei meiner Freunde tot? Sieben Stunden Ungewissheit liegen vor mir.

Ich puzzle die Informationen zusammen: Zuerst war eine ­größere Explosion mitten in der Stadt zu hören, dann Schüsse und der Einsatz von Handgranaten. Afghanische Sicherheitskräfte (ANSF) sind an Ort und Stelle und haben das Gebiet abgeriegelt.

Erst nach der Landung in Frankfurt kann ich mich über das Schicksal von Lilijana und Marc vergewissern: Sie haben überlebt. Bis zur Rettung haben sie in einem Notversteck auf dem Dach ausgeharrt, sind mit Schussverletzungen davon gekommen. Ein deutscher Sicherheitsmann ist unter den Toten.

Um 5:23 Uhr berichtet mein Übersetzer: „Five AOGs attacked an American organization inside Kunduz city; three AOGs killed so far and clash still ongoing.“ AOG ist die Abkürzung für Armed Opposition Group, der Sammelbegriff für Taliban, Aufständische, die Gegenseite.

Diese Eindrücke aus Afghanistan, und die damit verbundenen Gefühle – Hilflosigkeit, Trauer, Unsicherheit, Angst, Zweifel und Hoffnung – lassen sich nicht vom Friseurstuhl aus vermitteln. Die Namen der DAI-Mitarbeiter wurden geändert.

Ich schließe aus der SMS, dass es sich um DAI handelt, die amerikanische Entwicklungsfirma. Aber ich bin noch im Halbschlaf, muss duschen, zusammenpacken, auschecken, los. Um 7:01 Uhr steige ich vor dem Hotel Serena Kabul in einen Toyota Landcruiser. Auf dem Weg zum Flughafen sind die ­Gedanken an den Urlaub plötzlich überlagert. Könnte es sein, dass Freunde in Kunduz vor wenigen Stunden von Taliban ­umgebracht wurden? Um 7:11 Uhr versuche ich Lilijana zu ­erreichen. Sie nimmt nicht ab. Um 7:12 Uhr lasse ich lange bei Marc klingeln, ihrem US-Kollegen, den ich vor zwei Tagen noch gesehen habe. Keine Antwort.

Alexander Skiba, Jg. 1978, war 2008/09 Stiftungskollegiat. Er arbeitete von Oktober 2009 bis September 2010 als Entwicklungsbeauftragter des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) in Kunduz. Seit Oktober 2010 ist er Länderreferent für ­Afghanistan im BMZ Berlin. Der ­Autor gibt hier ausschließlich seine ­eigene Meinung wieder.

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Entwicklungszusammenarbeit

Afghanistan: Annäherungen an ein präsentes und doch fremdes Land von Hendrik Schmitz Guinote Afghanistan ist für die meisten Menschen in Deutschland trotz der fast täglichen Präsenz in den Medien ein sehr fremdes, kaum verständliches Land geblieben. Dieser Artikel ist ein Versuch, die Vielschichtigkeit der Entwicklungen in Afghanistan zu skizzieren. Positive Entwicklungen, zum Beispiel im Gesund­ heitswesen und bei der Bildung stehen in deutlichem Gegensatz zu Stagnation und Rückschritten in anderen Bereichen, zum Beispiel bei der Korruptionsbekämpfung und bei der Entwicklung der Sicherheitslage. Die letzten Jahre haben gezeigt, dass die internationale Gemeinschaft bei einer dauerhaften Konfliktlösung nur eine unterstützende Funktion übernehmen kann und sich vor allem auf den Aufbau funktionierender Institutionen konzentrieren sollte. Entwicklungstrends Tausende von Schulen wurden gebaut, Millionen von Kindern wurden eingeschult, und die Analphabetismusraten sinken zum ersten Mal seit 30 Jahren. 40 % der Schulkinder sind Mädchen. In wenigen Jahren ist ein Straßennetz entstanden, von dem ­andere Länder mit ähnlicher Einkommenssituation nur träumen können. Afghanistan hat fast konstant zweistellige Wachstumsraten, 2009 wurde die beste Ernte seit über 30 Jahren ­eingefahren. 85 % der Bevölkerung haben heute Zugang zu ­Gesundheitsversorgung, 2002 waren es 9 %. Dadurch geht die Kindersterblichkeit zurück. Während noch 2002 25 von 100 Kindern nicht älter wurden als fünf Jahre, liegt diese Zahl heute zwischen 16 und 20. Das ist immer noch inakzeptabel hoch, aber jedes Jahr werden zehntausende Kinder vor dem Tod ­bewahrt. Dennoch: Krieg und Gewalt dauern an, Afghanistan kommt nicht zur Ruhe. Während einige Gebiete prosperieren, nimmt die Intensität der Kämpfe in anderen Gegenden zu. Jedes Jahr sterben mehr Zivilisten. Die meisten sterben durch Straßenbomben und blinden Terror der Aufständischen der mit ihnen verbündeten Terrornetzwerken, andere in Folge von Militäroperationen der afghanischen Regierung und der NATOTruppen.

Konfliktlinien und Lehren aus Krieg und Bürgerkrieg Auch nach mehr als acht Jahren im Land ist es den internationalen Akteuren noch nicht gelungen, die komplexen Konfliktlinien und Dynamiken in Afghanistan vollständig zu ver­stehen. Eine zentrale Rolle spielt dabei, dass der Gesamtkonflikt das Ergebnis tausender lokaler, höchst dynamischer Konflikte ist. Diese lassen sich oft nur lokal erkennen und verstehen. Über­ lagert wird das Ganze von Konflikten um Macht und politischen Einfluss, um die Kontrolle von Ressourcenströmen, von Konflikten zwischen der relativen Moderne städtischer Eliten und konservativen Strukturen auf dem Land. In Jahrzehnten von Krieg und Bürgerkrieg haben viele Afghanen gelernt, dass es gefährlich sein kann, sich in einem Konflikt klar auf eine Seite zu stellen. Dafür hat sich das Blatt in den vergangenen Jahren zu oft gewendet: Die sowjetischen Truppen wurden von den Mudschaheddin vertrieben, diese von den Taliban, die wiederum von der Nordallianz mit der Unterstützung der USA. Viele Kommandeure haben über die Jahre die Seiten gewechselt, Allianzen wurden geschmiedet und verraten. Fast nie hat eine Seite einen vollständigen Sieg davongetragen, nie hat eine Seite das ganze Land kontrolliert. Schwäche der Institutionen Diese Vielschichtigkeit der Konflikte ist eine der Ursachen, deret­wegen es bislang nicht gelungen ist, funktionierende, von einzelnen Personen unabhängige staatliche Institutionen zu schaffen. Zu oft wird der Staat noch immer als Apparat zur Durchsetzung von Partikularinteressen und zur persönlichen Bereicherung wahrgenommen. Diese Probleme treten vor allem im Justizsektor zu Tage. Die Menschen haben das Gefühl, dass vor allem Geld und Einfluss darüber entscheiden, was Recht und Unrecht ist. Um den afghanischen Staat überlebensfähig zu machen, wird es entscheidend sein, leistungsfähige und inklusive Institutionen zu schaffen, die Mindestanforderungen in rechtsstaatlicher und demokratischer Hinsicht genügen und den Menschen das Gefühl geben, dass der Staat für sie da ist und ihre Rechte garantiert.


Entwicklungszusammenarbeit

Trotz aller Probleme und der Tatsache, dass die Präsidentschaftswahlen 2009 und die Parlamentswahlen 2010 von Manipulationsvorwürfen und Fälschungen überschattet wurden, steigt die Zufriedenheit der afghanischen Bevölkerung mit ihrer Regierung. Positive Entwicklungen, zum Beispiel bei der ­Bereitstellung von Basisdienstleistungen wie Gesundheits-, Wasser- und Energieversorgung sowie im Bildungsbereich, werden zunehmend der Regierung und immer weniger den inter­nationalen Akteuren zugeschrieben. Zudem machen sich eine Professionalisierung und eine wirkungsvollere Kontrolle der afghanischen Sicherheitskräfte langsam positiv bemerkbar. Wirkung der internationalen Präsenz Die afghanischen Institutionen werden auch in den kommenden Jahren Unterstützung von außen benötigen, um ihre Aufgaben zu erfüllen. Das gilt sowohl für Polizei, Justiz und Streitkräfte, als auch für die allgemeine Verwaltung und die Bereitstellung von Basisdienstleistungen. Wichtig wird dabei sein, dass sich die internationale Seite zunehmend auf Trainingsmaßnahmen und Beratung beschränkt und der afghanischen Seite den Vortritt bei der eigentlichen Leistungserbringung zu Gunsten ihrer Bürger überlässt. Die Befürchtung, dass das Land bei einem plötzlichen Abzug der internationalen Truppen, wie auch schon nach dem Abzug der Sowjets, in einem Bürgerkrieg versinken würde, ist real. Denn eines ist sicher: Die internationale Präsenz wirkt einend auf die verschiedenen Fraktionen, sowohl innerhalb von Regierung und Parlament, als auch bei ihren Gegnern. Afghanistan könnte schnell wieder in viele kleine Fürstentümer zerfallen, wie zuletzt in der Zeit der Mudschaheddin nach Abzug der ­sowjetischen Truppen.

Ausblick Die letzten Jahre haben eindrucksvoll gezeigt, dass eine Lösung der Konflikte in Afghanistan nicht von außen und nicht mit militärischen Mitteln allein erreicht werden kann. Afghanistan ist ein vielfach gespaltenes Land. Es wird sich zeigen, ob das ­politische System in der Lage ist, die divergierenden Interessen der einzelnen Volksgruppen, Glaubensrichtungen, alten und neuen Eliten, von Land- und Stadtbevölkerung, von Minderund Mehrheiten miteinander auszugleichen. Eine nachhaltige Konfliktlösung kann nur von innen kommen, muss politischer Natur sein, und die unterschiedlichen Interessen zu einem für alle Seiten akzeptablen Paket zusammenschnüren. Zugleich müssen wir uns vor Augen halten, dass in Afghanistan keine Wunder eintreten werden. Der Aufbau funktionsfähiger und krisenfester Institutionen dauert in der Regel Jahrzehnte. Viele Afghanen haben Angst, erneut zwischen die Fronten zu geraten. Es wird Jahre dauern, bis die Menschen bereit sind, dem Staat zu vertrauen und ihn gegebenenfalls auch zu verteidigen. Und trotz überwiegend zweistelliger Wachstumsraten in den vergangenen Jahren wird Afghanistan auch in 20 Jahren noch ein vergleichsweise armes Land sein. Anlass zur Zuversicht gibt aber die Tatsache, dass ein Großteil der Afghanen, trotz einer gewissen Ernüchterung gegenüber 2009, weiterhin mit Optimismus in die Zukunft schaut. 56 % der Bevölkerung waren bei einer Umfrage im November 2010 davon überzeugt, dass es ihren Kindern besser gehen wird als ihnen selbst. Nur 17 % glaubten das Gegenteil. 59 % der ­Befragten gaben an, dass sich Afghanistan in die richtige ­Richtung bewegt.

d Der zerstörte Darul-Aman Palast in Kabul wurde in den 1920er Jahren g­ ebaut und sollte einst das afghanische Parlament beherbergen (links); Szene in der Altstadt von Kabul (Mitte); Teezeremonie ist ein Gebot der Gastfreundschaft – Thermoskannen stehen daher hoch im Kurs (rechts); Checkpoint an der Einfahrt zum UN Gelände an der Jalalabad Road in Kabul (unten)

Hendrik Schmitz Guinote, Jg. 1975, war von Juli 2008 bis Dezember 2009 als B ­ eauftragter für die Entwicklungszusammenarbeit in Mazar-e-Sharif tätig und arbeitet derzeit an der Ständigen Vertretung Deutschlands bei den VN in New York. Als Stipendiat des Stiftungskollegs beschäftigte er sich 2002/03 mit Stabilisierung von Post-Konfliktgebieten: Tbilissi, ­Georgien und Dili, Timor-Leste. Der A ­ utor gibt hier ausschließlich seine eigene M ­ einung wieder.

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Deutsche Afghanistandiplomatie

„Eine gewisse ­Entscheidungsfreude ist hilfreich“ Im April 2010 wurde Michael Steiner zum Sonderbeauftragten der Bundesregierung für Afghanistan und Pakistan ernannt. Der gebürtige Münchner empfängt uns mit einem fröhlichen „Servus“ in seinem Büro im Auswärtigen Amt. Ein Gespräch über diplomatische Karrieren, ­internationale Konflikte und Afghanistan. ad hoc: Herr Steiner, Sie waren in Prag als die Mauer fiel, Sie waren Erster Stellvertreter des Hohen Repräsentanten für Bosnien und Herzegowina, Sie haben die VN-Mission im Kosovo geleitet. Seit April sind Sie zuständig für Afghanistan und Pakistan. Wie kommt es, dass Sie immer dort sind, wo es brennt? Steiner: Eine bewusste Karriereplanung habe ich nie gemacht. Die Personalabteilung wählte die Stellen aus und ich hatte Glück. Der Posten 1989/90 in Prag beispielsweise sollte ein ruhiger Posten werden, weil ich davor eine ziemlich aufregende Zeit im Sicherheitsrat der VN in New York im Zusammenhang mit dem Irak-Iran-Krieg Anfang der 80er Jahre verbracht hatte. Wie Sie wissen, kam es an der deutschen Botschaft in Prag dann ganz anders. ad hoc: Welche spezifischen Fähigkeiten braucht es für die ­Positionen, die Sie innehatten und die häufig „Sonderposten“ waren? Steiner: Die Berufsanforderungen für Diplomaten haben sich sehr verändert und werden sich weiter verändern. Aber das, was man als Fähigkeit mitbringen muss, ist heute auch eine operative Präsenz in Krisen. ad hoc: Was verstehen Sie darunter? Steiner: Diplomaten arbeiten inzwischen zunehmend auch unter genauso gefährlichen Bedingungen wie Soldaten. Sie gehören zu den ersten, die ganz schnell und improvisiert ­handeln müssen. Das sind Frauen und Männer der ersten Stunde, die unbürokratische, oft hemdsärmelige und häufig auch weit reichende Entscheidungen vor Ort treffen. Das ­gehört heute zum Berufsbild dazu, im geteilten Deutschland war das anders. Als ich ins Auswärtige Amt kam, war Deutschland noch kein vollständig souveräner Staat. Wir ­kamen im Geleitmarsch der Alliierten, der Amerikaner, ­Franzosen und Briten – operative Aufgaben hatten wir weniger. CH-53 im Tiefflug über der Wüste von Termez nach Kunduz (unten); a Spähtrupp im Einsatzland Afghanistan (rechts)

ad hoc: Was würden Sie einem jungen Stipendiaten raten, der am Beginn seiner Karriere steht? Steiner: Du musst innerlich von der Richtigkeit deines Tuns überzeugt sein, auch wenn du natürlich manchmal ­Weisungen erhältst, die dir nicht so gefallen. Ich glaube, dass das moralisch Richtige eine langfristige Durchsetzungskraft hat. Eine von ­Zynismus getragene Politik kann letztlich nicht erfolgreich sein. Sie kann vordergründige, aber keine langfristig tragenden Ergebnisse bringen. ad hoc: Wissen, wo man steht. Steiner: Ja, ich glaube, das ist wichtig. Eine gewisse Ent­ scheidungsfreude ist sicherlich auch hilfreich. Übrigens habe ich auch gelernt, dass die mit zunehmenden Entscheidungs­ befugnissen verbundene Verantwortung eine drückende Last sein kann. Als Special Representative des UN General­sekretärs (SRSG) im Kosovo hatte ich mehrere Tausend Mit­arbeiter. Da standen laufend Entscheidungen an. Oft gab es keine ­richtigen oder falschen, nur bessere oder schlechtere ­Ent­scheidungen. Und das lastet auf einem. ad hoc: Wie haben Sie in diesen wechselnden Führungspositio­ nen Ihre Rolle als Deutscher wahrgenommen? Steiner: Als ich ins Auswärtige Amt kam, war die deutsche Vergangenheit ein ständiger stummer Begleiter, auch bei den Partnern in der Europäischen Union und in den Vereinten ­Nationen. Sie ist es für mich noch heute, aber sie ist in einen unterbewussten Grundstock eingesunken. Heute sind Vertreter anderer Staaten uns gegenüber völlig unbefangen.


Deutsche Afghanistandiplomatie

ad hoc: Viele ausländische Regierungen und Analysten fordern von Deutschland eine aktivere Rolle, sowohl in der NATO als auch in der EU. Finanzminister Wolfgang Schäuble hat dazu ­geschrieben: „Eine Führungsrolle in der Außen- und Sicherheitspolitik kann und will Deutschland nicht spielen.“ Was ist Ihre Prognose? Steiner: Noch Mitte der Neunziger hat sich auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos die Welt westlich geprägt abgebildet: Amerikaner, Europäer und einige Vertreter, wie wir damals sagten, der „Dritten Welt.“ Als ich 2005 wieder in Davos war, spiegelten sich dort die realen Verhältnisse der Welt vollkommen anders wider. Man begegnete vor allem aufsteigenden ­asiatischen Nationen, China, Indien, aber auch Brasilien. Die Vorstellung, wir könnten globale deutsche Außenpolitik ­betreiben, ist überholt. Wir können nur als Europäer ein ­wirklich globaler Faktor sein.

„Deutschland hat einen Vertrauens­vorschuss. Das merke ich auch in ­Afghanistan.“ ad hoc: Es geht also um die Rolle Deutschlands in Europa? Steiner: Im wohlverstandenen Eigeninteresse müssen wir an der Spitze des europäischen Fortschritts marschieren, alles ­andere wäre gerade für uns fatal. Deutschland hat einen ­Vertrauensvorschuss. Das merke ich auch in Afghanistan. Vielleicht, weil wir aufgrund unserer Geschichte gezwungen ­wurden, in den Spiegel zu schauen. Nicht ganz freiwillig … ad hoc: … und nicht alle … Steiner: Die zentrale Frage der 68er Generation in Deutschland an ihre Väter war doch: „Wo warst du im Dritten Reich?“ Den Vertrauensbonus haben wir uns letztlich nicht wegen ­unserer Pünktlichkeit oder Fleißes erworben – das ist kein ­Alleinstellungsmerkmal mehr. Sondern weil wir Deutsche uns unserer historischen Verantwortung gestellt haben.

s Diskussion über Entwicklungsprojekte zwischen Dorfältesten und

­Vertretern von BMZ und GTZ im Distrikt Qala-i-Zal, Provinz Kunduz

ad hoc: Afghanistan ist ein Beispiel für asymmetrische Kriege. Der „vernetzte Ansatz“, das heißt die enge Zusammenarbeit verschiedener Ministerien in der Sicherheitspolitik, ist durch das deutsche Engagement in Afghanistan zu einem festen Bezugspunkt in der sicherheitspolitischen Debatte geworden. Ist der „vernetzte Ansatz“ schon deutlich genug ausgeprägt? Steiner: Der Fortschrittsbericht der Bundesregierung zu ihrem Engagement in Afghanistan, der im Dezember vorgestellt ­wurde, ist die Exemplifizierung des „vernetzten Ansatzes“. Die beteiligten Ressorts Außenamt, Verteidigung, Entwicklung und Innenministerium sind in der Lage, einen in sich schlüssigen Gesamtbericht vorzulegen. Der „vernetzte Ansatz“ ist Ausdruck einer objektiven Notwendigkeit. In einer Situation, wo so ziemlich alles asymmetrisch wird, ist es schwierig einen Anfang und ein Ende zu definieren – anders als in früheren Kriegen. Heute kann man nicht mehr in Sieg- und Verlust­ kategorien denken, sondern muss die Interessen der anderen mitdenken. ad hoc: Wie funktioniert die Zusammenarbeit? Reichen die ­wöchentlichen Videokonferenzen aus oder braucht es eine per­ manente Steuerungsgruppe? Steiner: Die Videokonferenzen führt der Arbeitsstab für ­Afghanistan und Pakistan mit denjenigen, die sehr weit weg sind. Natürlich gibt es auch Ressortegoismen. Allerdings ­wissen die beteiligten Ministerien, dass wir bei einem so wichtigen Thema wie Afghanistan keine Punkte auf Kosten des ­jeweils anderen Ressorts machen können. Wenn Afghanistan schief ginge, dann wäre das ein Misserfolg aller beteiligter ­Ministerien. Ein Erfolg dagegen ist unser gemeinsamer Erfolg, auch der Afghanen und der internationalen Gemeinschaft. ad hoc: Auf dem NATO-Gipfel in Lissabon im November ­wurde beschlossen, 2011 die Übergabe der Verantwortung für die Sicherheit in noch zu bestimmenden Gebieten an afghanische ­Sicherheitskräfte einzuleiten. Dann sollen laut Präsident Obama bereits erste US-Soldaten das Land verlassen. Senator John ­McCain kritisiert den Plan der USA: „Man kämpft bis zum Sieg, und danach zieht man ab.“ Wie wird die NATO sicher­ stellen können, dass die Taliban nicht einfach den Abzug der internationalen Truppen abwarten und dann erneut „zuschlagen“? Steiner: Wir würden eine solche Formulierung nicht ver­ wenden. Die Kategorien von Sieg und Niederlage passen nicht mehr. Was wir in Afghanistan erreichen wollen, ist hin­ reichende Sicherheit und die Gewährleistung essentieller Menschenrechte. Wir haben einen Transitionsprozess bis 2014, aber das heißt nicht, dass das internationale Engagement nach 2014 vorbei sein darf. Das Engagement verändert sich: Weg von Kampftruppen hin zu Ausbildungsunterstützung der ­afghanischen Sicherheitskräfte plus wirtschaftliche Entwicklung durch die internationale Gemeinschaft. Wenn das inter­ nationale Engagement aufhören würde, würde passieren, was Sie ansprechen. p

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Deutsche Afghanistandiplomatie

f Checkpoint am Flughafen Kabul p Geländeüberwachung deutscher Soldaten auf Patrouille

in den Bergen von Feyzabad (oben); Der deutsche Verbindungsoffizier in Kabul auf dem Weg zu afghanischen Behörden (unten).

ad hoc: Und das wären die essentiellen Menschenrechte? Steiner: Essentiell ist auch, dass Mädchen zur Schule gehen können. Essentielle Menschenrechte sind „fundamental human rights“ in der Diktion der Menschenrechtler. Aber wir müssen akzeptieren, dass wir bis 2014 kein Menschenrechts­ paradies – das gibt es ohnehin nicht – erreichen werden. Doch die grundlegenden Rechte müssen eingehalten werden. ad hoc: Sie haben sich dahingehend geäußert, dass nur eine ­politische Lösung für Afghanistan funktionieren kann. Auf welche Kompromisse mit „den Taliban“ müssen wir uns konkret ein­ stellen? Steiner: Die Taliban sind Teil der afghanischen Realität, also müssen wir sie als Teil der Lösung akzeptieren. Aber nicht ohne Weiteres. Wir können nicht ins Taliban-Mittelalter zurück­ gehen. Mädchen müssen weiter zur Schule gehen können. Die essentiellen Menschenrechte müssen gewährleistet werden. Die Verbindungen zum internationalen Terrorismus müssen gekappt, der afghanische Verfassungsrahmen anerkannt werden. Wenn wir in Afghanistan scheitern, dann würden alle 48 Staaten scheitern, die mit Truppen an ISAF beteiligt sind, darunter übrigens auch muslimische. Das hätte zur Folge, dass die falschen Leute sagen könnten „Wir haben die ganze Welt besiegt.“ ad hoc: Der Schutz der Menschenrechte in Afghanistan – ins­ besondere der von Frauen – spielte eine große Rolle, als 2002 bei der Bevölkerung für eine Unterstützung des deutschen ­militärischen Engagements in Afghanistan geworben wurde. Was genau bedeutet es, wenn Sie von „essentiellen Menschenrechten“ sprechen? Steiner: Zum Teil sind Menschenrechte leicht zu definieren: keine Folter, Habeas Corpus, körperliche Unversehrtheit und vor allem das Recht auf Leben – da kann man durchaus internationale Einigkeit erzielen.

ad hoc: Welche Rolle spielt Pakistan? Steiner: Pakistan muss Teil der Lösung sein, wenn nicht, wird sein Störpotential eine dauerhafte Lösung erschweren. Pakistan kann kein Interesse an Chaos in seinem Nachbarland haben, das hätte unkontrollierbare Folgen. Deswegen hat Pakistan ein objektives Interesse daran, dass wir in Afghanistan hin­ reichende Stabilität erzielen.

„Wir können nicht ins Taliban-­ Mittelalter zurück­gehen. Mädchen müssen weiter zur Schule ­gehen können.“ ad hoc: Helmut Schmidt sagte, Afghanistan sei unregierbar. Was sagen Sie? Steiner: Dass wir Afghanistan gar nicht regieren wollen. Wir wollen hinreichende Stabilität, essentielle Menschenrechte ­erreichen – auf der Basis einer inklusiven politischen Lösung im Innern, die dann von der Region indossiert wird. Von außen kann man Afghanistan bestimmt nicht regieren. Da hat ­Helmut Schmidt sicher recht. ad hoc: Herr Steiner, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. Das Interview führten Stephanie von Hayek und Christian Resch.

Stephanie von Hayek, Jg. 1971, war 2000/01 Stiftungskollegiatin und

Christian Resch, Jg. 1976, war 2001/02 Stiftungskollegiat mit Stationen bei

­verbrachte ihr Jahr beim United Nations Office for Project Services in New

­Médecins Sans Frontières – Ärzte ohnen Grenzen in Berlin, UNAIDS in

York und bei der Weltbank-Gruppe in Washington D. C. Danach arbeitete

Guatemala und der Welthandelsorganisation in Genf, wo er sich mit dem

sie als Beraterin in einer Berliner Public Affairs Beratung, bevor sie mehrere

­Zusammenhang zwischen Freihandel, Patenten und dem Zugang zu Medika-

Jahre als Referentin für die Versammlung der Regionen Europas in Straßburg

menten beschäftigte. Nach weiteren Stationen landete er im Auswärtigen

tätig war. Heute arbeitet sie freiberuflich als Politikberaterin, Moderatorin

Amt, zunächst in Sudan (Dschuba), jetzt ist er im NATO-Referat zuständig

und Journalistin in Potsdam und Berlin.

für ISAF.


Bundeswehreinsatz

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Warum statt wann – Die überfällige ­Debatte um den deutschen Einsatz in Afghanistan von Florian Neutze Im Januar 2011 wird das Mandat für den Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr um ein weiteres Jahr verlängert. Der Einsatz von zivilen und militärischen Kräften geht in das zehnte Jahr. Doch betrachtet man im Rahmen der Mandatsverlängerung die Diskussion um das deutsche Engagement, so scheint nur noch das reflexartige „Wann?“ des Abzugs wirklich eine Rolle zu spielen: „Exitstrategie“, „Transformation“, „Übergabe in ­Verantwortung“ sind die Schlagworte, die die Debatte prägen. Getrieben von dem Versäumnis, die Rolle und Bedeutung des deutschen Engagements nie gesellschaftlich erklärt, geschweige denn debattiert zu haben, versucht die Bundesregierung, den öffentlichen Druck durch vage Abzugstermine zu kanalisieren. Hauptsache schnell wieder raus aus dem Land, scheint das Motto. Dabei bräuchte Afghanistan jetzt mehr denn je eine starke zivile Partnerschaft und die deutsche Gesellschaft eine breite gesellschaftliche Debatte zur Rolle und Verantwortung des deutschen Engagements. Wenn die Übergabe in Verantwortung kein blanker Zynismus werden soll, muss jetzt ein ­ziviler Kapazitätsaufbau mit allen verfügbaren Mitteln vorangetrieben werden. Ich habe aufgehört, Veranstaltungen und Debatten über die deutsche Beteiligung in Afghanistan zu besuchen. Der Grund sind die immer gleichen Antworten auf dieselben, immer ­wiederkehrenden bohrenden Fragen: „Warum sind wir überhaupt da?“ oder „Was ist in den zehn Jahren besser geworden?“ Als Zuhörer verspürt man die lähmende Hilflosigkeit und Verunsicherung einer Gesellschaft, die vehement nach Antworten auf die Frage sucht, ob Deutschland mit seinem ­Engagement in Afghanistan das Richtige tut. Doch was ist das Richtige? Und warum werden auch nach zehn Jahren ­immer noch dieselben Fragen gestellt?

Die öffentliche Verunsicherung, die erfolglose Suche nach ­Antworten auf das „Warum?“ spiegelt sich in der mehrheit­ lichen Ablehnung des Afghanistan-Engagements seitens der deutschen Öffentlichkeit wider. Die Bundesregierung jedoch verweigert sich bis heute standhaft einer breiten gesellschaft­ lichen Debatte zur Rolle und Aufgabe Deutschlands in Afghanistan, einem Land, das für viele zu fern, zu fremd, zu un­wichtig und zu komplex erscheint, als dass der Tod von 45 deutschen Soldaten und 1,2 Milliarden Euro an ­finanzieller Hilfe gerechtfertigt wäre. Ein Abzug deutscher Soldaten steht auf dem politischen Wunschzettel an erster Stelle. Darf man sich jedoch als Politiker im Hinblick auf den erhofften Abzug der Legitimations­­ debatte – also der Frage nach dem „Warum?“ – mit einer lebhaften Diskussion über das „Wann?“ entziehen? Mitnichten! ­Afghanistan ist zu komplex, die Konfliktlinien sind zu vielschichtig, als dass dies ein Ort für schnelle Erfolge sein könnte. Das Land wird auch weiterhin auf der Agenda deutscher Außenund Entwicklungspolitik bleiben. Allein in diesem Jahr werden über 450 Millionen Euro in die Entwicklungszusammenarbeit fließen – aus Steuergeldern. Weiterhin setzen sich nicht nur deutsche Soldatinnen und Soldaten, sondern auch Entwicklungshelfer dem Risiko aus, ihren Einsatz mit dem Leben zu bezahlen. Der Bedarf an einer politisch-gesellschaftlichen ­Debatte zum Engagement und einer Antwort auf das „Warum?“ war nie größer. Doch wie ist das deutsche Engagement in ­Afghanistan zu rechtfertigen? Keine Aussage wird so oft in Verbindung zum deutschen Afghanistan-Engagement gebracht wie das Struck’sche Mantra, die Sicherheit Deutschlands werde auch am Hindukusch verteidigt. Und keine Aussage symbolisiert auf tragische Weise zugleich die Eindimensionalität und Naivität eines ­erhofften kurzen, sauberen Militäreinsatzes wie die Weigerung, ein folgenschweres deutsches Engagement auf eine breitere ­argumentative Basis zu stellen.

f Der Gouverneur von Kunduz,

­ ohammed Omar, kam im M ­Oktober 2010 bei einem ­Anschlag ums Leben.


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Bundeswehreinsatz

iAktion im Bundestag gegen den Krieg in Afghanistan Doch trifft dieses Mantra noch zu? Würde die Bundeswehr die deutsche Sicherheit verteidigen wollen, müsste sie dies nicht auch gegen die Al-Qaida Netzwerke in den pakistanischen Grenzgebieten tun? Bundeswehr und Entwicklungspolitik kämpfen und arbeiten in Afghanistan, einem Land, das sich in neun Jahren verändert hat. Mit dem Land haben sich auch die Dimension und die Aufgabe des deutschen Engagements ­verändert und vor allem erweitert; man spricht in diesen Fällen von „Mission Creep“. Der Einsatz am Hindukusch ist mittlerweile weder ein Akt der Landesverteidigung, noch der erhoffte kurze und saubere Militärschlag, an den man noch im Winter 2002 glaubte. Das deutsche Engagement richtet sich gegen ­keinen eindeutigen Gegner. Es setzt sich zivil ein für soziale und gesellschaftliche Entwicklung, für Menschenrechte, für menschenwürdige Lebensbedingungen, für Infrastruktur und Gesundheitsversorgung. Es bekämpft Diskriminierung von Frauen und hohe Säuglingssterblichkeit. Die Erfolge dieses ­Engagements sichert es – noch – mit Waffengewalt. Die politische und moralische Legitimation des Einsatzes ­jedoch ist die alte. Bei der Suche nach einer Antwort auf das „Warum?“ befinden wir uns noch immer im Jahr 2002. Bundes­ kanzlerin Merkel ziert sich auch im fünften Jahr ihrer Kanzlerschaft aus politischem Kalkül heraus, einer dringend not­ wendigen, gesellschaftlichen Debatte über Afghanistan den Weg zu bereiten. Das deutsche politische System mit alljähr­ lichen Bundes- oder Landtagswahlen mag hierfür eine Er­ klärung, jedoch keine Entschuldigung sein. Wer will es einer deutschen Öffentlichkeit da übel nehmen, das deutsche Engagement abzulehnen?

Hilft es, den Blick nach Kabul, Herat oder Mazar-e-Sharif zu wenden? Zuallererst ist man konfrontiert mit einer erodierenden Sicherheitslage in Teilen des Landes, wieder erstarkenden ­warlords und einem florierenden Opiumhandel. Die Probleme des Landes beschränken sich nicht auf die Taliban. Man sieht jedoch auch, dass sieben Millionen Schüler heute in Afghanistan zur Schule gehen (und damit 6 Millionen mehr als im Jahr 2001), über 150 000 neue Lehrer (30 % davon Frauen) ein­ gestellt wurden und 80 % aller Afghanen wieder Zugang zu ­einer gesundheitlichen Grundversorgung haben. Die Bürger Kabuls und Herats verfügen auch dank deutscher Entwicklungszusammenarbeit wieder über einen verlässlichen Trinkwasserzugang. Ja, in Afghanistan ist nichts perfekt, aber vieles ist auf einem guten Weg. Die politische Entscheidung für eine Übergabe in Verantwortung ist folgerichtig. „Jede Bundeswehr muss grundsätzlich ­bereit sein, sich um einer besseren politischen Lösung willen in Frage stellen zu lassen“. Das Zitat von Gustav Heinemann von 1969 ist auch mit Blick auf den Kampfeinsatz der Bundeswehr in Afghanistan aktueller denn je. Die Reduzierung von ­deutschen Soldaten, die Übergabe der Verantwortung an die ­Afghanen und die massive Aufstockung entwicklungs­ politischer Zusammenarbeit kann dem Land den Weg in eine nachhaltige Entwicklung ebnen. Die Entscheidung ist zugleich mutig, weil Deutschland sich verpflichtet, weiterhin auf Jahre ein hohes Maß an Verantwortung und finanzieller Unter­ stützung zu übernehmen. Will die deutsche Politik parteiübergreifend dieser Verant­ wortung gerecht werden, kann das Engagement jedoch nicht weiterhin gegen eine mehrheitlich ablehnende Öffentlichkeit geführt werden. Es ist unumgänglich, die politisch verschleppte Debatte zur Rolle und Verantwortung Deutschlands in ­Afghanistan gesellschaftlich zu führen. Geschieht dies nicht, so kann sich eine Übergabe in Verantwortung im Hinblick auf die sich ankündigende Bundestagswahl 2013 und die Beispiele Kanadas und der Niederlande schnell in eine verantwortungslose Aufgabe des deutschen ­Engagements entwickeln. Die Frage „Was ist denn in zehn ­Jahren besser geworden?“ müsste sonst so beantwortet­ werden: Nichts! Florian Neutze, Jg. 1981, ist aktueller Stipendiat des Mercator Kollegs. Der Politik- und Verwaltungswirt beschäftigt sich mit den Erfolgs­ faktoren bilateraler ziviler Entwicklungszusammenarbeit des deutschen Engagements in Afghanistan. Seine erste Station verbringt er im „Crisis Response Team Asia“ der Kf W Entwicklungsbank. Ab Februar 2011 geht er nach Afghanistan, um dort für den zivilen Wiederaufbau zu arbeiten. Nach dem Studium arbeitete er im Parteivorstand der SPD als Mitarbeiter von Frank-Walter Steinmeier für den Europa- und Bundestagswahlkampf. Der ­Autor gibt hier ausschließlich seine eigene Meinung wieder.


NATO-Einsatz

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Die NATO: Runderneuert raus aus Afghanistan von Jan Techau Anders Fogh Rasmussen hat den Afghanistan-Krieg gewonnen. Als er am 1. August 2009 Generalsekretär der NATO wurde, übernahm er eine Organisation, die an schwerer AfghanistanDepression zu verzweifeln drohte. Die Allianz schien sich ver­ hoben zu haben. Weder der Militäreinsatz noch der zivile ­Wiederaufbau kamen voran, Amerikaner, Niederländer und ­Kanadier machten sich daran, Abzugspläne aufzulegen, und nicht wenige „Experten“ sagten voraus, dass mit dem Scheitern am Hindukusch auch das Ende des Bündnisses kommen würde. Eineinhalb Jahre später ist alles anders. Rasmussen hat mit dem neuen strategischen Konzept der NATO sein Meisterstück ab­ geliefert. Das Brüsseler Hauptquartier arbeitet nach dem Lissabonner Gipfel im November 2010 an dutzenden Arbeitsauf­ trägen (u.a. zu Nuklearplanung, Partnerschaftsprogrammen und Russland), und auf internationalen Konferenzen ist das Thema Afghanistan nurmehr ein Nebenthema. Was ist passiert? Zum einen hat der absehbare Abzugstermin 2014 viel Druck aus der Debatte genommen. Der amerikanische Präsident hatte sich hier aus innenpolitischen Gründen festgelegt, und die NATO ist ihm dabei im Wesentlichen gefolgt. Zum anderen hat Rasmussen als ehemaliger dänischer Regierungschef die direkten Kontakte zu seinen ehemaligen Amtskollegen dazu genutzt, die politische Debatte wieder zurück in die NATO zu holen. Wo früher eingesessene NATO-Botschafter das Bündnisgeschäft mehr verwaltet als gestaltet haben, herrscht heute Dialog auf höchster Ebene. Dem Ziel, die NATO politischer zu machen, ist man ein Stück näher gekommen. Hinzu kommt, dass das Thema Raketenabwehr offenbar Bewegung in das festgefahrene Ver­ hältnis zu Russland bringt. Am wichtigsten aber ist, dass sich die NATO als lernendes System erweist, das die Erfahrungen aus Afghanistan annimmt. Statt wie hypnotisiert auf eine sich verschlechterende Lage zu starren, hat das Bündnis Afghanistan zum Wendepunkt für die eigene Neuausrichtung gemacht.

Begonnen hat dies mit der schleichenden Reduzierung der Ziele vor Ort. Ursprüngliches Einsatzziel war es, terroristischen Gruppierungen ihr Rückzugsgebiet zu nehmen. Doch schon bald nach dem schnellen Sieg amerikanischer Truppen über die regierenden Taliban wurde der Einsatz mit hehren aber unrealistischen ­Demokratiserungs- und Wiederaufbauzielen überfrachtet, vor allem von den USA. Seit 2009 hat man diese überzogene Er­ wartungshaltung deutlich heruntergeschraubt. Statt Muster­ demokratie und lückenlosem Rechtsstaat gilt jetzt: grund­legende Stabilität, Schutz der Bevölkerung, Ausbau der Infrastruktur und die Schaffung halbwegs funktionierender, selbsttragender Sicherheitsorgane. Das ist immer noch ambitioniert, aber nicht mehr von vornherein unmöglich. Und diese Reduzierung des level of ambition scheint stilbildend für die ganze NATO. Im neuen strategischen Konzept bezeichnet sie sich explizit als ­regionales Bündnis – eine klare Absage an die Träume von der globalen NATO, die vor allem in Amerika noch vor wenigen Jahren geträumt wurden. Beobachter sind sich einig, dass es ein zweites Afghanistan, also ein erneutes, jahrelanges Engagement weitab des Bündnisterritoriums so bald nicht wieder geben wird. Und das nicht nur weil den Mitgliedsstaaten daran die politische Lust vergangen ist, sondern auch weil schrumpfende Budgets und verkleinerte Armeen den Spielraum in Zukunft deutlich ­einengen. Das westliche Bündnis wird nicht zerbrechen, aber es wird relativ schwächer. Damit ist die Entwicklung der NATO ein Indikator für den verminderten Einfluss, den der Westen im geopolitischen Kräftemessen hinnehmen muss. Inwieweit diese Entwicklung andere globale Akteure zur Ausweitung ihrer ­Aktionskreise animieren wird, bleibt abzuwarten. Zweitens hat die NATO Afghanistan dazu genutzt, ihr Verständnis von Krieg den neuen Bedingungen anzupassen. Mit dem Konzept der vernetzten Sicherheit (comprehensive approach) ­zollen die Planer der Einsicht Tribut, das moderne, asym­ metrische Konflikte mit militärischen Mitteln allein nicht mehr zu gewinnen sind. Ein intelligenter Mix aus ziviler und militärischer Kompetenz muss gefunden und umgesetzt ­werden. Dies ist nichts Geringeres als eine kleine Kulturrevolution in der ­Sicherheitspolitik, die allen Beteiligten (Diplomaten, Entwicklungshelfern, Soldaten und den Vertretern von nicht-staatlichen Einrichtungen) erhebliche Veränderungsbereitschaft abverlangt.

f Der NATO-Hauptsitz

in Brüssel (links); Neuseeländische Soldaten des Provincial ­Reconstruction Teams in Bamyan (rechts)


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NATO-Einsatz

Zu diesem Doktrinwechsel passt auch die zunehmende Be­ deutung von strategischer Kommunikation (StratComm) für das Militär. Wenn die Wahrnehmung von Fakten ebenso wichtig ist wie die Fakten selbst, und wenn Al-Qaida seine globale ­Präsenz fast ausschließlich einer cleveren Medienstrategie verdankt, dann ist die strategische Nutzung von Kommunikation militärisch genauso entscheidend wie das klassische „kinetische“ Handwerk. Drittens hat Afghanistan die NATO auf unerwartete Weise ­zusammengeschweißt. Der Einsatz hat die neuen Mitglieder, die seit 1999 der NATO beigetreten sind, tiefer in die Strukturen der Allianz integriert als es Manöver und Stabsübungen je ­vermocht hätten. Zudem hat das militärische Zusammenwirken vor Ort das Verständnis füreinander und das Gefühl von ­Bündnissolidarität enorm befördert. Man weiß mehr vonein­ ander, hat entscheidende Lektionen gemeinsam gelernt und manches Mal sein Leben für den anderen riskiert. Diese ­„weichen“ Nebenwirkungen des Einsatzes sind das Gegenstück zu den Lektionen der grossen Politik. Für den Zusammenhalt ­einer Militäralllianz sind sie unersetzlich.

Anders Fogh Rasmussen hat den grundlegenden Wandel, den das Bündnis schon vor seinem Antritt begonnen hatte, instinktsicher zu seinem Prozess gemacht. Statt mit Afghanistan die ­Debatte um die Zukunft der NATO zu verlieren, versucht er, den Einsatz zum Ausgangspunkt für die Allianz der Zukunft zu machen. Seinen blassen Vorgänger hat er längst vergessen ­gemacht, und den Staats- und Regierungschefs tritt er auf ­Augenhöhe gegenüber. Keine Frage: Anders Fogh Rasmussen hat den Afghanistan-Krieg gewonnen.

Jan Techau, Jg. 1972, ist Politikwissenschaftler und absolvierte 1999/00 das Stiftungskolleg. Er arbeitet seit 2010 in der Research Division des NATO Defense College in Rom zu Fragen der europäischen und transatlantischen Sicherheit. Zuvor leitete er seit September 2006 das Alfred von OppenheimZentrum für Europäische Zukunftsfragen der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Berlin. Von 2001 bis 2006 war er zunächst als sicherheitspolitischer Redakteur, später als Referent im Presse- und Informations­stab des Bundesministerium für Verteidigung eingesetzt. Der ­Autor gibt hier ausschließlich seine eigene Meinung wieder.


Frauen in Afghanistan

„Es gibt in Afghanistan sehr tapfere Frauen.“ Seit 1985 bereist Elke Jonigkeit Afghanistan. Seitdem hat sie sieben Filme über Afghanistan und die Frauen dort gedreht. 2003 gründete sie mit afghanischen Frauen das Ausbildungszentrum Nazo in Kabul, das die berufliche Qualifizierung von Frauen fördert. Elke Jonigkeit erhielt im November 2010 von Terres des Femmes im Rahmen des Filmfestes „Frauenwelten“ den Ehrenpreis. Wir treffen sie in einem Berliner Café. ad hoc: Frau Jonigkeit, Sie waren 1985 das erste Mal in Pakistan und Afghanistan. Seit 2001 sind Sie wieder regelmäßig dort. Welche Unterschiede zwischen damals und heute sehen Sie? Jonigkeit: Die Sowjets haben in den achtziger Jahren versucht, das Land und seine Menschen für sich zu gewinnen, und zwar genauso, wie wir es heute tun: Sie haben Alphabetisierungskurse angeboten, die Mädchen in die Schule geschickt, Straßen, Fabriken und Plattenbauten errichtet. Ein Unterschied ist, dass sie diese Veränderungen von oben herab an­geordnet haben. Die afghanischen Intellektuellen sympathisierten zunächst mit den kommunistischen Machthabern, weil sie eine Öffnung des Landes anstrebten. Da die Sowjets die Erneuerungen jedoch gegen den Willen der einfachen ­Bevölkerung durchzusetzen versuchten, wendeten sich schließlich auch die afghanischen Intellektuellen ab.

„Die Burka wurde zu einem ­Widerstandssymbol der intellektuellen Frauen gegenüber den Sowjets.“ ad hoc: Über welchen Zeitraum sprechen wir jetzt? Jonigkeit: Über zehn Jahre, 1979 bis 1989. In Pakistan organisierte sich der Widerstand. Die Burka wurde zu einem Wider­ standssymbol der intellektuellen Frauen gegenüber den Sowjets. Zu dieser Zeit legten die Mudschaheddin, die Gotteskrieger, die Wurzeln des Fundamentalismus, der heute thematisiert wird. In meinem Film „Tschadari und Buz Kaschi“ ist das sehr deutlich zu erkennen. Eine Studentin erklärt den verschleierten Frauen, wie sie sich zu verhalten haben, dass sie Kinder, ­natürlich Söhne, kriegen, sie zu guten Moslems erziehen und in die Madrasas schicken sollen. Finanziert wurde das mit dem Geld des Westens, mit dem Ziel, die Sowjetunion kleinzukriegen. Als das geschehen und der letzte sowjetische Soldat 1991 das Land verlassen hatte, wurde alle Unterstützung für die afghanische Unabhängigkeit von heute auf morgen fallen gelassen.

f Gemeinsames Essen mit Dorfältesten und Vertretren des BMZ und GTZ in Qala-i-Zal, Provinz Kunduz (links oben); Die Burka gehört noch immer zum Straßenbild in Kabul (rechts oben); Schmuckschülerin (rechts ­unten)

ad hoc: Im Grunde ist der Fundamentalismus aus einer intellektuellen Bewegung entstanden? Jonigkeit: Das ist doch immer so. Auch Lenin war ein Intellektueller und hat das ganze Volk beeindruckt und mitgezogen. So ist das auch dort. Die Soldaten, das sind oft einfache Leute. Sie sind es, die sich totschießen lassen oder in den kalten Bergen erfrieren. ad hoc: Knüpfen die Menschen heute an diese „liberalen“ Zeiten des Kommunismus an? Jonigkeit: Ja, nur heute wird es so dargestellt, als sei es eine ­Erfindung des Westens, dass Mädchen in die Schule gehen und Frauen arbeiten können. ad hoc: Wie erinnern sich die Afghanen an die Sowjetzeit? Jonigkeit: Die Frauen, mit denen ich zusammen bin, beziehen sich sehr stark auf die Zeit der Sowjets. Sie empfinden diese Zeit als eine gute. Die zehn Jahre nach der Sowjetzeit waren für die Frauen hingegen sehr grausam. ad hoc: Gibt es Frauen, die als Vorbild dienen? Jonigkeit: Es gibt in Afghanistan sehr tapfere Frauen, zum ­Beispiel die Polizistin Malalai Kakar. ad hoc: Die prominente Leiterin einer Abteilung zur Verfolgung von Straftaten gegen Frauen in Kandahar, die 2008 umgebracht wurde. Jonigkeit: Spitzenfrauen leben sehr gefährlich. Wenn man durch die Medien zu bekannt wird, dann weiß jeder wie man aussieht und wo man wohnt. Das Leben wird noch gefährlicher. ad hoc: Wie weit ist die Emanzipation der Frau heute? Jonigkeit: Die emanzipatorische Bewegung der Frauen begann in den 20er Jahren mit dem progressiven König Amanullah Khan. Dann gab es eine lange Pause bis zur Sowjetzeit, es folgte ein Rückschritt durch die Mudschaheddin und die Taliban. Nun ist wieder eine Fortschrittszeit angebrochen, die sich jedoch im Unterschied zur Vergangenheit nicht wieder zurück drehen lässt. Die Frauen wissen, wie wichtig Bildung ist und dass man sich nicht verprügeln lassen und den Männern die Schuhe hinterher tragen muss. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man noch einmal sagt fünfzig Prozent der Bevölkerung dürfen das Haus nicht verlassen. Das haben sowohl die einfachen als auch einflussreichen Menschen verstanden. p

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Frauen in Afghanistan

i Elke Jonigkeit mit Hafiza und Marina, 2010 ad hoc: Wie beschreiben Sie die Sehnsüchte der Frauen? Jonigkeit: In einem meiner Filme sagt ein junges Mädchen: „Ich möchte auf eigenen Beinen stehen.“ Das sagt doch alles. Die Frauen sind zukunftsorientiert und freuen sich darauf, das zu tun, was ihre Mütter nicht haben machen können. ad hoc: Wie ist es als Frau in Afghanistan zu drehen? Jonikgkeit: Ich fühle mich dort als Exotin. Als Afghanin hätte ich sehr viele afghanische Sitten und Gebräuche zu beachten. Als Ausländerin nicht. Früher haben mich die Afghanen oft ­gefragt, wie viel Kinder ich habe. Zwar habe ich nur einen Sohn, aber ich sagte immer, ich habe drei. Damit war ich ­akzeptiert und wurde nicht bemitleidet. ad hoc: 2001 haben Sie Nazo mitgegründet, ein Ausbildungszentrum für Schneiderinnen und Schmuckdesignerinnen, das seitdem 150 Frauen ausgebildet und derzeit 18 Angestellte hat. Was treibt Sie an, sich für solch ein Projekt zu engagieren? Jonigkeit: Auslöser war ein Satz einer afghanischen Freundin. Ihr Haus war komplett zerbombt. Wir haben die Ruine­gefilmt. Sie sagte: „Mir geht es ja noch gut – aber die Witwen, die niemanden haben, für die muss man etwas tun.“ Ich dachte: „Wenn sie etwas tun will, dann muss ich ihr dabei helfen.“ ad hoc: War das ein Gefühl von schlechtem Gewissen? Jonigkeit: Ja. Ich verdiene mein Geld mit dem Elend der ­Menschen. Das müssen sich alle Entwicklungshelfer vergegenwärtigen. Gäbe es das weltweite Elend nicht, dann wären viele arbeitslos. Da kommt man in einen Zwiespalt. ad hoc: Wie ändert das Nazo-Ausbildungszentrum die Situation der Frauen? Jonigkeit: Anfangs haben die Frauen nicht in die Zukunft ­gedacht. Es war wichtig, den Tag zu überstehen. Anfangs sagten sie: „Wir tun das für dich.“ Und ich sagte: „Für mich müsst Ihr das nicht tun, Ihr macht das für Euch!“ Nun haben wir einige Frauen, die fertig ausgebildet sind und selbständig arbeiten.

ad hoc: Setzen sich Frauen Gefahren aus, wenn sie eine Arbeit ausüben? Jonigkeit: Natürlich. Deshalb muss man am Anfang immer mit den Familien sprechen. Das macht die zukünftige Schülerin. Das Familienoberhaupt muss gefragt werden. Wenn der Vater oder der Bruder nicht zustimmt, kann sie nicht aus dem Haus. ad hoc: Passiert im Nazo-Zentrum auch etwas „Politisches“? Jonigkeit: Das ist das Wichtigste. Die Frauen sind isoliert. Sie kennen nur ihre Familienmitglieder und ab einem bestimmten Alter nur noch die weiblichen. Im Nazo-Zentrum treffen sie andere Frauen, Ausbilderinnen, Staatsanwältinnen, Ärztinnen, die über afghanische Rechte, Familienplanung und Gesundheitsfürsorge aufklären. Sie erfahren so viel, wie ihre Mütter in ihrem ganzen Leben nicht erfahren haben. ad hoc: Woran wird die Veränderung deutlich? Jonigkeit: Afghanische Frauen schauen einen normalerweise nicht an. Die Schülerinnen im Nazo-Zentrum aber können mit Männern auf Augenhöhe verhandeln und Preise machen. Mittlerweile verkaufen sie den Schmuck national und inter­ national. ad hoc: Würde Nazo auch auf dem Land funktionieren? Jonigkeit: Vielleicht in fünf oder zehn Jahren. Aber es ist schwierig, denn wie soll man auf dem Land Schülerinnen ­finden? Da muss zuerst viel Bewusstseinsarbeit geleistet werden. ad hoc: Wir haben viel Positives gehört. Jonigkeit: Hier ist nicht zu spüren, dass es in Afghanistan auch das normale Leben gibt. Wenn an einem Tag eine Bombe hochgeht und am nächsten ein Giftgasanschlag verübt wird, dann ist das schrecklich, aber für die Einheimischen ist das „Normalität“. Als in Deutschland Krieg herrschte, ging das normale Leben trotzdem weiter. So ist es auch in Afghanistan. Die Leute ver­ lieben sich, weinen, lachen, feiern Feste und bekommen Kinder. Wenn jemand aus einem afghanischen Dorf eine deutsche ­Autobahn mit Verkehr und Unfällen sehen würde, würde er sich fragen, warum sich die Menschen das antun. Das ist unsere Realität, darüber aber machen wir uns keine Gedanken. ad hoc: Frau Jonigkeit, wir danken Ihnen für das Gespräch. Das Interview führten Else Engel und Stephanie von Hayek.

Stephanie von Hayek, Jg. 1971, war 2000/01 Stiftungskollegiatin und

Else Engel, Jg. 1980, war 2006/07 als Carlo-Schmidt Stipendiatin bei

­verbrachte ihr Jahr beim United Nations Office for Project Services in New

der UNESCO in Paris. In den vergangenen Jahren hat sie einen Aufbau­­

York und bei der Weltbank-Gruppe in Washington D. C. Danach arbeitete

studiengang in Kinderrechten absolviert und war in den Bereichen

sie als Beraterin in einer Berliner Public Affairs Beratung, bevor sie mehrere

Menschen­rechte und Bildung tätig.

Jahre als Referentin für die Versammlung der Regionen Europas in Straßburg tätig war. Heute arbeitet sie freiberuflich als Politikberaterin, Moderatorin und Journalistin in Potsdam und Berlin.


Straßenbau und Entwicklung

Wo die Straße endet Der Straßenbau bildet das Fundament für ländliche Entwicklung in Afghanistan von Daniel Maier „Wherever the road ends, that's where the Taliban starts.“ ­Diesen Satz prägte Karl Eikenberry, ehemaliger General der US-Armee und seit April 2009 amerikanischer Botschafter in Kabul. Damit wollte er die Bedeutung des zivilen Wiederaufbaus für Frieden und Sicherheit in Afghanistan hervorheben. Zunehmend erkennt die internationale Gemeinschaft die Notwendigkeit von Investitionen in Schlüsselsektoren als zentralen Beitrag für verbesserte Lebensbedingungen. Dem Ausbau und der Instandsetzung des Verkehrswegenetzes gilt dabei ein besonderes Augenmerk: Zum einen bieten Straßen aus militärisch-­ strategischer Sicht Zugang zu Landstrichen, die weitläufig isoliert sind und bisher nur über den Luftweg, einspurige Landstraßen oder Eselspfade zu erreichen waren. Zum anderen eröffnen Straßen Entwicklungspotentiale, etwa durch verbesserten Zugang zu Krankenhäusern und Schulen sowie verkürzte Transportzeiten zu Absatzmärkten für lokale Produkte. Um so erstaunlicher ist, dass Infrastruktur in den meisten Entwicklungsindikatoren, zum Beispiel, wenn es darum geht, den Entwicklungsstand im ländlichen Raum zu messen, keine Berücksichtigung findet. Prominentes Beispiel eines großen Infrastrukturprojekts ist die Ring-Road. Diese bereits in den 1960er Jahren geplante Straße sollte Kabuls zentrale Rolle als Hauptstadt Afghanistans durch eine Verbindung mit den Provinzhauptstädten im Süden ­(Kandahar), Westen (Herat), sowie im Norden (Kunduz) festigen. Während der Ausbau der rund 3000 Kilometer langen PrestigeStraße in den letzten Jahren gut vorangekommen ist, bleiben einige Teilstücke bislang unvollendet. Das ist vor allem auf die Sicherheitslage entlang der Straße zurückzuführen, die zunehmend zum Symbol für die Fähigkeit der Zentralregierung ­geworden ist, Kontrolle über das Land auch jenseits der Hauptstadt auszuüben. Häufig kommt es zu Anschlägen auf Koalitions­ truppen oder zu Entführungen von Mitarbeitern der vor­ wiegend chinesischen Baufirmen. Zudem ist die Ring-Road

insbesondere wegen der enormen Kosten von über zwei Milliarden US-Dollar als unverhältnismäßig in die Kritik geraten. Ähnlich umstritten ist der Ausbau bisweilen fragwürdiger ­Zugangsstraßen zu militärischen Stützpunkten, deren Bau an internationale Firmen mitunter durch das amerikanische ­Militär vermittelt wird. Diese häufig stärker an strategischen Zielen denn an den Bedürfnissen der lokalen Bevölkerung ausgerichteten Projekte stehen deswegen auch unter besonderer Beobachtung. Die Nicht-Regierungsorganisation Integrity Watch Afghanistan, die sich für Transparenz in großen Infrastrukturprojekten einsetzt, bemängelt die Vergabepraxis sowie die ex­ orbitanten Kosten. So kostete beispielsweise die knapp zwei Kilometer lange Straße vom Flughafen Kabul zur amerikanischen Botschaft annähernd sieben Millionen US-Dollar. Anders verhält es sich mit der Infrastrukturentwicklung und dem Straßenbau im ländlichen Raum. Sie genießen generell einen guten Ruf. Das National Solidarity Programme widmet sich der Verbesserung der Lebensbedingungen der ländlichen Bevölkerung, die gut zwei Drittel der schätzungsweise 25 Millionen Afghanen ausmacht. Manch positiver Entwicklungstrend stimmt hoffnungsfroh. Gleichwohl rangiert Afghanistan seit Jahren im untersten Drittel des Human Development Index: Schlechte gesundheitliche Versorgung, mangelnder Zugang zu Lebensmitteln und Trinkwasser sowie schlechte hygienische Zustände schlagen sich unter anderem in einer mittleren Lebens­ erwartung von 45 Jahren und hoher Kindersterblichkeit nieder. Erschwerter, sowie in weiten Teilen des Landes nicht vorhandener Zugang zu Schulen und Universitäten, versagt einer Generation junger Afghanen, vor allem den Frauen, oft die Chance auf ­Bildung. Diese Grundpfeiler für ein Leben in Würde und gesellschaftlicher Entwicklung kommen in unserem sicherheitspolitisch dominierten Diskurs immer noch zu kurz. Das gilt insbesondere in Bezug auf die Mittelzuwendung für den viel beschworenen zivilen Aufbau. Die Topografie Afghanistans ist eine Herausforderung für den Straßenbau a

Ring Road

Herat

A fghanistan

Kandahar

Kabul

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Straßenbau und Entwicklung

Weiterbildung – ehemalige Kombattanten bei einer Prüfung zu den ­ o

Grund­lagen des Straßenbaus, Gardez (oben); im Gespräch mit Dorf­bewohnern ­unweit von Gardez, Provinz Paktia (rechts)

Ein positiver Trend lässt sich dennoch erkennen. Das National Emergency Employment Programme und sein Nachfolger ­National Rural Access Programme bilden seit gut acht Jahren den Kern des Ausbaus ländlicher Infrastruktur mit beacht­ lichem Erfolg. Die hauptsächlich von der internationalen Entwicklungsorganisation (IDA) finanzierten Programme zielen auf die Erneuerung des maroden Straßennetzes durch arbeitsintensive Technik. Der Fokus der ersten Jahre der gemeinde­ nahen Infrastrukturentwicklung lag auf der Ausweitung eines Programms, das als Ausgleich für ein nicht existierendes soziales Sicherungsnetz gedacht war. In den Jahren 2003 bis 2009 wurden mit einem – im Vergleich zu den militärischen Ausgaben – bescheidenen Budget von rund 140 Millionen US-Dollar an­ nähernd 12 Millionen Arbeitstage geschaffen und Tausende Kilometer Straße instand gesetzt. Mit einer Schaufel ausge­ stattet erhielten besonders arme Bürger 100 Afghani pro Tag für ihre Mühen. Dies entspricht zwei US-Dollar. Auch wurden im Rahmen der Reintegrationsprogramme für ehemalige ­Kämpfer Umschulungen angeboten, die zwar keine diplomierten Ingenieure hervorbrachten, jedoch die Absolventen mit einem Grund­wissen über den Straßenbau ausstatteten, und ihnen eine Rolle in der Projektüberwachung zuwiesen. Diese arbeitsbeschaffende Maßnahme, die direkt den Gemeinden zugute kommt, lässt sich aufgrund der technischen Kapazitäten sowie des Ausbildungsstands der Arbeiter nur auf kommunaler Ebene umsetzen. In der Hierarchie des Verkehrswegenetzes entspricht dies in etwa den Landstraßen. Die Programmaufsicht obliegt dem Ministerium für ländliche Entwicklung. Die Vereinten Nationen, die Weltbank sowie zahlreiche bilaterale Akteure unterstützen die afghanische Regierung im Projektmanagement, vor allem bei der Ausschreibung und Vergabe von Verträgen ­sowie der Bezahlung der Bauunternehmer. Ein gemeinsames Planungs- und Koordinierungsteam im Verkehrsministerium gewährleistet den Anschluss der Landstraßen an das größere nationale Verkehrswegenetz. Sozialverträglichkeitsprüfungen, die durch regelmäßige Gespräche mit Dorfbewohnern die ­Folgen des Straßenbaus für die Gemeinde abschätzen, bestätigen, dass der Straßenbau im ländlichen Raum positive Auswirkungen hat und große Unterstützung erfährt.

Gespräche mit Dorfbewohnern, die an Infrastrukturprogrammen beteiligt sind, bestätigen einen positiven Trend. Die älteren ­Bewohner eines Dorfs unweit von Gardez im Süd-Osten ­Afghanistans stellten in einem Gespräch fest, dass sie sich ­„jünger“ fühlten, seitdem die umliegenden Gemeinden durch eine Straße vernetzt und an die Zubringer der Autobahn A1 zwischen Kandahar und Kabul angebunden seien. Erst all­ mählich gewinnt auch die Qualität der Straßen an Bedeutung. Wie um dies zu unterstreichen, führte der Dorfälteste gegen Ende des Gesprächs aus: „Wenn ihr nun noch die Straße ­asphaltieren würdet, könnten unsere Frauen noch schneller und sicherer zum Gebären ins nächstgelegene Krankenhaus kommen.“ Eine Straße verbindet eben nicht nur zwei Orte, sondern bildet vielleicht das Fundament schlechthin für Entwicklung.

Daniel Maier, Jg. 1977, studierte Politikwissenschaft in Leipzig, Paris und Berlin. Nach dem Studium arbeitete er 2003/04 als Stipendiat des Carlo-Schmid-Programms beim United Nations Office for Project S­ ervices zunächst in New York und anschliessend in Kabul in der Vorbereitung der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2004/05 sowie im Aufbau ländlicher Infrastruktur. Seit Herbst 2007 arbeitet Daniel als Programme Specialist im Büro für Krisenprävention und Wiederaufbau des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP-BCPR). Der ­Autor gibt hier ausschließlich seine eigene Meinung wieder.


Wassermanagement

Lösung nur mit Afghanistan – Herausforderungen an regionales ­Wassermanagement in Zentralasien von Mirco Günther Trotz verstärkter internationaler Bemühungen bleibt Wasser noch zu selten ein Element für Kooperation in Zentralasien. Die erfolgreiche Einbindung Afghanistans in eine Reform des Wassermanagementsystems ist von zentraler Bedeutung – für das Land am Hindukusch selbst und die gesamte Region. Am Freitag, dem afghanischen Wochenende, brechen viele ­Familien, die sich einen fahrbaren Untersatz oder ein Taxi leisten können, in Richtung Qargha-Stausee auf, wo sie für ein paar Stunden dem städtischen Moloch entfliehen und Erholung am Wasser suchen. Die Idylle dieses ca. 20 Kilometer außerhalb Kabuls gelegenen Sees erlaubt es Familien und jungen ­Pärchen beim Tretbootfahren, Fussballspielen oder Flanieren an der reichlich improvisierten Promenade mit Blick auf das Panorama der aufstrebenden Berge auf andere Gedanken zu kommen und so manche Probleme des Alltags hinter sich zu lassen. Auch an anderen Orten, zum Beispiel im unweit von der Hauptstadt entfernten Panjir Tal, gehört es zur Normalität, an den Wochenenden an einem der zahlreichen Flussläufe nach einem Plätzchen für ein Picknick Ausschau zu halten. In den Wochen nach einsetzender Schneeschmelze und besonders an den heißen Sommertagen bieten die Obstgärten und das ­frische Gebirgswasser eine willkommene Erfrischung. Dass Wasser ein knappes Gut ist, scheint in diesen Momenten vergessen. Vor allem unter den afghanischen Männern gehört es zum guten Ton, wenn immer möglich, ihre Autos zu waschen, und da kann es auch vorkommen, dass sie dazu direkt ins Flussbett fahren.

An einem anderen Schauplatz scheint „Wasser“ jedoch eine ganz andere strategische Bedeutung zu haben. Duschanbe, Tadschikistan, 10. Juni 2010: Es ist der dritte Tag einer VNWasserkonferenz mit Delegierten aus 77 Staaten und von 64 internationalen und Nichtregierungsorganisationen (NGOs). Die Plenarsitzungen und „Runden Tische“ der Vortage waren geprägt von Kontroversen über die Nutzung von Wasser entlang von Amudarja und Syrdarja – Zentralasiens größte und längste Flüsse. Erneut werden unterschiedliche Positionen zwischen den am Flussoberlauf liegenden Staaten Kirgisistan und Tadschikistan ausgetauscht, welche Wasser vor allem im Winter zur Energieerzeugung nutzen, und den am Unterlauf gelegenen Staaten Kasachstan, Usbekistan und Turkmenistan, welche Wasser ­primär für die landwirtschaftliche Bewässerung im Sommer beanspruchen. Während die usbekische ­Delegation ihre Ablehnung gegenüber tadschikischen Plänen zum Bau des weltweit größten Staudamms – der Rogun-­ Talsperre (335 Meter) – zum Ausdruck bringt, unterstreicht der iranische Präsident Mahmud Ahmadinedschad seine ­Unterstützung für die ambitionierten tadschikischen Wasserkraftpläne. Wieder geht an diesem Tag eine Konferenz zu Ende, in der die Interessengegensätze der Staaten des Aralseebeckens und die starke Politisisierung von Wasser- und Energiefragen in Zentral­asien deutlich zu Tage traten. Dabei wird ein Anrainerstaat in der Diskussion oft vergessen: Afghanistan. 33 % der afghanischen Landfläche und 40 % der Bevölkerung befinden sich auf dem Gebiet des Aralseebeckens. Afghanistan trägt 19 % zur jährlichen Abflussbildung im Aralseebecken bei. Auf Tadschikistan entfallen 43 % und auf Kirgisistan 24 %. Verbraucht ­werden 87 % der regionalen oberflächlichen Wasserressourcen jedoch von den Flussunterliegerstaaten.

d Spielende Kinder im Kabul River (links oben); Autowäsche im Fluss (links unten); Wasserholen an der Quelle (rechts)

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Wassermanagement

Northern

Harirud-Murghab

Amudarja

Kabul (Indus)

A fghanistan Helmand

Von den fünf Hauptflussgebieten Afghanistans (siehe Karte) ist das Amudarja-Flussgebiet im Nordosten von besonderer Bedeutung. Hier entspringt der Großteil der Wasserressourcen des Landes durch Schneeschmelze im Hindukusch und Pamirgebirge. Auch der überwiegende Teil der landwirtschaftlichen Produktion findet in dieser Region statt. Die Landwirtschaft ist das zentrale Standbein der afghanischen Wirtschaft, mehr als 80 % der Bevölkerung hängen unmittel­ bar von ihr ab. Als Resultat der wechselvollen Geschichte des Landes in den letzten 30 Jahren wird jedoch gegenwärtig nur ein Bruchteil der anbaufähigen Landfläche bewirtschaftet. Zudem erlaubt das trockene afghanische Klima keine für eine ­ausschließlich auf Regenfällen beruhende Landwirtschaft und macht künstliche Bewässerung erforderlich. Die Herausforderungen für Afghanistan im Wasser- und Energie­ bereich sind daher enorm. Die Entwicklung des nationalen Wasser- und Energiesektors kam mit dem Einmarsch der sow­ jetischen Truppen im Jahr 1979 quasi zum Erliegen. Es folgten Jahrzehnte, in denen in die Modernisierung beider Sektoren gar nicht oder nur unzureichend investiert wurde. Das Resultat sind eine größtenteils zerstörte Infrastruktur und veraltete ­Bewässerungskanäle. Vor allem Bewohnern auf dem Land steht Elektrizität, wenn überhaupt, nur für wenige Stunden am Tag zur Verfügung. 70 % der Bevölkerung in städtischen Ge­ bieten und 80 % in ländlichen haben keinen Zugang zu ­sauberem Trinkwasser. Häufige Fluten, ein Mangel an Wasserreservoiren zur Flussregulierung und fehlende zuverlässige ­hydro-meteorologische Daten sind nur ein Teil der zahlreichen Probleme, die zu dieser Auflistung hinzugefügt werden könnten.

Aufgrund seiner zentralen Bedeutung für die Rehabilitierung der afghanischen Wirtschaft, stellt die Entwicklung des Wasserund Energiesektors eine nationale Priorität für die afghanische Regierung dar. Die lange Dürre der späten 1990er Jahre scheint vielen noch im Gedächtnis zu sein. Damals kamen mehrere hundert Menschen ums Leben und Ernteausfälle ­sowie ge­ stiegene Lebensmittelpreise führten sogar dazu, dass in manchen Regionen ein wahrer Exodus einsetzte. Die­ wieder­ kehrende Wasserknappheit vergangener Jahre scheint dazu ge­führt zu haben, dass nun erste Reformansätze zu einer stärkeren Politikkoordinierung vor allem zwischen den Ministerien für Energie und Wasser, für Landwirtschaft sowie für länd­ lichen Wiederaufbau und Entwicklung erkennbar sind. Ein ­nationaler Wasserentwicklungsplan basierend auf dem Konzept von „Integriertem Wasser­ressourcen-Management (IWRM)“ soll zur Dezentralisierung, der Schaffung von Wassernutzer­ verbänden und einem Übergang zu Flussgebietsmanagement beitragen. Im regionalen Kontext fehlt es bisher an einem politischen und rechtlichen Rahmen für die Kooperation Afghanistans mit den fünf post-sowjetischen zentralasiatischen Staaten. Zwar wurden 1921, 1946 und 1958 bilaterale Wasserverträge mit der Sowjet­ union geschlossen. Afghanistan jedoch ist kein Mitglied im wichtigsten, 1993 geschaffenen Gremium für das Management von Wasserressourcen in Zentralasien – dem International Fund for Saving the Aral Sea (IFAS). Afghanistan wird seine Landwirtschaft nur schwer ohne eine deutlich stärkere Nutzung von Wasser aus den Flüssen Pjandsch und Amudarja rehabilitieren können. Die Einbindung des Landes am Hindukusch in eine IFAS-Reform wird daher von zentraler Bedeutung für den erfolgreichen Umbau des regionalen Wassermanagementsystems im Aralseebecken sein.

Mirco Günther, Jg. 1984, hat Politikwissenschaft in Berlin und Moskau sowie Middle East and Central Asian Security Studies in St. Andrews studiert. Als ­Stipendiat des Mercator Kollegs für internationale Aufgaben 2009/10 beschäftigte er sich mit dem Thema „Regionales Wassermanagement als Beitrag zur Konfliktprävention in Zentralasien und im südlichen Afrika“. Seit Mai 2010 ist er als vom Auswärtigen Amt sekundierte zivile Fachkraft im Büro der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) in Tadschikistan tätig und leitet als Water Management Adviser eine Einheit, die zu Themen des ­Managements von Wasserressourcen und der Energiesicherheit arbeitet. Der ­Autor gibt hier ausschließlich seine eigene Meinung wieder.


Afghanistanerfahrung von Netzwerkmitgliedern

Wer bleibt am Ende in Afghanistan? Ein Dialog zwischen Winfried Nachtwei, MdB a.D., und Netzwerkmitgliedern in Afghanistan

Winfried Nachtwei, MdB a. D., (Bündnis90/Die Grünen) ist ein Kenner der sicherheitspolitischen Lage in Afghanistan und ­stetiger kritischer Beobachter des Auslandeinsatzes der Bundes­wehr im Rahmen der ISAF und des zivilen Wiederaufbaus. Für die ad hoc international hat er NefiA- und CSP-Mitgliedern mit aktueller Lebens- und Arbeitserfahrung in Afghanistan sechs Fragen gestellt. Vier haben geantwortet und geben Einblicke in ihre persönlichen Erfahrungen und Gedanken – aller­dings anonym, um ihren Arbeitgebern gegenüber unerkannt zu bleiben. Dies ist auch ein Ausdruck des enormen politischen Drucks, der auf dem Thema Afghanistan lastet. Winfried Nachtwei: Wo in Deutschland doch die Schwarzsicht auf Afghanistan dominiert: Was ließ Sie dennoch freiwillig nach Afghanistan gehen?

Winfried Nachtwei: Erlebten Sie eine wachsende Distanz ­zwischen der Bevölkerung und den Internationalen? Wie gingen Sie damit um?

Hanna*: Die Notwendigkeit, sich ein eigenes Bild von der Lage zu machen. Die Neugier, dieses schicksalhafte Land am Hindukusch mit eigenen Augen zu sehen. Der Wunsch, politische Entscheidungsprozesse mit Erfahrungen von vor Ort zu bereichern.

Hanna: Ich war zu kurz da, um die Frage substantiell zu beantworten. Natürlich spürt man eine Distanz und ein Misstrauen – von beiden Seiten. Die Enttäuschungen aufgrund unerfüllter Versprechen sind zu groß – das Leid auf beiden Seiten durch Tod und Verwundung dominant. Die Sprachbarriere ist immens. Das Kennenlernen kostet Zeit, Mut und Ausdauer – vielleicht hatte ich von alledem zu wenig.

Bastian: Am wichtigsten war wohl der Glaube an die Sinnhaftigkeit des deutschen Engagements sowie der Wunsch, einen bescheidenen eigenen Beitrag leisten zu können. Catharina: Eine Mischung aus Neugier und Pflichtgefühl. Markus: Zunächst war da die Neugier auf eine einmalige sicher­ heitspolitische Berufserfahrung im internationalen Bereich. Gerade hier ist „das Feld“ ein lohnenswert anderer Blickwinkel als der Hörsaal, das Internet oder das Buch. Darüber hinaus ist die Herausforderung in der „Situation Afghanistan“ zu leben eine ganz besondere. Es werden tagtäglich viele verschiedene Fähigkeiten verlangt. Letztlich aber bleibt man, weil es darum geht, seine Berufung so einzusetzen, dass die Menschen vor Ort bestmöglich unterstützt werden.

*Alle Namen wurden von der Redaktion geändert.

Bastian: Was aktuelle Umfragen bestätigen, ist in Afghanistan schon seit geraumer Zeit spürbar. Bald wird es wohl heißen: Deutschland hatte mal einen guten Ruf in Afghanistan. Kenner des Landes konnten diesen Abwärtstrend seit Jahren beobachten. Die neugierigen Blicke der erwachsenen Afghanen wurden leider immer skeptischer und ablehnender gegenüber Soldaten, aber auch zivilen Helfern. Die Kinder winken allerdings immer noch. Catharina: Eine wachsende Distanz habe ich nicht erlebt, aber vielleicht war ich dafür nicht lange genug vor Ort. Die Gastfreundschaft, die man im Gegenzug für ein freundliches und respektvolles Auftreten entgegengebracht bekommt, ist beeindruckend. p

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Afghanistanerfahrung von Netzwerkmitgliedern

Markus: Dort, wo wir gearbeitet haben, war es zuerst einmal notwendig, eine Distanz zu reduzieren. Anschließend war es dann wichtig, die Kontakte zu pflegen. Das ist ebenfalls kompliziert. Aber die generell wachsende Distanz lässt sich alleine schon an baulichen Merkmalen, wie hohe Mauern und „Hescoburgen“ in Kabul, erkennen. Dagegen anzukämpfen ist interessanterweise oftmals schon wegen der Sicherheitsbestimmungen der internationalen Organisationen sehr kraftraubend.

Winfried Nachtwei: Wo erlebten Sie Fortschritte und Erfolge, wo Wirkungslosigkeit, ja Misserfolge? Was macht vor Ort Mut/ Hoffnung, was kann diese/n rauben? Hanna: Ich war nur in Mazar, dort liegen die Erfolge buchstäblich auf der Straße: Straßen und sonstige Infrastruktur sind sehr gut und erleichtern vielen Afghanen täglich das Leben. Die Mädchen auf dem Weg zur Schule und die vielen jungen Frauen auf den Märkten sind Normalität im Stadtbild. Pulsierendes Leben rund um die blaue Moschee macht Hoffnung. Diese Hoffnung droht schnell zu schwinden, wenn man in die Provinzen fährt und den mühevollen Kampf beispielsweise gegen sich abwechselnde Fluten und Dürren in einzelnen Projekten begleitet. Wenn man sieht, dass kleinere Ortschaften und Dörfer eben nicht von den großen Wasser- und Energieprojekten der Hauptstadt profitieren – Entwicklung dort oft stockt. Wenn dann die Aufständischen in die Dörfer kommen, ist der Nährboden breit und der Druck sich von den westlichen Truppen abzuwenden groß. Und immer wieder die Frage: Wer bleibt am Ende in Afghanistan? Was, wenn wir uns auf die Seite der westlichen Truppen stellen und diese uns in einigen Jahren durch Abzug im Stich lassen? Wenn man mit diesen Fragen direkt konfrontiert wird und selber nicht an seine Antwort glaubt – das ist frustrierend und stellt alles in Frage. Bastian: Mut machen die sozio-ökonomischen Entwicklungen in den Ballungszentren Kabul, Mazar-e Sharif oder Herat. Hier holt Afghanistan mit internationaler Unterstützung massiv auf. Allerdings sind dies auch die Orte, wo die Führungen von ISAF und Co. sich hinter hohen Mauern und Stacheldraht verschanzen und die afghanische Realität zur „Kästchenkunde“ verkommt.

s Der Kabul, mal Fluß mal Müllhalde oder Weidefläche. Im Hintergrund die Moschee Shah-e do Shamshera.

Catharina: Am unmittelbarsten habe ich Erfolge in den kleinen Projekten erlebt, zum Beispiel in den strahlenden Augen der Schüler einer neugebauten Schule. Sehr viel beeindruckender ist aber, wenn man sich die positiven Trends bei der sozialen Entwicklung ansieht, denn dann sieht man, dass es nicht nur erfolgreiche Einzelprojekte gibt, sondern dass weite Teile des Landes Fortschritt machen. Mut und Hoffnung schafft die Kraft der Afghanen, auch nach Schicksalsschlägen weiter nach vorne zu schauen und zuversichtlich zu bleiben. Mut und Hoffnung verliere ich, wenn ich Verwundung und Tod im eigenen Umfeld erlebe. Markus: Die größte Frustration habe ich mit der afghanischen Regierung erlebt, die extrem eigennützig und korrupt ist. Leider ist das Volk uneins und auch noch nicht emanzipiert genug, um sich in ausreichendem Maße gegen die Herrschenden zu wehren. Aber dort gibt es auch Hoffnungsschimmer, die immer wieder anspornen: Junge, hoch gebildete Afghanen, die mit ­demokratischem und egalitärem Denken die traditionellen Wurzeln der Afghanen leben.

Winfried Nachtwei: Welches Echo erfahren Sie in Deutschland auf Ihre Arbeit, welches würden Sie sich wünschen? Hanna: Verwunderung, Bestürzung, Lob – alles dabei. Ich würde mir wünschen, dass in Deutschland mehr über die Arbeit der SoldatInnen vor Ort gesprochen wird. Als Zivilist ist man ja mit nicht so großen Vorurteilen oder Anfeindungen konfrontiert. Bastian: Schön, dass Sie fragen! Der Wahrnehmungsgraben zwischen Afghanistan und den jeweiligen Hauptstädten ist tief und nur schwer zu überbrücken. Vereinzelt können Wissen und partikulare Erfahrungen weitergegeben werden. Dahinter steht die wichtige Frage, unter welchen Bedingungen Außenund Sicherheitspolitik anpassungs- und lernfähig sind. Catharina: Vor allem Interesse an der Arbeit und dem Umfeld, erstaunlich wenig kritische Äusserungen. Ich würde mir wünschen, dass auch die positiven Entwicklungen in der Öffentlichkeit breiter diskutiert würden.


Afghanistanerfahrung von Netzwerkmitgliedern

f Kinder in Kabul am Eingang des Frauenparks Bagh-e Zanana.

Bastian: Afghanistans Zukunft liegt in den Händen der Afghanen, aber auch in Händen der Pakistaner, der Iraner, der Amerikaner und anderen. Hoffnung besteht nur, wenn Deutschland und andere Nationen realistischer werden und im regionalen Konzert klare Prioritäten setzen.

Markus: Eigentlich würde ich mir kein Echo wünschen. Denn einmal in Deutschland angekommen, ist der Bedarf nach „über Afghanistan reden“ regelmäßig erschöpft … Allerdings erkennt man von Afghanistan aus, was für ein dünnes und teilweise ­verfälschtes Bild in Deutschland durch die Medien erzeugt wird. Besonders in den Problemzonen Regierungsführung und Wiederaufbau lenkt häufig die politische Motivation die Berichterstattung.

Winfried Nachtwei: Gibt es noch Hoffnung für Afghanistan? Oder kann man die nur haben, wenn man die Politik ausklammert und auf den Nahbereich sieht? Hanna: Was, wenn es keine Hoffnung mehr gibt? Wenn man die Menschen vor Ort fragt, dann haben sie Hoffnung. Nicht die gleiche Hoffnung, die wir vielleicht mal hatten, sondern Hoffnung auf ein bisschen Stabilität und einen hinreichenden Frieden. Mit einem klaren Bekenntnis zu einem langfristigen Engagement, das klar den Fokus auf den zivilen Wiederaufbau legt, können wir etwas erreichen. Wir müssen uns allerdings klar werden, dass das, was wir erreichen können, weniger und begrenzter ist, als wir es am Anfang gehofft haben. Also, Erwartungen zurückschrauben und darauf konzentrieren was wirklich möglich und nötig ist. Underpromise and overdeliver! Diejenigen in Afghanistan stärken, denen wir seit acht Jahren Hoffnung machen.

Catharina: Ganz klar gibt es noch Hoffnung für Afghanistan. Viele Trends stimmen. Aber wir dürfen uns auch keine unrealistischen Ziele setzen. Markus: Die Politik kann leider nicht ausgeklammert werden, zu viele Netzwerke und Verzweigungen verbinden die hintersten Ecken des Landes mit Kabul! Hoffnung aber gibt es und die liegt in der Unberechenbarkeit des sozialen Wandels: Wenn die Bevölkerung aufwacht – und die Geschichte zeigt, dass dies nicht unbedingt vorhersehbar ist – dann wird es auch Afghanistan wieder besser gehen. Es kommt wohl auf die Nachgeborenen an.

Winfried Nachtwei: Ganz indiskret: Afghanistan nie wieder? Hanna: Die Frage ist, ob wir die Entscheidung in der Hand haben. Afghanistan nie wieder so unüberlegt. Nächstes Mal vor dem Entsenden von Truppen müssen die Fragen gestellt werden: Was können wir leisten? Was wollen wir und was benötigen wir dazu? Was sind unsere Ziele und Möglichkeiten. Bastian: Jein. Das hängt von der Lageentwicklung ab. Catharina: Sag niemals nie. Markus: Absolut, aber vielleicht etwas geplanter. Redaktionelle Koordination von Amelie Lara Hinz

Amelie Hinz, Jg. 1984, arbeitete 2007/08 als CSP-Stipendiatin beim ­United Nations Institute for Training and Research (UNITAR). Sie hat Internationale Beziehungen und Friedens- und Sicherheitsstudien studiert und ist zur Zeit freie Gutachterin im Bereich Frieden, Sicherheit und ­Entwicklung. Zuvor arbeitete sie außerdem für die Deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) und das Zentrum für Internationale Friedenseinsätze (ZIF).

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Heft 9 erscheint im Sommer


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