ad hoc 9: Das Streben nach Glück

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Heft 9: September 2011

ad hoc international Das Streben nach Glück – Perspektiven aus aller Welt Zum Glück: ein sokratischer Dialog (Seite 2) Kleine Schrauben mit großer Wirkung finden – Interview mit Hermann Ott (Seite 7) China: Harter Konkurrenzkampf junger Akademiker (Seite 16) Moderne Nomaden: Die Glücksschaukler (Seite 11) Laos: Unglückliches Land – Glückliche Menschen (Seite 17) Indien: Materielle Werte werden wichtiger (Seite 23)


Impressum

ad hoc international Zeitschrift des Netzwerks für Internationale Aufgaben – Stiftungskolleg und Mercator Kolleg Alumni e. V. (nefia) und des CSP-Netzwerks für Internationale Politik und Zusammenarbeit e. V., erscheint halbjährlich. Titelbild: Bastian Hauck Bildnachweis: Julia Perez Paoli (Seite 2), Birga Friesen (Seiten 2, 3), Bastian Hauck (Seiten 3, 4), Stephanie von Hayek (Seite 7), Ungermeyer (Seite 10), Else Engel (Seite 11), Vacha Balakhtanov, © Galerie Altstadthof Dieter Leßnau (Seiten 12, 13), Ellen Nötzel (Seite 13), Christian-Henrik Heusermann (Seite 14), Victoria Kirchhoff (Seiten 15, 16), Sebastian Boll (Seiten 17, 18), Matthias Nohn (Seiten 19, 20), Heidrun Zeug (Seite 21) Herausgeber: Netzwerk für Internationale Aufgaben – Stiftungskolleg und Mercator Kolleg Alumni e. V. Neue Promenade 6, 10178 Berlin, Telefon +49 (0)30 28873397, Fax +49 (0)30 28873398 info@nefia.org, www.nefia.org CSP-Netzwerk für internationale Politik und Zusammenarbeit e. V. c/o Haus der Demokratie und Menschenrechte, Greifswalder Straße 4, 10405 Berlin, geschaeftsstelle@csp-network.org, www.csp-network.org Redaktion: Stephanie von Hayek und Silke Noa Kumpf (Projektleitung), Sebastian Boll, Else Engel, Birga Friesen, Camilla Gendolla, Judith Haugwitz, Amelie Hinz, Christina Hübers, Anne Knauer, Daniel Kroos, Benjamin Krug, Carolin Kugel, Daniel Maier, Johanna Havemann, Florian Neutze, Julian Pfäfflin, Julia Schad, Mara Skaletz, Alexa Tiemann, Christine Wenzel Bildkoordination: Daniel Maier Autorinnen und Autoren: Sibel Atasayi, Sebastian Boll, Elke Bredereck (Interview), Birga Friesen, Bastian Hauck, Stephanie von Hayek, Judith Haugwitz (Interview), Christian-Henrik Heusermann, Amelie Hinz, Victoria Kirchhoff, Silke Noa Kumpf, Matthias Nohn, Elisa Oezbek, Ubaldo Perez-Paoli, Jana Stöver, Alexa Tiemann, Heidrun Zeug. Die Beiträge spiegeln die persönliche Meinung der Autorinnen und Autoren wider. Idee: Ines Wolfslast Gestaltung: Ungermeyer, grafische Angelegenheiten Druck: Herforder Druckcenter Danksagung: Diese Publikation wurde von der Stiftung Mercator GmbH gefördert.


Editorial

Liebe Leserinnen und Leser! Unsere Netzwerkmitglieder haben das Glück gesucht – und sie haben es gefunden: in ihrem Beruf, ihrer Berufung und in der Begegnung mit sich selbst, besonders aber in Beziehungen zu anderen Menschen. Sie berichten von ihren Erfahrungen und ­Gedanken aus China, Laos, Indien, auf den Philippinen und an der Ostsee. Wir haben uns auch gefragt, wie Wohlstand, Glück und Freiheit zusammenhängen – und haben andere gefragt, wie sie darüber denken: den tschetschenischen Drehbuch­ autor Adam G., den indischen Yogalehrer Yogesh Saini sowie den Bundestags­ abgeordneten Dr. Hermann Ott. Wir erzählen vom modernen Nomadentum mit seinen schönen und seinen Schattenseiten. Schließlich haben wir das Glück im sokratischen Dialog gesucht, den Plato in seinem Gastmahl mit ausgewählten Personen einst entworfen hat. Der argentinische Philo­ soph Ubaldo Perez Paoli hat in diesem Experiment mitgemacht, unseren Mitgliedern Glücksfragen gestellt und die Antworten kommentiert. Herzlichen Dank dafür! Im technokratisch geführten Politikdiskurs finden die Fragen nach dem „Guten ­Leben“ nicht den Platz, den sie für eine schöpferische und lebendige Gesellschaft ­haben müssten. Wir haben ein bisschen Platz gemacht. Eine beglückende Lektüre wünschen Stephanie von Hayek und Silke Noa Kumpf

Über Leserbriefe freut sich die Redaktion: redaktion@adhoc-international.org e­benso wie über ­Besuche und einen regen Austausch zum Thema Wohlstand und Glück auf unserer facebook-Seite www.facebook.com/adhocinternational.

nefia nefia ist der Alumniverein für die Absolventen des Mercator ­Kollegs und des früheren Stiftungskollegs, um nach der Zeit im Kolleg im Kontakt zu bleiben und berufliche Netzwerke zu ­pflegen. nefia ist außerdem ein Multiplikator für junge Sichtweisen auf internationale Themen und entwicklungspolitische Frage­stellungen. Mit Veranstaltungen und Publikationen mischen wir uns in global relevante Themen ein und vermitteln unser Praxis- und Expertenwissen. nefia ist auch Partner der Stiftung Mercator bei der Gestaltung des Kollegs. Unsere praxiserfahrenen Mitglieder unterstützen die ­aktuellen Stipendiaten bei der Planung und Durchführung ihrer Projektvorhaben. www.nefia.org. Kontakt: info@nefia.org

CSP Der gemeinnützige Verein des Carlo-Schmid-Programms wurde 2003 gegründet und ist ein weltweites Netzwerk junger ­Deutscher mit Praxiserfahrung in der internationalen Politik und Zusammenarbeit. Ziel ist es, die etwa 400 Mitglieder untereinander, mit Wissenschaftlern, Praktikern, Politikern und anderen Engagierten zu vernetzen. Damit soll ein Forum für Wissens- und ­Erfahrungsaustausch geschaffen werden. www.csp-network.org. Kontakt: geschaeftsstelle@csp-network.org.

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Individuelles Glück

„Ist das Glück?“ Das Streben nach dem persönlichen Glück gehört neben dem Wissensdrang zu den ältesten Antrieben zur philosophischen Reflexion. Wesensbestimmung des Glücks und Wege zu einem gelingenden Leben machen von Anfang an den Inhalt des ­praktischen Teils der Philosophie aus. Ubaldo Perez-Paoli ist außerplanmäßiger Professor für Philosophie an der TU Braunschweig. Der gebürtige Argentinier hat in diesem ­Semester ein Seminar zum Thema „Glück und Philosophie“ ­gehalten. Für ad hoc international hat er vier Fragen über die Bedeutung des Glücks und unsere Wahrnehmung von Glück ­gestellt. Elisa, Bastian und Sibel waren bereit, ihre Gedanken über das Glück mit uns zu teilen. Ubaldo Perez-Paoli: Welche Rolle spielt die Suche nach Glück in Ihrem eigenen Leben und wie versuchen Sie es zu erreichen? Elisa: Die Suche und das Finden von Glück sind sicherlich eine zentrale Motivation und eine gewaltige Triebkraft in ­meinem eigenen Leben. Jedoch stelle ich immer wieder fest, dass ich das Glück an Umstände binde, die nicht im Jetzt, ­sondern in der Zukunft liegen. Wenn ich meinen Traumjob ­bekomme, bin ich glücklich. Wenn ich meinen Traummann finde, bin ich glücklich. Wenn ich das schöne Haus habe, bin ich glücklich. Aber ist dies wirklich Glück? Insbesondere durch das Jahr während des Mercator Kollegs für Internationale ­Aufgaben bin ich zu dem Schluss gekommen, dass Glück „nicht erreicht” werden kann, sondern dass Glück einfach „ist“. Man muss verstehen und innerlich akzeptieren lernen, dass Glück und Zufriedenheit eben nicht alleine an äußeren Umständen fest zu machen sind, sondern immer nur von innen kommen und kommen kann.

Bastian: Die Suche nach dem Glück – das hatte für mich ­immer den Beigeschmack von Getriebensein, implizierte es doch, dass man „es“ noch nicht gefunden hat. Glück, ver­ standen als Zustand, möchte ich aber auch nicht gefunden ­haben – denn was bleibt dann noch? Ich möchte mich nach ­etwas sehnen und es verwirklichen. Ich möchte an eigenen ­Ideen arbeiten. Ich möchte frei sein in meinen täglichen Ent­ scheidungen, meinem Weg dorthin – das macht mich glück­ lich. Seit drei Jahren lebe ich ihn – meinen großen Traum von Freiheit. Das Schwierigste war die Entscheidung loszufahren. Loszulassen. Gegen alles Kopfschütteln darüber, „Karriere“, „Chancen“, „Perspektiven“ – und damit vermeintlich ver­bundenes Glück – aufzugeben. Gegen den Strom zu schwimmen, oder besser: Gegen den Wind zu segeln. Klar zur Wende – Ree! Sibel: Als aufstrebende junge Akademikerin empfinde ich es als mein Glück, meiner Leidenschaft, meinen Interessen und Wünschen nachgehen zu dürfen bzw. den Glücklichen anzu­ gehören, welche die Gelegenheitsstrukturen dafür ergreifen konnten. Das Streben nach Selbstverwirklichung ist dabei die abstrakte Form eines übergeordneten Ziels. Das „Streben“ nach Glück impliziert ein kontinuierliches Fortschreiten, ­dessen Ausgang ungewiss bleibt. Die wahre Kunst für mich liegt darin, beim „Luft schnappen“ auf dem Weg dorthin ­zahlreiche kleine Glücksmomente zu ergreifen. Ubaldo Perez-Paoli: Inwiefern ist die Glücksfrage mit der Wahl und Ausübung Ihres Berufs zu vereinbaren? Ist es überhaupt noch möglich, dabei die Frage nach dem Glück zu stellen? Elisa: Ist es ein Glück, bei der NATO an den neuen Sicherheits­ herausforderungen zu arbeiten? Wenn Glück kein Zustand, sondern eine Einstellung ist, wenn Glück aus Momenten ­besteht, dann ist sicherlich die Glücksfrage mit der Ausübung eines Berufs genauso zu vereinbaren wie mit dem Privatleben. Man ist doch glücklicher, wenn man einen Beruf ausübt, der einem prinzipiell Freude bereitet, wenn man eine Tätigkeit ­ausübt, in der man immer wieder erneut aufgehen kann. ­Alleine schon die Tatsache, dass wir unseren Beruf wählen ­können, empfinde ich als Privileg und wahres Glück. Ich hoffe und denke, dass man Privatleben und Beruf „glücklich“ verein­ baren und „ausüben“ kann. Es ist doch so: der Mensch besteht aus Körper, Geist und Seele und alle Bereiche müssen in einem gewissen individuellen Einklang stehen – dazu bedarf es Kom­ promisse. p


Individuelles Glück

Bastian: Ich war vor „Raus ins Blaue!“ sicher nicht unglück­ lich! Die Zeit im Stiftungskolleg wie auch das Berufsleben ­danach waren spannend, interessant, motivierend und inspirie­ rend. Manchmal auch aufreibend, belastend und vor allem: Mich innerlich „irgendwie“ nicht ausfüllend, ohne dass ich im hektischen Alltag hätte sagen können warum. Das Gefühl der Fremdbestimmtheit bohrte in mir, die Frage nach dem „Ist das hier wirklich meins?“. Diese Frage vor mir selbst und ande­ ren (Familie, Freunde, Kollegen) ehrlich und in Anbetracht der sich daraus ergebenden Fragezeichen mit „Nein“ zu beant­ worten, hat Zeit, Kraft und vor allem Mut gekostet. Wer sie für sich mit „Ja“ beantworten kann – warum sollte er nicht in ­seinem Beruf glücklich werden können?

Sibel: Mir wurde in die Wiege gelegt, dass die gute Intention oft sehr viel mehr wert ist als die eigentliche Tat. Das Letztere kann durch äußere Umstände verhindert werden, auch wenn die Intention dahinter goldwert ist. Das Streben nach dem ­Erlangen von Werte- und Normvorstellungen, wie z. B. Auf­ richtigkeit, Loyalität und Toleranz macht selbstverständlich ­einen Teil ­meines Glücks aus, da es zum Glücksempfinden ­wiederum einer ­tugendhaften Persönlichkeit bedarf. Sowohl das Erleben von Glück als auch die Herausbildung einer tugendhaften Per­ sönlichkeit geschehen in Interaktion mit unserem Umfeld, und je mehr dieser Eigenschaften ein Mensch erlangt, desto „glück­ licher“ kann er sich schätzen, und desto wahrscheinlicher wird er dies auch zurückgemeldet bekommen.

Sibel: Der Beruf als solcher steht im stetigen Wandel. Es stellt sich eher die Frage: ergreife ich das Glück beim Streben da­ nach? Oder fasse ich es im Hier und Jetzt? Gerade für meine Generation glaube ich, dass sowohl das Ausmaß an Selbst­ bestimmtheit über den eigenen Werdegang als auch die daraus folgende Rastlosigkeit, mit der Informationsflut zurecht­ zukommen, wichtige Determinanten über das subjektiv emp­ fundene Glück darstellen. So klischeehaft es auch klingen mag, bin ich der festen Überzeugung, dass das Geheimnis im regel­ mäßigen „Innehalten“ sowie im subjektiv empfundenen ­Gefühl der inneren Dankbarkeit liegt.

Ubaldo Perez-Paoli: Welche Rolle spielen andere Menschen bei dem Entwurf und der Verwirklichung Ihres Glücks? Beraten Sie sich mit anderen darüber, bilden andere Personen auch einen Teil Ihres Lebensziels?

Ubaldo Perez-Paoli: In welcher Beziehung steht das Erlangen Ihres Glücks mit der Verwirklichung derjenigen Eigenschaften und Potentialitäten, die Sie für die hervorragendsten des ­Menschen halten? Elisa: Prinzipiell denke ich, dass je mehr Eigenschaften und Potentiale man verwirklicht, die man grundlegend als erstrebens­ wert bezeichnet, z. B. Ehrlichkeit, Großzügigkeit, Freundlich­ keit, umso erreichbarer wird das Glück an sich. Der maßvolle Umgang und die Subsumierung der subjektiven Wünsche und Neigungen unter dieses Gesamtkonzept ist sicherlich Teil dessen. Bastian: Ich weiß nur, welche Eigenschaften ich leben möchte, um mit mir selbst zufrieden – glücklich? – zu sein. Ganz vorne stehen Aufrichtigkeit und Authentizität.

Elisa: Da der Mensch ein Mangel- und Sozialwesen ist, brau­ chen wir die menschliche Interaktion, Emotionen, Zuneigung, Liebe. In meinem eigenen Leben spielt das Teilen des Glücks eine große Rolle – geteiltes Leid ist halbes Leid, geteilte Freude, doppelte Freude. Das Glück und dessen Verwirklichung kann nur in einem größeren Zusammenhang gesehen werden – das Glück des Anderen und der Anderen ist Teil des eigenen Glücks. Aufgrund dessen spielen andere Menschen bei dem Entwurf und der Verwirklichung meines Glücks eine entscheidende Rolle. Bastian: Natürlich! So wichtig mir Freiheit ist – Bindungen sind es ebenso, an Familie, Freunde, Freundin, aber auch an Heimat und Zuhause. Neben einem recht großen, aber eher lockeren Freundeskreis gibt es in meinem Leben ein paar ­wenige, für mich lebenswichtige Beziehungen, die mir alles ­bedeuten. Ich bin Einhandsegler, bin gern mit mir selbst, ­meinem Boot und dem Meer allein. Aber ich segele auch, um immer wieder neu anzukommen, neue Gesichter zu sehen, neue Menschen kennen zu lernen – und mich dann wieder zu verabschieden, zumindest für den Moment. Aus manchen ­dieser Begegnungen wachsen Freundschaften. p

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Individuelles Glück Bastian Hauck, Jg. 1977, studierte Wirtschafts­ wissenschaften in Witten/Herdecke und Middle East Studies an der American University of Beirut. Als Stipendiat des Stiftungskollegs (2004/05) ­arbeitete er für das Auswärtige Amt, die OECD und UNDP. Bis 2008 war er Programmleiter bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige ­Politik in Berlin. Dann restaurierte er ein 50 Jahre altes Folkeboot, kündigte und segelte zwei Sommer einhand rund Ostsee, schrieb ein Buch, drehte ­einen Film – und ging dann auf Weltumsegelung. Er hat in Schleswig eine Bootswerft gegründet. Mehr unter www.rausinsblaue.de und mail@tadorna.de.

Sibel: Der Mensch kann nie losgelöst von seinem sozialen ­Umfeld betrachtet werden, da er in ständiger facettenreicher Wechsel­wirkung mit seinen Mitmenschen steht. Das Selbstwertund Selbstwirksamkeitsgefühl, beides wichtige psychologische sowie glücksrelevante Konstrukte, hängen unmittelbar von ­sozialen Feedbacks aus Freundes- und Familienkreisen ab, daher schließt der Begriff des Glücklichseins das Glück des ­Anderen mit ein. Das „Teilen“ seines Glücks als abstrakter ­Begriff, sowie das „Teil haben“ am Glück des Anderen gehören unweigerlich zusammen. Nicht umsonst gehören auch Danksagungen zum „Pflichtrepertoire“ unserer Gesellschaft.

Elisa Oezbek, Jg. 1983, studierte Internationale

Ubaldo Perez-Paoli: Entscheidende Aspekte der Gesamtproblematik kommen in den Antworten sehr deutlich zum Vorschein: Glück, bzw. Glückseligkeit, ein gelingendes, erfülltes Leben wird von Anfang der philosophischen Reflexion an als Ziel gedacht, sogar als letztes Ziel, im Bezug auf welches vieles oder gar alles andere die Funktion eines Mittels übernimmt. Es handelt sich also ­keineswegs um einen bloßen Glücksfall oder ein Geschenk des Schicksals, sondern es kann nur oder hauptsächlich Ergebnis der eigenen Bemühungen und Leistungen sein. Dieses Ziel wird ebenso wenig als bloß zukünftig vorgestellt, als ein leeres, immer wieder verschobenes und nie eingelöstes Versprechen, sondern als ein in der Gegenwart erreichbares Ziel. Und wiederum nicht als ein Ziel, welches nach dessen Erlangung gleich in die Vergangenheit verabschiedet werden soll, wie bei einem Wettlauf, sondern eines, bei dem man verweilen kann, und zwar ein ganzes Leben lang. Stimmt dies alles, dann kann es sich nicht um die will­ kürliche Laune eines Individuums handeln, sondern es muss schon den grundlegenden Anforderungen menschlichen Daseins Genüge leisten und seinen wesentlichen Eigenschaften ent­ sprechen, darunter seiner Tugendhaftigkeit und seiner Sozial­ bezogenheit. Bedenkt man, wie viel Raum das Berufsleben im Ganzen einnimmt, dann ist es sehr wichtig, dass die im Alltag ausgeübte Tätigkeit im Einklang mit diesem Ziel steht.

in Princeton. Im Rahmen des Mercatorjahres

Beziehungen an der London School of Economics and Political Science bevor sie im Rahmen des Mercator Kollegs (2009/2010) für das Auswärtige Amt, das VN Sekretariat und die NATO arbeitete. Seit Mitte 2010 arbeitet sie als Consultant zu Fragen der internationalen Terrorismusbekämp­ fung für die NATO. (Eoezbek@gmail.com) Sibel Atasayi, Jg. 1986, studierte Psychologie und Social Policy in Heidelberg und an der Woodrow Wilson School for International and Public Affairs wird sie sich näher mit Good Governance Strategien als eine mögliche Basis für einen demokratischen Wandel im Nahen Osten am Beispiel Libanons beschäftigen. (Sibel86@gmx.de) Birga Friesen, Jg. 1984, arbeitete 2010/2011 als CSP-Stipendiatin bei der International Organization for Migration in Genf. Sie hat Interkulturelle Kommunikation, französische Kulturwissen­ schaften und Rechtswissenschaften studiert. Während eines Aufbaustudiums spezialisierte sie sich auf auf Völkerrecht und europäischen ­Menschenrechtsschutz. Zurzeit ist sie Rechts­ referendarin am Landgericht Düsseldorf. (birga.friesen@gmx.de) Amelie Hinz, Jg. 1984, arbeitete 2007/08 als CSP-Stipendiatin beim United Nations Institute for Training and Research. Sie hat Internationale Beziehungen und Friedens- und Sicherheits­ studien in Dresden und London studiert. Danach arbeitete sie für das Zentrum für Internationale Friedenseinsätze und zuletzt für die für die Deut­ sche Gesellschaft für Internationale Zusammen­

Redaktionelle Koordination von Amelie Hinz und Birga Friesen.

arbeit. Ab September 2011 wird sie am Post­ graduierten-Programm des Deutschen ­Instituts für Entwicklungspolitik teilnehmen. (amelie.hinz@gmx.net)


Alternativen zum Bruttoinlandsprodukt

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Revolution in der Volkswirtschaft? Zur Debatte um die Messung von wirtschaftlichem und sozialem Fortschritt von Jana Stöver und Alexa Tiemann Die Volkswirtschaftslehre hat zu vielen Themen eine Meinung, oftmals auch mehrere. Harry S. Truman wünschte sich daher sogar einen ‚einhändigen‘ Volkswirt, zu wenig eindeutige Politik­empfehlungen kamen ihm von Seiten der Ökonomen. Immer gab es zu jedem on the one hand auch ein on the other hand. In der Debatte um Wachstum, Wohlfahrt und Glück steht man vor einer ähnlichen Herausforderung. In der Volkswirtschaftslehre wird seit vielen Jahren sowohl theoretische als auch anwendungsorientierte Forschung in ­Bezug auf die Frage nach der Definition und Messung dieser drei ­Dinge betrieben. Mittlerweile kann man die Glücks­ forschung sogar als eigenen Forschungsbereich betrachten. In der Debatte werden allerdings häufig unterschiedliche Frage­ stellungen vermischt, beispielsweise die nach materiellem Wohl­ stand, anderen Grundbedürfnissen (Gesundheit, Bildung) und nach Glück. Der Ausgangspunkt der meisten traditionellen Wohlstands­ messungen, das Bruttoinlandsprodukt (BIP), erfasst den Wert der in einem Land hergestellten Güter und Dienstleistungen. Paradoxerweise gehen dabei manche negativen Effekte, zum

Beispiel die Beseitigung von Umweltschäden als Wertschöp­ fung positiv ein, während der Verbrauch natürlicher Ressourcen gar nicht berücksichtigt wird. Viele produktive Tätig­keiten, wie beispielsweise häusliche Pflege und familiäre Unter­stützung füreinander, bleiben dabei außen vor. Darüber hinaus sagt das BIP als Durchschnittswert nichts über die Verteilung von Wohlstand, Einkommen oder Vermögen aus. Angesichts neuer ­gesellschaftlicher Prioritäten, wie Nachhaltigkeit, und der ­genannten Defizite der Maßgröße BIP, wurde und wird viel über Alternativen nachgedacht. Viele Vorschläge nehmen das BIP als Berechnungsbasis, um dann Korrekturen und Erweite­ rungen vorzunehmen. Im Rahmen der umweltökonomischen Gesamtrechnung beispielsweise werden Umweltgüter in die ­Berechnung miteinbezogen. Bei „synthetischen Indikatoren“ wiederum, wie zum Beispiel dem Human Development Index (HDI) der Vereinten Nationen, werden neben dem BIP auch Gesundheit und Bildung einer Bevölkerung in einem gewichteten Index zusammengefasst. Der Vorteil dieser beiden Indikatoren ist, dass sie wie das BIP in der volkswirtschaftlichen Theorie ­begründet sind, auch wenn beide nur Teilbereiche ­erfassen. Bei gewichteten Indikatoren gibt auch das Gewicht der einzelnen Komponenten viel Anlaß zu Diskussionen. p

Human Development Index, Rangliste 2010, s

Quelle: Human Development Report 2010 (UNDP)

Rang HDI Norwegen 1

Bangladesch Ghana

104

130

Namibia

Kamerun

105

131 132 133

Jemen

134

Benin

108

Honduras Malediven Indonesien

Myanmar

106

109

Kirgisistan

135

Südafrika

Madagaskar Mauretanien

110

136

Syrien

137

Papua-Neuguinea

111

Tadschikistan

138

Nepal

112

Vietnam

Togo

113

139

Marokko

Komoren

114

140

Nicaragua Guatemala

Lesotho

115

141 142

Nigeria

143

Uganda

144

Senegal

145

Haiti

146

Angola

147

Dschibuti

148

Tansania

149

Elfenbeinküste

150

Sambia

151

Gambia

152

Ruanda

153

Malawi

76

Armenien

102

Uruguay

77

Ecuador

103

27

Singapur

52

Libyen

78

Belize

28

54

Panama

79

Kolumbien

29

Tschechien Slowenien

53

Saudi-Arabien

80

Jamaika

30

Andorra

55 56

Mexiko

81

Tunesien

57

Malaysia

82

Jordanien

58

Bulgarien

83

Türkei

59

84

Algerien

85

Tonga

86

Fidschi

61

Trinidad und Tobago Serbien Weißrussland

62

Costa Rica

87

63

Peru

5

Irland

6

31

Slowakei

7

Liechtenstein Niederlande

32

8

Kanada

9 10

Schweden Deutschland

33

Vereinigte ­Arabische Emirate Malta

34

Estland

11

Japan

35

Zypern

12

Südkorea

36

Ungarn

13

Schweiz

37

Brunei

14

Frankreich

38

Katar

15

Israel

39

Bahrain

16

Finnland

40

Portugal

17

Island

41

Polen

18

Belgien

42

Barbados

19

Dänemark

43

Bahamas

20

Spanien

44

Litauen

21 22

Hongkong Griechenland

45

23

Italien

24

Luxemburg Österreich

25

Kenia

129

Kroatien

4

3

128

51

Australien Neuseeland Vereinigte Staaten

2

Usbekistan Föderierte Staaten von Mikronesien Guyana

Vereinigtes Königreich

26

60

107

64

Albanien

89

65

Russland

90

66

Kasachstan Aserbaidschan

91

Turkmenistan Dominikanische ­Republik China El Salvador Sri Lanka

92

Thailand

118

Äquatorialguinea Kap Verde

Bosnien und ­Herzegowina

93

Gabun

119

Indien

120

Osttimor

Ukraine

Suriname

69

94

121

Swasiland

Chile

Iran

Bolivien

70

95

122

Laos

46

Argentinien

Mazedonien

Paraguay

71

96

123

47

Kuwait

Mauritius

Philippinen

72

97

48

Lettland

Brasilien

125

Pakistan

49

Montenegro Rumänien

74

Georgien Venezuela

99

Botsuana Moldawien

124

73

98

Salomonen Kambodscha

100

Mongolei

126

101

Ägypten

127

Republik Kongo São Tomé/Príncipe

50

67 68

75

88

116 117


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Alternativen zum Bruttoinlandsprodukt

Mit dem reinen Glück tut sich die Wissenschaft immer noch schwer, denn Glück, oder genauer, Zufriedenheit ist nicht leicht zu messen. Subjektive Einschätzungen der eigenen Zu­ friedenheit, erhoben durch Umfragen, sind eben das: subjektiv und schwer vergleichbar. Eine Skala von 0 (sehr unglücklich) bis 10 (sehr glücklich) lässt reichlich Raum für Variation und Interpretation. Es bleibt schwierig, die subjektive Zufrieden­ heit zwischen Individuen oder Bevölkerungen zu vergleichen – schließlich liegt es ja gerade in der Natur der Sache, dass jeder unterschiedlich empfindet. Außerdem passen sich Individuen an ihre Verhältnisse an und nehmen Dinge damit im Zeitver­ lauf anders wahr. Dennoch sind solche self reported life satisfaction scores, also subjektiv abgefragte Zufriedenheitswerte, durchaus informativ, denn man kann sie im Länderdurchschnitt zu ­äußeren Faktoren ins Verhältnis setzen (zum Beispiel zu Ein­ kommen oder Rechtssicherheit). Auch Veränderungen im Zeit­ ablauf lassen sich nachvollziehen, wenn man davon ausgeht, dass solche Einschätzungen im Zeitablauf konsistent sind. ­Beispiele dafür sind etwa das in Deutschland vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung ­erhobene sozio-ökonomische Panel. Ein gutes Beispiel für die aus der Forschung gewonnene Erkenntnis, dass Geld ­allein nicht glücklich macht, ist Japan. Das Land mit dem ­größten Zuwachs an Nationaleinkommen (BIP) in den letzten 50 Jahren hatte gleichzeitig nur geringe Steigerungen des ­nationalen Zufriedenheitsniveaus zu verzeich­ nen. Studien zeigen, dass zunehmendes Einkommen grundsätz­ lich durchaus zu mehr Zufriedenheit führt, allerdings nur be­ grenzt: irgendwo um 75 000 US-Dollar Jahreseinkommen in entwickelten Volks­wirtschaften wird der Zufriedensheitsgewinn von noch höherem Einkommen verschwindend gering, wie die Wissenschaftler Angus Deaton und Daniel Kahnemann kürz­ lich feststellten. Während die Glücksforschung bei solchen Fragen sehr auf­ schlussreich sein kann, ist sie jedoch noch lange nicht zu einer ernsthaften Konkurrenz für die traditionellen Maßzahlen ­geworden. Bis auf weiteres wird sie daher vermutlich allenfalls eine sehr aufschlussreiche Ergänzung bleiben. Um einen Weg zu finden, wie wirtschaftlicher und sozialer Fortschritt nun letztendlich besser gemessen werden können, wurde im Jahr 2008 von Präsident Sarkozy eine mit reichlich Nobelpreisträgern und anderen Experten besetzte Kommission, die sogenannte Stiglitz-Sen-Fitoussi-Kommission (CMEPSP), ins Leben gerufen. Die Kommission hat zwar keinen neuen ­Indikator als Generallösung für alle Probleme vorgeschlagen,

wohl aber wesentliche Defizite der traditionellen Methoden benannt und neue Denkanstöße gegeben. In ihrem Abschluss­ bericht spricht sich die Kommission für eine Verschiebung des Fokus weg von der Produktion hin zur Wohlfahrt als ­Zielwert aus. Dies bedeutet, dass statt der Produktion auf ­Unternehmensebene der Konsum von Menschen auf Haus­ haltsebene betrachtet werden sollte, um näher an die indivi­ duelle Wohlfahrt heranzurücken. Außerdem empfiehlt sie eine Erweiterung der Einkommensmaße um Aktivitäten, die nicht auf Märkten stattfinden und damit keinen Marktpreis ­haben, wohl aber einen Wert, wie etwa ehrenamt­liches ­Engagement oder häusliche Pflege. Damit würde sie auch den vielen informellen Tätigkeiten in Entwicklungs­ländern (z. B. Subsistenz-Landwirtschaft und fliegende Händler) besser gerecht. Sie betont jedoch gleichzeitig die Wichtigkeit des ­materiellen Wohlstandes als Ausgangspunkt für die Messung und den Vergleich von Wohlfahrt. Dabei sollte allerdings ­weniger Gewicht auf Durchschnitte gelegt werden, so dass auch Verteilungswirkungen erfasst werden. Auch wenn die Arbeit der Kommission sogar in Empfehlungen an die statistischen Ämter in Deutschland einging, wird es wohl noch dauern, bis diesen Worten Taten folgen und sich neue Indikatoren international durchsetzen werden. Am Ende des Prozesses wird aber auch hier nicht eine umfassende Formel oder Maßzahl als Antwort stehen: Nicht zuletzt ­deshalb, weil den großen gesellschaftlichen Fragen nach Wachstum, Wohl­ fahrt und Glück und deren Bestimmungsfaktoren, leider ­weiterhin nur das ungeliebte it depends bleibt.

Jana Stöver, Jg. 1981, studierte Volkswirtschaftslehre an der HumboldtUniversität zu Berlin sowie in Schweden und Korea. Nach dem Studium hat sie 2007/08 als Carlo-Schmid-Stipendiatin im Policy and Economics Team der Weltbank in Washington D. C. im Bereich „Enviromnental ­Accounting" gearbeitet. Seit 2008 ist sie als Junior Researcher am Hamburgischen WeltWirtschaftsInstitut tätig und promoviert im Bereich ­Umweltökonomik an der Universität Hamburg. (stoever@hwwi.org)

Je mehr desto glücklicher? Das Weltbruttoinlandsprodukt 2007 s  Quelle: United Nations Conference on Trade and Development (UNCTAD), Statistisches Jahrbuch 2008

Region Nordamerika Mittelamerika und Karibik Südamerika Europa Naher Osten Afrika Süd-Osteuropa und GUS

Asien

Ozeanien

BIP 15.242 Mrd. US-Dollar 1.156 Mrd. US-Dollar

2.378 Mrd. US-Dollar 17.589 Mrd. US-Dollar 1.407 Mrd. US-Dollar

1.253 Mrd. US-Dollar

1.782 Mrd. US-Dollar 12.392 Mrd. US-Dollar 1.074 Mrd. US-Dollar

Alexa Tiemann, Jg. 1980, studierte Betriebswirtschaftslehre und arbeitete danach zwei Jahre in der Privatwirtschaft. 2008/09 war sie als Stiftungs­ kollegiatin unter anderem für die Weltbank in Kinshasa, DR Kongo. Seit 2010 arbeitet sie an der Universität St. Gallen an ihrer Promotion über die Determinanten von Wirtschaftswachstum in Entwicklungsländern und ist außerdem weiter als Consultant für die Weltbank tätig.


VIP-Interview

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„In der Entwicklung ­unserer emotionalen ­Fähigkeiten liegen die eigentlichen ­Wachstumschancen“ Dr. Hermann Ott, MdB, Bündnis90/Die Grünen, ist Mitglied der Anfang 2011 gebildeten Enquete Kommission des Deutschen Bundestages „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität – Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt in der Sozialen Marktwirtschaft“. ad hoc: Herr Dr. Ott, die Enquete Kommission besteht seit einem halben Jahr. Wie kam es zu dieser Idee und ihrer Umsetzung? Ott: Die Idee kam ursprünglich von uns. 2009 veröffentlichte Reinhard Loske einen Artikel über Wachstum und hielt das für ein gutes Thema für eine Enquete im Bundestag. Die Grüne Fraktion hat den Vorschlag aufgegriffen, einen Einsetzungs­ antrag geschrieben und mit der SPD und dann den Koalitions­ parteien abgestimmt. ad hoc: Die Kommission hat eine umfassende Aufgabe zu be­ wältigen und ist dazu in fünf Projektgruppen eingeteilt. Sie leiten die Gruppe Wachstum, Ressourcenverbrauch und technischer Fortschritt – Möglichkeiten und Grenzen der Entkoppelung. ­Worum geht es genau? Ott: Für uns Grüne ist der Ressourcenverbrauch das zentrale Thema, unser Stoffwechsel mit der Natur. Gibt es wirtschaft­ liches Wohlergehen, das für jeden ein gewisses Level an Wohl­ stand sichert bei gleichzeitig extrem reduziertem Ressourcenver­ brauch? Lässt sich das mit permanentem Wachstum vereinbaren? Mit welchem Modell des Wirtschaftens kriegen wir das hin? Während man beim Klima mittlerweile einiges Wissen voraus­ setzen kann, ist dies beim Wachstumsthema nicht der Fall! Man schaut in absolut blanke Gesichter, obwohl diese ­Diskussion schon vor vierzig Jahren angestoßen wurde. ad hoc: Inwiefern setzt sich die Enquete Kommission mit einer globalen Sichtweise auf Wohlstand und Wachstum auseinander? Ott: Zu wenig. Ich habe vor kurzem einen Vortrag in der Enquete über die ökologischen Grenzen des Wachstums gehalten und ­dabei die Astronautenperspektive gewählt: Das erste Bild meiner Präsentation war die Erdkugel – quasi als Juwel vor dem nacht­ schwarzen Hintergrund. Geendet habe ich mit einem Bild, das vier Erden hintereinander zeigt, denn wir bräuchten vier Erden wenn alle auf der Welt so leben würden wie wir. ­Unser „playing field“ ist der Erdball, und wir können nirgendwo hin ausweichen. Zumindest wenn man nicht, wie Stephen Hawking es vorge­ schlagen hat, interstellare Reisen fördert, um emigrieren zu können

ad hoc: Welche Ergebnisse erwarten Sie von der Kommission? Ott: Vor allem ein erhöhtes Problembewusstsein schaffen, dann kleine Schrauben finden, an denen man mit großer Wirkung ­drehen und die wesentlichen Fragen für die Zukunft formulieren kann. Ein Beispiel für eine solche Schraube ist Paragraph 44 der Bundeshaushaltsordnung, der definiert was „Investitionen“ sind. Investitionen in Deutschland bedeuten Infrastruktur und nichts anderes. Geld für etwas anderes als Beton gilt als Ausgabe. Wenn man diese Definition erweitern könnte, z. B. „Investition ist auch Finanzierung von Bildung“, dann hätte man einen doppelten ­Gewinn. Mehr Geld für andere Projekte, und nicht den Zwang zum Wachstum; denn mit Infrastruktur schafft man neue Be­ dingungen für Produktion, Konsumption, den Verbrauch von Res­ sourcen. So wie jede Umgehungsstraße mehr Verkehr produziert. ad hoc: Wie wird Fortschritt in der Kommission diskutiert? Ott: Die Idee des Fortschritts wird im Prinzip nicht angezweifelt. Es ist eine Hegelsche Vorstellung, dass immer alles weitergeht. Dabei ereignet sich Geschichte vielleicht eher in Zyklen oder Wellenbewegungen. Unsere eigentlichen Wachstumschancen liegen in der Entwicklung sozialer und emotionaler Fähigkeiten. Ich habe persönliches Anschauungsmaterial: Mein Über­gang von der Wissenschaft in die Politik war von einem Paradigmen­ wechsel gekennzeichnet. Als Wissenschaftler benutzt man nur den vorderen Hirnlappen, als Politiker den ganzen Kopf, ja, den ganzen Körper. Ich musste Fähigkeiten entwickeln, die ich vorher gar nicht konnte. Und das kann jeder, diese persönliche, seelische, emotionale Weiterentwicklung, technisch ausgedrückt: Die Entwicklung des Humankapitals. ad hoc: Sehen Sie die Energiewende und den Atomausstieg als Chance, an die Themen der Enquete Kommission anzuknüpfen? Ott: Absolut. Das kann sogar entscheidend sein. Inhaltlich hat der Atomausstieg viel mit der Kommissionsarbeit zu tun. Das Versprechen ungebremsten Wachstums funktionierte nur auf der Grundlage von unbegrenzter Energie. Die Atomenergie war ein Urversprechen. Vorher waren es Kohle und Erdöl, die

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den Gedanken von grenzenlosem Wachstum entstehen ließen. Davor war man immer beschränkt auf eigene und tierische Kräfte, auf Naturkräfte wie Wind und Wasser. Erst als man sich durch Erdöl und Kohle gewissermaßen unbegrenzt Sklaven ­erschaffen konnte, war ein vermeintlich unbegrenztes Wirt­ schaftswachstum möglich. Das ist jetzt vorbei. ad hoc: Liegt in der Energiewende nicht ein enormes Potenzial, nach dem Motto, jetzt arbeiten wir alle für ein gemeinsames Ziel, und diesen Schwung nutzen wir auch für andere Themen, um ein ökologischeres und besseres Land zu schaffen? Ott: So würde man es sich wünschen! Leider nutzt die Bundes­ regierung die Chance nicht wirklich. Mit der Energiewende in ihrer jetzigen Form werden alte Strukturen zementiert. Kohle und Gas werden als Alternativen für Atom propagiert, dezen­ trale erneuerbare Energien werden ausgebremst. ad hoc: Was wünschen Sie sich von Medienvertretern während der Kommissionsarbeit? Ott: Soviel wie möglich schreiben, um das Thema der Enquete erst einmal zu verankern. ad hoc: Die externen Sachverständigen sind bis auf eine Frau männlich. Das ist von vielen kritisiert worden. Aber es sind auch überwiegend Ökonomen. Sind Ökonomen heute das, was früher die Philosophen waren: die Avantgarde? Ott: Die Zusammensetzung ist unglücklich und peinlich. Aber bei der Zusammensetzung der Kommission wussten die Frakti­ onen nicht, wen die anderen nominieren. Außerdem wollten vermutlich alle die vermeintlichen „Dickschiffe“ für sich nach vorne bekommen. Das sind leider fast alles Männer, vor allem bei den Ökonomen. Gerade im akademischen Bereich sind Frauen völlig unterrepräsentiert. Das zeigt den Zustand unserer Gesellschaft und unserer Eliten. Tatsächlich ist die Kommission sehr einseitig zusammengesetzt, hauptsächlich Professoren über 50. Keiner mit Migrationshintergrund, kaum Ostdeutsche. ad hoc: Können „ökonomische Männer“ das gute Leben besser beurteilen? Wird hier Gleiches mit Gleichem „geheilt“? Ott: Ich zitiere in jedem Vortrag Einstein. Man kann Probleme nicht mit den gleichen Mitteln bekämpfen, die zu den Problemen geführt haben. Deshalb versuchen wir es anders, sind aber auch Gefangene des Systems – wir haben einen Umweltökonomen und einen Umweltpolitikprofessor nominiert, weil wir das Gefühl haben, mit den Ökonomieprofessoren der anderen mithalten zu müssen.

ad hoc: Die zweite Projektgruppe entwickelt einen Wohlstands­ indikator, der das BIP ergänzen und korrigieren soll. Werden wir in Zukunft statt der Börseninformation vor den Nachrichten ­erfahren wie es um das Bruttonationalglück der Deutschen steht? Ott: Das wär‘s doch, oder? Ich verstehe diese Börsennachrichten im Fernsehen ohnehin nicht. Sie sind politisches Programm. Aktien­gesellschaften sind höchst gefährliche Unternehmens­ formen. Genossenschaften, die nicht den Reichtum einzelner Banken mehren, sind ein zukunftsfähigeres Modell für die Organi­ sation unserer Gesellschaft als börsennotierte Aktiengesellschaf­ ten, die alle Vierteljahre ihre Gewinnberichte vorlegen müssen.

„Ich finde, dass wir zu wenig ­experimentieren. Es wird immer alles bis ins Letzte durchgerechnet und dann traut man sich nicht mehr.“ ad hoc: Das führt uns zu der Frage, wie man überhaupt gutes ­Leben misst. Ott: Man muss die Menschen fragen, wie es ihnen geht. Da gibt es ein Paradox: Die meisten Leute haben für sich eine positive Einstellung zur Zukunft, aber für die Gesellschaft eine negative. Werden die Menschen gefragt, wie es wirtschaftlich geht, heißt es „schlecht“. Fragt man wie es ihnen selbst geht, so antworten sie „gut.“ Beim bedingungslosen Grundeinkommen ist es ähnlich. Während von anderen geglaubt wird, sie würden, hätten sie 800 Euro zur Verfügung, vor dem Fernseher hängen, unterstellt man sich selbst, dass man arbeiten würde. Deshalb muss man das Grundeinkommen einfach ausprobieren, sich eine Region aus­ suchen und sie als Sonderwirtschaftszone ausweisen. ad hoc: Ein interessantes Experiment. Müssen wir mutiger werden? Ott: Ich finde, dass wir zu wenig experimentieren. Es wird immer alles bis ins Letzte durchgerechnet und dann traut man sich nicht mehr. ad hoc: Sigmund Freud stellt zu Beginn seines Aufsatzes „Das Unbehagen in der Kultur“ fest, „dass die Menschen gemeinhin mit falschen Maßstäben messen, Macht, Erfolg und Reichtum für sich anstreben und bei anderen bewundern, die wahren Werte des Lebens aber unterschätzen.“ Was können heute die „wahren Werte“ sein? Ott: Das, wofür ich kämpfe und wofür ich in die Politik gegangen bin: Für eine Gesellschaft, in der jeder seine Talente, Bega­ bungen und Fähigkeiten entfalten kann und dabei Unterstützung erhält. Eine solidarische Gesellschaft ist weniger krisenanfällig. Eines meiner Grundthemen ist Resilienz: Unsere Systeme sind zu fehleranfällig, bei Krisen bricht gleich alles zusammen. Wir brauchen mehr Sand im Getriebe statt Öl. p


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ad hoc: Damit es knirscht? Ott: Ja, damit es Subkulturen gibt, die für sich selber leben können, die weniger abhängig von den globalen Warenströmen sind, wie zum Beispiel das Transition Town Movement in Eng­ land, mit der Idee energieautark zu werden.

jeder Mensch bekommt durch Geburt und Erziehung etwas mit und hat dann die Verpflichtung, seine Talente zu ent­wickeln und einzusetzen, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Das ist mein Antrieb. Deshalb mache ich seit fünfzehn Jahren Klimapolitik.

ad hoc: Eine Gesellschaft kann Gebote als ethische Richtschnur aufstellen, Menschen gelingt es aber nicht unbedingt, sich daran zu halten. Wie bewältigt die Kommission die Aufgabe, individuelles und kulturelles Glück miteinander zu verknüpfen? Ott: Das sind die großen philosophischen Fragen. Wir haben zwischen verschiedenen Werten jede Menge Unvereinbar­ keiten. Ob das Freiheit und Gleichheit, Freiheit und soziale Gerechtigkeit, Freiheit und Ökologie sind. Als Jurist habe ich gelernt, dass praktische Konkordanz wichtig ist. Konrad Hesse, derjenige, der für unsere Grundgesetzauslegung der entscheidende Verfassungslehrer war, sagt, du musst Werte so miteinander in ­Verbindung bringen, dass keiner wirklich Schaden erleidet.

„Überall sehen wir, dass Dinge begrenzt werden und vergehen müssen. Wenn ein Kind zu groß wird, dann bekommt es Hormone, damit es nicht wächst. Nur beim Wirtschaften denken wir, dass es ­immer weiter gehen muss.“

ad hoc: Wie haben Sie persönliche Krisen gemeistert, die Lebensmitte zum Beispiel? Ott: Die kommt ja noch … ich bin gerade fünfzig geworden (lacht). Eltern können ihren Kindern eine Fähigkeit zur Selbst­ reflexion und Gelassenheit mitgeben. Wenn man das Glück hatte, das mitbekommen zu haben, dann hilft einem das bei ­jeder Art von Krise. Ansonsten Natur, Vögel beobachten und Musik, Singen im Chor. Die Leute fragen oft, wie ich das neben meinem Job schaffe. Aber wenn ich nicht singen würde, könnte ich meinen Job nicht machen.

ad hoc: Das klingt nach Pflicht oder ist es auch Lust? Ott: Ich bin der Älteste, mein Vater ist früh gestorben. Verant­ wortung liegt mir, aber da ist auch eine Lust dabei. Und eine einfache Erkenntnis: Jemand, der neugierig ist und die Welt zum Besseren wenden möchte, hat einfach ein besseres Leben, weil er weiß, wozu er da ist und weil sich die Täler des Lebens besser überbrücken lassen. Eine eigene klare Linie, was man möchte und was man wertschätzt, ist extrem wichtig. Des­ wegen kann ich vielleicht auch leichter über Wohlstand ohne Wachstum nachdenken. Überall sehen wir, dass Dinge be­ grenzt werden und vergehen müssen. Wenn ein Kind zu groß wird, dann bekommt es Hormone, damit es nicht wächst. Nur beim Wirtschaften denken wir, dass es immer weiter gehen muss.

ad hoc: Der Philosoph Robert Pfaller stellt fest, dass wir verlernt haben die Frage zu stellen: „Wofür es sich zu leben lohnt.“ Herr Dr. Ott, wofür lohnt es sich zu leben? Ott: Es gibt das Gleichnis von den Talenten, wo der Vater ­seinen Söhnen Talente gibt und in die Welt schickt. Einer ­vergräbt sie und übergibt sie unverändert seinem Vater bei der Rückkehr, der zweite verprasst sie, aber der dritte nutzt und vermehrt sie und wird von seinem Vater auserwählt. Ich finde,

ad hoc: Konsum und Wachstum, damit wir über etwas anderes nicht nachdenken müssen? Ott: Klar, das ist eine Ersatzfunktion. Das Eigentliche ist spiritu­ eller Natur, davon bin ich überzeugt.

Stephanie von Hayek, Jg. 1971, studierte Politologie und Sozialpsychologie

Judith Haugwitz, Jg. 1975, studierte Internationale Beziehungen und arbeitet

in München und Paris. Sie war 2000/01 Stiftungskollegiatin und ver­

als Referentin in der Europakoordinierung des Bundesministeriums für

brachte ihr Jahr beim United Nations Office for Project Services in New York

Gesundheit. Während der Deutschen EU-Präsidentschaft 2007 wurde die

und bei der Weltbank-Gruppe in Washington D.C. Danach arbeitete

Ständige Vertretung Deutschlands in Brüssel ihr Dienstort. Bis 2004 war

sie als Beraterin in einer Berliner Public Affairs Beratung, bevor sie mehre­

sie Beraterin bei der Public Affairs-Agentur PLATO. Als Stipendiatin des

re Jahre als Referentin für die Versammlung der Regionen Europas in

Stiftungskollegs befasste sich Judith Haugwitz 1999/2000 mit dem EU-

­Straßburg tätig war. Nun arbeitet sie freiberuflich als Politikberaterin,

Beitritt Polens und dessen Auswirkungen auf die ländliche Entwicklung.

Moderatorin und Journalistin in Potsdam. (stephanie@vonhayek.com)

Ihre Arbeitsstationen waren u. a. die EU-Kommission und das polnische

ad hoc: Herr Dr. Ott. Wir danken Ihnen für das Gespräch. Das Interview führten Stephanie von Hayek und Judith Haugwitz

Landwirtschaftsministerium. (judithhaugwitz@hotmail.com)

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Gesellschaftliches und persönliches Glück

Wir brauchen Philosophen – Ein Plädoyer von Stephanie von Hayek Es gehört zum Wesen des Menschen, dass er häufig das ­Gegenteil dessen tut, was er tief in seinem Inneren begehrt. Er tut das, weil er die Fähigkeit hat, sich selbst zu belügen. ­Diesen Zustand kann er sogar für einen wunderbaren Sonnen­ untergang halten. Manchmal aber kratzt es leise, es pocht an der Schläfe des Schlafenden und lässt ihn fühlen, dass da noch ­etwas war, etwas Wichtiges, etwas Wahres. Doch eine Hand­ bewegung und das lästige Gefühl ist weg, wie eine Mücke, die sich ein anderes Opfer sucht. Wir drehen uns um, schlafen ­weiter. Bis zum nächsten Summen. Irgendwann aber reicht auch der Schlaf nicht mehr, um bei­ seite zu schieben, was gehört werden will. Dann bewegen wir uns. Und haben Hunger. Dann begehren wir. Und sehnen uns. Nach etwas Anderem, Neuem, Stimulierendem: Dem Aben­ teuer. Teuer kann es sein, das Neue. Aber das Alte noch viel mehr. Denn Stehenbleiben bezahlen wir mit einem Gefühl von Unbehagen, mit einem Verlust an Lebensqualität. Finanz-, Umwelt- und Gesundheitskrisen, sie weisen uns ­darauf hin, dass Wohlstand und Glück vielleicht nicht ­Geschwister sind. Dass die Suche nach Macht, Ruhm und ­Besitz nur die subtile Lüge einer Gesellschaft ist, in der der Mensch verlernt hat, zu hören: Auf sich, die anderen, die Natur. Deren Suche kapitalisiert und den strengen Kriterien wirt­ schaftlicher Berechnungen und Evaluierungen unterworfen ist. Wie sonst kommt es, dass eine Enquete Kommission des ­Deutschen Bundestages zum Thema „Wohlstand, Wachstum, Lebensqualität“ überwiegend aus Ökonomen besteht? Dass die Kardinalfrage nach einem glücklichen Leben in der ­Glücksforschung der Volkswirtschaft gemessen wird? Wenn wir ­Antworten auf die Fragen nach dem guten Leben finden ­wollen, warum richten wir die Frage nicht an diejenigen, die sich seit je her damit beschäftigen: Die Philosophen. Grundlegende Fragen zu stellen, wie nach dem Sinn mensch­ lichen Strebens, erlauben wir uns heute nicht. Unser Denken und Handeln folgt Begriffen wie Effizienz und Zielorientie­ rung. In der Antike sprachen die zum platonischen Gastmahl geladenen Gäste über den Eros, über das unersättliche Ver­ langen nach dem Schönen und der Weisheit, nach Dingen, die Lebendigkeit in uns hervorrufen. Liegt die Herausforderung der Enquete Kommission tatsäch­ lich darin, einen Indikator als Ersatz für das Bruttoinlands­ produkt zu ermitteln, einer ganzheitlichen Messgröße, der

sich eine Gesellschaft erneut unterwirft? Gilt es nicht vielmehr, Werte neu zu (er)finden? So wie es der Einzelne auf seinem ­Lebensweg tut, wenn er die Auseinandersetzung mit den ­Fragen des Lebens und seines Leidens im Gespräch mit jeman­ dem sucht, der anders, klug und beharrlich denkt, jemandem, der ihn aus dem eigenen Gedankengebäude heraus führt, der ihm hilft, seinen eigenen Haushalt, seine Libidoökonomie zu verstehen: Die komplizierte Balance zwischen Lust und ­Unlust, zwischen den individuellen Bedürfnissen und denen der Gesellschaft, zwischen Alleinsein und Dazugehören, die Mechanismen, die ihn daran hindern, sein volles Potenzial zu leben und damit seinen Beitrag für die Gesellschaft zu leisten. Das gesellschaftliche Ziel materiellen Wohlstands und tech­ nischen Fortschritts – letzteres vermittelt fortwährend eine scheinbare Perfektion – schlägt sich auch im Wohlbefinden des Einzelnen nieder. Im Streben nach einem nicht zu er­ reichenden Ideal liegt möglicherweise einer der Gründe für die ­zunehmende Anzahl ausgebrannter Menschen westlicher ­Gesellschaften. Dann ginge es darum, das vermeintliche Ideal durch etwas Lohnenswerteres und Erreichbares zu ersetzen. Doch vermutlich wird die Enquete Kommission am Ende nur das Echo ihrer eigenen Worte hören. Wie Narziss, der sein ­eigenes Bild im Wasser sieht und sich darin vertieft. Aber auch Narziss will hören, was vom anderen kommt. Dort liegt seine Lust- und Schaffenskraft. Deshalb brauchen wir ein neues Gastmahl zwischen Öko­no­ mie und Philosophie, in der eine Verschiebung des Denkens gelingen und scheinbar Undenkbares gedacht werden kann. Für den Eros und eine weniger narzisstische Gesellschaft.

Stephanie von Hayek, Jg. 1971, studierte Politologie und Sozialpsychologie in München und Paris. Sie war 2000/01 Stiftungskollegiatin und ver­ brachte ihr Jahr beim United Nations Office for Project Services in New York und bei der Weltbank-Gruppe in Washington D.C. Danach arbeitete sie als Beraterin in einer Berliner Public Affairs Beratung, bevor sie mehrere Jahre als Referentin für die Versammlung der Regionen Europas in ­Straßburg tätig war. Nun arbeitet sie freiberuflich als Politikberaterin, Moderatorin und Journalistin in Potsdam. (stephanie@vonhayek.com)


Deutsche im Ausland

Ein Gemüt wie ein Schaukelpferd – Glück und Unglück des modernen Weltenbummlers von Silke Noa Kumpf Nicht alle, die wandern, gehen verloren – über die Jahre ist dies mein Lieblingsspruch geworden. Denn auch ich gehöre einer wachsenden Schicht Deutscher an, die die Welt ihr Zuhause nennen. Ich spreche ein Phänomen und das damit verbundene Glück und Unglück an, das viel diskutiert, aber oft falsch dar­ gestellt wird. Das Phänomen ist nicht mehr, dass erfolgsversprechende junge Deutsche im Ausland lediglich studieren, sondern, dass junge Deutsche im Ausland studieren, dort Karriere machen, und dort über Jahre leben. Es sind auch nicht die Expatriaten, die von ihrer deutschen Firma nach Übersee geschifft werden, um dort für kurze Zeit in Luxus zu leben. Es handelt sich um die ­Generation der 20–35-jährigen, die an Universitäten im Aus­ land studiert haben, sich in internationalen ­Organisationen hocharbeiten und beispielsweise im Bereich Entwicklungszu­ sammenarbeit und Völkerrecht tätig sind. Als sich im Juni 2009 der Spiegel (25/2009 „Die Krisenprofis“) über die Unsichtbarkeit der 20–35-jährigen beklagte, und ­dafür die gehäuften Weltkrisen nur teils verantwortlich machen konnte, kamen mir erfolgsversprechende Deutsche in den Kopf, die in der Heimat etwas bewegen könnten, allerdings im Ausland weilen, und deshalb in Deutschland unsichtbar sind. Es ist die Schicht der jungen Kosmopoliten, die im Ausland Deutschlands Ruf prägen, aber so undeutsch erscheinen, dass sie von ihren Landes­ genossen bewundernd gefragt werden, warum denn ihr Deutsch so gut sei. Sie sind die ewigen Fremden, die zwischen den ­Stühlen sitzen, weil sie zu Hause und in der Fremde fremd sind. Mir wird oft gesagt, dass sich diese Nomaden in einer Karriere­ falle befänden und auch nicht glücklicher seien als ihre zu ­Hause gebliebenen Landesgenossen und deshalb bitte zurück­ kehren sollten. Aber zurückkehren, um in Deutschland das Glück zu finden, das tun nicht viele, und der Grund dafür ist nicht die Bezahlung oder Sicherheit ihrer Jobs. Eher betrifft es die Frage, was sie glücklich macht. Fast jeder Deutsch-Nomade, der meine Wege gekreuzt hat, scheint sich mehr Gedanken über Glück und Unglück zu machen als Deutsche in Deutschland.

Im Ausland zu leben hat viele Nachteile. Doch behaupte ich, dass das Zwischen-den-Stühlen-Sitzen, das so oft als Unglücks­ faktor erwähnt wird, nicht als Unglück, sondern vielmehr als Spielraum empfunden wird. Als ewig Fremder haben wir die Freiheit, uns nicht unbedingt anderen anpassen zu müssen, da es immer Gründe gibt, sich als Fremder kulturellen Normen nicht komplett zu unterwerfen. Die Assimilierung ist für viele nicht eine Frage des Nichtkönnens sondern des Besserwissens. Denn dank ihrer Erfahrung sind viele Nomaden kulturelle Chamäleons, die sich fast überall anpassen könnten, aber nicht wollen. Teils glaube ich, dass die Weltenbummler so viel Weltgewandt­ heit angesammelt haben, dass ein Ausstieg Angst macht und das Versprechen, ein gutes deutsches Gehalt mit geregelten ­Arbeitszeiten und Jahresurlaub zu haben, eher abschreckend wirkt. Wir leben in einer Seifenblase und fühlen uns mit gleich­gesinnten Weltenbummlern am heimischsten. Denn sie sehen Themen oft genauso differenziert, da sie über Jahre hin­ weg mit Schulmeinungen konfrontiert waren, die sich als ­unhaltbare Prämissen herausstellten. Das Unglück besteht ­vielmehr in der Unsicherheit, dass die Seifenblase mit einem gewissen Alter einfach platzen könnte. Werde ich dann den Wiedereinstieg in Deutschland wagen, wo meine gesammelten Erfahrungen wert­los sein könnten? Oder hat sich die Seifen­ blase längst in ein Steinhaus verwandelt, dadurch, dass es noch nie so viele ­Nomaden gab und ich Teil eines menschlichen ­Experimentes geworden bin? Solch Unglück mit Gelassenheit zu begegnen, das ist allerdings, was ich mir im Ausland angeeignet habe und mir Zu­versicht gibt: Ein Gemüt wie ein Schaukelpferd, das mir immer dann hilft, wenn es scheinbar nicht mehr weitergeht.

Silke Noa Kumpf studierte Mathematik, Ökonomie und Jura in Groß­ britannien. In 2006/2007 war sie als Carlo-Schmid-Stipendiatin am Jugoslawien­tribunal in Den Haag tätig. Danach arbeitete sie als Anwältin für ­Völkerrecht und internationales Schiedsrecht in London, Moskau und Kairo. Seit September 2011 ist sie Forschungsstipendiatin an der Stanford Law School, Stanford University, , ­Kalifornien, wo sie im Be­ reich internationales Investitions­recht und ­erneuerbare Energien forscht. (snkumpf@stanford.edu)

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Tschetschenisches Glück in Deutschland

„In den Augen der Deutschen sehe ich eine große innere Energie“ Tschetschenien zählt heute zu den ärmsten Regionen Russlands. Die Wirtschaft liegt am Boden, viele Menschen sind durch Krieg und Gewalt traumatisiert und entwurzelt. Der ­jetzige ­Präsident Ramsan Kadyrov verbreitet weiterhin ­Schrecken mit seiner Privatarmee, vermeintliche Gegner werden entführt, ­gefoltert, getötet. Sein langer Arm reicht bis in den Westen, wie der Fall des 2009 in Wien erschossenen Exil-Tschetschenen Umar Israilov zeigt. Seit dem Beginn des zweiten Tschetschenien­­ krieges (1999) sind mehr als 100 000 Menschen aus der Region geflohen, verstärkt auch nach Deutschland. Adam G. ist ein stiller Mann (*1970 in Tschetschenien). Man sieht ihn im Berliner Stadtteil Wedding durch die Straßen gehen, rauchend, nachdenklich. Adam hat als Schriftsteller und Dreh­ buchautor hier inzwischen mehrere Drehbücher geschrieben. Eines wird gerade vom Russischen ins Deutsche übersetzt. Er lebt seit neun Monaten als Stipendiat „Writers in Exil“ des P.E.N.-Zentrums in Berlin. In seiner Heimat Tschetschenien hatte Adam Kriegsverbrechen an der Zivilbevölkerung doku­ mentiert und musste sich verstecken. Er war jahrelang auf der Flucht, jetzt hat er Ruhe zum Schreiben. Er spricht im Inter­ view über Glück, Wohlstand, seine Heimat und Kindheit.

ad hoc: Was bedeutet für dich „Glück“? Adam: Muss ich mich bei so einer Frage kurz fassen? Glück, das ist Vergangenheit, du bist erwachsen, erinnerst dich und denkst: Damals war ich vielleicht glücklich. Menschen ­erklimmen Berge, durchqueren Ebenen und Meere, um etwas Intensives zu empfinden. Wenn man es geschafft hat und auf dem Gipfel steht, das ist dann wahrscheinlich der Moment des Glücks. Die Kraft, die du für den Weg aufgewandt hast, die ­Anstrengung und dann das letzte Stück … du hast nicht so sehr den Gipfel bezwungen, als dich selbst. Wenn der Mensch sich selbst beweist, dass er ein Mensch ist – das bedeutet für mich Glück.

ad hoc: Wie wichtig ist Wohlstand für Glück? Adam: Bei mir gab es Zeiten, da hatte ich etwas Geld, aber war nicht glücklich. Dann gab es Momente, da hatte ich nur drei Rubel in der Tasche, war mit Freunden zusammen, wir ­haben etwas Schönes gemacht. Da war ich glücklich. Wohl­ stand ist natürlich schön, aber das ist etwas Äußerliches. Aber Glück ist etwas ganz anderes. Es hängt nicht von Klugheit oder Dummheit oder Geld ab. Glück ist entweder da oder nicht da. Das ist ein Zusammenspiel von vielem. Aber wie mir irgend­ wann klar wurde, empfindet man Glück immer als etwas ­Vergangenes. Man sagt ja: „Da war ich glücklich.“ Wohlstand spielt natürlich eine Rolle, aber er macht nicht glücklich, sondern schafft Komfort, Bequemlichkeit.

„Aber eigentlich ist das Glück: Den Boden bearbeiten.“ ad hoc: Dein Vater war Landwirt. Er hat den Boden bearbeitet, gesät, geerntet. Du bist einen anderen beruflichen Weg gegangen. Wie hat er deine Entscheidung, Künstler zu werden, aufgenommen? Adam: Ich bin dieser Krankheit verfallen, ich dachte wie viele, das Glück sei woanders. Alle streben irgendwo hin, wollen ihr Schicksal in die Hand nehmen. Aber eigentlich ist das Glück: Den Boden bearbeiten. Ich bin überzeugt, dass mein Vater glücklich war. Er kam abends munter nach Hause, schlief gut, wachte froh auf, er war nie krank. Immer wenn er sich an den Tisch setzte, sagte er: „Danken wir Gott für unser Essen.“ Ich vergesse dies immer, weil ich nicht weiß, wer es gesät und geerntet hat. Viele wissen das nicht und deshalb sagen sie auch nichts vor dem Essen. Er hat immer die Wünsche seiner Kinder akzeptiert, hat seine Vorstellungen nie aufgedrängt. Ich habe als Kind gern gemalt und geschrieben. In der siebten Klasse habe ich versucht, den Roman von Alexej Tolstoj „Peter der Große“ vom Russischen ins Tschetschenische zu übersetzen. Mich haben die Geistes­ wissenschaften immer mehr interessiert und das habe ich meinem Vater auch gesagt. Er fragte darauf: „Hast du dir das auch gut überlegt?“


Tschetschenisches Glück in Deutschland

ad hoc: Du hast dein ganzes Lebens in deiner Heimat verbracht, jetzt bist du weggegangen. Kann man ohne Heimat glücklich sein? Adam: Ich arbeite gerade an einem Stück: „Lächeln für alle Zeit“. Ein Junge ertrinkt im Fluss. Eigentlich geht es nicht um den Jungen, sondern um die Luftleere, das Vakuum. Wenn du in deinem Innern Fragen hast, auf die es keine Antwort gibt. Es gibt Leute, die kommen hierher in den Westen, wegen der Luft, weil sie zu Hause nicht atmen können. Und es gibt die, die ­wegen des Wohlstands kommen, das ist auch genauso wichtig. Ich denke, die Heimat ist kein Stück Land und auch keine Landkarte. Es ist in dir. Es ist der Baum neben dem Haus, den dein Großvater oder Vater gepflanzt hat. Es sind deine Freunde und die Dinge, die in der Scheune stehen, alte Dinge. Während die Erde uns überlebt, verändern sich politische Dinge ständig – deshalb ist Heimat das, was in dir ist. Aber die Leute strömen nicht nach Kambodscha oder Vietnam, sondern dahin, wo Wohlstand ist, wo Leute aufgenommen werden können. Ich gehe hier durch die Straßen und sehe die Deutschen, ich bin diesem Land unendlich dankbar und ich verstehe immer ­besser … Ich sehe hier in den Augen der Deutschen eine große innere Energie. Unsere Leute, die hierherkommen oder dort bleiben oder heimatlos herumirren, sind in einem völlig erschöpften Zustand. In ihren Augen glänzt nichts. Unsere Menschen sind sehr geschwächt und wir werden hier neue Kräfte sammeln und sind natürlich dankbar. ad hoc: Spielt die Religion im Bezug auf Glück eine Rolle? Adam: Natürlich ist das bedeutsam, aber das ist etwas sehr ­individuelles. Jeder kann das nur für sich beantworten. Für mich ist der Glaube existentiell. Jeder Mensch muss an etwas glauben. Man kann an seine Zukunft glauben, an den Chef, ­daran, dass man ein Kinostar wird. Aber wenn man an gar nichts glaubt, wird man auch nicht glücklich. ad hoc: Als du klein warst, gehörte Tschetschenien zur Sowjetunion, wart ihr damals auch religiös? Adam: Ja, mir war bewusst, dass meine Eltern Moslems sind und ich auch. Vor dem Schlafen haben wir gebetet. Als ich älter wurde, hat mich die Frage nach Gott mehr interessiert. Ich habe auch früh begonnen, über den Tod nachzudenken. Noch in der Kindheit, wenn ich spazieren ging, dachte ich an die Leute vor 100 Jahren. An unsere Vorfahren, wo sind sie alle? Diese Gedanken haben mich schon früh beschäftigt. Ich habe viel gezeichnet, gelesen, hatte viel Phantasie. Meine Alters­ genossen hat das damals nicht interessiert. Jeder hat seine ­eigene Welt und ist auf der Suche. Es gibt viele Sekten, Strö­ mungen. Die Leute wollen an etwas glauben. Der Mensch ist schwach, die Welt ist zu groß, man sucht etwas Festes. Gott ist für alle einzigartig.

„Jeder Mensch muss an etwas glauben. Man kann an seine Zukunft glauben, an den Chef, daran, dass man ein Kinostar wird. Aber wenn man an gar nichts glaubt, wird man auch nicht glücklich.“ Als Japan vom Tsunami überschwemmt wurde, hat das Wasser einfach die Mauern weggeschwemmt, wie Federn weggeblasen und die Stadt glich versunkenen Ameisensiedlungen. Denn das ist stärker als wir Menschen. Der Mensch will alles machen: Kriechen und fliegen. Das ist anmaßend. In der Natur ist alles ehrlich. Das ist eine Frage des Glaubens. ad hoc: Dein Volk hat in den 90er Jahren zwei blutige Kriege überlebt. Viele Menschen sind tot, traumatisiert, geflohen. Gibt es eine Zukunft, eine Perspektive? Adam: Früher sind die Tschetschenen auch immer in Bewe­ gung gewesen, durch die ganze Sowjetunion sind sie gefahren, haben an verschiedenen Orten gearbeitet. Man kann diese ­Frage heute nicht beantworten, es ist eine historische Frage. Was ganz wichtig ist: Ein Kollektiv setzt sich aus Individuen ­zusammen, wenn bei den einzelnen Menschen im Kopf Chaos herrscht, gibt es kein Kollektiv. Und wenn es kein Kollektiv gibt, ist die Zukunft zweifelhaft. Zuerst muss man in den ­Köpfen „aufräumen“, jeder muss sich selbst klar werden, wer er ist, wer er war, wer er sein wird. Man muss sich selbst die Fragen stellen, dann kann man schon handeln. Dafür braucht man kluge, gebildete Menschen. Ein Staat wird aus klugen Köpfen gemacht. Es gibt Regeln, die ein Bürger einhalten muss. Ohne Regeln keine Bürger. Dann bleibt nur der Mensch übrig. Der leicht von seinem Platz wegläuft. Er nimmt seine Tasche und geht, wohin er will. Denn er fühlt sich nicht als Bürger. So sieht’s aus …

Elke Brederek, Jg. 1971, studierte Slawistik und arbeitet als Dozentin, Reiseleiterin und Radiojournalistin mit Schwerpunktregionen Ukraine und Kaukasus. Seit vier Jahren a­ rbeitet sie zu Tschetschenien, konzipiert Veranstaltungen und u­ nterstützt Flüchtlingsfamilien in Berlin. Aus den Recherchen im ­Kollegjahr 1997/1998 ging das Buch „Menschen ­jüdischer Herkunft“ (2004) hervor.

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Regionale Perspektiven: China

Aufstieg um jeden Preis? – Junge Chinesen und ihr Kampf um Karriere von Christian-Hendrik Heusermann Jingxuan – oder Jens wie er sich seit Kurzem in Vorbereitung auf sein Studium in Deutschland nannte – und ich liefen über den neugebauten Campus der Tongji Universität. Hier in der Nähe Shanghais sollten in Zukunft die besten chinesischen ­Ingenieure und Architekten ausgebildet werden. Jens hatte ­eigentlich kaum Zeit. Neben der allgemeinen Vorbereitung auf seinen Auslandsaufenthalt an der Universität Karlsruhe, zahlreichen Prüfungen und der Verbesserung seiner Sprach­ kenntnisse, musste er als einziges Kind regelmäßig seine Eltern in der nahegelegenen Provinz besuchen. Sein Studium begann um sechs Uhr morgens und endete selten vor zwölf Uhr nachts. Als Freizeitbeschäftigung blieb ihm nur ein wenig Computer spielen und das gemeinsame Essengehen mit Freunden. Für die meisten jungen Chinesen ist ein solcher Alltag nicht der Rede wert. Wer an einer Universität – noch dazu einer ­g uten – studieren möchte, muss schon während der Schulzeit hart arbeiten. Regelmäßige, standardisierte Tests, das Aus­ sortieren von schlechteren Schülern, Lernen in den Sommer­ ferien, all das ist normal. Einige Chinesen erzählten, dass ihnen während der Vorbereitung auf den „Gao Kao“ – die über die Studienmöglichkeiten entscheidende Abschlussprüfung – regel­ mäßig die Zahnbürste putzfertig vorbereitet wurde, damit sie keine kostbaren Sekunden verlieren würden. In den Städten hat man es dabei noch vergleichsweise einfach: auf zwei Shanghaier Schüler kommt zumindest ein zur Verfügung stehender Studien­ platz. In den westlicheren Provinzen konkurrieren bis zu zehn Absolventen pro Platz. Dieser Konkurrenzkampf reißt auch nach dem Studium nicht ab. Mehr als sechs Millionen Universi­ tätsabsolventen strömen jedes Jahr auf den chinesischen Arbeits­ markt. Auf den zahlreichen Karrieremessen sind Akademiker, die gerade an ihrer fünfzigsten Bewerbung schreiben, weniger Ausnahme als Regel. Eine Wohnung, die in der Regel Voraussetzung für Hochzeit und Familiengründung ist, kostet in den Metropolen Shanghai oder Peking selten weniger als 200 000 Euro. Das durchschnitt­ liche Einstiegsgehalt von Akademikern liegt in diesen Regionen monatlich bei rund 400 Euro. Grundlegende materielle und ­soziale Anforderungen stellen also einen zentralen Grund für den harten Konkurrenzkampf unter jungen Chinesen dar. Die Familie als traditionell wichtigster Bezugspunkt in China wirkt hier nur begrenzt ausgleichend. Auch sie fordert, dass sich die hohen Kosten und die Entbehrungen, die sie für die Ausbil­ dung der Kinder in Kauf nimmt, ganz konkret in einem hohen Einkommen und damit in Ansehen bei Bekannten sowie einer

ausreichenden Altersvorsorge auszahlen. Daher unterwerfen sich viele junge Chinesen diesen Ansprüchen. Sie stellen eigene Wünsche und Träume zurück, lernen und arbeiten teilweise bis zur völligen Erschöpfung. Die Folgen sind ein Anstieg psychischer und körperlicher ­Erkrankungen sowie eine erschreckend hohe Selbstmordrate unter Jugendlichen. Die Flucht junger Menschen in die virtu­ ellen Parallelwelten des Internets hat sich zu einem ganz realen Problem entwickelt. Insgesamt ist der Anteil zufriedener ­Chinesen trotz eines enormen Anstiegs des materiellen Wohl­ stands in den letzten zwei Jahrzehnten stetig gesunken. Alter­ nativen zu dem beschriebenen Lebenskonzept gibt es kaum. Subkulturen wie die Punk-Szene in Peking sind kaum verbreitet. Zu traditionellen Philosophien wie dem Taoismus, der eine ausgeglichene Lebensweise des Maßhaltens vorschlägt, finden junge Chinesen kaum noch Zugang. Am besten kann man sich den Erwartungshaltungen der Familie und dem wirtschaft­ lichen Druck vielleicht im Ausland entziehen. So nimmt die Zahl der „Haigui“, Chinesen die im Ausland studiert oder ­gearbeitet haben und nach einiger Zeit zurück in die Heimat kommen, seit einigen Jahren kontinuierlich ab. Nicht weil ­Chinesen weniger häufig ins Ausland gehen, sondern weil sie seltener zurückkehren. Zumindest Jens – seit ein paar Monaten in Deutschland – kon­ zentriert sich nicht mehr nur noch auf das Studium. Auch seine Eltern empfahlen ihm, sich zumindest einmal im Monat frei­ zunehmen, um zum Beispiel die Kulturgüter Deutschlands zu „studieren“. Offensichtlich hilft der Abstand beiden Seiten, auf die Zukunft etwas entspannter zu blicken.

Christian-Hendrik Heusermann, Jg. 1985, arbeitete 2010/2011 als CSPStipendiat beim United Nations Development Programme in New York. Er studierte an der Universität Mannheim und der Tongji Universität in Shanghai Betriebswirtschaftslehre sowie Kulturwissenschaften. Seit Anfang 2011 promoviert er an der Universität Mannheim zu Fragen der Harmonisierung des internationalen und europäischen Wirtschaftsrechts. (christian.heusermann@googlemail.com)


Regionale Perspektiven: Philippinen

„Erstens Gott, zweitens Geld“ Ansichten zu Wohlstand und Glück auf den Philippinen von Victoria Kirchhoff Mitten im Partyviertel der philippinischen Hauptstadt Manila, im Stadtteil Malate, wühlen zahlreiche Obdachlose – unter ­ihnen auch Kleinkinder – nach Essbarem im Müll. Sie schlafen auf Pappen am Straßenrand und trocknen ihre Wäsche an den Zäunen. Nebenan im wohlklimatisierten Einkaufszentrum ­dagegen herrscht der Überfluss mit Markenkleidung, Luxus­ elektronik und Restaurants. Eindrücklicher könnte die offene Schere zwischen Arm und Reich sich wohl kaum darstellen. Nicht weit von dem Einkaufszentrum entfernt liegt die ­medizinische Fakultät, an der sich an einem schwülen Nach­ mittag Studierende der Medizin aus dem ganzen Land treffen. Einer von ihnen ist Renzo Guinto, der gerade sein praktisches Jahr in der Kinderheilkunde absolviert und in der Studenten­ bewegung aktiv ist. Nach einem Vortrag von ihm diskutieren die Studierenden die sozialen Bestimmungsfaktoren von Ge­ sundheit: Was bringt es beispielsweise, die auf den Philippinen ­weitverbreitete Tuberkulose zu behandeln, solange sich die ­Lebensumstände der Ärmsten nicht ändern? Tuberkulose wird durch schlechte hygienische Verhältnisse und Mangel­ ernährung begünstigt. Der vermeintlich Genesende ist bereits während der Behandlung den nächsten Gesundheitsrisiken ausgesetzt. Die Diskussion der Studierenden wird immer er­ regter. Sie sind sich einig, dass der Zugang zum Gesundheits­ system sehr ungerecht sei: Reichen Privatpatienten werde alles geboten, während Arme stundenlang Schlange stünden, um an einen Arzttermin zu kommen oder aus Kostengründen häufig auf Behandlung verzichten müssten. Noch viel grundsätzlicher müsse sich an den Verhältnissen im Land etwas ändern. Ein ­besseres Leben müsse möglich sein – aber wie? Schließlich ist es Facharzt Dr. Gene Nisperos, der seinen Studenten vorschlägt: „Fragt die Menschen, was sie für ein besseres Leben bräuchten! Ich bin sicher, dass jeder eine Vorstellung davon hat, was er braucht, um glücklich zu sein.“

Julius Demoto, 32 Jahre, angestellter Taxifahrer aus ­Manila, hat sehr klare Vorstellungen davon, was er zum glück­lich sein braucht: „Erstens Gott, zweitens Geld“. Früher sah er es genau umgekehrt. Abhängig von Drogen und als Mitglied einer Gang war er kriminell. Er hat mehrere Jahre Gefängnis­ strafe hinter sich. Er gehe offen mit seiner Vorgeschichte um, erklärt er, damit andere daraus lernen, denn: Es sei die Freiheit, die ein schönes Leben erst ermögliche. „Mein Chef, dem das Taxi gehört, ist Millionär. Aus Angst vor Raubüber­fallen kann er aber nicht mehr allein auf die Straße“, erzählt ­Julius. Auch wenn der Wohlstand Nachteile mit sich bringe, hoffe er doch auf mehr Geld, um wieder die Schule besuchen zu können. Die habe er viel zu früh abgebrochen. Nun verdiene er magere 17 Euro für 24 Stunden Taxifahren. Den weitaus ­größeren Rest der Einnahmen streiche der Chef ein. Mit ­diesem Lohn sei es schwer, seine Frau und drei Kinder zu versorgen. Neben ­Wohnungsmiete, Mahlzeiten, Kleidung und Schulgeld für die ­Kinder bleibe praktisch nichts mehr übrig. Noch ärmer dran seien aber die pedicab Fahrer, die für Touren ihrer Fahr­räder mit Bei­wagen nur circa 85 Cent verdienten. Viele von ihnen schliefen nachts in ihren pedicabs, weil es für eine Wohnungs­ miete nicht reiche. p

d Renzo Guinto in der Kinderklinik des Universitätskrankenhauses. s Julius Demoto auf Taxitour an einem regnerischen Tag.

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Regionale Perspektiven: Philippinen

i Slums am Pasig River.

Viel in Bildung investiert hat die Familie von Margerita ­Crespo. Die 25-Jährige hat die besten Universitäten des Landes besucht und bisher in einer Personalabteilung gearbeitet. Finanziell ­stabil findet sie ihre Verhältnisse jedoch nicht. Gleichzeitig ­lastet der Druck auf ihr, nach der kostspieligen Ausbildung die Familie finanziell voranzubringen. Deshalb hat sie ge­ kündigt und sich entschieden, nach Kanada auszuwandern. In Kanada stellen Filipinos bereits eine Minderheit von ca. 1,1 % der Bevölkerung. Arbeitsvermittler für Kindermädchen, die nach Saudi Arabien geschickt werden, oder für Seemänner, die ihr Glück auf internationalen Frachtschiffen versuchen, gibt es zahlreich in Manila. In wenigen Wochen geht die Reise für Margerita ins Ungewisse los. Sie hofft, dort glücklich zu werden und vor allem finanziell besser dazustehen. Gleichzeitig macht ihr die Trennung von ihrer Familie Angst. Letztlich sei Familie das Wichtigste in ihrem Leben, der wahre Wohlstand.

i Margarita Crespo an ihrem Schreibtisch einer Personalabteilung am letzten Arbeitstag vor der Auswanderung nach Kanada.

s Em Mariano mit Material zur Schmuckherstellung während einer seiner Kurse für Bastelfreudige.

Angesichts von Arbeitslosigkeit und Armut in Masical ­Amulong, der Heimat seiner Familie, will der 29-jährige Schmuckdesigner Em Mariano etwas von seinem Erfolg zurückgeben. Dabei hat er, aus armen Verhältnissen stammend, selbst klein begonnen. Seine Leidenschaft für Schmuck führte zunächst zu seiner Kündigung in einem Callcenter, weil er während der Arbeits­ zeit bastelte. In die Arbeitslosigkeit gezwungen, wagte er mit dem Kredit eines Freundes den Sprung in die Selbstständigkeit. Mittlerweile gestaltet er mit großem Erfolg Schmuckstücke für Stars. Es sei wichtig zu teilen, sagt er. Man bekomme um so mehr zurück und wisse das Leben mehr zu schätzen, wenn man nicht nur im Wohlstand bade. Darum unterrichtet er nun ­Frauen in seiner früheren Heimatstadt in der Schmuckher­ stellung. Julius, Margerita und Em: aus ihrer Sicht bedarf es ganz unter­ schiedlicher Dinge, um glücklich zu sein. Finanzieller Wohl­ stand steht dabei keineswegs im Vordergrund, sondern ist ­lediglich einer von vielen Faktoren. Diese Einblicke in andere Perspektiven von Glück und Zu­ friedenheit können helfen, auch gesellschaftliche Fragen in ­anderen Ländern zu beantworten, die eigenen Denkweisen und Prioritäten zu hinterfragen. Persönliche Begegnungen sind immer ein guter Anfang, um Verständnis zu entwickeln und Antworten zu finden. Wie von Dr. Nisperos bei der Diskussion unter den Studenten vorgeschlagen: „Fragt die Menschen …“

Victoria Kirchhoff, Jg. 1982, ist Ärztin in Weiterbildung für Psychiatrie und Psychotherapie. Die Interviews und Fotos entstanden 2011 während ihrer Zeit als Carlo-Schmid-Stipendiatin im WHO Western Pacific Regional Office auf den Philippinen. (V.Kirchhoff@googlemail.com)


Regionale Perspektiven: Laos

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Über Familie und Freunde: Freiheit in Laos von Sebastian Boll Es muss furchtbar sein in diesem Land, Laos. Immerhin ist es ein kommunistischer Staat, die Lao People’s Revolutionary Party regiert seit der Revolution im Jahr 1975 und ist bis heute die einzige legitime Partei. Auch deshalb platziert die Organi­ sation „Freedom House“ das Land in ihrem diesjährigen Bericht „Freedom in the World“ in die unterste Kategorie der „nicht freien“ Länder. In den beiden maßgeblichen Kriterien „politische Rechte“ und „zivile Freiheiten“ erlangt Laos das zweitschlech­ teste unter den möglichen Ergebnissen. Keine Frage, die Menschen müssen unglücklich sein. Und genau dafür gibt es jetzt auch eine wissenschaftliche Bestätigung: Die Forschungseinrichtung Gallup hat in einer Umfrage über vier Jahre die Glückseligkeit der Welt bestimmt. 155 Länder wurden insgesamt untersucht, die Skandinavier liegen mal wieder vorn, Deutschland hält sich mit Rang 33 irgendwie noch wacker, Laos hingegen kommt auf Platz 130, noch hinter Ländern wie Irak oder Afghanistan. Ich leide seit fast einem Jahr unter Kommunisten und Depression – und habe vor, es noch viel länger zu tun. Das Freiheitsgefühl, mit dem Motorrad bei traumhaften Temperaturen über die Sandpisten am Mekong zu fahren, ist einfach zu erfüllend; und die laotische Fähigkeit, eine von freundlichen Gesichtern und gegenseitigem Respekt geprägte Öffentlichkeit zu kreieren, trägt ebenfalls viel dazu bei. Auch das kann Freiheit ausmachen, die Abwesenheit von Spannungen und Aggression. Wenn ich in meiner Heimatstadt Kassel mit der Straßenbahnlinie 5 Richtung Holländische Straße fahre, ergeht es mir da anders. Nun will ich nicht abstreiten, dass insbesondere politische und bürgerliche Freiheiten stark eingeschränkt sind, so beispiels­ weise auch die Meinungsfreiheit: meine Arbeitskollegin schreibt ihre Gedanken zu Ereignissen und Entwicklungen in Laos in einem Buch auf für den Tag, an dem sie kontroverse

s Gemeinsame Zeit beim Essen als Mittel für Freiheit. a Wenn Natur zum Freiheitsgefühl beiträgt.

Überlegungen frei sagen kann. Und bei Gesprächen in der ­Öffentlichkeit zur Rolle der Regierung im Kampf gegen ­Menschenhandel schauen sich die Beteiligten durchaus mal um, ob denn auch ja keiner zuhört. Selbst ich schränke mich ein: Als ich meine laotische Freundin Dao, 25, in einem Café für diesen Artikel zu ihrem Verständnis von Freiheit interviewe, sehe ich davon ab, zu fragen, ob Prinzipien wie Meinungsfreiheit oder freie Wahlen für sie wichtig sind; nicht aus eigener Angst vor Konsequenzen, sondern aus dem Wissen heraus, dass dies für sie so direkt sehr unangenehm zu beantworten ist. Viel entscheidender scheinen jedoch ohnehin soziale Strukturen für das laotische Freiheitsgefühl. Als ich Dao am Anfang des Gesprächs mit der Frage nach Freiheit konfrontiere, sind ihre zwei ersten Antworten „Familie“ und „Freunde“. Die Begrün­ dung ist für beide die gleiche, sie gäben ihr eine Rückzugs­ möglichkeit in einen Raum, wo sie ganz sie selbst sein könne. Die Gesellschaft hat hohe Maßstäbe für respektvoll freund­ liches, manchmal gar demütig anmutendes Verhalten, und wenngleich es gerade diese sind, die dem öffentlichen Leben seine besonders Aura geben, so können solche Normen auch einschränkend und erschöpfend sein. Es ist vor diesem Hinter­ grund, dass vertraute Personen und Orte des Rückzugs einen willkommenen Ausgleich bieten. Dao sagt mir auch, dass Freiheit viel mit Alter zu tun habe. Der Respekt der Jüngeren gegenüber den Älteren, insbesondere ­innerhalb der Familien, sei enorm ausgeprägt. Die ältere Gene­ ration rede, die jüngere höre aufmerksam zu. In der Tat: Wer einmal eine laotische Familie beim Essengehen beobachtet, wird sich wundern, wie kleine Kinder so lange ruhig und dis­ zipliniert sitzen können. Auch im jugendlichen Alter, so Dao, ändere sich daran wenig: Eltern wüssten immer, was gut und was schlecht sei für ihr Kind, die Kinder selbst würden dabei wenig angehört. In diesen Lebensphasen kann Familie auch manchmal einschränkend sein, der Kreis der Freunde wird umso wichtiger. Später hingegen, fügt sie hinzu, ändere sich das und Familie ­gewinne an Bedeutung für das eigene Freiheitsempfinden.

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Regionale Perspektiven: Laos

i Ein kaputtes Auto im laotischen Straßenverkehr. Eine 70 Euro Strafe gab es hierfür nicht.

o 6 Uhr morgens in Laos – den mittellosen Mönchen wird gegeben. Dann nämlich, wenn die Kinder alt genug seien, Bildung er­ halten hätten und anfingen, eigenes Geld zu verdienen. Sie ­seien nun in der Lage, unterstützend zum familiären Leben ­beizutragen und erlangten somit auch eine neue Mündigkeit. Die Rolle von Freunden nehme in dieser Zeit relativ ab; umso mehr noch, wenn dann eigene Familienplanung mit Ehe und Kindern hinzukomme. Von da an bliebe sehr wenig Zeit für Anderes. Familie gibt Freiheit, verlangt aber auch enorm viel Teilhabe. Die Mittagessenszeit während der Arbeit wird da zu einer ­willkommenen Abwechslung. Überhaupt kann die Bedeutung von Essen im gesellschaftlichen Leben von Laos kaum über­ schätzt werden. Viel Zeit wird jeden Tag mit Essen verbracht, und wenn gerade mal nicht gegessen wird, dann wird zu­ mindest darüber geredet. Nie würde jemand auf die Idee ­kommen, alleine zu essen. Essen ist ein soziales Event, es ist die Zeit zum Austausch; so zum Beispiel mit Freunden während der Mittagspause, die man sonst im familiengeprägten Alltag nicht mehr so oft zu sehen bekommt. Es ist mitunter abenteu­ erlich, welche Umstände durch Koordination und Abholen in Kauf genommen werden, nur um für diese eine Stunde alle ­zusammenzuführen. Und dennoch ist es ihnen dies wert, ­Essen wird dabei zum Mittel für Freiheit. Und was ist mit pluralistischen Wahlen oder Meinungs­ freiheit? An einem Punkt des Gesprächs vermittelt mir Dao dann doch noch irgendwie, dass die Fähigkeit, ihre Gedanken frei sagen zu können, Bestandteil ihres Freiheitsverständnisses sei. Es passiert in einem ganz anderen Kontext, doch ihr ein­ dringlicher Blick scheint mir sagen zu wollen, dass es sich um eine ziemlich grundsätzliche Anmerkung handele. Formen der indirekten Kommunikation wie hier sind sehr typisch für Laos; und wenngleich dies überwiegend kulturelle Wurzeln haben mag, tragen vielleicht auch die politischen Umstände ihren Teil dazu bei. Dennoch: Freiheiten dieser Art haben im Verhältnis wenig Priorität; die Menschen sind nahezu gänzlich depoli­ tisiert, und Meinungsfreiheit nach westlichem Vorbild wird dem gesellschaftlichen Streben nach Harmonie und Ausgleich unter­geordnet.

In Abwesenheit von umfangreichen staatlichen Leistungen und garantierten Bürgerrechten haben die Laoten eigene Me­ chanismen zum sozialen und rechtlichen Ausgleich geschaffen. Anstelle des Zentralstaates rücken oftmals informelle und ­flexible Systeme auf Dorf- oder Gemeinschaftsebene. Auch die­ se leicht anarchisch anmutende Lebensform bedeutet manch­ mal Freiheit. Tatsächlich kann man sich mitunter Dinge in Laos erlauben, die in unseren durchregulierten Gesellschaften ohne Bestrafung niemals möglich wären. Die 70 Euro Strafe während meiner Studienzeit in Dänemark für Fahrradfahren ohne Licht empfand ich als nicht besonders freiheitsfördernd. In Laos passieren ganz andere Dinge – auf den Straßen und darüber hinaus – ohne dass dies irgendjemanden scheren ­würde. Vielleicht ist es so zu erklären, dass mir eine Laotin vor einigen Monaten einmal vermittelt hat, sie hätte ihren ersten Trip nach Europa sehr genossen, insbesondere Paris wäre eine tolle Stadt. Leben wollte sie aber doch lieber in Laos, der Grund: Es wäre dort freiheitlicher. Und so gebe ich nicht viel auf Rankings dieser Art; insbesondere dann nicht, wenn sie Laos als eines der unglücklichsten Länder dieser Erde darstellen. Vielleicht hat es etwas mit der buddhi­ stischen Tradition zu tun, dass Glück nicht nach westlichen ­Kriterien messbar ist. In einem Kontext, in dem Leben dem Zirkel von Geburt, Leben als Leidensweg, Tod und Wieder­ geburt folgt; in dem wirkliches Glück erst im Nirvana auffind­ bar ist, nämlich dann, wenn man dem Kreislauf im Diesseits entkommen ist; vielleicht wird in einem solchen Kontext die Frage nach Glück anders beantwortet. Ich jedenfalls empfinde die Menschen in Laos als enorm glücklich, es sind vielleicht gar die zufriedensten, die mir je begegnet sind.

Sebastian Boll, Jg. 1982, entdeckte seine Faszination für Südostasien ­während eines Praktikums in Vietnam. Nach Ende des Studiums kehrte er als Wissenschaftler für Angelegenheiten der Association of Southeast Asian Nations zurück nach Hanoi. Auch während des Mercator-Kollegs für ­Internationale Aufgaben ist er in der Region geblieben. Von Laos aus ­befasst er sich bei der NGO Village Focus International mit dem Thema Menschenhandel in Südostasien. (sebastian.boll@mercator-fellows.org)


Regionale Perspektiven: Indien

Vom Ringen indischer Slumbewohner um ein glücklicheres Leben von Matthias Nohn Ich fahre mit einer Autorikscha zu Mina-ben. Sie ist die ­Vorsitzende der Nachbarschaftsvereinigung von Rajivnagar, ­eines Slums in Ahmedabad. Mit ihren 5 Millionen Einwoh­ nern wirkt die Metropole in Gujarat, Indien zwischen Extremen hin und her gerissen: Zwischen Tradition und Moderne, ­zwischen Arm und Reich. Auf der Straße stehen plötzlich heilige Kühe, denen wir ausweichen müssen. Dann braust ein Tata Nano, mit 2000 Euro der günstigste und einer der modernsten Kleinwagen der Welt, an mir vorbei. Wir teilen uns die Straße nicht nur mit Motorrad- und Fahrradfahrern. Neben Fußgängern – manche barfuss – begegnen uns Elefanten, Kamele, Ochsen, Lastenträger und schillernde Straßenverkäufer. Letztere bieten alles Erdenkliche feil: Von Obst und Gemüse über Kleidung und Töpfe bis zu Haarschnitt oder Sportwette. Schließlich verlassen wir die Hauptstraße. Über eine Piste ­rumpeln wir bis Rajivnagar: Mina-ben begrüßt mich mit Käm Cho, Matt-bhai: „Wie geht es Dir, Bruder Matt?“ Ich erwidere respektvoll Saru Che, Mina-ben: „Danke gut, Schwester Mina.“ In Rajivnagar gibt es keine Asphaltstraßen und auch keine ­Kanalisation. Toiletten sind Mangelware. Das Abwassersystem funktioniert nicht und die Wasserversorgung ist unzureichend. Da Wasserholen Frauensache ist, müssen viele Frauen und Mädchen nachts zum Wasserholen stundenlang Schlange stehen. Wegen des Schlafmangels schaffen die Kinder es nicht immer in die Schule oder schlafen während des Unterrichts; und auch die Mütter sind weniger leistungsfähig und verdienen entsprechend weniger. ­Einige Haushalte sind an ein privates Leitungsnetz an­ geschlossen. Aber auch sie sind unzufrieden, da sie für ihr ­Wasser mehr ­bezahlen müssen als die an das öffentliche Netz an­ge­ schlos­senen Haushalte.

s Wasserholen ist Frauensache. Und kostet viel Zeit. a Typische Straße in Rajivnagar. p Informelle Arbeiterinnen sammeln Müll in Rajivnagar.

Die Ursachen für Slumbildung sind komplex. In Rajivnagar verdienen die meisten Menschen weniger als 2 US-Dollar am Tag. Im ­Vergleich zu der von der Weltbank als Richtwert fest­ gelegten Armutsgrenze von 1 US-Dollar mag das viel klingen. Aber ­anders als auf dem Land können die Bewohner der dicht ­be­siedelten Slums viele Bedürfnisse nicht durch Eigenproduk­ tion ­decken. Hinzu kommen hohe Ausgaben, zum Beispiel für Trinkwasser. Neben den finanziellen Zwängen städtischer A­rmut spielen auch unmöglich einzuhaltende Bauvorschriften eine Rolle. Zum Beispiel schreibt die politische Elite eine ­Mindestabstandsfläche zwischen Gebäuden vor. Das zusätzlich benötigte Land ist für die Armen aber unbezahlbar, so dass sie in informellen Siedlungen wohnen müssen. Dort leben sie dann so, als ob es die kontraproduktiven Bestimmungen nicht gäbe. Zusätzlich leiden sie aber unter der Furcht, dass ihre ­illegalen Häuser abgerissen werden könnten. Da eine Zwangs­ räumung alles vernichten würde, investieren sie nur das ­Nötigste in ihre Behausungen, wodurch der Widerspruch der Vorschriften deutlich wird: Ironischerweise führen sie zu weniger, nicht mehr Investitionen – und damit zu unwürdigen Lebensbedingungen. Mina-ben ist trotz allem optimistisch, dass sich ihr Leben ­verbessern wird. Sie ist Mitglied der Self-Employed Women’s Association (SEWA), eine der führenden Nichtregierungs­ organisation Ahmedabads. Bürgerbewegungen haben in der Stadt Tradition. Schon Ghandi organisierte hier die Unabhän­ gigkeitsbewegung bis er 1930 zur Satyagraha aufbrach, um sein Salz am Arabischen Meer selbst zu gewinnen, ohne Steuern an die Briten zu entrichten. SEWA begann 1972 als Bewegung ­informeller Arbeiterinnen, die als Tagelöhnerinnen ohne ­festes Einkommen und ohne Sozialversicherung überleben und ihre Familien ernähren mussten. Bald stellte SEWA fest, dass Wohneigentum und Wohnumfeld zu den wichtigsten ­Anlagezielen zählen, da die Frauen wegen Haushalt, Kinder­ betreuung und Heimarbeit meist zuhause oder in der direkten Nachbarschaft bleiben. p

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Regionale Perspektiven: Indien

i Informelle Mitarbeiterinnen bei der Herstellung von Roti in Rajivnagar. p Dichter Verkehr in Ahmedabad. Mina-ben erklärt mir, dass jede Investition in Haus oder Wohn­ umfeld zu erhöhter Produktivität und verbesserter Gesundheit führe. Zum Beispiel steigert Elektrifizierung die tägliche Arbeits­zeit um über zwei Stunden. Und der Bau einer gemein­ schaftlichen Wasserstelle und Toilette reduziert Zeit und ­Kosten für Wasserbeschaffung sowie die Ausbreitung vieler Krankheiten. Das ist wichtig, da selbst ein gewöhnlicher Durchfall schnell zu einer Überlebensfrage wird, wenn die ­informell Beschäftigten weder den Einkommensausfall kom­ pensieren noch notwendige Medikamente bezahlen können. Daher gründete SEWA den Mahila Housing Trust (MHT). Seit 1994 fungiert MHT als Wohnungsentwickler und ko­ operiert seit 1995 im Slum Networking Programme – oder ­Parivartan – mit der Stadt Ahmedabad, um die Basisversor­ gung in Slums zu sichern. Für MHT arbeite ich als Berater für Stadtentwicklung und Wohnungsbau. Parivartan soll bald in Rajivnagar durchgeführt werden und ist der Grund meines Besuches bei Mina-ben. In diesen Projekten der Hilfe zur Selbsthilfe organisiert MHT die Slumbewohner, fördert Führungsqualifikationen, mobilisiert Zuzahlungen der Bewohner, stellt technische Hilfe bereit und koordiniert Maß­ nahmen zum Bau von Infrastruktur. Vom ersten Kontakt zur Nachbarschaft bis zur Fertigstellung von Wasser- und Abwasser­ versorgung, Toiletten sowie gepflasterten und beleuchteten Straßen vergehen bis zu drei Jahre. Bis heute hat das von der Weltbank als Modellprojekt gefeierte Parivartan die Lebens­ bedingungen von über 40 000 Menschen verbessert. Im Rahmen Parivartans stellt Ahmedabads Verwaltung zudem ein No Eviction Certificate aus, das den Bewohnern garantiert, dass sie für mindestens zehn weitere Jahre an Ort und Stelle wohnen dürfen. Ohne die Angst bald vertrieben zu werden, können die Bewohner so beruhigt in ihre Häuser investieren – selbst wenn die Häuser nicht den Bauvorschriften entsprechen oder sie ihr Grundstück nicht formgemäß erworben haben. Auch Mina-ben hofft, dass die Verwaltung ihr bald ein solches Zertifikat ausstellt.

s Nachbarschaftsversammlung in Rajivnagar

Ein Baustein, der dies in einem größerem Umfang ermöglichen wird, fehlt aber noch: Um die erhöhte Nachfrage nach ­Wohnungsbaukrediten bedienen zu können, wird SEWA nun eine eigene Bausparkasse aufbauen. Seit 2007 berate ich die Gewerkschaft in der Entwicklung von SEWA Housing Finance (SHF). Die Bausparkasse soll jährlich über 30 000 Menschen helfen, die Standards ihrer Häuser zu verbessern. SHF wird durch ein kooperatives Geschäftsmodell gesteuert, das es den armen Frauen erlaubt, über Investitionen in Höhe von jährlich 5 Millionen Dollar eigenständig zu verfügen. Um das ambitio­ nierte Ziel zu realisieren, sucht SEWA jetzt geeignete Investoren. Ob das Projekt funktionieren wird? Ich glaube fest daran. SHF ist das letzte Glied einer ganzheitlichen Wertschöpfungskette, die nicht nur Nachbarschaftsorganisationen aufbaut und parti­ zipative Stadtentwicklung fördert, sondern auch Wohnungs­ baukredite bereitstellt. Damit wird SHF ein wichtiges Hinder­ nis auf dem Weg zu einer glücklicheren Zukunft der Bewohner von Indiens Elendsviertel beseitigen. Die Namen in diesem Artikel wurden geändert.

Matthias Nohn, Jg. 1975, ist gelernter Maurer, Ingenieur für Architektur und Stadtplanung sowie Verwaltungswissenschaftler mit Schwerpunkt Entwicklungsökonomie. 2005/2006 arbeitete er als Stiftungskollegiat für die GTZ in Kairo, die Weltbank in Washington und UN-Habitat in ­Kenia. Er ist freiberuflicher Berater in der Entwicklungszusammenarbeit und unterrichtet als Lehrbeauftragter an Universitäten. Seit 2007 arbeitet er eng mit SEWA zusammen und hat den Wirtschaftsplan für die Bau­ sparkasse mitentwickelt. (nohn@post.harvard.edu)


Interview

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„Reiche Inder spüren, dass ihnen w ­ ahrer Reichtum fehlt“ Glück und Reichtum sind in der indischen Kultur und yogischen Tradition anders besetzt als in der westlichen. Durch die rasende wirtschaftliche Entwicklung in Indien kommt es zu starken gesellschaftlichen Umbrüchen und Verschiebungen des Werteverständnisses. Ein Gespräch mit Yogesh Saini, Yogalehrer aus Indien. ad hoc: Indien ist ein Multikosmos verschiedener Religionen und Kulturen mit 1,2 Milliarden Menschen und entwickelt sich wirtschaftlich mit rasender Geschwindigkeit. Hat sich das Verhältnis zu Reichtum und Glück dadurch verändert? Saini: Ja, die Veränderungen sind deutlich. Die starke wirtschaftliche Entwicklung begann vor etwa 20 Jahren. Mit dem Fortschritt veränderten sich auch die Bedeutung von Reichtum und Glück. ad hoc: Was bedeutet Reichtum und Wohlstand für einen Inder heutzutage? Saini: Das Leben der Inder in den Megacities wie Delhi oder Mumbai ist anders als auf dem Land. Die stärksten Auswirkungen sieht man in den Städten. Die Städter empfinden Glück, wenn sie sich etwas Neues kaufen. Materielle Werte ­bekommen eine große Bedeutung. Doch das ist eine Illusion. Reiche Inder spüren, dass ihnen wahrer Reichtum fehlt. Sie sind auf der Suche nach etwas, aber wissen nicht wonach. Die Menschen auf dem Land dagegen empfinden innere Ruhe als Glück und gute Gesundheit als Reichtum. ad hoc: Wenn wir von Glück reden, welchen Einfluss hat darauf die Familie? Saini: Das ideale Lebenskonzept für Inder ist die Großfamilie. Das westliche Konzept der Privatsphäre ist dort unbekannt. Im Familienverbund fühlen sich Inder sehr wohl. Verwandte zu besuchen, Feste zu feiern, insbesondere Hochzeiten, das stärkt den Zusammenhalt, macht glücklich. Die wirtschaftliche Entwicklung hat jedoch auch Einfluss auf das Familienleben. Inder ziehen zur Arbeit in die Großstädte oder gehen ins Ausland. Die engen Bindungen leiden darunter. Probleme kann man dann nicht mehr gemeinsam lösen und das familiäre Netzwerk ist weit weg. ad hoc: Kommen wir zur indischen Philosophie. Yoga gehört zu einer der klassischen Schulen der indischen Tradition. Sind die Werte Glück und Reichtum im Yoga existent? Saini: Für viele Menschen hat sich das Leben durch Yoga positiv verändert hat. Viele fühlen sich reicher und glücklicher seitdem sie Yoga machen.

ad hoc: Als Yogalehrer studieren Sie alte philosophische Schriften. Was können wir dort über Reichtum und Glück lesen? Saini: In den vedischen Schriften haben Reichtum und Glück eine tiefergehende Bedeutung. Yogis verstehen unter Gesundheit einen ausgeglichenen Geist und Körper. Ein ausgeglichener Geist führt zu innerer Ruhe und dem Zustand von Glück und Reichtum. ad hoc: Sind die Menschen, die zu ihnen ins Yoga kommen, auf der Suche nach Glück? Saini: Ja. Viele Schüler kommen aber auch wegen gesundheitlicher Probleme oder weil sie denken, dass Yoga gerade in Mode ist. Achtsam Übende empfinden Yoga als Segen und spüren wahre Glücksgefühle. ad hoc: Was sagen Sie ihren Studenten, die auf der Suche nach wahrem Glück und Reichtum sind? Saini: Höre auf das Glück in materiellen Dingen zu suchen und übe die acht Wege des Yoga: Selbstkontrolle, Verhaltensregeln sich selbst gegenüber, Yoga-Asanas als Körperübungen, achtsame Atmung, Zurückziehen der Sinne von der Außenwelt, Konzentration auf nur einen Gedanken, Meditation und Erleuchtung. ad hoc: Nehmen Sie an, dass in Zukunft mehr Inder sich wieder auf traditionelle Werte besinnen werden? Saini: Natürlich, die Zahl wird steigen. Immer mehr Menschen realisieren, dass das schnelle Wachstum auch Probleme mit sich bringt und nicht gleich verteilt ist. Viele Inder besinnen sich auf alte kulturelle Werte. Wenn Sie morgens in die Stadtparks gehen, werden sie tausende Yogis antreffen. Es gibt sogar kostenlose Yoga­veranstaltungen, um den Menschen diese Werte näher zu bringen. Heidrun Zeug, Jg. 1979, war als CSP Stipendiatin 2006/2007 bei der WHO in Kopenhagen tätig. Sie arbeitete als Wasserspezialistin bei der Weltbank in Neu Delhi und beriet die Regierung, B­undesstaaten und Unternehmen zu Wassermanagement im urbanen Raum. (hzeug@gmx.de)


Heft 10 erscheint im Winter 2011/2012

Eyeyeh acher ehyeh – Ich werde sein, der ich sein werde. (2. Buch Mose)

Das Glück, das er der könnte er auch als StraßeReligion zuschreibt, nkehrer erlangt haben, wäre er gezwungen gewes en, einer zu sein und zu bl eiben. (Bertrand Russell) Täglich eine Portion Leic htsinn. (Geor g Groddeck)

Genug zu haben ist mehr als genug zu haben Glück, ist unheilvoll. Das gilt von allen Dingen, aber besonders vom Geld. (Laotse)

Das Glück in jenem ermäß in dem es als möglich erkaigten Sinn, nnt wird, ist ein Problem der indivi duellen Libidoökonomie . (Sigmund Freud)

Search we m Each man must set out to ust. cross his bridge. (Sheldon Kopp)

Von dem, was die Weishei t für di des gesamten Lebens beree Glückseligkeit itstellt, ist das weitaus Größte de r Er werb der Freundscha ft. (Epikur) Impose ta chan serre ton bonheur et va ve ce, rs ton risque. A te regarder, ils s’habitueront. (René Char)

Unseren eigenen Ideen m üssen w das Bewusstsein zu erreicir Zeit lassen, hen. Wir müssen gelegentlich warten können, um unser Ziel zu erreiche n. (Theodor Reik)

Und genau so verhält es si ch Allgemein gesprochen istauch mit dem Begehren. ein nach Gütern und dem Glüjedes Verlangen cklic für einen jeden das größtehsein und am meisten herausra gende Begehren. (Plato n)


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