Esel haben keine Lobby

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Peter Josef Dickers

Esel haben keine Lobby manchmal wie im richtigen Leben

albert verleysdonk verlag mรถnchengladbach



Esel haben keine Lobby manchmal wie im richtigen Leben Peter Josef Dickers



Esel haben keine Lobby manchmal wie im richtigen Leben Peter Josef Dickers

Albert Verleysdonk Verlag Mรถnchengladbach


© 2011 Albert Verleysdonk Verlag Gustav-Karsch-Str. 25 41189 Mönchengladbach www.verleysdonk.de

isbn 978-3-939052-04-3 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.


Inhaltsverzeichnis in der Nähe

10 Der Geräterundgang 12 Nichtqualmenbitte 14 Die Dauerbrause 16 vorbei 18 Nicht alle Bäche fließen 20 Auf Tour 22 Ein halbes Zimmer 23 Julia 24 Zwischen Bratpfanne und Rahmsoße 25 romantisch frech emanzipiert 26 Das Babyhotel 28 Hallo 30 Das Ambiente 31 Die Prämie 32 Ich spare 34 Drücken Sie die Zwei 36 Rund um die Uhr 37 Am Anfang war die Null 38 Der Stimulator 40 De bello 42 Nicht grübeln


in der Ferne

44 Die Reise der Pinguine 47 Ein Junge 48 Verhüllt 50 Nur Sand 52 Wunderbare Landschaft 54 Richtung Süden – Antarktis 56 Atlantik genießen 58 Ich mag nicht 60 Ein Gaudi 62 Die Pekingente 64 Essen, was fliegt 65 Völkerkunde 66 In Ordnung 67 Ötzi war hier 68 Exklusiv 70 Im Tal des Essens und Trinkens 72 Das Wunderöl 74 Kein Märchen aus alten Zeiten


zu den Musen

76 du und ich 76 zum Fressen gern 76 Brot 77 hoffen 77 verwählt 78 Winterfrühling 79 Mama mia 79 Mailied 80 wann? 80 Fluss und Ufer 80 lassen 80 nichts

bis zum Himmel

82 Liebeserklärung 84 Gebote 85 Bitte für uns 86 Trösterin der Betrübten 88 Himmlisches Jerusalem 89 Treffpunkt Autobahn 89 Frauen am Kreuz 90 Der Spiralweg 91 In Not 92 Asperges me 93 Menschenwürde 94 Udo ist tot 96 Tabu 98 Der Leichenschmaus 100 Glasscherben 101 Vorsätze


an der Krippe

104 Advent 105 In Erwartung 106 Das Lamm 108 Ich bin Josef 110 Brief ans Christkind 112 Christkind, lass dich fragen 114 Weihnachtsgeschenke in Sicht 116 Ein bisschen Glückseligkeit 118 Windlichter 119 Stille Nacht 120 Wo wohnt das Christkind? 122 Sterne lügen nicht 123 Krippenkind 123 Klappe zu 124 Das Kinderfahrrad 126 Ich will brennen 127 Krippengang 128 Keine besondere Nachricht 130 Hunde müssen draußen bleiben 132 Jesuskind mit Ochs 134 Freude macht mir mein Hund 136 Das Gastgeschenk 138 Melchior nennen sie mich 140 Esel haben keine Lobby


in der N채he


Der Geräterundgang Mein Arzt versteht mich. Wenn mir der Kopf brummt und ich kaum noch geradeaus sehen kann, weiß er mir zu helfen. Es geht Ihnen nicht gut, höre ich ihn sagen. Er versteht mich, ohne viele Worte zu machen. Ich verstehe ihn, ohne viele Fragen zu stellen. Neulich war es anders. Mein Arzt hatte mich zu einem Kollegen geschickt, der noch besser wusste, was zu tun war, wenn es mir nicht gut ging. Der äußerte Bedenken. Es gehe mir überhaupt nicht gut. Wie lange der Zustand schon andauere, wollte er wissen. Sein Diktiergerät war aufnahmebereit und erwartete eine Zeitangabe. Eine Woche, zwei Wochen oder länger? Ich wusste es nicht. Ziemlich lange, erinnerte ich mich. Ziemlich lange, wiederholte das Diktiergerät. Meine Körpergröße und mein Gewicht wollte das Gerät wissen. Warum mein Kopf brummte, wollte es nicht wissen. Vielleicht hing das mit meiner Körpergröße zusammen. Die hatte sich während der zurückliegenden fünfzig Jahre nicht wesentlich verändert. Aber das Diktiergerät wollte sich einen grundlegenden Eindruck verschaffen. Der Kollege fragte und fragte. Ich versuchte mich zu erinnern. Irgendwann wurde das Gerät abgelöst von anderen Geräten. Moderne Arztpraxen erkennt man an den Geräten. Von Raum zu Raum wanderte ich. Medizinische Technik dient dem Patienten. Der Patient dient der medizinischen Technik. Das Gute an der Technik ist, dass man nicht reden muss. Sie stellt keine Fragen. Ich muss nicht antworten. Wahrscheinlich erkannten die Geräte, wie es um mich stand. Dass sie es mir nicht mitteilten, lag daran, dass sie nicht sprachen oder ich ihre Sprache nicht verstand.

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Ihr Wissen gaben sie an das Diktiergerät weiter. Dieses vertraute es dem Kollegen an. Als ich den Geräterundgang beendet hatte, war ich überrascht. Der Kollege war über meinen Gesundheits- bzw. Krankheitszustand informiert. Ich bräuchte eine intensive Behandlung, sagte er. Er habe Anweisung gegeben, wie zu verfahren sei. Er sehe sich bestätigt. Es sei, wie er vermutet habe. Ich fragte nicht, was er vermutet hatte. Er wollte mich nicht mit seinem Fachwissen überfordern. Problemorientierte Fragestellungen erübrigten sich. Meine Alltagssprache ist nur begrenzt kompatibel mit der Sprache von Geräteparametern oder ärztlichen Krankheitsbefunden. Das Rezept listete auf, welche Medikamente ich wann, wie oft einnehmen sollte. Mein Kopf brummte immer noch, aber ich wusste jetzt, dass es an dem lag, was der Kollege vermutet hatte. Man muss nicht viele Worte machen, wenn nonverbale Blicke genügen.

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Nichtqualmenbitte In China gehört das Rauchen zum Essen wie der Reis. Ein Jahr vor den Olympischen Spielen erließ die Regierung ein Rauchverbot. Auch hierzulande kam das Verbot. In einem Stuttgarter Weinlokal las ich „Neddgwalmabidde“. Für Nicht-Schwaben stand die hochdeutsche Fassung darunter. „Mit Rücksicht auf nicht rauchende Gäste bitten wir Sie, im Lokal auf den Rauchgenuss zu verzichten“. Sechzehn Worte Hochdeutsch an Stelle einer Mini-Lektion Schwäbisch. China hat das Rauchverbot wieder aufgehoben. Gründe gab es zuhauf: Proteste der Restaurantbesitzer. Sorge um Umsatzeinbußen während der Olympiade. Es durfte wieder gequalmt werden. In Bayern durfte im Bierzelt nicht mehr geraucht werden. Dann doch wieder. Verbote wurden außer Kraft gesetzt im Hinblick auf rückwirkende Gesetzesinitiativen. „Gwalmabidde“. Gründe gab es zuhauf: Grundrechte für Kneipenwirte. Freiheit für Aschenbecher. Gesundes Leben – ein elendes Leben. Lohnt solch ein Leben? Obst essen – Pestizide Bier trinken – Hängebauch Pillen schlucken – Tablettensucht Spazieren gehen – Feinstaub Heizung anstellen – Klimakatastrophe Lieben, verreisen, Auto fahren – Selbstmord auf Raten Lohnt es zu leben? Die medizinische Forschung macht immer größere Fortschritte. Es gibt kaum noch gesunde Menschen. Dennoch verzweifle ich nicht. Wer nicht liebt Wein, Weib und Gesang, bleibt ein Narr sein Leben lang. Außerdem soll es mehr alte Weintrinker geben als alte Ärzte.

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Nicht qualmen bitte. Nicht immer qualmen bitte. Nicht überall qualmen bitte. Nicht qualmen bitte, wenn man nur qualmen will. Gwalmabidde nur, wenn es nicht heißt Neddgwalmabidde. Mit dem Rauchen aufzuhören, sei es nie zu spät, heißt es. Dann habe ich noch Zeit, damit anzufangen. Churchill warnte vor dem Aufhören: Wer von der Gefahr des Rauchens lese, höre nicht auf zu rauchen, sondern zu lesen. Gesundes Leben – ein schweres Leben. Ich werde einfach leben. Ich hoffe zu überleben.

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Die Dauerbrause Arztbesuche gehören nicht zu Ereignissen, über die ich mich freiwillig äußere. Erst recht wecken Ratschläge von Gesundheitspropheten und solchen, die es sein wollen, in mir Selbstschutz-Gefühle. Aber die Dauerbrause hat mich fasziniert. Andauernd brausen – so schmutzig kann man nicht sein – muss man nicht. Hauptsache: Es ist gesund. Direkt nach dem Frühstück liege ich auf einer triefend nassen Pritsche. Vor mir hat eine andere Person dauergebraust. Den ganzen Tag wird auf allen Pritschen, Marke Zeltlazarett, gebraust. Unaufhörlich rieselt es aus dem Brausekopf herunter. Wie es wohl Frau Martini – ich bin eine der Badefrauen, hat sie gesagt – schafft, trockenen Leibes das Tuch zu wechseln, auf dem der Dauerbrauser vorher gelegen hat? Auf dem Rücken liegend – die Ströme fließenden Wassers sollen sich zuerst auf meine Vorderseite ergießen – betrachte ich die urtümlich anmutende Laufschiene, über die ich mit einer Art Flaschenzug den Brausekopf dirigieren kann. Etwa zehn Minuten lang auf eine Stelle, sagt Frau Martini. Wann sind zehn Minuten vorbei? Ich kann nicht auf die Uhr schauen. Meine Habseligkeiten liegen nebenan in der Kabine. Eine Stunde lang soll ich dauerbrausen: dreißig Minuten von unten nach oben, Rückenlage. Dann Kehrtwende und eine halbe Stunde lang bäuchlings von oben nach unten, wahrscheinlich wegen der Symmetrie. Wohin mag das Wasser fließen? Tag für Tag, andauernd. Ich denke an meine Wasserrechnung daheim. Vielleicht brauchen die das Wasser woanders wieder; schmutzig kann es nicht sein nach einer Stunde brausen. Gerade wäge ich Einsatzstellen ab zwischen Küche und Klo, da erfolgt die Zeitansage der Badefrau. Halb zehn. Umdrehen. Bewässerung der Rückenpartie.

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Während es angenehm auf meine Schultern prasselt, überlege ich, von welchen Leiden ich geheilt werden möchte. Ich sei so hektisch, sagt meine Frau. Ob das davon besser wird? Frau Martini macht mir Mut. Man müsse fest daran glauben. Ich frage mich – inzwischen werden südlichere Zonen bebraust – ob eine Stunde ausreicht. Morgen werde ich mit dem Arzt sprechen. Bei der Voruntersuchung hatte er mir in die Augen geschaut und mit der Stirn gerunzelt. Ob ich hin und wieder etwas vergessen würde. Das wurde bestätigt – von meiner Frau. Die Gedanken sind frei. Das fließende Wasser verleiht ihnen Flügel. Es denkt in mir. Ich lasse denken. Ich genieße das. Die Brause müsste schon die Fußsohlen erreicht haben. Das mit den zehn Minuten ist mir entgangen. So, das war’s – eine ziemlich nahe Stimme macht mir deutlich, dass jede Dauer ein Ende hat, auch der Tiefschlaf, aus dem mich Frau Martini weckt. Er hat mir gut getan.

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vorbei ich sitz im Sanatorium und frage unentwegt, warum ich Müsli, Tee und Kürbiskerne als Quelle der Ernährung lerne wenn dazu frischer Löwenzahn verziert mit wildem Baldrian den Frühstücksteller randvoll füllt dann ist mein Hunger schon gestillt vorbei ist es mit Schinken, Eiern mit Kaffee und Champagner-Feiern wie ließ ich mir ein Bierchen schmecken wie himmlisch war’s, ein Eis zu schlecken wer hat mir diesen Rat gegeben dass ich in meinem Erdenleben verzichten und entbehren muss? für mich bedeutet’s nur Verdruss Gesundheit ist ein hohes Gut gesund zu essen – das braucht Mut mag sein: es war ein guter Rat doch muss ich folgen in der Tat?

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Nicht alle Bäche fließen Dass ihre Stadt den Bach hinunter geht, müssen die Bürger nicht als Kränkung empfinden. Bäche und Wasserläufe im Stadtgebiet erfreuen sich zunehmenden Interesses – auch dann, wenn deren Schönheit nur noch zu erahnen, aber nicht augenscheinlich ist. Zwölf blaue Schilder verkünden, dass die Stadt am Bach liegt – am glänzenden, glatten oder trägen Bach, je nachdem, wie es den Wortdeutern gefällt. Seine Quelle scheint versiegt. Was unterirdisch weiter strömt und der Niers entgegen eilt, ist er nicht der Bach selbst. Dennoch: Der Bach muss nicht sichtbar fließen, um ihm folgen zu können. „Ich sehe, was du nicht siehst“, flüstern die Schilder dem Bach-Sucher zu. Mach dich mit uns auf den Weg. Entdecke mit uns deine Stadt. Am Abteiberg schlängelte sich der Bach vorbei. Dass er dort später einer Brauerei begegnete, kam deren Brunnen zugute. Viele Fische aus dem Bach beendeten ihr Leben auf den Tellern der Benediktinermönche in der Abtei. Fische durften immer, auch in der Fastenzeit, verzehrt werden. „Auf dem waldigen Hügel in der Nähe eines Bächleins” hatte Erzbischof Gero Gott und dem Märtyrer Vitus ein Kloster bauen lassen. Ehe sich das Bächlein dem Schoß der Niers überließ, setzte sein Wasser viele Mühlen in Gang. Ein Mühlenbach war der Bach. Die Mühlräder drehen sich nicht mehr. Die Mühlsteine mahlen nicht mehr. Es klappern keine Mühlen am ehemals rauschenden Bach. Der Bach verlor sein irdisches Gesicht. Er wurde ein Unterirdischer. Statt Wasser fließt Abwasser. „Fest gemauert in der Erden“ gibt er dem Regenwasser seinen Lauf. Schon lange rümpften die am Bach Wohnenden die Nase wegen des Bachs. Sie wuschen nicht mehr ihre Wäsche in ihm. Die Bleichwiesen hatten ausgebleicht. Umweltschutz fand weder im Sprachjargon noch im Umgang mit dem kostbaren Nass statt. Die Lauge aus den Blättern der Färberwaidpflanze diente zwar den Tuchfärbern, die Wolle und Leinen in ihr färbten. Aber das blaue Waid-Gold überforderte den

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Bach. Er starb dahin und mit ihm seine Schönheit und seine Wohl­ gerüche. Ihm half auch nicht das klare Bachwasser, das ihm zufloss. Man konnte es trinken, sagen Zeitzeugen. Und weil Glaube Berge versetzt, galt es als heilsames Augenwasser. Heilsam für den Bach wurde es nicht. Die Erinnerung an ihn und die Mühlen ist geblieben. Diese haben die Zeiten nicht überdauert; aber ihren Namen haftet Unsterbliches an. Vergesst nicht die Zeit, in der wir gemahlen haben, verkünden sie. Die Schilder und Plätze mit den Mühlen-Namen mahnen: Geht sorgsam mit dem Wasser um. Es ist Gabe der Natur. Es ist Gabe und Aufgabe. Unerwünschte Begleiterscheinungen des Fortschritts ließen schon vor zweihundert Jahren Rousseau ein „Zurück zur Natur“ fordern. Gibt es ein Zurück auch für den Bach? Fest gemauert in der Erde könnte er sich schwer tun, wieder zum glänzenden, fließenden Bach zu werden. Aber es gibt ja die Schilder, die ihn unsterblich machen.

Gladbach

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Auf Tour Mein Busfahrer ist kein Frühaufsteher. Das verrät er mir in einer Fahrpause. Ansonsten darf ich mit dem Fahrer nicht sprechen, steht auf dem Schild. Da nicht viele Fahrgäste um 13.09 Uhr in die Linie 10 Richtung Flughafen einsteigen und sich in Ruhe die schönsten Sitzplätze aussuchen können, kann der Fahrer gelassen seine Tour starten. Gestern hatte er dienstfrei. Mit seinem Schweizer Sennenhund sei er durch die Felder gestreift, erzählt er. Man sieht es ihm an, dass er das genossen hat. Die gestrige Schwüle musste er nicht im Bus ertragen. Er hätte sich mit der „Kurze- Hose-Klimaanlage“ begnügen müssen. Wegen der hohen Spritpreise ist sie für den Arbeitgeber preiswerter als eine Klimaanlage. Da sich an den Haltestellen für einige Augenblicke die Türen öffnen, bleibt die Hitze erträglich. Heute ist es kühler. Außerdem regnet es. Seit neunzehn Jahren fährt der Fahrer Bus. Dass sein Gefährt wegen der Ferienzeit ziemlich leer bleibt, sieht er positiv. Die Türen lassen sich ordnungsgemäß schließen, weil keine Schüler nach Schulschluss in den Bus stürmen. Das Wechselgeld in der Kasse wird ausreichen. Weniger Fahrgäste als sonst werden erst im Bus damit beginnen, nach ihrem Portemonnaie zu suchen. Die junge Frau mit der roten Geldbörse benötigt sehr viel Zeit, ehe sie den Zwanzig Euro-Schein gefunden hat. Der Fahrer bleibt gelassen. Sein Geduldsfaden werde strapaziert, sagt er später, wenn Fahrgäste in allen Hosentaschen nach Kleingeld suchen. Ärgerlich, wenn der Bus eine Verspätung aufholen muss oder an der Haltestelle noch weitere fünfzehn Personen einsteigen wollen. Viele Fahrgäste lässt der Fahrer mit einem Kopfnicken passieren, da sie ein Ticket oder eine Wochen- bzw. Monatskarte vorzeigen. Erstaunlich viele steigen mit „Tag“ oder „Hallo“ ein. Man kennt sich. Man grüßt sich. Siebeneinhalb Stunden lang Bus fahren. Auf Tour gehen mit dem Busfahrer. Ich sehe, was ich sonst nicht sehe. Wie ein Beutestück präsentiert die resolut aussehende Dame ihren Fahrausweis. Wie ein Geheimpapier hält ihn der junge Mann mit Schlapphut in seiner Mappe versteckt und gewährt nur einen kurzen Blick darauf. Mein Busfahrer 20


hat gute Augen. Manches lerne er übersehen, nicht jedoch bestimmte Mätzchen seiner Fahrgäste, soll ich schreiben. Wenn so einer angeblich seinen Ausweis vergessen hat, lasse er den Vergesslichen frische Luft atmen. Den jungen Mann, der ihn fragt, wo der Doktor wohnt, kann er nicht bis zum Sprechzimmer fahren, aber er beschreibt ihm die Haltestelle, an der er aussteigen muss. Hinten im Bus wird laut protestiert. Eine ältere Dame möchte aussteigen. Das fällt ihr ein, als der Bus an der Haltestelle vorbeifährt. Sie gibt dem Fahrer die Schuld, der keine Freigabe für das Öffnen der Tür erteilte. Das fahrerische Können ist bewundernswert. Verkehrsschilder stehen oft so dicht am Straßenrand, dass der Außenspiegel des Busses heil bleibt, weil der Fahrer Millimeterarbeit leistet. Dass er sich beherrscht, als ein Autofahrer den Bus kurz vor der Ampel noch auf der Linksabbiegerspur überholt, steigert meinen Respekt. Als der Fahrer im zweiten Teil seiner Schicht die Linie 8 übernimmt, bin ich skeptisch. Sieben Mal Volksgarten und zurück – wie hält er das durch? Erfahrung, sagt er. Wahrscheinlich kennt er bei der fünften Runde jeden Mülleimer an der Straße. „Welchen Bus kann ich morgen früh nehmen?“ An einer Haltestelle fragt jemand danach, der um 8.45 Uhr am Bahnhof den Zug erreichen will. „Nehmen Sie einen Bus eher, damit Sie pünktlich sind.“ Meine Skepsis verfliegt. Busfahrer sind nicht nur Busfahrer. Sie sind eine besondere Gattung Mensch. Einmal Busfahrer, immer Busfahrer? Für den 88jährigen Herrn, der zusteigt, gilt das. Er zeigt mir seinen Personenbeförderungsschein, der seit dreißig Jahren nicht mehr gültig ist. Er sei Busfahrer gewesen, vertraut er mir an. Den Ausweis habe er immer dabei. Man könne nie wissen.

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Ein halbes Zimmer Er ist Lebenskünstler. Gelassenes Lächeln sein Markenzeichen. Der Urlaub mit dem Bekannten sei positiv verlaufen, erzählt er. „Bekannter?“ Mit dem er sein Zimmer geteilt habe. „Sein Zimmer?“ Ein halbes Doppelzimmer habe er gebucht. Aus Kostengründen. „Und der Bekannte?“ Der sei ihm zugeteilt worden. „Sie kannten ihn nicht?“ Er habe ihn nicht kennen können. Meine Ratlosigkeit ignoriert er. Ihm gefällt nicht alles, aber die Schwere der Gewohnheiten, unter der ich gelegentlich leide, ficht ihn nicht an. Der Flut täglicher Imperative, dieses tun und jenes lassen zu müssen, widersteht er. Sein Abwehrreflex ist intakt. Anpassungsdruck? Ihm fremd. Er ist empfänglich für den Augenblick. Er schätzt die Flüchtigkeit des Lebens. Was heute zählt, kann morgen wertlos sein. Was hinter dem Horizont liegt, bedrückt ihn nicht. Im Scheinwerferlicht will er nicht stehen, da es wieder dunkel wird. Lebenskünstler machen keine Schlagzeilen. Sie brauchen kein ganzes Zimmer. Er bucht ein halbes – unwägbares Risiko für andere, Chance für ihn. Die chinesischen Schriftzeichen für „Krise“ und „Chance“ sind identisch. Er wird das wissen. Ich schmiede Pläne und will erkunden, was morgen ist. Gedanken an morgen macht er sich morgen. Was er morgen kann besorgen, überlegt er auch erst morgen. Was auch kommen mag, kein Tag dauert länger als 24 Stunden, sagt er. Danach scheint wieder die Sonne. Was er nicht mag, schickt er auf Reisen, weit weg. Ich überlege, was gestern war, und vergesse es nicht. Gestern machte er sich Gedanken an gestern. Heute ist für ihn heute. Er genießt den Tag, der entdeckt werden will. Er ist zu beneiden.

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Julia Wir fühlen uns wohl daheim. Julia – zwei Köpfe kleiner, sechzig Jahre jünger – respektiert das, will den Kram aber nicht geschenkt haben, der unser Wohnzimmer schmückt. Krimskrams, sagt sie. Ihren Kram wollen wir auch nicht. Wenn sie uns besucht, bewundert sie die Eichentruhe. Sie findet sie nicht schön, aber praktisch. Man kann den Fernseher, den Recorder, alles Mögliche darin verstauen. Türe zu, Klappe runter. Niemand merkt, wie nahe wir unserer Zeit sind. Julia liebt Pferde. In ihrem Zimmer könnten Reiterspiele stattfinden. Keiner müsste sein eigenes Pferd mitbringen. Pferde auf der Koppel, Pferde in Reitställen, Pferdebilder an den Wänden. Wilde Pferde, zahme Pferde. Nichts mit „Türe zu“, „Klappe runter“. Pferde brauchen frische Luft. Julias Geburtstagswunsch: Lippizaner-Hengst, Katalog-Nummer 24. Möchten wir nicht geschenkt haben. Verschenkt sie auch nicht. Julia respektiert unsere Deckeltruhe. Wir loben die Reiterstaffel neben ihrem Bett. Uns stört sie beim Staubsaugen. Julia liebt ihre Pferdewelt. Sie reitet zu Pferde durch ihr junges Leben. Ihre Pferde brauchen keine Truhe. Auf unserer Truhe stehen keine Pferde. Wir lieben unsere Welt und ihren Krimskrams. Sie hat sich entwickelt. Sie hatte viele Stationen. Jedes Stück hat eine Geschichte. Auch Julia fühlt sich wohl in ihren vier Wänden. Sie liebt Pferde. Jedes könnte eine Geschichte erzählen. Julia erzählt ihre Geschichte. Wir erzählen unsere. Wir bleiben miteinander im Gespräch. Gut, dass es verschiedene Geschichten gibt.

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Zwischen Bratpfanne und Rahmsoße Wenn ich mit meinen Schülern die Welt nicht verstand, wenn ich ihre Welt verstehen wollte, dann lud ich sie in meine Küche ein. Zwischen Bratpfanne und Rahmsoße, zwischen Ketchup und Salatsoße erfuhr ich etwas über Probleme beim Zerlegen von Zahlen in Primfaktoren. Was zu heißen Diskussionen geführt hatte, kühlte sich ab, wenn wir überlegten, was wir kochen wollten. Das hing von meinen Vorräten ab. Eine eiserne Reserve hatte ich im Haus. Kleine Gläser mit Sellerie und Bohnen, mit Champignons und Mais standen auf dem Regal. Wenn eine Mathe-Arbeit geplant war, musste auch vorgesorgt und nicht erst während der Arbeit überlegt werden, wie man Zahlen in Primfaktoren zerlegt. Die Schüler nickten zustimmend. Während die einen Gemüsegläser öffneten, diskutierten andere über den Unterschied zwischen dem größtem gemeinsamen Teiler und dem kleinsten gemeinsamen Vielfachen. Es war nicht wichtig, was wir kochten. Entscheidender wurde, ob die Düfte von Paprika und Knoblauch, das Würfeln und Würzen kleiner Fischfilets die Zungen lösten. Wenn das Gulasch mit Rahmsoße gebunden wurde, waren auch andere Verbindungen geknüpft worden. Ich hatte mich bereit erklärt, ein Gespräch mit dem Mathe-Lehrer einzufädeln. Der Abnabelungsversuch einer Tochter von ihrem Vater hatte zu ziemlichem Stress geführt. Beim Abschrecken der gekochten Eier einigten wir uns darauf, dass der Vater seine Tochter und die Tochter ihren Vater nicht auf gleiche Weise kalt stellen durften. In der Küche wurden Weichen gestellt. Während in der Auflaufform Kräuterkrusten entstanden, kamen am Esstisch andere Verkrustungen zur Sprache. Nicht selten endeten schnelle Gerichte und bunte Salate in langen Diskussionen über Gott und die Welt, über Eltern und Lehrer, über das Leben schlechthin. Die Küche ist eine segensreiche Erfindung. Sie kann nicht groß genug sein.

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romantisch frech emanzipiert Er ist wieder im Programm. „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“. Tschechisch-deutscher Märchenfilm. Kultfilm. Liebesgeschichte um Aschenbrödel und ihren Prinz. Märchengeschichte mit drei Zaubernüssen und der Eule Rosalie. Nicht nur Wintermärchen. Kinderfilm. Auch für Erwachsene. Aschenbrödel. Keine Groschenroman-Figur. Nicht Frau, die sich selbst verwirklicht. Nicht weibliches Wesen, das unter ihrem verkanntem Frau-Sein leidet und sich unverstanden fühlt. Nicht Frau von Welt, die ihre Lebensüberschriften hinaus posaunt. Naiv? Unbedarft? Ausgebeutet von Stiefmutter und Stiefschwestern? Missbraucht von jenen, die ihre Schwäche ausnutzen? Nichts von dem. Sie bleibt gelassen. Sie lässt sich nicht provozieren. Sie schaltet nicht die Presse ein. Sie schickt keine Email-Botschaften an erhoffte Gleichgesinnte. Sie hat die Eule Rosalie und den Prinz. Den beeindruckt sie mit couragiertem Wagemut. Sie ist schön. Himmlisch schön. Sie hat Elan und Willenskraft. Sie ist emanzipiert und romantisch. Ein bisschen wie Pippi Langstrumpf. Ein bisschen wie im wirklichen Leben.

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Das Babyhotel Schaukeln und Wasserrutschen, Streichelzoo und Kinderwerkstatt bot das Hotel an. Der Wasser-Funpark mit dem integrierten Bauernhof erfüllte höchste Ansprüche. Die jungen Eltern wussten, was ihrem Baby gut tat. Das hatte seinen Preis. Aber moderne Eltern lassen sich ihre Kleinsten etwas kosten, wenn sie mit ihnen auf Reisen gehen. Sie verlangen jedoch mehr als den Normalzustand Wickelkommode und Krabbelraum. Sie vertrauen die laufenden Nasen und die vom Schokoladen-Fondue verschmierten Münder ihrer Sprösslinge nicht irgendwem an. Qualifizierte Kinderhotelakademie-Betreuerinnen sichern Babys Erstreise-Erfahrung. Mit ihrer Unterstützung soll Mamas und Papas wertvolle Urlaubszeit zum schönsten Ereignis des Jahres werden. Glückliche Kinder und zufriedene Eltern sind ein hohes Gut. Das verpflichtet. Mama und Papa waren voll des Lobes. Die Appartements und Suiten wurden rund um die Uhr überwacht. Wenn Baby schrie oder weinte, hörten es Babyhotel-Ohren, waren Babyhotel-Hände zur Stelle. Wenn Baby gewickelt oder gefüttert werden musste, konnten Papa und Mama das dem fürsorglichen Babyhotel-Service überlassen. Sorglos durften sie ausgehen, Ferien vom Ich oder Du machen, sich Zeit nehmen für romantische Stunden allein oder zu zweit. Baby litt keinen Mangel. Baby ging es gut. Ein kleines Kind sei wie ein zweiter Haushalt, hatte Mama gesagt. Immer stehe Baby im Mittelpunkt. Es müsse getragen, gebadet, beschützt werden. Jetzt gönnte Mama es sich, den Zweithaushalt in akademiegeschulte Hände zu geben. Das ersparte ihr TrennungsÄngste. Es beruhigte ihr Gewissen. Babybuffets mit täglich wechselndem frischem Brei machten Baby satt und zufrieden. Zwischen GutenMorgen-Müesli und Gute-Nacht-Brei erfüllten Babyspeisekarten mit garantiert frischen Produkten aus der ökologischen Landwirtschaft individuelle Baby-Bedürfnisse. Baby-Schwimmkurse an der hoteleigenen Baby-Schwimmakademie sicherten frühkindlichen BabyFörderbedarf. 26


Das Knusperhäuschen-Rundumverwöhnprogramm übertraf Mamas und Papas Erwartungen. Baby wurde gehegt, gepflegt, gestreichelt, gefördert. Vom Baby-Chinesisch-Kurs hatte der Babyhotel-Psychologe abgeraten. Das habe Zeit bis zum nächsten Verwöhn-Aufenthalt. Mamas Sorge, Babys Zeitfenster für Sprachen werde zu früh geschlossen, erwies sich als unbegründet. Die Babymassage dagegen wurde dringend empfohlen. Sie sorge für lebensnotwendige Baby-Entspannung, lindere Bauchweh und Blähungen, fördere die harmonische Entwicklung. Sie bilde die Grundlage für tiefe Bindungen zwischen Mutter und Kind. Von Papa war nicht die Rede. Als Mama am fünften Urlaub-im-Babyhotel-Morgen Papa wecken wollte, war das Bett leer. „Abgereist“, sagte die freundliche Dame an der Rezeption. Papa habe umgebucht. Er sei in seiner Kindheit vernachlässigt worden. Ihm habe man ein Babyhotel-Verwöhn-und-Sorglos-Programm vorenthalten. Er hole es jetzt unter Anleitung qualifizierter Betreuerinnen und Animateurinnen nach. Ein Spezialangebot auf den Malediven habe ihn überzeugt. Da er Baby gut versorgt wisse, wolle er nun selbst erfahren, wie das mit dem Verwöhnen ist. Hoffentlich war es nicht zu spät dazu.

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Hallo Sie nannten ihn HALLO. Wenn sie ihn riefen, ihn etwas fragen oder ihn ärgern wollten, hörte ich sie HALLO sagen. Er hieß nicht wirklich so, aber er nahm es hin, von den Mitschülern so gerufen zu werden. Ich nannte ihn mit seinem richtigen Namen, wenn er sich zu Wort meldete. „Hallo, ich will etwas sagen“, rief er in die Klasse. Ich wusste, warum sie ihn so nannten. Mit den Händen konnte er sich nur ungenügend bemerkbar machen. Hätte er mit ihnen aufgezeigt, dann hätte ich es oft übersehen. Das lag nicht daran, dass er kleiner war als die anderen Kinder. Er hatte keine Arme. An der Stelle, wo sie normaler Weise aus der Schulter wachsen, saßen bei ihm die Hände. Wenn er auf etwas zeigte, streckte er die linke oder rechte Hand nach vorn. Er war der fröhlichste Junge in der Klasse. Immer hatte er lustige Einfälle. Immer hatte er neue Ideen. In fast allen Fächern glänzte er mit guten Noten. Alle lobten seinen Fleiß und seine Ausdauer. Konnte er mit seinen Händen schreiben oder ein Heft festhalten? Er konnte es. In der Regel schrieb er nicht mit einem Stift in der Hand, sondern steckte ihn zwischen die Zehen seiner Füße. Er schrieb mit den Füßen. Mit dem rechten und linken Fuß schrieb er so perfekt wie andere mit ihren Händen. Dabei saß er so auf seinem Stuhl, dass er die Füße hoch nehmen und mit ihnen auf der für ihn schräg aufgestellten Tischplatte ins Heft oder auf ein großes Blatt schreiben konnte. Die Schule hatte ihm eine speziell angefertigte Schreibmaschine besorgt. Wenn er auf ihr schrieb, lag er auf dem Fußboden, ließ sie sich zwischen die Beine stellen und klickte mit den Zehen die Buchstaben oder Zahlen an. Ihm machte das Spaß. Wenn er es geschafft hatte, rief er „Hallo, ich bin fertig“. Ohne Füße wäre er hilflos gewesen. Mit ihnen schmierte er sich ein Butterbrot, öffnete eine Flasche, trank aus einem Glas.

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Alle Kinder liebten HALLO. Sie wählten ihn zum Klassensprecher. Wenn einer sich beklagte, dass etwas zu schwer oder anstrengend sei, fragten andere: „Was soll HALLO sagen, der es noch schwerer hat?“ Meistens verstummten die Klagen. HALLO bewies, dass man auch dann etwas schaffen kann, wenn es einem nicht so gut geht wie anderen. Irgendwann verbrachte ich mit der Klasse ein Wochenende in der Jugendherberge. Vier Jungen oder Mädchen teilten sich ein Zimmer. HALLO kümmerte sich darum, dass es keinen Streit gab, und wer mit wem das Zimmer teilte. Wie schaffte er es trotz seiner Behinderung, von allen anerkannt zu werden? „Ich bin nicht behindert“, erwiderte er, als ich ihm sagte, wie sehr ich ihn bewunderte. „Ich mache einiges anders als andere Kinder. Nichts Besonderes.“ Ich schwieg. Am nächsten Morgen beobachtete ich, wie er sich im Waschraum die Haare wusch. Er lag auf dem Boden und wusch sich mit den Füßen den Kopf. Nichts Besonderes.

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Das Ambiente So angenehm wie möglich sollte mein Aufenthalt werden. Kein Luxusdomizil, aber ein schönes Ambiente wurde mir in Aussicht gestellt. Ein Ambiente ist wichtig. Ohne Ambiente kann ich nicht sein – nicht im Supermarkt, nicht am Gartenteich, nicht auf meiner Terrasse. Mein Nachbar spricht abschätzig vom Drumherum. Ambiente ist mehr, zumindest klingt es nach mehr. Das versprochene Ambiente war zum Anschauen schön und überzeugte. Die dahinter liegenden Räumlichkeiten gehörten nicht zum Ambiente. Irgendwann ist das Ambiente zu Ende, damit Alltägliches Raum gewinnt. Im Ambiente wandelt man, deswegen heißt es Ambiente. Im Zimmer wandelt man nicht. Andererseits erweckten Schrank, Schreibtisch und Bett den Eindruck, als sei man auf ihnen gewandelt, obwohl sie nichts zu tun hatten mit dem Ambiente. Alltägliches geht mit der Zeit, vergeht mit der Zeit. Das Ambiente strahlt zeitlos vor sich her. Wer im Ambiente verharrt, strahlt; denn Alltägliches ist fern. Wenn Alltägliches Raum greift, hat das Ambiente ausgestrahlt. Wäre es denkbar, beides strahlen zu lassen – das Alltägliche und das Ambiente? Denkbar. Dann aber gäbe es nicht den Unterschied zwischen beiden. Das Alltägliche wäre nicht das Alltägliche, das Ambiente nicht das Ambiente. Wer will das schon?

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Die Prämie Die Schutzvereinigung macht mir Mut. Positiv denken soll ich, mehr Enthusiasmus für Angebote der Gegenwart aufbringen. Sich einschränken zeige Rückständigkeit. Die sei zu überwinden. Es sei Zeit zu handeln. Es sei wie beim Windhundrennen, wird versichert: Nur der Schnellste erhalte die Prämie. Eine Woge der Aufmerksamkeit werde mich antreiben. Wenn Stürme um die Hütte wehen, wenn Krisen und die Aussicht auf noch mehr Krisen den Himmel verdüstern, dann sei es Zeit, sich die Prämie zu sichern. Ich muss nicht warten, bis die Tage heller werden. Ich muss nicht protestieren, damit etwas geschieht. Ich erhalte einen Bonus, ohne Außerordentliches tun und ohne schon Erreichtes vorweisen zu müssen. Es ist Abwrack-Zeit, Wohltaten-Zeit, Schnäppchen-Zeit. Wie es euch gefällt. Keine Rede vom Malus. Der ist schlecht, weil er ein Malus ist. Der Bonus ist gut, weil er ein Bonus ist. Er steht mir zu – nicht als Lohn für das, was ich leiste, sondern als Prämie für das, was ich nicht haben will. Gelobt sei der Schredder. Ich werde umdenken.

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Ich spare Meine Mutter war sparsam. Am Wochenende saß sie auf der Küchenbank. Vor ihr auf dem Tisch lag ein Stapel alter Zeitungen. Mit dem Brotmesser zerteilte sie Seite für Seite in kleine handliche Stücke und legte sie zu einem Block aufeinander. Mit der Schere bohrte sie ein Loch am oberen Ende durch den Stapel und zog eine Schnur hindurch. Mit dem Bündel in der Hand ging sie nach draußen zu jenem Ort, den wir „Örtchen“ nannten. Die „Sitzungen“ dauerten mal kürzer, mal länger. Das hing davon ab, welche Nachricht man vom Stapel holte. Wenn ich Schiffchen aus Zeitungspapier bauen wollte, war es schwierig, eine Zeitung vor dem Stapel zu retten. „Spare in der Zeit, spare für das Klo.“ Mutters Sparanleitungen waren vielfältig. Auch ich will sparsam sein. Die Nachbarin wollte ich im Krankenhaus besuchen. Musste ich ihr etwas mitbringen? Blumen konnten nicht teuer sein. Sechs Euro sollte der kleine Strauß kosten. Ich entschied mich für die entzückenden kleinen Blüten hinten in der Ecke. Unscheinbar waren sie, aber für den Zweck ausreichend. Packen Sie mir die als Geschenk ein, bat ich die Verkäuferin. Die zwei Euro, die ich widerstrebend auf die Theke legte, reichten nicht aus. Acht Euro, zuzüglich ein Euro für das Geschenkpapier. Das soll mir nicht mehr passieren. Auch nicht das mit der Parkuhr. Muss ich mit meinen Parkgebühren die Straßenlaternen finanzieren? Ich parke jetzt außerhalb. Der Supermarkt liegt nur zehn Gehminuten vom Zentrum entfernt. Täglich ein kleiner Fußmarsch senkt den Cholesterinspiegel. Als ich mich kurz nach neunzehn Uhr mit Einkaufstasche und Tragetüten bepackt, zu meinem Auto gequält habe, versperrt eine Schranke die Ausfahrt. Morgen früh um neun Uhr kann ich das Parkhaus verlassen.

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Die R체ckfahrt mit dem Taxi hatte ich nicht eingeplant. Die Kosten werde ich beim Heizen einsparen. Eskimos haben in ihrem Iglu auch keine Heizung. Sparen ist nicht so einfach, wie ich gedacht habe. Das Erfolgsrezept meiner Mutter hat sich bei mir noch nicht bew채hrt. Sparen sei die richtige Mitte zwischen Geiz und Verschwendung, wird gesagt. Auf Sparen folge Haben. Ich werde einen neuen Anlauf machen.

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Drücken Sie die Zwei Ich habe die richtige Nummer gewählt. Aber nicht die freundliche Dame aus dem Vorzimmer antwortet mir, sondern eine freundliche Stimme. „Sie haben richtig gewählt“, bestätigt sie mir. Dankbar warte ich darauf, verbunden zu werden. „Wenn Sie uns besuchen wollen, drücken Sie die Eins“, werde ich aufgefordert. „Wenn Sie eine Frage haben, drücken Sie die Zwei. Wenn Sie uns etwas mitteilen wollen, drücken Sie die Drei.“ Als ich darum gebeten werde, die Taste mit der Acht zu drücken, habe ich vergessen, was es mit der Zwei auf sich hatte. Meine Frage danach wird nicht beantwortet, auch nicht meine Rückfrage nach der Drei. Ich hätte mir notieren müssen, welche Taste wofür zuständig war. Die Stimme lässt sich nicht anmerken, was sie von meiner Unaufmerksamkeit hält. „Sie haben keine Taste gedrückt“, stellt sie fest. Das stimmt. Ich wollte nicht Zahlen lernen oder Tasten drücken, sondern telefonieren. „Wenn Sie uns besuchen wollen, drücken Sie die Eins“, wiederholt die freundliche Stimme. Ich will aber niemanden besuchen. Deutlich bringe ich das zum Ausdruck. Die Stimme scheint das nicht zu registrieren und fordert mich auf, die Fünf zu drücken. Was es mit der Fünf auf sich hat, habe ich vergessen. „Da Sie keine Taste gedrückt haben, werden Sie mit unserer Zentrale verbunden“, wird mir versichert. Endlich habe ich es geschafft. Mein Durchhaltevermögen wird belohnt. Nach fünfmaligem Rufton meldet sich eine helle, klare Stimme. „Sie haben richtig gewählt. Die Zentrale nimmt Ihr Anliegen entgegen. Wenn Sie wissen wollen, welcher Mitarbeiter für Sie zuständig ist, drücken Sie die Eins. Wenn Sie ein Problem mit unseren Produkten haben, drücken Sie die Zwei.“ Obwohl die Stimme es offenbar nicht zur Kenntnis nimmt, versuche ich mein Minenspiel einzusetzen. Ich will mein Anliegen verdeutlichen. Es gelingt mir nicht.

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„Sie haben keine Taste gedrückt.“ Der Unterton in der Stimme verrät keine Spur von Resignation. „Da Sie sich für keines unserer Angebote entschieden haben, drücken Sie die Eins. Wenn Sie uns besuchen wollen, drücken Sie die Zwei.“ Ich bin ratlos. Vielleicht haben die Mitarbeiter gerade Mittagspause oder Betriebsferien. Früher war immer jemand am Apparat, wenn ich angerufen habe. Gibt es diese Apparate nicht mehr?

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rund um die Uhr Der Wecker klingelt. 3.45 Uhr. Um Vier will ich einkaufen gehen. Von Vier bis Sechs gibt es den Spät-in-der-Nacht, Früh-am-MorgenSonderrabatt. Nur heute Nacht. Hoffentlich wecke ich niemanden. Die Straßen sind frei. Endlich ohne Stau einkaufen fahren. Rund um die Uhr. Die hätten schon eher auf die Idee kommen sollen. Alle kaufen um 4 Uhr ein. Verstehe ich nicht. Hätte die alte Dame nicht morgen Vormittag Zeit gehabt? Sie könne nicht schlafen, sagt sie. Einkaufen sei eine willkommene Abwechslung. Das mache sie jetzt immer. Hat man deswegen die Öffnungszeiten abgeschafft? Solche Leute tricksen den Gesetzgeber aus. Müsste verboten werden. Zeitlos shoppen ist bequem. Service? Brauche ich nicht. Ich weiß, wo die Nudeln im Regal liegen. Die Schuhe? Größe sieben brauche ich, manchmal Größe acht. Hängt vom Fabrikat ab. Wo ist die Verkäuferin? Sie schleppt kartonweise Schuhe heran. Muss sie. Dafür wird sie bezahlt. Nachtzuschlag macht die Schuhe teurer, sagt sie. Wer hat sich das ausgedacht? Ist das der Dank dafür, dass ich mitten in der Nacht aufstehe?

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Am Anfang war die Null Die Geschichte ist wahr, mag man sie auch für eine Null-Nummer halten. Nullen geraten ins Hintertreffen, obwohl niemand an ihnen vorbeikommt. Null Bock haben viele auf die Null, obwohl sie wissen, dass jeder beim Nullpunkt begonnen hat. Man flieht vor der Null, als sei sie die schändlichste Erfindung der Zeitrechnung. Kann man untertauchen, bis die Null vorbei ist? Sie wird einen einholen. Die nächste Null kommt bestimmt. Es gibt viele Null-Runden. Eine Null wird von anderen Nullen geehrt, von gegenwärtigen, künftigen und vergangenen Nullen – auch von Nullen, welche die eigene Null für null und nichtig erklärt haben. Es klingt wenig optimistisch, dass dreimal null auch null ist. Das ist kein Grund zur Entmutigung. Jede Zahl wird nur zweistellig, wenn sie sich hinten zumindest mit einer Null schmückt. Niemand will ein Leben lang einstellig bleiben. Vier, Sieben oder Neun sind schöne Zahlen, aber wer möchte dabei stehen bleiben? Man wäre noch in der Grundschule, erhielte Kinderschokolade zum Geburtstag. Wer wünscht sich das? Dank Null-Wachstum erreichen wir die Vierzig, Siebzig oder Hundert – durch schöne, kleine Nullen. Zwischen Null und Hundert liegt oft eine Menge Mühsal auf dem Weg. Mit null Problemen bewältigt sie niemand. Mancher ist froh, wenn er in seiner Bilanz eine schwarze Null erreicht oder wenn seine Planspiele „null zu null“ ausgehen. Wenn er dennoch „null zu eins“ verliert, freut er sich, dass es nicht schlimmer gekommen ist. Das Leben ist ein Nullsummenspiel. Am Anfang war die Null. Nullen kommen und gehen. Wieder bei Null anfangen, kommt öfter vor, als man denkt. Daher bleibt zu empfehlen: einen Nullouvert, mit offenen Karten spielen. Nullen sind nicht wertlos.

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Der Stimulator „Ein intensives Gefühl bemächtigt sich Ihrer. Ein Prickeln durchläuft ihren Körper vom Scheitel bis zu den Fußsohlen.“ Die Anleitung stellte es in Aussicht. Ich hoffte vom Genuss solcher Glücksgefühle nicht ausgeschlossen zu werden. Mario war überzeugt, der Stimulator werde bei mir wirken. Außerdem war es ein therapeutisches Instrument. Jede Therapie ist von Nutzen, zumindest für den Therapeuten. Die australischen Aborigines haben den Stimulator erfunden, stand im Prospekt. Er wirke wie eine positive Energiequelle und bringe völlige Entspannung. Warum hatte er jetzt erst den Weg nach Europa gefunden? Die Behandlung könne mir ein Lächeln ins Gesicht zaubern, war dem Prospekt zu entnehmen. Das Antistress-Gerät werde am Kopf eingesetzt. Zwölf Fangarme, Tentakeln genannt, würden die Kopfscheitelflächen erreichen und optimalen Wohlfühleffekt bewirken. Die Kopfmassage werde das Denkvermögen verbessern. Bisher war ich davon ausgegangen, dass es bei mir noch intakt war. Ehe sich mein Körper auf die versprochenen Endorphine freuen konnte, galt es Wichtiges zu klären. „Hast du die Tentakelspitzen auf die material-bedingten scharfen Polierreste kontrolliert, die trotz strenger Qualitätskontrolle vorhanden sein können?“ Ich stellte die im Prospekt vorgesehene Frage. Mario suchte nach Schere, Nagelfeile und Bürste, um Polierreste zu entfernen. Der Stimulator sollte die Blutzirkulation der Kopfhaut stimulieren. Polierreste hätten das intensivieren können, jedoch war das im Prospekt nicht vorgesehen. Langes Haar musste lose herabhängen, damit ein Kontakt mit der Kopfhaut möglich war. Mario selbst hatte mit meinem Haupthaar keine Probleme. Dennoch fiel mir auf, dass er den Griff des Stimulators musterte. Stimmte etwas nicht? Wenn der Griff angelaufen aussah, sollte man die Spuren mit einem Poliertuch beseitigen. Mario folgte der Empfehlung: Wenn Sie den Stimulator mit Wasser reinigen, lassen Sie ihn danach 24 Stunden mit den Tentakeln nach unten trocknen.

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Der Stimulator wirkte beruhigend, noch ehe ich die in Aussicht gestellte Wirkung seiner langsamen Drehbewegungen auf meinem Kopf verspürte. Ein intensives Gefühl stellte sich ein. Ich war mir sicher, der Stimulator würde Depressionen überwinden, auch wenn ich noch keine verspürt hatte. Den Aborigines sei Dank. Ihr Produkt überzeugt – schon bevor es benutzt wird.

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De bello Ich liege auf der Terrasse. Das Haus soll ich bewachen. Niemand ist zu sehen. Ignoriert man mich? Warum muss ich wachen, wenn sich niemand blicken lässt? Ich belle. Irgendeiner wird mich hören. Keine Antwort. Ich belle lauter. Nichts rührt sich. Wachen ist langweilig. Das werde ich laut hinausbellen. Alle sollen es hören. Ich fühle mich ungerecht behandelt. Dagegen werde ich bellen. Gegen das WacheSchieben, gegen die Ungerechtigkeit werde ich bellen. Dagegen, dass mich keiner hört. Dagegen, dass man mich ignoriert. Soll ich aus Protest nicht mehr bellen? Vielleicht kommt dann jemand und fragt, warum ich nicht belle. Aber wer soll mich hören, wenn ich nicht belle? Woher soll man wissen, dass ich hier liege? Nicht bellen ist nicht gut. Nicht protestieren schadet mir. Wenn ich gehört werden will, muss ich bellen. Was ist, wenn ich leise belle? Wer mich hören will, wird sich anstrengen müssen. Man wird sich wundern und fragen, ob ich ein Problem habe. Je leiser der Schnee fällt, desto länger bleibt er liegen, hat einer gebellt. Ob sie daher „Leise rieselt der Schnee“ singen? Ich werde ein Buch schreiben. „De bello“. Über das Bellen. Besser „De bello pianissimo“. Das leise Bellen. Ob es gelesen wird?

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Nicht grübeln immer grübeln fragen wissen begründen wollen es wird gegrübelt über die Welt über das Leben immer ich grüble nicht ich denke ich denke, wenn ich denken muss nur dann ich grüble nicht mir wird übel vom Grübeln daher sage ich Ruhe da oben

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in der Ferne


Die Reise der Pinguine Grandiose Eisberge hatte ich auf einer Antarktis-Kreuzfahrt gesehen. Auch Pinguine waren mir vertraut. Jetzt bewunderte ich Eisberge und Pinguine im Film. Kein Film über die Antarktis, sondern ein Film darüber, wie sie lebt und wie die Kaiserpinguine mit diesem Leben zurechtkommen. Sie brüten im Winter an den Küsten der Antarktis. Auch Lena wollte die Pinguine sehen. Vieles wusste sie über deren Leben. Jetzt wollte sie mehr erfahren über ihr Verhalten, über die Geburt und Versorgung ihrer Jungen. Ihr Interesse wurde belohnt. Zum Greifen nah erscheint auf der Leinwand ein lebensfeindlich anmutender Kontinent. Am Horizont taucht ein langer Zug undeutlich erkennbarer Gestalten auf, wie in einer Prozession – die Reise der Pinguine in ihr Winterquartier. Kilometer lang. Manchmal gleiten sie auf dem Bauch rutschend über das Eis, ihre Flügel wie Brustflossen benutzend. Sie stützen sich auf ihren Schnabel oder benutzen ihn wie einen Krückstock, um sich wieder aufzurichten. Ihre Schritte knirschen auf dem tief gefrorenen Untergrund. Die Kamera schwenkt an der endlos erscheinenden Kolonne vorbei zu einem Versammlungsplatz der Pinguine. Viele tausend Vögel sind an ihrem Brutplatz eingetroffen. „Wie finden sie den Weg dahin?“ raunte Lena mir zu. „Man nimmt an, dass sie sich an Sonnenstand und Sternenhimmel orientieren“, raunte ich zurück. Berührend schön und behutsam fängt die Kamera die Paarbildung und das Balzritual ein. Die Partner stehen sich mit gebeugten Köpfen gegenüber. Sie verständigen sich durch verschiedene Bewegungen, mit für uns merkwürdig klingenden Stöhn- und Schnarrtönen, mit Quietsch- und Trompetenlauten. Lena war fasziniert. Pinguine brauchen nicht wie sie Englisch und Latein zu lernen, um sich verständigen zu können. Hin und wieder schubste sie mich an. „Süß!“

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Schneetreiben kündigt den nahen Winter an. Ein Weibchen legt das erste Ei. Spannend zu sehen, wie das Männchen das 500 Gramm schwere Ei mit Hilfe des Schnabels auf seine Füße hievt. In einer Bauchfalte wird es von ihm ausgebrütet. Kaiserpinguine brauchen kein Nest. Es gibt kein Nistmaterial. Aber auch das wird gezeigt: Ein noch unerfahrenes Paar verliert das Ei. Es gefriert in Kürze und zerspringt. Natur ist nicht heile Welt. Lena war ganz still. Der Winter tobt mit tosenden Stürmen über die Leinwand. Dicht gedrängt stehen die Vögel. Sie rotieren, jeder sein Ei auf den Füßen, vom Rand ins Zentrum des Pulks, dann wieder hinaus an den Rand. Das Heulen des Sturms verschluckt ihre Schreie. Die Weibchen haben inzwischen den Brutplatz verlassen. Sie müssen im Meer ihre Fettreserven auffüllen und dazu mehrere hundert Kilometer zurücklegen. Wenn zwei Monate später ihr Küken schlüpft, werden sie zurückerwartet mit der ersten Mahlzeit für das Neugeborene. Lena wirkte erleichtert. Die Vögel schießen im Meer wie Torpedos dahin, tauchen wieder aus einer Lagune auf. Sie fressen Krill, jagen Sardinen und Tintenfische. Bis zu zehn Kilogramm fressen sie bei einem Beutezug. Die Verdauung können sie unterbrechen, um zur Fütterung ihrer Jungen unverdaute Nahrung im Magen zurück zu behalten. Plötzlich füllt der rote Rachen einer Robbe die Leinwand aus. Ein Pinguin-Weibchen wird nicht mehr zu ihrem Küken zurückkehren. Lena später: „Es war schrecklich, sehen zu müssen, wie der Pinguin von einer Robbe angegriffen wurde.“ Sofort versuchte sie, ihre Erfahrung zu verarbeiten: „So ist es leider in der Tierwelt.“

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Die Kamera schwenkt zurück zum Brutplatz. In einem schwarzen Ei zeigt sich eine weiße Öffnung. Man hört ein leises Tschilpen. Ein Junges schlüpft. Mehr als zwei Monate lang stehen die männ­ lichen Tiere ohne Nahrung auf dem Eis. Mit einem letzten Sekret aus ihrem Schnabel sichern sie kurzfristig das Überleben des Kükens. Wenn die Weibchen nicht bald eintreffen, werden auch sie sich zum Meer aufmachen. Die junge Brut würde sterben. Auch meine Begleiterin spürte die Dramatik. „Manchmal kann man die Pinguine beneiden, da sie drei Monate lang ohne Nahrung auskommen.“ Im Kinoraum raschelten Bonbon-Tüten. Lange Strohhalme steckten in Cola-Dosen. Dann tauchen die Weibchen auf. Pinguine haben ein gutes Gedächtnis. Sie finden aus Kilometer weiten Entfernungen den Weg zurück nach Hause. Nicht nur Lena staunte. Wenn sich ein Pinguinpärchen nach langer Abwesenheit wieder trifft, begrüßen sich beide mit einem Ritual aus Bewegungen und Geräuschen. Jeder erkennt seinen Partner in einer Kolonie von mehreren tausend Tieren wieder „Mein Papa würde mich auch wieder finden“, flüsterte jemand neben mir. Lena ist in guten Händen, geschützt vor Sturmvögeln. Die Reise ins Leben hat sie noch vor sich. Hoffentlich wird diese weniger beschwerlich werden als die Reise der Pinguine.

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Ein Junge Die Kronprinzessin litt an Anpassungsstörungen. Sie hatte ein Mädchen zur Welt gebracht. Kein männlicher Thronfolger. Die Monarchie drohte zu verweiblichen. Die Tochter hätte Kaiserin werden können. Eine Frau auf dem Kaiserthron – das Land in Gefahr. Japans Urmutter war eine Frau. Eine Sonnengöttin. Legende, sagen die Hofbeamten. Tradition ist männlich. Gebärfreudige Mätressen und Konkubinen garantierten das Liebesleben der Kaiser und sorgten für männliche Thronfolger. Unwichtig, dass acht Kaiserinnen auf dem Chrysanthemen-Thron saßen. Notlösungen. Platzhalter für männliche Nachkommen. Unwichtig, dass männliche Erbfolge erst nach dem Zweiten Weltkrieg festgeschrieben wurde. Tradition ist männlich. Auch hierzulande. Chancengleichheit von Mann und Frau? Ein Prozent Frauenanteil in den Vorständen großer Kapitalgesellschaften. Spektakuläre acht Prozent in Aufsichtsräten. Werden es einmal mehr sein? Wird Tradition weiblich? „Das werden wir nicht zulassen.“ „Die Nation muss geschützt werden.“ „Die authentische Tradition und Kultur ist zu wahren.“ So der Aufschrei der Männer Japans. Dass die Prinzessin an Depressionen litt, ist ihre eigene Schuld. Sie soll sich an Traditionen halten. Dann war ein Junge da. Geboren von einer anderen Prinzessin. Die Kronprinzessin durfte wieder lächeln, freundlich nicken, die Wimpern senken. Tradition ist männlich. Die Frauen werden es verstehen.

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Verhüllt Ich hatte von dem ägyptischen Topmodel gehört, das sich nach mehrjähriger Karriere im Modegeschäft für den Schleier entschloss und ihre Model-Karriere aufgab. Ihren exotisch-afrikanisch aussehenden Körper mit den perfekten Maßen vor aller Welt zu enthüllen, entsprach nicht mehr ihrer Lebensphilosophie. Männliches Offenbarungsbedürfnis und weibliche Hängepartien am Swimmingpool hätten das ebenfalls beherzigen sollen. Verhüllungstextilien der marokkanischen Tuchindustrie hätten reißenden Absatz finden können. Enthüllung kann befreien von Körperfeindlichkeit und neurotischer Übersteigerung des Schamgefühls. Wollen das auch die nicht-islamischen Nackedeis für sich beanspruchen, die sich von den verschleierten Hotel-Bediensteten den Orangensaft am Pool servieren ließen? In Agadir, der modernen Stadt an der Atlantikküste, fielen sie mir auf. Drei Viertel der marokkanischen Frauen und Mädchen, denen ich in der Stadt und am Strand begegnete, trugen ein Kopftuch, viele den Tschador, der Kopf und Körper verhüllte. Unbekümmert schlenderten sie über die Strandpromenade, liefen am Wasser entlang, saßen in den Strandcafes. Unter Kopftuch und Tschador steckten vermutlich selbstbewusste Mädchen und Frauen. Was hielten sie von den Sonnenbrand-Touristen und den Minimal-Textilern? Dürfen sie nicht unseren Respekt erwarten, wenn sie sich in ihrer Verhüllung geborgen fühlen? Was ist mit denen, die sich um ihrer selbst willen enthüllen und zur Schau stellen? Fragen, die auf Antworten warten.

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Nur Sand „Sie entdecken die schönen Strände und Küstenabschnitte am Nord­ rand der Westsahara. Unvergessliche Eindrücke hinterlässt die Wüsten­landschaft mit den herrlichen Sanddünen.“ Der Reisekatalog schwärmte. Vor zehn Jahren war auch ich von ihnen beeindruckt. Ich beschloss, wieder hin zu fahren. In aller Ruhe könne ich das grandiose Bild der Dünen in mich aufnehmen, versprach mir der Katalog. Das wollte ich genießen. Dass in den vergangenen Jahren in den herrlichen Sanddünen herrliche Hotels gebaut wurden, stand nicht im Katalog. „Die Anlage bietet einen ansprechend gestalteten Empfangsbereich mit Bar, InternetEcke und Lift. Neben dem Hotel befindet sich die gemütliche TapasBar.“ Die neue Dünenbeschreibung pries den Swimmingpool im Garten und die Snackbar. Wer will durch Sanddünen laufen? Was bieten Sandwüsten? Sand. Wüste. Nicht ansprechend gestaltet. Den Garten Allahs soll man sie genannt haben. Schön, sagen die neuen DünenHerren. Aber Allah machte keinen Urlaub. Der Reiseveranstalter bot eine Wanderung über Sanddünen und wüstenhaftes Plateau an. Nomaden und Nomadenzelte, Ziegen- und Kamelherden seien zu sehen, wurde versprochen. Ich verzichtete. Ich hatte die auf dem Hotel-Gelände eintrudelnden Fahrzeuge entdeckt. Sie trafen Startvorbereitungen für eine Tour durch die Dünen. Warum durch Dünen? Die meisten dieser exotischen Karossen kannte ich weder vom Sehen noch vom Hörensagen her. Mit geziemender Ehrfurcht näherte ich mich ihnen, eingedenk der Tatsache, dass sie für meine alltäglichen Fahrten im heimatlichen Stadtverkehr ungeeignet erschienen. Die Namen der Gentle-Men und Gentle-Women, die den Gefährten entstiegen, klangen exotisch wie die Fahrzeugtypen. Nabil und Selma, Abdelmajid und Karima, Alain Ghozzi und Adolfo. Was wollten sie in den Dünen? Hatten sie keine Angst vor Sand im Getriebe ihrer Wüstenschiffe?

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Die Sorge erwies sich als unbegründet. Die Wüstentour sollte zu einem Golfplatz führen. Auf Dünen-Asphalt zum Golfplatz-Grün. „Das Angebot an herrlichen, abwechslungsreichen Landschaften lässt das Golfspiel, eine nationale Leidenschaft, zu Ehren kommen.“ Wiederum schwärmte der Katalog. Wettkämpfe von hohem Rang würden Golfspieler aus der ganzen Welt zusammenführen. Dünen sind ein ideales Gelände für Golfplätze. Statt Sand grüner Rasen, Der muss intensiv bewässert werden. Sprinkleranlagen werden installiert. Das Land leidet unter Wassermangel, für Golfplätze reicht das kostbare Nass. Allahs Dünen bieten nur Sand. Ohne modernes Design. Golfplätze füllen sie mit Leben. Allah soll sich ein ruhiges Plätzchen suchen, wenn er spazieren gehen will. Oder Golf spielen. Oder die Tapas-Bar aufsuchen. Sand und Dünen waren gestern.

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Wunderbare Landschaft Sie sei die schönste Landschaft der Welt, wird behauptet. Guilins Berge und Flüsse überträfen alle Schönheiten dieser Welt. Ich wollte mich von ihrer wundersamen Schönheit, von den unwirklich erscheinenden Kalksteinkegeln und nebelverhangenen Gipfeln, von der bizarren Formenvielfalt überzeugen. Die chinesische Landschaft am Li-Fluss zwischen Guilin und Yangshuo entstand, als vor 200 Millionen Jahren durch eine tektonische Erhebung der Meeresboden zurück wich und die übrig bleibenden Berge allmählich zerklüfteten. Jetzt erheben sich die Berge unmittelbar aus der Ebene und streben steil nach oben, unterschiedlich in ihrer äußeren Gestalt. Maler und Dichter haben sich ihrer angenommen. Ich saß auf einem der vielen Schiffe, die den Li-Fluss befahren. Man kann bedauern, dass mehr als eine Million Touristen hierher kommen, dass tausende Touristen am gleichen Tag das Gleiche vorhaben, dass 250 Schiffe wie in einer Schiffsprozession die gleiche Strecke fahren, dass die besten Plätze an der Reling belegt sind, wenn man fotografieren will. Ich nahm es hin. Vier Stunden lang hatte ich Zeit, Schiffe und Passagiere zu übersehen und die Szenerie zu genießen. Wind und Wasser haben im Verlauf vieler Millionen Jahre eine unvergleichliche Landschaft geschaffen. Die chinesische Sprache drückt Begriffe in Bildern aus. Berge, die am Schiff vorüber ziehen, tragen Namen, die Sichtweisen oder Gefühle wiedergeben. Berg der farbigen Schichten, Elefantenrüssel-Berg, Mondsichel-Berg, Wellen besänftigender Berg, Pferdegemälde-Berg, Fels des Leuchtenden Mondes, Gipfel der einzigartigen Schönheit, Fünf-Finger-Berg. Die Seitenansicht des Fünf-Finger-Berges, der auf der Rückseite des neuen chinesischen 20-Yuan-Geldscheins abgebildet ist, soll einem Mädchen gleichen, das sich gerade kämmt. Sprache drückt Erlebtes aus. Die kegelförmigen Berge stehen mitten in Reisfeldern, in Bambushainen und Plantagen. Pampelmusen und Hirse, Süßkartoffel und Erdnüsse werden geerntet.

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„Hier waren vor fünfzehn Jahren noch Reisfelder.“ Die chinesische Reiseführerin pries in Shanghai die Vorzüge der überdimensionalen Hochhäuser. Sie kennt wohl nicht die Landschaft am Li-Fluss. Ein Mitreisender fotografierte einen Bauern und seinen Büffel aus allen denkbaren Kamera-Blickwinkeln. Bauer und Büffel ließen sich für ein paar Münzen auf die Szenerie ein. Sollten nicht doch Hochhäuser hier errichtet werden?

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Richtung Süden – Antarktis Wo geht’s zur Antarktis? Richtung Südpol, gegenüber dem Nordpol. Eisberge, kleine und haushohe. Farbenspiele. Blau-, Rot- und Grüntöne wetteifern im Sonnenlicht. Antarktis. Gegen-Arktis. Nur den kleinen Zipfel der Antarktischen Halbinsel können Kreuzfahrtschiffe im antarktischen Sommer anfahren. Im antarktischen Winter scheint die Sonne nicht, im antarktischen Sommer 24 Stunden am Tag. Ob das alle Passagiere wissen? Wer den Tag über am Pool liegt – Schiff mit aufklappbarem Sonnendeck – hält das nicht für wichtig. Fünf Grad plus zeigt das Thermometer an. Makellos steht die Sonne am stahlblauen Himmel. Es ist windstill. Dem Kreuzfahrtriesen, der über Ushuaia auf Feuerland und an Kap Horn vorbei hier her gefunden hat, gefällt das Wetter. Die weiße Außenhaut des Schiffs glänzt im türkisfarbenen Wasser, eingefangen vom beeindruckenden Panorama. Schroffe, mit Eis und Schnee bedeckte Gebirgszüge. Eine Traumwelt. In der oft nur wenige hundert Meter breiten bzw. engen Fahrrinne glitzern Eisschollen und Eisberge. Seerobben räkeln sich in der Sonne. Schon während der Fahrt durch die chilenischen Fjorde standen die Reisenden fasziniert an der Reling – einige, weil ihr Magen gegen die Schaukelbewegungen des Schiffes revoltierte. Antarktis, ein Kontinent unter Eis. Fast kreisrunder Kontinent, eineinhalb Mal größer als Europa, bedeckt mit einer bis zu 4500 Meter hohen Eisdecke, die Dreiviertel der weltweiten Süßwasser-Reserven enthält. Gigantische Tafeleisberge brechen vom Schelfeis ab. Tausende Kilometer können sie auf dem Meer treibend zurücklegen. Ließen sie sich abschleppen Richtung Sahara als Süßwasserspeicher? Dass wir eintausend Kilometer von der Südspitze Südamerikas entfernt sind, registrieren nicht alle. Football-Übertragungen in der Lounge und Glücksspielautomaten beanspruchen Aufmerksamkeit. Wer kann sich für den Geographischen Südpol oder für den Magnetischen Südpol interessieren, wenn gleichzeitig zur Kunstauktion geladen wird? 8000-Dollar-Bilder wandern ins Reisegepäck. Von der Gegend, durch die das Schiff während dessen fährt, muss man nichts mitbekommen. 54


Das aber interessiert auch amerikanische Kreuzfahrer: Seit 1956 unterhalten die Amerikaner am Geographischen Südpol eine Ganzjahresstation. Bei jährlichen Durchschnittstemperaturen von minus 55 Grad Celsius muss man sich warm anziehen. Die Russen in der Wostok-Station heizen noch stärker, da sie schon minus 89 Grad Celsius gemessen haben. Den Ozeankreuzer können wir nicht verlassen. Vielleicht ist es gut, nicht an Land zu gehen. Ein Fußabdruck im Moos soll noch nach einhundert Jahren zu sehen sein. In der Packeiszone hat sich eines der üppigsten Ökosysteme der Welt entwickelt. Flora und Fauna gedeihen nur in Küstennähe; die Tiere ernähren sich aus dem Meer. Auf dem Panoramadeck macht es „klick“ und „klack“, wenn ein Schwarm Buckelwale auftaucht oder wenn sich die Ureinwohner der Antarktis, die Pinguine, ins Wasser stürzen. Durch die Scheiben des komfortablen Kreuzfahrtschiffes schauen wir hinaus in eine andere Welt. Möge sie Traumwelt bleiben. Möge sie auch in Zukunft den Pinguinen, Albatrossen, Seelöwen, Seehunden, Robben und Walen gehören, die uns nur als Besucher dulden.

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Atlantik genießen Fünf Tage Atlantik. Zweitgrößter Ozean. Hundert Quadratkilometer Wasser, einschließlich der Nebenmeere. Nur Schiff. Und das bei diesem Wellengang? Nichts war mit „Liegestühle stehen Ihnen kostenlos zur Verfügung“. Die standen wie Fischstäbchen in Reih und Glied auf dem Sonnendeck. Regenschutz und Sturmhauben. Kein Sonnenbad. Aber Kickerspiele, Kostüme basteln, Spanisch-Kenntnisse auffrischen, Kinderlieder lernen. Wenn sich ein Schiff mit 22 Knoten durch den Atlantik bewegt, hat man Zeit. Ich entschied mich für Regenjacke und einen Platz in einer windgeschützten Ecke. Lesen, schreiben, faulenzen. Das Schiff bot Raum für erholsames Alleinsein. Atlantik genießen, Wellenberge erleben, Wortfetzen auffangen. „Ich habe Shorts und Sommerblusen eingepackt.“ Die Damen entschwanden. In die Sauna. Zu Freizeitaktivitäten, die verhinderten, in Langeweile abzudriften. Der Katalog beschrieb das spektakuläre Ambiente und die heißen Nächte an der Bar. Er pries die Unterhaltungsmaschinerie und die Rundumbetreuung, die alle Bedürfnisse zu befriedigen versprach. Von möglicher stürmischer Überfahrt erwähnte er nichts. Rasende Wellenberge, wie sie von Erdbeben oder Vulkanen unter der Meeresoberfläche verursacht werden, stürmten wahrscheinlich nicht auf das Schiff zu. Aber je kleiner man sich fühlt gegenüber nicht abschätz­ baren Gewalten, desto größer und bedrohlicher erscheinen sie einem. Hatte ich nicht gelesen, für geübte Surfer bedürfe es keines besonderen Mutes, sich dem Rausch der Wellen zu überlassen? Haushohe Wasserlawinen sind ihnen kein Graus. Sie reiten todesmutig auf ihnen zu Tal – auf der Suche nach der wahren Freiheit, die kein noch so hoher Wellenberg zu beschneiden vermag. Ich vertraute eher der biblischen Weisheit, dass Glaube Berge versetzen kann, auch Wellenberge. Warum mussten wir drohenden Wellenbergen entgegen steuern? Gab es nicht Ausweichrouten? Wenn die Israeliten trockenen Fußes das Rote Meer passieren konnten, wie die Bibel erzählt, warum sollten dann nicht auch wir dem Sturm und den 56


Wellen entgehen können? Die Hoffnung erwies sich als Trugschluss. Der Himmel verfinsterte sich. Die Berge wurden höher. Die Wellen berauschten sich an sich selbst. Kein Wassererlebnispfad. Was war mit dem Glauben, der Berge versetzen soll? Ich hatte mich impfen lassen gegen Tetanus und Hepatitis, nicht gegen Stürme und Windstärke Acht. Dann ließ der Wind nach. Die Berge wurden kleiner. Der Himmel hellte sich auf. Das Meer hatte ein Einsehen. Es blieb erstaunlich gelassen an Bord. Ängste verflogen. Rettungsringe und Rettungsboote blieben an ihrem Platz. Krankheits- und Leidensgeschichten verebbten. Mägen gewöhnten sich an gelegentliche Schräglagen des Schiffs. Wer es sich zutraute, tat seinem Magen etwas Gutes. Man fand Zeit, Neues zu entdecken. Das Hohelied auf den Umweltschutz beispielsweise. Energie- und Umweltauflagen, Abfallund Abwasserrecycling würden strikt eingehalten, stand auf der Tafel. Man bemühe sich, die Meeresumwelt zu schützen und Abfälle, die in den Häfen zu entsorgen seien, auf ein Minimum zu beschränken. Warum immer mehr Kreuzfahrtschiffe gebaut werden und dazu immer größere, die immer mehr Müll produzieren, verriet die Tafel nicht. Fünfzig Tonnen flüssige und feste Abfälle fallen pro Woche und Schiff an, wird gesagt. Werden sie entsorgt in den dafür vorgesehenen Entsorgungsstationen? Wie viele landen im Meer? Bei einer maximalen Meerestiefe von neuntausend Metern relativieren sich Gewissensbisse. Ich zog mich in die Kabine zurück. „Bitte nicht stören“. Bis zum Abendessen hing der Hinweis für den freundlichen Kabinenservice außen an meiner Kabinentür.

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ich mag nicht kein Land in Sicht, der Himmel grau nur Wasser draußen, windig, kalt was mache ich? wen treffe ich? ich sitze in der Bar weil ich gestern schon hier war Short-behoste Senioren, Badeschlappen Texas-Hüte ziehn vorbei draußen ist es mir zu kalt ich habe keine Lust zum Lesen walken bin ich schon gewesen ich bleibe lieber an der Bar leibervolle Whirlpool-Wannen Plantschvergnügen will ich nicht auch nicht diesen Wellness-Rummel Jugendfrische muss nicht halten ich akzeptiere meine Falten Shops verheißen Sonderpreise dies und jenes könnt ich brauchen lieber geh ich eine rauchen mit Bingo mir die Zeit vertreiben draußen ist es mir zu kalt ich suche mir ein neues Ziel

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ich mag nicht schwimmen und nicht trimmen mag nicht Cocktail, nicht Aerobic will nicht flirten mit der Nanni die Nadine bleibt heut bei Mami ich liege faul auf meiner Liege denn draußen ist es mir zu kalt warum bin ich hier an Bord? ich wollte nur mal wieder fort zu Hause wäre es jetzt schön ich säße nicht hier an der Bar ich werde vorerst nicht verreisen es sei denn, draußen ist es kalt

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Ein Gaudi Den Landgang hatte ich vor Antritt der Reise gebucht. Ich wollte Antoni Gaudis berühmte Architektur bewundern. Leider entfiel die Gaudi-Tour. Gaudi? Wer oder was war Gaudi? Dreihundert Passagiere des Kreuzfahrtschiffes hatten sich zwar für Gaudi entschieden, aber für das Gaudi einer Shopping-Tour. War ich auf dem richtigen Dampfer? Von einer Butterfahrt war in der Vorankündigung nicht die Rede gewesen. Ein Missverständnis? Statt Gaudis Modernisme-Bauten Gaudi-Shopping-Modernisme? Ich machte mich allein auf den Weg, zu meinem Gaudi. Das Selbstwertgefühl der Katalanen mit seiner besonderen Form von Patriotismus kennzeichnet sein Werk. Es erschließt sich nicht leicht bei einer Einkaufstour. Die Casa Milà, eines seiner letzten Bauwerke, heißt im Volksmund Pedrera, Steinbruch. Ich konnte verstehen, dass Mitreisende die Casa als solche betrachtet hätten. Architektonische Tabus warf Gaudi in der Casa Milà über den Haufen. Das festzustellen, wollten sich die Kreuzfahrer nicht antun. Positives Denken und Schönes zu genießen, hatten sie sich vorgenommen. Nur schwerlich hätten sie in der geschwungenen, wellenförmigen Fassade der Casa ein typisches Haus gesehen. Wo waren die Symmetrien, wo die tragenden Säulen? Die Schaukelwellen, die bei der anstehenden AtlantikÜberquerung zu befürchten waren, gaben Anlass, das flache GaudiShopping der Stadt zu bevorzugen. Gaudi-amus igitur. Voll Freude sei das Leben. Beim Anblick der Schornsteine auf der Dachterrasse der Casa Milà hätten sie bezweifelt, dass Antoni Gaudi ein Genie war. Der Unterschied zwischen Genie und Wahnsinn soll nicht groß sein, wird gesagt. Die Kreuzfahrer hätten es bestätigt. Wer hatte die Casa zum Weltkulturerbe erklärt? Mussten sie das Casa Battló mit seiner skelettartigen Fassade kennen? Oder das Casa Amatler mit dem verzierten

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Dachgiebel? Vom Palau de la Música Catalana mit seinem hinreißend schönen Konzertsaal hatten sie nie gehört. Die Sagrada Família, der gigantische Sakralbau, an dem seit 1882 gebaut wird, musste man nicht besichtigen, da sie immer noch nicht fertig ist. Unbarmherzig zeigten die Zeiger der Uhr an, dass ich zurück zum Schiff musste. Verweile doch, es ist so schön – es ging nicht. Ich hatte eine Kreuzfahrt gebucht, nicht Gaudi. Die Reisenden von der Shopping-Gaudi erwarteten mich an der Reling.

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Die Peking-Ente Staatsoberhäupter und berühmte Persönlichkeiten waren hier zu Gast. Große Bilder, die sie bei opulenten Banketten in diesem Pekinger Restaurant zeigen, prangen an den Wänden der langen Flure. Dreitausend Gäste sollen gleichzeitig bedient werden können, auf sieben Etagen, in 41 Räumen. Bis zu zehntausend Pekingenten, zumindest Teile davon, landen angeblich täglich auf Gästetellern. China, ein Entenland. Dass sich Durchschnitts-Chinesen Ente nicht leisten können, kann nur eine Ente sein. Nicht jede China-Ente kann Peking-Ente werden. Sie muss auf einer Pekinger Entenfarm 65 Tage lang so lange gemästet werden, bis sie zwei Kilo wiegt. In der dritten Etage war ein Tisch reserviert. Die Ente hatten wir vorbestellt. Deren Zubereitung ist Routine. Zuerst wird Gas unter die Enten-Haut geleitet, damit sich die Ente aufbläht. Dann werden Öl, Honig und eine spezielle Soße in den Entenleib eingefüllt. Anschließend wird die Ente auf eine Stange gehängt und über dem Ofen geröstet, bis ihre Haut goldgelb und knusprig ist. Ich konnte die Faktenlage nicht überprüfen. George Bush und Helmut Kohl hat die Ente hier geschmeckt. Sie sollen begeistert gewesen sein. Sie werden nicht in einem der großen Säle gesessen haben. Nur Ente werden sie auch nicht gespeist haben, weil die erst am Schluss der Speisezeremonie auf den Tisch kommt. Präsident Bush soll sieben kalte Platten, sieben warme Gerichte, Ente, Entensuppe, Nachtisch und eine Obstplatte bestellt haben. Bei uns waren es ein paar Vorspeisen, die Enten-Vorfreude entfachen sollten. Das Haus bietet vierhundert weitere Gerichte an, die mit Ente zu tun haben – Entenpasteten, Entenzungen, Entensuppen. Enten sind ein dankbares Geflügel.

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Unsere Ente schien die Trinksprüche auf uns und die Gastgeber abgewartet zu haben, ehe sie eintraf. Der hochprozentige Hefeschnaps weckte Hoffnung und Zuversicht, dass die Ente kommen und der Abend gelingen werde. Dann wurde sie auf einem Teewagen an unseren Tisch gefahren. In wenigen Minuten schnitt ein Enten-Kellner sie in dünne Streifen. Die Fleischstücke taucht man in süße Soße und legt sie dann auf dünne Teigfladen. Die faltet man zusammen und verzehrt sie. Warum der Kellner einen Mundschutz trug, verriet er nicht. Wir konnten nicht der Grund sein. Nicht nur vor lebenden, auch vor toten, geschmorten, gebratenen Enten schien er sich schützen zu müssen. Wir haben die Pekingente ohne Mundschutz gegessen. Vermutlich war es eine Touristen-Ente, die ihr junges Leben lassen musste. Aber sie war im Reisepreis enthalten. Was will man mehr?

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Essen, was fliegt In Südchina werde gegessen, was fliegt, außer Flugzeugen, wird behauptet. Alles, was im Wasser schwimmt, außer Booten. Alles, was sich an Land bewegt, außer Fahrrädern. In Kanton wurde mir glaubhaft versichert, Hunde- oder Katzenfleisch sei eine zu teure Spezialität, als dass sie zum normalen touristischen Speiseangebot zähle. Ihr Fleisch werde vorzugsweise im Winter verzehrt. Wie Hammelfleisch habe es einen warmen Charakter. Es sei wirksam gegen Bluthochdruck. Es helfe, Auskühlungen des Körpers zu vermeiden. Es sei gut für Nieren und Milz. Es schmecke köstlich wie gekochtes Rindfleisch. Wollte mich der Reiseführer auf den Geschmack bringen? In Hongkong dürfen Katzen und Hunde angeblich nicht auf die Straße. Sie kennen die Verkehrsregeln nicht, steht im Reiseführer. Die Meldung wirkte beruhigend auf meine westlich geprägten Essgewohnheiten. Auf die Delikatesse Hundefleisch, auf Hunde-Rippchen, Hundefleisch in scharfer Soße verzichtete ich. Dass die chinesischen Kaiser Hundefleisch aßen, ermutigte mich nicht, es ihnen gleich zu tun. Auch bei gebratenen Tintenfischeiern und geschmorten Haifischflossen übte ich Zurückhaltung. Das geröstete Hühnerfleisch in Soße, die Hühnerwürfel in Bohnenpaste, der Mandarinfisch mit süßsaurer Soße und die Rindfleischgerichte waren mir eine Versuchung wert. Ich probierte chinesisches Bier und trank grünen Tee. Den süßlich schmeckenden Konkubinen-Tee, der mit Litschisaft versetzt sein soll, mied ich. Eine kaiserliche Konkubine, welche die Früchte des Litschibaums schätzte, soll ihn kreiert haben. Man muss nicht in ein vom Reiseführer empfohlenes, steriles Restaurant gehen. Straßenrestaurants um die Ecke bieten gute Kost. Außerdem lässt sich dort kostenlos das bunte Leben und Treiben beobachten. An Geschmacksrichtungen von scharf bis süß-scharf und sauer-scharf gewöhnte ich mich nach und nach. Chinesische Köche kochen Köstliches, man muss es ihnen nur zutrauen. Ich habe versucht, mit Stäbchen zu essen, gebe aber zu, dass es noch vieler Chinareisen bedarf, um nicht Messer und Gabel vorzuziehen. 64


Vรถlkerkunde are you deutsch? du Germany? ich Indonesia Philippinen Kabinenboy Saubermachboy Indonesiaboy Philippinenboy du deutsch? Germany? ich Indonesia, Philippinen lieber deutsch

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In Ordnung „Alles in Ordnung?“ Die Frage überrascht mich. Ob sie Besorgnis ausdrückt? Was kann nicht in Ordnung sein auf diesem Schiff? Unordnung kommt nicht vor, ist nicht eingeplant. Alles ist geordnet. Ich muss nicht planen. Es wird geplant. Man plant und denkt für mich. Der Cruise Direktor beginnt damit früh am Morgen. „Heute ist Donnerstag. Es ist neun Uhr. Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen. Sie können frühstücken.“ Die Schiffswelt ist in Ordnung. Ordnung reiht sich an Ordnung. Ich werde empfangen, geleitet, geführt, bedient. „Wir bringen es Ihnen.“ „Wir holen es Ihnen.“ Geübte Hände entfalten die Stoffserviette auf meinem Schoß, kredenzen den Orangensaft, servieren die Toastscheibe. Meine Hände und Füße hätte ich daheim lassen können. Alles hat seine Ordnung. Der Hotel-Direktor, der Front Office Manager, der Restaurant-Manager, die Hausdame, der Küchenchef – fern und nah gesteuert werde ich umsorgt. Dreiundfünfzig wichtige und außerordentlich wichtige Garanten meines Wohlbefindens und der Ordnung sorgen sich um mich. Ich kann sie nicht immer sehen, aber sie sind da. Sie sorgen für Ordnung. Ordnung muss sein. Ordnung sagt mir, ob ich sportlich leger, sportlich elegant oder in sportlichem Chic erscheinen soll. „Schön, dass Sie da sind.“ Der Tagesspruch macht es mir leicht, Ordnung gut zu finden. Daheim herrscht auch Ordnung. Schiffsordnung ist anders. Nicht statisch, eher fließend, gleitend – so wie der Fluss, auf dem wir dahin gleiten. Auch Gleiten hat seine Ordnung. Der Kapitän sorgt für geordnetes Gleiten, geräuschloses Gleiten. Manchmal himmlisches Gleiten, wenn der Wettergott kraft himmlischer Verordnung die Sonne scheinen lässt. Dann strahlt alles, was Ordnung hat. Reisen räumt mit Vorurteilen auf, hat jemand geschrieben. Mit Ordnung hatte ich bisher Probleme; hielt sie für überflüssig. Ein Vorurteil. Ohne Ordnung kann ich nicht leben. Zumindest nicht auf einem Schiff. 66


Ötzi war hier Die Ötzi-World-Card hatte ich nicht gekauft. Ich konnte nicht ahnen, dass ich mit ihr im Ötzi-Shop, in der Ötzi-Show, beim Ötzi-Marathon jede Menge Preisvergünstigungen erhalten hätte. Die Ötzi-Trophäe hätte ich für die Hälfte erstanden. „Begegnen Sie Ötzi persönlich im einzigartigen Schautunnel in der Bergstation der Gletscherbahn“, stand auf dem Plakat. Mit der World-Card hätte ich ihn fragen können, wie er sich fühlt nach fünftausend Jahren im Eis. Ins Südtiroler Schnalstal war ich gefahren. Mein Ziel war nicht Ötzi, sondern der beschauliche Ort „Unser Frau“ mit der Wallfahrtskirche. Um die Kirchenmauern herum schmiegt sich ein kleiner Friedhof. Die Gräber sind geschmückt mit kunstvollen Grabkreuzen aus Kupfer und Bronze, beredte Zeichen einer Kultur des Todes. Dort, wo Ötzi in 3200 m Höhe am Tisenjoch gefunden wurde, wandeln alle auf seinen Spuren – auch die Kinder. „Damit sie Techniken und Spiele, Essen, Arbeit und Vergnügen wie vor 5000 Jahren miterleben können“, steht auf dem Plakat. Ich verspürte keine Lust auf Bogenschießen und Brotbacken, wollte keine Töpfe und Tiere aus Lehm formen, keine Messer und Feilen aus Ötzis Zeit herstellen. Warum sollte ich mich in den Alltag vor 5000 Jahren versetzen lassen, wenn auch die Gegenwart interessant war? Da mir für die Gletschertour zur Fundstelle des ältesten Südtirolers Ausrüstung und Mut fehlten, blieb ich auf der Talstation der Seilbahn zurück. Die atemberaubende Fernsicht genoss ich von unten. Es gab viel zu sehen. Der ehemalige Alpengasthof hat sich in ein Skizentrum verwandelt. Die Gletscher garantieren ein schneesicheres Ganzjahres-Skigebiet. Bei einer Tasse Kaffee erzählte mir der Tischnachbar, dem Promotor des gigantischen Projektes sei das Werk über den Kopf gewachsen. Er sei Opfer ausufernder Spekulationen geworden und habe sich das Leben genommen. Ein kunstvolles Kreuz schmücke sein Grab auf dem Friedhof „Unser Frau“. Skifahrer kommen dort nicht vorbei.

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Exklusiv Das Trinkgeld werde exklusiv unter dem Personal aufgeteilt, versicherte die Besatzung des Schiffes. Sie nahm mir eine Verantwortung ab. Ich musste weder ein Orakel befragen noch selbst entscheiden, wem ich in besonderer Weise an Bord zu Dank verpflichtet war. Geben macht glücklich. Das Trinkgeld ging exklusiv ans Personal. Ich war erleichtert. Die große Schautafel zeigte an, wer exklusiv dazugehörte. Der Kapitän. Er erwartete eine Zuwendung. Ebenso der First Officer und der Exekutiv Chief. Desgleichen der Hotelmanager, der RestaurantManager, der Programm-Manager. Nicht zu vergessen der ProgrammDirektor. Der Mikrokosmos auf dem Schiff war größer, als ich gedacht hatte. Alle sollten exklusiv bedacht werden. Den Grund nannte die Anordnung nicht. Besondere Zuwendungen wurden erwartet, mussten nicht begründet werden. Die Schautafel war nicht groß genug, um alle exklusiv Berechtigte aufführen zu können. Die Küchen-Angestellten wurden nicht erwähnt. Der freundliche Alleskönner, der auf dem Sonnendeck wegräumte, was Sonnenanbeter liegen und stehen gelassen hatten, auch nicht. Wer meine schmutzigen Hemden gewaschen hatte – auch darüber schwieg sich die Schautafel aus. Die Serviererin im Restaurant, die mir eine Tasse Kaffee brachte, ehe ich sie bestellt hatte, gehörte für mich dazu. Aber auch ihr Name war nicht vermerkt. Vielleicht deswegen nicht, weil ich sie selbst schon etliche Male bedacht hatte. Was war mit dem Unbekannten, der mitten in der Nacht die aktuellen Tagesnotizen unter meiner Kabinentür hindurch schob? Auch er musste exklusiv zum Personal gehören. Dem Kapitän würde es eine Ehre sein, mit ihm das Trinkgeld zu teilen. Oder gab es eine TrinkgeldHierarchie? Exklusive Trinkgeld-Verteilung zunächst an den Kapitän, dann an den First Officer, den Exekutiv Chief, den Hotelmanager. Wenn der Trinkgeld-Topf leer war, würde dann ein Trinkgeld-Darlehn aufgenommen? Oder mussten andere exklusiv Berechtigte auf die nächste Reise warten? 68


Wofür konnte ich dem Kapitän danken? Dass er mich an Bord gelassen hatte? Dass er mir zehn Tage lang vom Schiff aus die Aussicht auf die vorbeiziehende Flusslandschaft gewährt hatte? Er hatte mich zum Kapitäns-Dinner eingeladen. Seine Uniform glänzte in den schönsten Farben, als er sich zusammen mit anderen exklusiv Berechtigten vorstellte. Dann entschwand er mit dem Exklusiv-Tross. Dass er mich eingeladen hatte, bedeutete nicht, dass er mit mir speiste. Wie konnte ich ihm das vergelten? Der Hotelmanager machte es mir leicht. Jeden Wunsch las er mir von den Augen ab. Darauf eingehen konnte er nicht. Die Hotel-SchiffOrdnung hatte exklusiv verfügt, welche Wünsche in Erfüllung gehen konnten und welche nicht. Welches Trinkgeld stand ihm zu, damit bei der nächsten Reise auch meine Wünsche Berücksichtigung fanden? Ein Trinkgeld würde ihn anspornen, mich besonders zuvorkommend zu behandeln. Aber würde ich ihn bei der nächsten Reise wieder antreffen? Wenn nicht, dann konnte er sich nicht revanchieren. Warum sollte ich ihm jetzt eine hochherzige Spende zuteil werden lassen, wenn er keine Gelegenheit hatte, mir dankbar zu sein? Dem Restaurant-Manager, dem Programm-Manager, dem ProgrammDirektor war ich exklusiv zu Dank verpflichtet. Das war der Anweisung zu entnehmen. Ich wusste nicht, warum, aber ich war ihnen verpflichtet. Mir waren sie nicht verpflichtet, obwohl sie dankbar sein sollten, dass ich mich für ihr Schiff entschieden hatte. Die Serviererin bei Tisch wusste, was sie an mir hatte. Sie brachte mir Kaffee, ehe ich ihn bestellt hatte. Sie habe ich exklusiv bedacht. Ebenso die Alleskönner, die Unbekannten und diejenigen, die täglich mein Bett zurechtgemacht hatten. Exklusiv ihnen habe ich Trinkgeld gegeben. Ausschließlich ihnen. Die Manager werden es verstehen oder auch nicht.

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Im Tal des Essens und Trinkens In der Bauernhof-Gaststätte hatte ich am frühen Nachmittag Marende bestellt, eine Portion Südtiroler Bauernspeck. Von einem Appetithappen zwischen Mittag- und Abendessen war ich ausgegangen. Ich hätte eine Sippe damit ernähren können. Ein großer Holzteller, gefüllt mit Käse und stark geräuchertem Schinken, stand vor mir. Hungersnöte hatte ich nicht hinter mir und daher keine Chance, die Fülle zu bewältigen. Ähnlich war es mir mit den Knödeln ergangen. Das ernährungsgeschichtliche Urgestein ist so unverzichtbar, dass es auf keiner Speisekarte fehlte. Ich weiß nicht, wie viele Knödel-Variationen auf meinem Teller landeten. Spinatknödel und Käseknödel, Zwetschgenknödel und Marillenknödel, Semmelknödel und Speckknödel. In vieler Hinsicht musste ich bisherige Essgewohnheiten vergessen und mich an neue gewöhnen. Das Frühstück hieß „Vormess“, vor der Messe; gefolgt vom „Halbmittag“, eine Jause am späten Vormittag. Die „Marende“ schloss sich als Brotzeit am späten Nachmittag an. Wenn ich in dem kleinen Café den Apfelkuchen probieren wollte, musste ich vorher gefastet haben. Apfelstrudel, Hefe-Apfelkuchen, Apfelweinkuchen, Versunkener Apfelkuchen – der Urlaub war zu kurz, um so viel Hunger zu haben. Auf das „Nachtmahl“ hätte ich verzichten können, aber ich wusste nicht, wann ich wieder hier her kommen würde. Es schien zudem nicht aufhören zu wollen mit Schüttelbrot und Vinschger Paarl, mit Keschten und Esskastanien, mit Schlutzkrapfen und Teigtaschen. Niemand muss am Hungertuch nagen. Milchfest und Knödelfest, Brotmarkt und Strudelmarkt, Speckfest und Joghurttage, Kastanienwoche und Apfelwoche – man liebt das Leben. Es soll Diät-Angebote geben, die Übergewichtigen einen leichteren Lebensstil schmackhaft zu machen versuchen. Dass sie wahrgenommen werden, ist unwahrscheinlich. Wer kann Schlutzkrapfen mit Lamm-Thymian-Füllung, Zwetschgenkompott mit Kucheneis ignorieren?

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Abends saß ich im Verkostungsraum eines ehemaligen Fohlenhofs. Ursprünglich war er vom österreichischen Kaiser als Sanitätsstation für fußkranke Pferde erbaut worden. Der erste Haflingerhengst, Urvater aller Haflinger, wurde hier großgezogen. Jetzt lernte ich zusammen mit anderen fußkranken Wanderern in der „Bäuerlichen Brennerei“ eine weitere Kostbarkeit kennen. Der Reichtum an Obst veranlasst die Einwohner, Edelbrände herzustellen. Ein edles Destillat wird gebrannt. Das Brennen, erzählte der Brennmeister, sei ein Spiel von Können und Passion, unterstützt von der ausgefeilten Technik eines modernen Brennkessels. Ein paar gebrannte Kostbarkeiten traten mit mir den Heimweg an. Die Edelbrände werden mich ans Tal des verführerischen Essens und Trinkens erinnern. Die Ess- und Trink-Kultur entspricht der Lebenslust der Menschen. Soll man auf sie verzichten um der Dauer eines längeren Lebens Willen?

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Das Wunderöl Ihre Oma nehme nur dieses Öl, sagte Saadia, das Zimmermädchen. Sie benutze es zum Kochen und Backen. Vor jeder Mahlzeit nehme sie einen Teelöffel davon ein. Mit dem Öl pflege sie ihre Haut. Es wirke gegen Faltenbildung, helfe gegen Haarausfall, sei ein hervorragendes Heilmittel und der beste Schutz gegen Sonnenbrand. Das wundersame Öl war ein Gourmet-Speiseöl, Nahrungsergänzungsöl, Anti-Aging-Öl, Öl für alles und für alle Tage. Warum hatte ich noch nichts davon gehört? Wahrscheinlich deswegen, weil der Baum, aus dessen Früchten es gewonnen wird, nur in Marokko zwischen Essaouira und Agadir wächst. Bei einer Fahrt durch das Land waren mir Ziegen aufgefallen, die auf Bäumen kletterten. Es waren die vom Aussterben bedrohten Arganbäume, die unter dem Schutz der UNESCO stünden, sagte der Fahrer. An einer Straßenecke entdeckte ich ein Schild mit der Aufschrift „Massage“. Gutes Öl, nickte der Fahrer. Wurde das Wunderöl auch hier eingesetzt? Saadia, das Zimmermädchen, bestätigte es. Nach Erfahrungen ihrer Großmutter wagte ich nicht zu fragen. Saadia wusste, was gut für und gegen etwas war. Sollte ich mich auf eine WunderölMassage einlassen? Meine Neugier war größer als meine Skepsis. Das Etablissement wirkte seriös. Viele Masseure und Masseurinnen habe er angestellt, erklärte der marokkanische Geschäftsinhaber in akzentfreiem Deutsch. Auf vielen Regalen reihten sich Flaschen und Fläschchen aneinander. Erstaunlich, dass es noch so viel von dem wunderbaren Öl gab, da die Bäume vom Aussterben bedroht waren. Reines Öl? Öl-Verschnitt? Gepantscht? Gestreckt? Argwohn kam auf. Wegen seiner hohen Konzentration werde es mit Olivenöl vermischt, wurde mir erklärt. Mein Vertrauen sollte wieder hergestellt werden. Wie viele Oliven mussten geerntet werden für ein Fläschchen Wunderöl? Ich erfuhr es nicht. Duftstoffe füge man hinzu, hieß es. Eukalyptus sei zu empfehlen. Das rieche gut und intensiviere die Wirkung. Allah werde mir bestätigen, so hoffte ich, dass die zwanzig Euro für die Massage gut angelegt waren. 72


Zugedeckt mit warmen, wollenen Tüchern ließ ich mich auf die Wunderöl-Massage ein. Die Information an der Wand versprach mehr, als Saadias Mutter wusste. Das Öl wirke gegen braune Flecken und brüchige Fingernägel. Es helfe gegen Rheuma und Muskelschmerzen. Es bekämpfe die Müdigkeit und fördere die Zellerneuerung. Warmes, samtweiches Öl tropfte auf meine Füße. Die Masseurin schien davon auszugehen, dass eine ausgedehnte Fußmassage die Behandlung anderer Körperteile überflüssig machte. Blieben nördliche Körperregionen unberücksichtigt? Ich begann zu genießen. Vermischt? Gestreckt? Verschnitt? Unwichtig. Als meine Kopfhaut durchgeknetet wurde, hatte ich jedes Zeitgefühl verloren. Ich machte mir keine Gedanken darüber, was die Fürund-gegen-alles-Massage bewirken oder verhindern werde. Vor dem Rückflug kaufte ich am Flughafen noch zwei Fläschchen WunderölVerschnitt. Wirken würde es bestimmt. Egal, wogegen oder wofür.

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Kein Märchen aus alten Zeiten Reisewillige mussten reisewürdige Gründe haben oder im reisewürdigen Alter sein, um in alle Himmelsrichtungen verreisen zu dürfen. Unvorhergesehenen Verlockungen und Verführungen konnten sie ausgesetzt sein. Ob sie denen standhalten konnten, musste vorab geprüft werden. Kein Märchen aus alten Zeiten. Ein solches erzählt ein spätromantischer Dichter in seinem „Buch der Lieder“. Es ist die wundersam schreckliche Geschichte von der schönen Jungfrau auf dem Felsen. Sie sitzt dort oben und kämmt ihr goldenes Haar. Ihrem verlockenden, betörenden Gesang erliegt der Schiffer. Blind geworden für die Strömungen und Riffe des Stroms, verkennt er, dass sein Boot zerschellt. Die betörende Nixe sitzt immer noch da und singt ihr Lied – auch für jene, die in nicht ganz so alten Zeiten zum Balaton fuhren, der Erholungsstätte für verdiente Werktätige aus dem Bruderland. Die sagenumwobenen Burgen des Rheins und die Nixe auf dem Felsen vermissten sie dort nicht. Auch der Plattensee hat seine Reize. Auch an seinen Ufern können liebliche Jungfrauen sitzen, deren goldenes Geschmeide im Sonnenlicht glänzt, unbesungen im Buch der Lieder. Die Schöne auf dem Felsen verzaubert die Reisenden. Sie besingt für sie die Burgen und Schlösser, die Rebhänge und Schieferfelsen. Das Märchen aus alten Zeiten muss ihnen nicht aus dem Sinn kommen. Es ist schön, sich verführen zu lassen von der reizenden Schönen, von den Felsen und Burgen. Und auch das ist gewiss: „Ruhig fließt der Rhein“.

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zu den Musen


du und ich dein Auge Glanz dein Blick Hunger du und ich Glanz und Hunger

Brot zum Fressen gern

leben ist essen essen ist leben leben geht durch den Magen Mahlzeit schöne Zeit

ich habe dich zum Fressen gern ich fress dich nicht dann hab ich dich

leben braucht Seele Seele muss leben seelenlos leben ist kein Leben Leib und Seele brauchen Speise können hungern und verhungern essen und leben Mahlzeit schöne Zeit Leib und Seele Seele und Leben

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hoffen h채ngen gelassen liegen gelassen fallen gelassen im Stich gelassen sie liebte ihn hielt zu ihm zog zu ihm ergab sich ihm er brach sein Wort stahl sich fort mied den Ort war nie dort nicht h채ngen lassen nicht liegen bleiben aufstehen es gibt morgen

verw채hlt zwei Kreuze gemacht alles bedacht richtig gemacht Kreuze gemacht an Deutschland gedacht richtig gedacht der Kandidat hat nicht gewonnen Kreuze zerronnen Kreuze gemacht richtig gemacht aber zerronnen richtig gedacht richtig gemacht an Deutschland gedacht Deutschland hat anders gedacht

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Winterfrühling was soll ich von dem Winter sagen der Frühlingslüfte mir beschert ich will nicht stöhnen, nicht beklagen dass Schnee und Frost mir wird verwehrt soll ich verzagen, soll ich jammern weil Frühling und nicht Winter ist? muss ich mich immer daran klammern dass Winter dann ist, wenn es friert? muss ich den Wintermantel tragen wenn auch das Sommerhemd genügt? soll ich durch Eis und Schnee mich plagen weil Schneematsch vor der Haustür liegt? ich brauche keine Winterreifen die Heizung friert nicht wieder zu durch milde Lüfte kann ich streifen vor Eiseskälte hab ich Ruh’ es wird schon wieder Winter werden wie man es von ganz früher hört es folgen ganz bestimmt Beschwerden weil so ein Winter wieder stört

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Mama mia wer wird dir heut’ Blumen bringen? wer wird dir ein Mailied singen? wird es dir heut’ wohl ergehen? werden wir dich lachen sehen? Mama mia, lass dir sagen: du wirst verehrt du bist begehrt lass dir das sagen

Mailied der Mai kommt spät dieses Jahr zu kalt für’s Café ich gehe nicht vor die Tür der Mai ist gekommen hab’ ich vernommen wo ist er? die Sonne geht auf der Mond geht unter als wär’s wie immer Amseln bauen Nester Kinder kreischen Flieder blühen der Mai ist gekommen hab’ ich vernommen ein Mailied soll ich singen Summen und Flimmern Grünen und Blühen Mai? er soll kommen der Mai

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wann? draußen ist Sommer nicht drinnen wann ist Sommer draußen und drinnen?

Fluss und Ufer

reisen fahren lassen

fahren gleiten fließen

öffnen öffnen lassen sich einlassen

Schiff und Fluss Fluss und Ufer nichts ohne Ufer

auf Neues auf Erde auf Himmel

Flüstern im Fluss am Ufer

nichts

Sonne und Wolken Regen und Wind und Himmel über Fluss und Ufer

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lassen

nichts nichts bleibt nichts bleibt übrig nichts nur Erinnerung sonst nichts die bleibt sonst nichts nur Erinnerung nichts ist wichtiger


bis zum Himmel


Liebeserklärung ich möchte mit Dir zusammen durch das Leben gehen kleine und große Schritte machen auch große Sprünge wagen ab und zu ein Stück des Weges wieder zurück laufen ich weiß dass der Weg vor uns nicht immer einfach sein wird dass Höhen zu meistern sind dass Täler auf uns warten dass wir auch durch öde Gegend kommen werden ich will dir beistehen dir vertrauen dir Sicherheit geben dir Mut machen ich bin süchtig nach dir nicht eifersüchtig stolz auf dich und mich nicht überheblich

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das wünschen wir euch möget ihr Kraft haben füreinander da zu sein wenn die Sonne für Euch lacht wenn Wolken sich zuziehen kleine und große Stolpersteine mögen euch nicht lähmen sie sollen euch bremsen wenn ihr zu schnell unterwegs seid steckt Eure Ziele nicht zu weit damit ihr ankommt gönnt euch Zeiten der Rast damit ihr nicht untergeht in Hektik und Mühsal vertraut auf einen Gott der um euch weiß der euch nicht im Stich lässt der euch verzeiht gesegnet sei eure Arbeit damit sie Frucht bringt damit sie euch zufrieden macht damit sie euch nicht überfordert gesegnet seien eure Wünsche eure Sehnsüchte eure Hoffnungen eure Träume gesegnet seien Zärtlichkeit und Liebe die eure Herzen berühren genießt sie damit sie euch glücklich machen gesegnet sei die Reise durch die Jahre eures Lebens es gibt viele die euch begleiten 83


Gebote ehre die Schöpfung achte jede Kreatur hüte die Schätze der Erde nimm nur, was du brauchst stelle dich den Fragen der Zeit verändere, was es zu ändern gilt wecke Bereitschaft und Phantasie schaffe eine Welt für alle ein Samenkorn braucht fruchtbaren Boden sorge für fruchtbaren Boden sei fruchtbarer Boden lass wachsen, was gesät ist danke für das Leben nimm an den Augenblick freue dich auf jeden Tag alles ist dir geschenkt

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Bitte für uns Die kleine Kapelle müsse ich aufsuchen und dort eine Kerze anzünden. Eine persönliche Bitte, die ich dabei formulieren würde, gehe in Erfüllung. Meine Gastgeber, die mir die Empfehlung mit auf den Weg gaben, waren fromme und aufgeschlossene Leute. Die Wallfahrts­ kapelle „Maria in der Schmelz“ im Südtiroler Martell-Tal ist der Legende nach bei einem gewaltigen Bergsturz wunderbar verschont geblieben. Das Schicksal des Tals ist die Pliwa, ein Wildbach. Immer wieder hat sie das Tal mit seiner weitgehend unberührten, urtümlichen Berglandschaft verwüstet und Katastrophen ausgelöst. Heute fängt ein Stausee die Wassermassen ab. Maria in der Schmelz hört und erhört immer noch die Bitten derer, die zu ihr flehen. Die bäuerliche Kultur und Kulturlandschaft des Tals ist eng verknüpft mit dem Kampf gegen die Naturgewalten. Ein Besuch im Museum „Culturamartell“ verdeutlicht das. Glaube und Aberglaube, Bitt­ gesänge und Prozessionen, viele Formen des Wettersegens begleiteten Jahrhunderte lang das karge Leben der Bergbauern. „Maria, bitte für uns.“ An wen sonst hätten sich die Menschen wenden sollen? Touristen fahren an Maria vorbei. Möglicherweise haben sie auf ihrer Durchreise Europas höchst gelegenes Erdbeer-Anbaugebiet regis­ triert. In steilen Kurven geht es aufwärts zum Stausee, immer mit dem imposanten Ausblick auf die Dreieinhalbtausender. Alle sind auf der Suche nach Leben, nach Erleben, nach Glück – mit oder ohne Vertrauen auf himmlische Fürsprache. „Maria, bitte für uns“ wird denen von den Lippen kommen, die ihren Weg und ihr Heil auch mit Hilfe anderer zu finden hoffen. Andere fahren allein zum Stausee weiter – in der Hoffnung, dass er die Naturgewalten im Zaum hält.

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Trösterin der Betrübten Ein Preußenkönig war hier und brachte eine fünfzig Pfund schwere Kerze mit. Eine noch größere Kerze erzählt davon, dass sich schon vor vierhundert Jahren Prozessionen nach hier auf den Weg machten. Prozessionen aus Deutschland und Holland, aus Belgien und Luxemburg kommen immer noch. Jedes Jahr. Oft mit Opferkerzen oder geschmückt mit einem Wappenschild. Ich sitze in der Kerzenkapelle. Einen Augenblick zur Ruhe kommen will ich. Gelingt das, wenn rundherum viele hundert Kerzen ihre Geschichte erzählen? Wenn sie berichten, wer sie hergebracht hat und warum? Kann ich den Blick abwenden von den bemalten Wappenschildern und Tafeln, von den Danksagungstäfelchen und Plaketten? „25 Jahre Fußwallfahrt“. „10 Jahre Fahrradpilger“. „Royal Airforce“. „Motorradfahrer-Wallfahrt“. „Internationale Jugendwallfahrt“. Alle kommen und bringen ihre Kerzen – ihr „Beedevaartoffer“, sagt die holländische Inschrift. Später werden bei der abendlichen Vesper mehr als hundert Kerzen brennen und den Raum in imaginäres Licht tauchen. Kerzen auch in der Gnadenkapelle. Auf dem Altartisch stehen zwei Schachteln für „geopferte Kerzen“. Es passen nicht mehr viele hinein. Wann und wo werden sie Licht spenden? Ein dienstbarer Geist fährt mit einer Sack-Karre eine Fuhre neuer, noch nicht geopferter Wallfahrtskerzen herein. Viele Kartons, viele Kerzen. Wallfahrts­opferLogistik. Die Familiensippe, die den engen Raum betritt, denkt weniger an ein Opfer, sondern an Vorratshaltung für dunkle Winternächte. Die Kerzen sind ein Geschenk des Himmels. Taschen werden mit Kerzen gefüllt. Wallfahrts-Sonderration. Nicht immer kann der Generalsekretär der Wallfahrt so planen, dass jede Kerzen-Rechnung aufgeht. Abschreibung heißt das betriebswirtschaftlich. Die Sippe stellt einen großen Strauß roter Rosen ins Blumenmeer vor dem Altar. Vom Gnadenbild hinter dem Altar, das Bittsteller und Beter ehrfürchtig oder neugierig

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berühren, scheinen sie nichts zu wissen. Wegen der Kerzen hätten sie auch ihre Hände nicht frei gehabt. Zu wem pilgern die Menschen? Zur Consolatrix Afflictorum, zur Trösterin der Betrübten. Mehr als achthunderttausend Pilger kommen jährlich aus Deutschland und den Benelux-Ländern, aus vielen Ländern. „An dieser Stelle sollst du mir ein Kapellchen bauen“, soll eine geheimnisvolle Stimme einem Händler vor rund vierhundert Jahren zugeflüstert haben, als er an einem Hagelkreuz betete. Dem Dorf hat das gut getan. Heute ist der Wallfahrtsort eine florierende Pilgerstadt. Das Hagelkreuz steht nicht mehr da. An seiner Stelle stehen die Gnadenkapelle, die Kerzenkapelle, die Sakramentskapelle, die Beichtkapelle, die Johanneskapelle. Und die große Wallfahrtskirche; der Aufnahme Mariens in den Himmel ist die Päpstliche Basilika geweiht. Alle Pilger wollen einmal in den Himmel. Vorerst sorgen die Pilgerleiter dafür, dass die Wallfahrer noch eine Weile auf Erden bleiben und den geordneten Wallfahrtsgang gehen. Wer sich der Gottesmutter anvertraut, den vergisst sie nicht. Dessen sind sich Beter und Zweifler, Suchende und Fragende gewiss. Der Verkehrsverein weiß, welche sonstigen Bedürfnisse es gibt. Verkaufsoffene Sonntage beispielsweise. Es gibt viele Anlässe. Gastronomen und Konditoren, Gastwirte und Hoteliers haben immer offene Sonn- und Werktage. Nicht zu vergessen die Kerzengeschäfte. Sonnenschirme und Stuhlkissen bringen Farbe ins Stadtleben. Wallfahren hält Leib und Seele zusammen. Achthunderttausend Pilger wollen nicht nur beten und sich um ihr Seelenheil kümmern. Auch leibliches Heil will gesichert werden. Wenn die Pilger den großen Kreuzweg gegangen sind, melden sich menschliche Bedürfnisse an. Die Trösterin der Betrübten wird es verstehen. Zum Schluss wird ja wieder gebetet.

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Himmlisches Jerusalem In der niedrigen, gedrungenen Krypta ist es jämmerlich kalt – jedenfalls empfinde ich es so, weil ich mich draußen an 35 Grad Südtiroler Sommerhitze gewöhnt habe. Der romanische Fresken-Zyklus aus der Zeit der Klostergründung der Abtei Marienberg in Burgeis im 12. Jahrhundert ist ein Kunstwerk von europäischem Rang. Eindrucksvolle Fresken, die das „Himmlische Jerusalem“ zum Thema haben, schmücken die Apsiden. Hier unten sangen Mönche biblische Psalmen „im Angesicht Gottes und seiner Engel“, die in den Fresken Gestalt annehmen. Nach ihrem Gesang gingen die Mönche wieder an die Arbeit „oben“. Gebet und Meditation hier unten als Kraftsammlung für das Leben in der Welt „oben“. Begreifen wir das noch? Vielleicht auch damals nicht alle. Ein großer Teil der Krypta wurde später zugeschüttet. Es entstand eine Gruft für verstorbene Äbte, für die Särge der Patres und Brüder. Viele Fresken verschwanden dahinter. Inzwischen hat man sie wieder frei gelegt. Sie erstrahlen wie einst in ihrem Glanz und erzählen vom himmlischen Jerusalem. Hören die Besucher ihnen zu? Vernehmen sie die überirdischen Gesänge und Klänge? Unsere Welt orientiert sich an anderen Klängen – Klänge, die ständig variieren. Menschen damals, die ein Ohr hatten für das Himmlische Jerusalem, begnügten sich mit einem einfachen, fest gefügten Weltbild. Sie wussten, woran sie waren. Sie vertrauten Bildern, in denen sie Hoffnung und Trost suchten. Unser Weltbild verläuft oft in Schlangenlinien. Viele selbst produzierte Bilder von unserer Welt oder einem Jenseits haben die Tröstungskraft von Gummibärchen. Vielleicht täten wir gut daran, von Zeit zu Zeit den Klängen zu lauschen, von denen die Fresken erzählen. Wer Ohren hat zu hören, der hört.

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Treffpunkt Autobahn ich stehe im Stau ein Kreuz mit dem Kreuz kein Heil am Kreuz Stau im Kreuz verstopft durch mich blockiert durch dich Auto an Auto Spurensuche

Frauen am Kreuz entsetzt über seine Erniedrigung über die Grausamkeit der Soldaten über die Brutalität der Henker

kein heiliger Raum kein Gott am Kreuz Treffpunkt Autobahn Schnelle und Beladene Sinnsucher und Schönredner Fahrgemeinschaft Schicksalsgemeinschaft Treffpunkt Kreuz ich stehe im Stau kein Weg voraus kein Weg zurück Stau im Kreuz alles steht Zeit steht still ich bin still im Stau am Kreuz

bereit ihn zu trösten ihn zu beweinen ihn in den Schoß zu nehmen

wo waren die Männer?

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Der Spiralweg Ein Gartenkunstwerk. Der Spiralweg krönt das Gesamtkonzept von Haus und Garten. Er soll Bewohnern und Besuchern, Angehörigen und Mitarbeitern Minuten des Ausspannens, der Meditation, des Auftankens bieten. Gesäumt ist der Weg von Wasser und aromatischen Blumen, von sonnigen und schattigen Plätzen. Wohlbefinden sollen sie vermitteln. Zum Klangbaum führt der Weg. Akustische Reize erzeugt er. Sie sollen die Seele zum Schwingen bringen. Kommt sie zum Schwingen? Bei dem einen ja. Bei dem anderen vielleicht. Wer sich treiben lässt, eilt vorbei. Die Spirale entdecken, den Weg erleben – bis zur Mitte und zurück zum Beginn – das braucht Zeit. Wer nimmt sich Zeit?

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In Not „Nicht nötig“, sagte er. Keinen hatte er nötig. Er war nicht in Not. Dann sagte er: „Das Bein. Die Hand. Kein Gefühl.“ Das verstehe er nicht. Er brauche das Bein. Die Hand sei nötig. In Not war er nie. Bisher nie. Jetzt – die Hand wie taub, das Bein wie lahm, der Schritt kein Schritt. Er seufzte. „Wird alles gut?“ „Geduld“, sagte der Arzt. „Nötig?“ fragte er. „Notwendig.“ „Wird alles gut – die Hand, das Bein, das Gefühl?“ Er seufzte. „Geduld wendet Not.“ „Wird alles gut?“ „Not wenden dauert.“ Der Arzt seufzte.

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Asperges me Asperges me Besprenge mich, Herr Wüste ist in mir Trockenes Land wie Staub Ich durste Lass mich nicht verdursten Asperges me et mundabor Besprenge und reinige mich, Herr Vergangenes klebt wie Schmutz an mir An meinem Leib An meiner Seele Lass mich nicht zur Schande werden Asperges me et miserere mei Besprenge mich, Herr; erbarme dich meiner Deine Hilfe Deine Gnade erbitte ich Lass mich auf sie vertrauen Asperges me Nicht nur mich, Herr, besprenge Auch Nachbarn und Freunde Gute und Böse Glaubende und Zweifelnde Lass alle auf dich hoffen dürfen

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Menschenwürde Man habe in verantwortlicher Weise strenge Voraussetzungen und Kriterien definiert, bevor man einen Menschen auf dessen ausdrücklichen Wunsch in den Tod begleite. Der Sterbewillige müsse urteilsfähig, der Todeswunsch dauerhaft, die Lebens-Situation hoffnungslos, das Leiden unerträglich und die Behinderung unzumutbar sein. Eine seriöse Organisation bietet Sterbewilligen eine Freitod-Begleitung an. Ich habe Fragen. „Urteilsfähig, zu autonomer Willensentscheidung fähig“: Von welchen Kriterien hängt ab, wer das wie beurteilt? Ist Urteilsfähigkeit ein ausreichendes Kriterium? Viele Menschen habe ich leiden und sterben gesehen. An keinen erinnere ich mich, der nicht bis zuletzt einen Funken Hoffnung auf Besserung seines Zustandes gehabt hätte. „Unerträgliches, unzumutbares Leiden“: Für wen gilt das? Für den Kranken? Für diejenigen, die mit ihm zu tun haben? Gibt es nicht viele unerträgliche, unzumutbar erscheinende Situationen im Leben? „Entscheiden können, wann man in einem Weiterleben keinen Sinn mehr erkennt und in Ruhe und Frieden aus dieser Welt gehen möchte“: Ließen sich nicht viele Gräber schaufeln für Menschen, die aus privaten, familiären, beruflichen Gründen den Sinn ihres Lebens verloren zu haben glauben? „Die Würde des Menschen ist bedroht, wenn er zum Objekt ärztlicher Fremdbestimmung wird“: Ist jede Form von Selbst-Verwirklichung, Selbst-Bestimmung, Selbst-Behauptung Ausdruck menschlicher Würde? Gibt es keine positive Fremd-Bestimmung? Ich habe Fragen. Ich suche Antworten.

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Udo ist tot „Bitte eine Mail senden an „udoisttot“ oder auf Udos Handy melden.“ Die Anzeige in der Zeitung überrascht mich. Warum soll ich mich bei Udo melden? Ich kenne ihn nicht. Außerdem ist er tot. Will er Kontakte pflegen mit Lebenden im Diesseits? Soll er überirdische Ratschläge aus dem Jenseits übermitteln? Wahrscheinlich nur ein Marketing-Trick. Beim Übergang vom Leben zum Tod scheint es Probleme gegeben zu haben. Ob er nicht gewusst hat, wohin es geht? Ruth scheint es gewusst zu haben. Albert beschreibt es. „Deine unendliche Reise tratest Du um 4.20 Uhr an. Unsere Gedanken begleiten Dich auf dem Weg zur ewigen Sonne.“ Ob Ruth weiß, wie weit das ist? Hat sie bedacht, was sie sich mit ihrer unendlichen Reise antut – ohne sicheren Kurs, ohne Parkplatz, auf dem die arme Seele verschnaufen kann? Heinrich Heine hoffte, dass seine letzte Ruhestätte nicht ganz so weit entfernt lag – unter Palmen im Süden, unter Linden am Rhein. Eine Reise scheint man in jedem Fall antreten zu müssen, wenn man sich von seinen Lieben für immer verabschiedet hat. Maria schwimmt jetzt im Baltischen Meer herum, denn ihr Mann hat seine „stolze Frau“ in der Ostsee beigesetzt. Hofft er, der armen Seele das Fegefeuer ersparen zu können? Wer will, kann den Weg ins Jenseits in Turnschuhen antreten. Ein Bestattungshaus bietet sie an. Es hat sein Leistungsspektrum erweitert und bietet einen Sarg in Turnschuhform an. Innerhalb einer Woche lässt sich der Sonderwunsch realisieren. Die achttausend Euro sollten einem die letzte Reise wert sein, denn der Urlaub auf Bali im vergangenen Jahr kostete genau so viel. Wo mag Udo stecken? Vielleicht weiß er es selbst nicht und will sich mit dem Handy orten lassen. Ob auch Karl Peter Schwierigkeiten mit der Reiseroute hat, geht aus der Anzeige nicht hervor. „Gott wollte es anders“, schreibt seine Elfi. „Mit ihm fährst du nun die himmlische Route 66“. Hoffentlich kann sich Karl Peter auf sein Navi verlassen. 94


Da er alleine unterwegs ist, kann er niemanden fragen, wenn er sich verfahren hat. In meinem Dorf musste sich während meiner Kindheit ein Verstorbener solche Sorgen nicht machen. Im Sarg wurde er von zu Hause abgeholt und auf einer Pferdekarre zum Friedhof transportiert. Verwandte und Nachbarn begleiteten ihn. Er konnte sicher sein, ans Ziel seines letzten Weges zu gelangen. Unendlich weit bis zur Sonne war der Weg auch nicht. Der Friedhof lag nicht weit von der Kirche entfernt, und die befand sich mitten im Dorf. Gottesacker nannte man ihn, Ort des Übergangs vom Diesseits ins Jenseits. Die letzte Reise trat jeder von zu Hause aus an. Man blieb auch irgendwie zu Hause; denn die Stelle, wo man begraben wurde, war nicht weit vom bisherigen Zuhause entfernt. Der Tote musste nicht mit dem Handy geortet werden, um zu wissen, wo er sich zur letzten Ruhe begeben hatte. Auch in meinem Dorf hat sich einiges verändert. Aus dem Dorf wurde eine Stadt. Der Pferdekarren hat sich zuerst in eine schwarze LeichenLimousine verwandelt, dann tauschte man sie gegen einen AllerweltsJeep aus. Den Passanten soll nicht zugemutet werden, schon am Fahrzeug zu erkennen, dass ihnen eine Leiche begegnet. Die Bürger haben ein Recht auf verkehrsberuhigte, leichenfreie Zonen. Der Tod wird ausgebürgert, tot geschwiegen. „Einfacher Abtrag“, sagen die Bestatter. „La paloma“ singen sie am Grab. Man denkt ans Leben, nicht ans Sterben. Die Endlichkeit des Lebens muss nicht betont werden. Hoffentlich machen sie Udo ausfindig. Ich wünsche ihm die letzte Ruhe. Irgendwann will jeder ans Ziel kommen.

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Tabu „Lachen will jeder, sterben will keiner.“ Ein Bestattungsunternehmen lädt zu einem kabarettistischen Abend zum Tabuthema „Tod“ ein. Sterben ist nicht zum Lachen. Aber der Bestatter will das Thema enttabuisieren, ihm seine Schärfe nehmen. „Was tun, wenn jemand stirbt?“ Eine Verbraucherberatung bietet Hilfestellung an. Sechs Euro kostet der Ratgeber. Brauchen wir nicht, sagen viele. „Freude, Freude, immer neue Freude, Halleluja“, verkündet die große Anzeige in der Zeitung. „Anonymes Urnengrab“, steht unter dem Halleluja. Um Regina muss man sich keine Gedanken machen. Das Lachen kann weitergehen. Für Trauer gibt es weder Ort noch Zeit. Das mit Lars ist weniger zum Lachen. „Ich wage es, mich der Dunkelheit auszusetzen, in der alles zum Gefängnis wird“, schreibt er. „Tief bewegt teilen es alle mit, die mit ihm waren“. Wer war Lars? Wer sind „alle“? Wird nicht gesagt. Soll anonym bleiben. Immerhin haben sie ihn begraben. Irgendwo in der Mitte zwischen zwei Bäumen. Ob sie sich die Stelle gemerkt haben? Warum irgendwo, anonym, namenlos? „Wir waren zu feige“ schreiben sie bei Guido, versprechen aber „Wir werden dich nicht vergessen“ – Silke, Achim, Alex, Martina, Michael. Vornamen. Wie bei Guido. „Im Andenken an Hongkong Stefan“, lese ich. Wieder ein Namenloser. Bekannt nur jenen, bei denen er bisher Namen und Bedeutung hatte. Auch ich möchte etwas von ihm erfahren. Einiges wird angedeutet: „Lippenstift am Kragen. Badewanne voll Geschirr. Geniales Chaos und ein Lächeln.“ „Dein Charisma werden wir vermissen“, schreiben Isi und Ralf, Dana und Tim. Viele andere. Ich hätte ihn gerne kennen gelernt. Ich möchte seine Freunde besuchen, mir sein Charisma beschreiben lassen. Aber sie offenbaren sich nicht.

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Warum teilen sie ihre Trauer mit, wollen aber mit deren Bewältigung allein bleiben? Ist es so wie bei Josef? „För de Welt wär he nix, för siene Frünn veel, för uns allns“ – Für die Welt bedeutete er nichts. Seinen Freunden bedeutete er viel. Seiner Frau und den Kindern alles. Zwei Tage nur ist Melina alt geworden. Viel kann sie nicht erlebt haben in den achtundvierzig Stunden ihres Lebens. Daher nicht der Rede, nicht der Erwähnung wert? Doch, sagen die Eltern. „Du bist wie eine Wurzel, tief eingegraben in unseren Herzen, für immer und ewig.“ „Wir danken Gott für fünf glückliche Jahre mit Benjamin“, schreiben andere. Jedes Leben hat Bedeutung und ist der Rede wert. Leben ist nicht anonym.

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Der Leichenschmaus Beate hat die Bank entdeckt. Beate hat Realitätssinn. Wenn wir uns vor dem Fußball-Klassiker noch stärken wollen, dann hier, erklärt sie. Was Beate sagt, ist so. Marlene stimmt zu. Hendrik findet es cool. Papa holt die Marschverpflegung aus dem Auto. Nudelauflauf in Tomatensauce, Lasagne bolognese, Pizza Margherita, Geschnetzeltes aus der Gemüsepfanne – es ist vorgesorgt. Invitare a mangiare – Beate lädt zum Essen ein. Benvenuto. Herzlich willkommen. Dass die edlen Gerichte in Plastikschalen serviert werden, findet sie praktisch. Wir müssen nicht spülen. Dass die Speisegaststätte aus einer Sitzbank besteht, hält Beate für unproblematisch. Dass Bänke kein typisches Möbelstück für ein Essvergnügen sind, schmälert die Gaumenfreuden nicht. Beate ist nicht wählerisch. Sitzbank, Parkbank, Küchenbank, Esszimmerbank – Essen hält Leib und Seele zusammen, auch auf einer Bank. Die Bank kommt gelegen. Sie steht auf dem Friedhof, unweit vom Stadion. Prima, sagt Beate. In fünf Minuten sind wir im Stadion. Mahlzeit! Si metta a suo agio. Macht es euch bequem. Catering auf der Friedhofsbank. Zwischen Kränzen und Kreuzen, neben Grabsteinen und Grablaternen Leichenschmaus beim Italiener. Ungewohnt, sagt Papa. Kontaktpflege mit Verstorbenen, erklärt Beate. Wir leisten ihnen Gesellschaft. Sinti und Roma treffen sich an den Gräbern der Verwandten, besuchen die Ahnen, trinken einen Schnaps, essen ein Schnitzel. Familientreff auf dem Friedhof, sagt Beate. Lebende und Tote tauschen Nachrichten aus. Keine tröstliche Friedhofsruhe, betont Beate. Die Gräber der Lieben sind zubetoniert. Mobiltelefone und andere Gegenstände, die mit ins Grab gelegt wurden, sollen nicht gestohlen werden. Schande über die Grabräuber, ärgert sich Beate. Il menu, per favore.

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Die Speisekarte, Marlene. Come antipasti prendo. Was gibt es als Vorspeise? Beate ist für Nudelauflauf. Lies mal, was auf dem Grabstein steht, fordert sie Hendrik auf und rollt die Nudeln um die Gabel. Hendrik entfernt die Schlingpflanzen, die den Stein überwuchern. „Wir werden dich nie vergessen, Oma“, buchstabiert er. An Omas Grab ist lange niemand gewesen. Das hat Oma nicht verdient, ärgert sich Beate und lobt die Nudelsauce. Eccellente. Der Wind weht Fanfarenklänge zur Friedhofsbank hinüber. Die Fangemeinde drängt zum Stadion. Es ist Zeit, die Fan-Klamotten überzuziehen. Bald betreten die Mannschaften das Spielfeld, mahnt Papa. Beate drängt zum Hauptgericht. Cosa ci consiglia. Was ist zu empfehlen? Papa und Hendrik wählen Pizza, Mama ist für Geschnetzeltes, Marlene steht auf Lasagne. Bene, grazie. Danke. Die Nachspeise essen wir im Stadion, entscheidet Beate. Salute! Prost! Gut, dass wir nicht spülen müssen. Beate will dabei sein, wenn das erste Tor fällt. Die Bank wird wieder zur Friedhofsbank. Kränze und Kreuze, Grabsteine und Grablaternen sind unter sich. A presto. Bis bald. Beate, komm bald wieder, raunt es von irgendwo her. Das Catering auf der Friedhofsbank lässt sich wiederholen.

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Glasscherben Strahlende Pixel-Landschaft aus farbigen Glasquadraten überflutet mich. Sie blendet mich. Schade um das einhundertdreizehn Quadratmeter große funkelnde Glasfenster. Meine Meinung haben sie ignoriert. Dringend habe ich abgeraten, Glasscherben zu verewigen. Personen hätte man im neuen Fenster zum Leuchten bringen sollen. Heilige. Die hätten den Dom erstrahlen lassen. Ich habe Namen genannt. Den Meinen nicht. Ein Dom ist kein Museum. Der Verherrlichung Gottes dient er. Wer ruft dazu auf? Ich. Es werde Licht, soll einer gerufen haben, als die hundert Quadratmeter Glas eingeweiht wurden. Eine Symphonie des Lichtes sei es. Der Dom sei jetzt Kathedrale des Lichtes. Blendwerk, antworte ich. Kathedrale war der Dom immer. Immer stand er im Licht. Hundert Quadratmeter Ratlosigkeit haben sie hinzugefügt. Die vibrierende Farbdichte zwinge keine Deutung auf, soll man gesagt haben. Richtig. Ein Glasscherben-Torso muss man nicht deuten. Vollendete Utopie. Abstrakt, nicht sakral. Wie Brauhaus-Fenster. Entartet. Gottlos. Ich bin nicht hingegangen. Ich wollte keine Glasquadrate segnen. Aber fragen werde ich. Wer darf Kirchen ausstatten? Glasscherbenspieler? Gottlose? Ein Atheist soll eine bekannte Wallfahrtskapelle gebaut haben. Gottesleugner sollten keine Kirchen bauen. Wer kann darin beten? Hundert Quadratmeter Glasscherben werde ich ignorieren. Ich will beten können. Schließlich bin ich der Kardinal.

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Vorsätze ich nehme mir nicht vor, mein Leben zu ändern dann wäre bisher vieles falsch gewesen ich nehme mir nicht für jeden Tag eine gute Tat vor das schaffe ich nicht ich nehme mir nicht vor, immer die Ruhe zu bewahren oft war das die Ruhe vor dem Sturm ich nehme mir nicht vor, nur nach Gesundheit zu streben sie ist nicht mein einziges Gut ich nehme mir nicht vor, mir alles Mögliche vorzunehmen dazu reicht nicht die Zeit ich nehme mir vor, gelegentlich gegen den Trend zu leben ich nehme mir vor, hin und wieder nichts zu tun und nur zu träumen ich nehme mir vor, Neues auf mich zukommen zu lassen ich nehme mir vor, Altes nicht zu vergessen ich nehme mir vor, dankbar zurück zu schauen ich nehme mir vor, anzunehmen, was kommt ich nehme es mir vor

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an der Krippe


Advent Advent hoffen und warten worauf? Advent erwarten und ersehnen wen? Advent kommen und ankommen wer? Advent hereinlassen IHN

 

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Advent – bald ist Weihnachten


In Erwartung Irgendetwas war anders als bisher. Sie spürte es, konnte es aber nicht beschreiben. Wenn sie am Brunnen Wasser holte, schienen die Frauen sie zu beobachten. „Bist du schwanger?“ Die Frage überraschte sie. Was sollte sie antworten? „Nein, natürlich nicht.“ Das Gerede im Dorf wäre groß gewesen. Dennoch wuchs ihre Sorge. Es bahnte sich etwas an. Es war etwas im Werden. Aber sie wusste nicht, was es sein konnte. Würde es eine Last werden, die auf sie zukam, oder ein Segen sein, der sich unverhofft einstellte? Furcht und Unsicherheit überfielen sie. Worauf wartete sie? Auf Unerwartetes? Unerhörtes? Konnte eine junge Frau wie sie Erwartungen oder Wünsche haben? Wünsche durfte ein Mann äußern. Frauen waren wunschlos glücklich. So war es üblich. So verkündeten es die gesellschaftlichen Normen. Was hatte der Engel gesagt? Eine Kraft von oben werde über sie kommen. Das hatte sie nicht verstanden. Erzählt hatte sie niemandem davon. Wer hätte ihr glauben sollen? Keine Kraft von oben beglücke einen Menschen; jeder sei seines eigenen Glückes Schmied. Das hätte man ihr geantwortet. Aber war sie nicht, als sie krank war, dankbar gewesen für die Hilfe der Nachbarin? „Du allein schaffst das nicht“, hatte die Freundin gesagt. Daher behielt sie die Worte des Engels für sich. Jemand hatte etwas mit ihr vor. Sie ließ sich auf das ein, was der Engel gesagt hatte. Seine Worte waren bei ihr angekommen. Sie war bereit, offen für Neues. Mit den Worten des Engels ging sie schwanger. Sie trug sie mit sich herum. Bald würde sich zeigen, was sich daraus ergab. Sie hatte warten gelernt. Am Brunnen musste sie warten, wenn sie Wasser holte. Sie wartete. Noch war nicht die Zeit da, sich mitzuteilen. Sie hatte jetzt Zeit für sich. Sie hatte sich entschieden, sich auf die Kraft von oben einzulassen. Sie war nicht allein, nicht hilflos. Alles würde gut werden. Darauf vertraute sie voller Zuversicht, in guter Hoffnung. 105


Das Lamm Ein totes Lamm hatte Jonas noch nie gesehen. Als Zivi mit ihm auf die Wiese hinter dem Bauernhof ging und ihm das nur wenige Stunden alt gewordene Tier zeigte, weinte Jonas so wie neulich, als Oma gestorben war. Man werde das tote Tier bald abholen; hier begraben dürfe man es nicht, sagte Zivi. Zivi wohnte seit einiger Zeit auf dem Hof. Dass er Ersatzdienst leistete, verstand Jonas nicht richtig. Er war erst fünf Jahre alt. Zivi nahm ihn oft mit, wenn er die Kühe und Kälber fütterte. Mit Zivi durfte er Traktor fahren. Mit ihm versorgte er ein paar Schafe, die nachts in dem kleinen Stall schliefen. Zivi konnte fast alles. Außerdem war er lustig und hatte immer neue Ideen. Das Mittagessen schmeckte Jonas heute nicht. Alles war so schrecklich gewesen. Nur Zivi merkte man nichts an. Ihm schmeckte es wie immer, und er erzählte wie immer. Er kenne jemanden, der tote Tiere so behandeln könne, dass sie nachher wieder wie lebendig aussähen. Der Vater hörte interessiert zu, als Zivi von dem Mann erzählte, der Tiere präparierte. Jonas wusste nicht, was präparieren bedeutete. Zivi zeigte auf ein Eichhörnchen, das scheinbar lebendig auf der Fensterbank hinter dem Küchentisch saß. Jonas wusste natürlich, dass es tot war. Aber man konnte meinen, es sei soeben vom Kastanienbaum draußen im Garten hier auf die Fensterbank gesprungen und schaue ihnen zu. Es war jedoch vom Traktor angefahren worden und gestorben. Das Eichhörnchen wurde auch präpariert, sagte Zivi. Nach dem Essen war Zivi verschwunden und mit ihm das tote kleine Lamm. Jonas war sehr aufgeregt und fragte den Vater, wo die beiden seien. Zum Tierpräparator. Das sagte der Vater so, als wisse er etwas, das er Jonas nicht verraten wollte. Es klang jedenfalls geheimnisvoll. Auch der Vater wusste viel. Zumindest so viel wie Zivi. Die Haut des toten Lammes werde gegerbt und

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im­prägniert – alles Worte, die Jonas noch nie gehört hatte. Vater versuchte ihm zu erklären, das kleine Lamm müsse sozusagen haltbar gemacht werden. Wann kommt Zivi zurück? Jonas musste dringend mit Zivi reden. Das Lamm wird ausgestopft, hatte die große Schwester behauptet. Was das wieder bedeutete, konnte sich Jonas auch nicht erklären. Dann war Zivi endlich wieder da. Wo ist das Lamm? Ist es wieder so wie vorher? Jonas konnte gar nicht die Antworten auf seine Fragen abwarten. Zivi setzte sich auf den großen Stuhl in der Diele und machte ein bedeutungsvolles Gesicht. Das Lamm werde hoffentlich vor Weihnachten zurückkommen. Allerdings habe der Präparator eine Menge Arbeit mit ihm. Das Fell des Tieres müsse er von dem kleinen Körper ablösen und mit Salzen und Laugen bearbeiten. Dann könnten sich keine Bakterien darin festsetzen, die das Fell zerstören würden. Zivi erzählte und erzählte. Jonas hörte ihm zu. Als er eines Tages mittags aus dem Kindergarten zurückkehrte, saßen alle schon am Tisch. Jonas wollte sich auf die Bank setzen, aber sein Platz war besetzt. Ein Lamm stand da. Jonas konnte es kaum glauben. Das Lamm war wieder da. Es sah so aus, als sei es nie fort gewesen. Wo soll es jetzt bleiben, fragte der Vater. In den Stall konnte es nicht zurück. Zivi hatte bisher nichts gesagt. Jetzt meldete er sich zu Wort. Wie wäre es, wenn wir es Weihnachten an die große Krippe in der Kirche stellen? Alle waren begeistert. Auch Jonas. Das Lamm durfte in seinem Zimmer bleiben, bis es Weihnachten an die Krippe gestellt wurde. Ein richtiges Lamm würde dann dort stehen, sein Lamm direkt neben dem Jesuskind. Zivi war sein bester Freund. Das Lamm natürlich auch.

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Ich bin Josef Dass sie schwanger war, hatte ich geahnt. Ich sagte aber nichts. Warum hielt sie es vor mir geheim? War ihr Kind nicht auch mein Kind? Als ich sie fragte, ob sie Kinder gern habe, lenkte sie ab. Sie erkundigte sich, wann wir aufbrechen müssten, um uns in die Steuerlisten eintragen zu können. Dass wir eine Woche oder länger für die weite Reise brauchen würden, gefiel mir nicht. Wenn sie ein Kind erwartete, wusste ich nicht, wie es mit uns weitergehen sollte. Eines Tages rückte sie mit der Sprache heraus. Sie konnte nichts mehr verheimlichen. Ich verstand es trotzdem nicht, auch nicht meinen Traum eines Nachts. Eine Stimme flüsterte mir zu, sie sei schwanger vom Heiligen Geist. Was sollte das heißen? Hätte ich mich freuen sollen, dass sie ein Kind erwartete, ohne zu wissen, was ich damit zu tun hatte? Unsere finanzielle Situation ist nicht rosig, muss ich gestehen. Als wir in Bethlehem ankamen, hatten wir kein Geld für eine ordentliche Unterkunft. Außerdem sind wir Palästinenser. Nirgendwo werden wir geduldet. Ich war froh, dass wir überhaupt eine Bleibe fanden. Dass wir in einer Bruchbude landen würden, konnte ich nicht ahnen. Mit armen Leuten kann man das machen. Die Musik spielt in Jerusalem, nicht in Bethlehem. Niemand verirrt sich in dieses verlassene Nest. Dass hier unser Kind zur Welt kam, damit hatte ich nicht gerechnet. Alles ging sehr schnell. Ich habe mich verdrückt; für mich war das nichts. Zwei Frauen, die in der Gegend wohnen, leisteten erste Hilfe. Ihren Männern gehören ein paar Schafe, die sie vor der Hütte weiden lassen. Mit denen müssen wir uns die Hütte teilen. Sehr komfortabel ist die Unterkunft nicht.

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Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll. Sie soll mir sagen, welche Rolle ich in Zukunft spielen soll. Ich will nicht herumstehen wie Ochs und Esel. Wir werden uns so bald wie möglich auf den Heimweg machen. Wenn sie dem Jungen nichts von mir erzählt, wird er früher oder später nach mir fragen. Ich bin Josef, sein Vater. Das soll er wissen. Wenn er etwas mit Gott zu tun hat, dann will ich das wissen. Ich werde aber nicht zu Gunsten eines Anderen auf meine Rechte verzichten. Meine Familie lasse ich nicht im Stich. Auch Gott kann nicht alles allein regeln. Er mag die Welt erschaffen und dafür gesorgt haben, dass es Menschen gibt und Kinder geboren werden. Aber wer kümmert sich um sie? Wer soll meinem Sohn die Windeln wechseln? Wer soll ihm die Welt erklären und ihm die Sterne am Himmel zeigen? Wer soll ihm von Gott erzählen? Ich werde das tun – ich, Josef, sein Vater. Das werde ich mir nicht nehmen lassen.

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Brief ans Christkind Hoffentlich kommt der Brief noch bei dir an, liebes Christkind. Ich habe gehört, dass du jetzt dauernd unterwegs bist, weil du Geschenke besorgen musst. Hast du überhaupt noch Zeit, dich um die Briefe zu kümmern, die man dir schreibt? Meinen musst du auf jeden Fall lesen. Er ist sehr wichtig. Meine Mama darf aber nicht erfahren, dass ich dir schreibe. Es geht nämlich um sie. Es ist so. Im vorigen Jahr war ich sehr enttäuscht von dir. Ich hatte mir das neue Handy gewünscht, und zwar das gleiche, das meine Freundin Anja hat. Da du dich wahrscheinlich auskennst, habe ich nicht erwähnt, was man damit alles machen kann. Es sollte nur das gleiche sein wie das von Anja. Dann wusstest du Bescheid, und ich musste dir nicht die Gebrauchsanleitung erklären. Vielleicht verstehst du sie auch gar nicht oder hast keine Zeit, dich damit zu beschäftigen. Meine Mama kannte das Handy auch. Ich konnte mich darauf verlassen, dass sie das richtige Handy bei dir bestellte. Alle Kinder in unserer Klasse haben ein Handy. Das von meiner Freundin ist das Beste. Weil sie meine Freundin ist, hatte ich ihr anvertraut, dass ich demnächst auch so ein Handy wie sie haben würde. Richtig begeistert schien sie nicht zu sein, weil sie immer etwas Besonderes sein will. Was sie hat, das soll kein anderer haben. Bei mir würde sie wahrscheinlich eine Ausnahme machen, weil ich ihre beste Freundin bin. Papa war natürlich gegen das Handy. Als er zur Schule ging, habe es kein Handy gegeben. Vermisst habe er es deswegen nicht. Logisch, liebes Christkind. Wenn es kein Handy gab, konnte er auch keines vermissen. Mit Papa kann man nicht reden. Vor allem nicht über mein Handy. Deswegen schreibe ich dir. Papa muss das nicht wissen. Vor der Bescherung war ich ziemlich aufgeregt. Nichts haben sich Mama und Papa anmerken lassen, ob das mit dem Handy klappen würde. Die Geheimnistuerei fand ich ätzend. Ich bin doch kein Kind

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mehr. Anja wollte ich sofort nach der Bescherung eine SMS mit dem neuen Handy schicken. Papa sagte, das habe Zeit bis zum anderen Morgen. Nach der Bescherung werde zuerst gesungen. Danach würden wir Oma anrufen, die an Heiligabend immer Geburtstag hat. Konnte Oma nicht warten, bis ich Anja die SMS geschickt hatte? Oma wäre doch nicht inzwischen gestorben. Endlich war Bescherung. Ich konnte es kaum abwarten. Mama guckte etwas komisch zu mir herüber. Papa schien sich überhaupt nicht dafür zu interessieren, als ich mein Handy auspackte. Typisch. Und dann fiel mir nichts mehr ein. Vor Wut hätte ich heulen mögen. Das Handy, das du mir unter den Tannenbaum gelegt hast, war nicht dasjenige, das ich bestellt hatte. So eins hatte ich noch nie gesehen. Konnte man damit überhaupt simsen? Wütend verließ ich das Zimmer und verkroch mich ins Bett. Weihnachten war für mich gestorben, sage ich dir. Mama sagte mir irgendwann, ich hätte kein Handy bestellt, sondern mir nur eins gewünscht. Du würdest keine Bestellungen, sondern nur Wünsche annehmen. Verstehst du diese Wortklauberei, liebes Christkind? Ich nicht. Dieses Jahr wünsche ich mir das richtige Handy. Solltest du es nicht mehr besorgen können, dann hätte ich gerne ein Pony. Du weißt, dass ich Tiere sehr mag. Ein Pferd ist zu groß für mich, aber ein Pony wäre genau das Richtige. Bei Mama werde ich es nicht bestellen. Bei Papa schon gar nicht. Ich schreibe es dir persönlich. Überlege dir, ob du mir meinen Wunsch noch erfüllen kannst. Ich verlasse mich auf dich. Deine Christa Mir fällt noch ein: Wenn du das Pony in der kurzen Zeit nicht beschaffen kannst, dann reicht es auch bis zu meinem Geburtstag Anfang Februar.

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Christkind, lass dich fragen Ich weiß, dass du mich über die Maßen liebst, liebes Christkind, denn ich bin fromm, frömmer jedenfalls als Onkel Heini. Der ist fromm, wenn du ihm Geschenke bringst. Ich bin nicht wegen der Geschenke fromm, obwohl du dieses Jahr etwas großzügiger sein könntest als im vergangenen. Erinnerst du dich? Das Preisschild klebte noch an den Unterhosen. Statt „Fröhliche Weihnachten“ stand „Made in China“ darauf. Natürlich sehe ich ein, dass du preisbewusst schenken musst. Aber hast du auch daran gedacht, wo ich die Unterhosen eintauschen kann? An wen in China hätte ich mich wenden sollen, da sie mir eine Nummer zu klein waren? Ich mache dir keine Vorwürfe. Aber wenn du die Sachen etwas näher besorgst, dann ist es für mich einfacher. Du wirst mich verstehen, da du mich über alle Maßen liebst. Liebst du auch die Türken? Im vergangenen Jahr habe ich Ali, meinen Nachbarn, zu Weihnachten eingeladen. Er ist aber nicht allein gekommen. Fünf Kinder brachte er mit. Seine Frau wollte auch nicht zu Hause bleiben. Die Eltern und Schwiegereltern erschienen ebenfalls. Sie hätten sich gefreut, mitkommen zu dürfen, sagten sie. Ich war froh, dass sie etwas zu essen mitbrachten. Ich kannte das nicht, was sie alles heranschleppten. Kebap war dabei, gegrilltes Fleisch. In der Frittenbude soll es das geben, aber da essen wir nie. Der Grillspieß war nicht übel, obwohl meiner Frau die Soße zu scharf war. Die Frikadellen hießen Köfte oder so ähnlich. Können die Türken nicht deutsch sprechen, damit man verstehen kann, was in den Frikadellen verarbeitet wird? Die Salate musste ich auch probieren. Hast du schon einmal Hirtensalat gegessen, Christkind? Vielleicht magst du ihn nicht wegen der Zwiebeln und dem Schafskäse. Türken feiern zwar nicht Weihnachten, aber lieben kannst du sie trotzdem. Das Essen, das sie mitgebracht hatten, war nämlich gut.

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Wen hast du lieb, Christkind? Alle? Oder nur die, die dich auch lieben? Oder nur diejenigen, die es verdienen? Wenn du nur solche liebst, können es nicht viele sein. Meine kleine Nichte wird es schwer haben, von dir geliebt zu werden. Sie glaubt nicht an dich und behauptet, die Geschenke unter dem Weihnachtsbaum hätten schon drei Wochen vorher im Küchenschrank gelegen. Sie kann es sich nicht vorstellen, dass du sie da so lange versteckt hast. Liebst du Oma und Opa? Sie sagen, früher sei alles anders, vor allem besser gewesen. Stimmt das? Wann war früher? Oma sagt, früher war, als sie klein war. Opa sagt, er wisse nicht, wann früher war, aber er könne sich gut daran erinnern. Was war früher anders als heute? Vielleicht hattest du es einfacher als jetzt. Es gab nicht so viele Geschäfte, in denen du Geschenke besorgen konntest. Weil Oma und Opa keinen Computer kannten, hast du ihnen auch keinen schenken können. Neulich fragte Opa, wie man den Computer startet. Oma hatte ihm den zum Geburtstag geschenkt. Jetzt wusste er nicht, wie man ihn in Gang bringt. Ich habe es ihm gezeigt. Opa hat gestaunt, was ich damit alles machen kann. Als ich abends lange schon im Bett lag, klingelte das Telefon. Mama nahm den Hörer ab und fragte, wer so spät noch anrufe. Opa war es. Er wollte wissen, wie man den Computer abstellt. Liebes Christkind. Ich weiß, dass du mich liebst. Wenn du auch alle anderen liebst, dann schreibe mir, wie du das machst. Ich hoffe, ich höre von dir.

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Weihnachtsgeschenke in Sicht Zwiespältige Gefühle hatte ich. Meine Klasse hatte nicht den besten Ruf an der Schule. Fünf Tage vor den Weihnachtsferien stand plötzlich die Frage im Raum, ob man nicht am letzten Schultag wichteln wolle, also sich gegenseitig beschenken könne. Hatte ich richtig gehört? Vor wenigen Tagen hatten sie den „Weihnachtsrummel“ noch verrissen, Konsumstress und geilen Geschenke-Terror verteufelt. Jetzt wollten sie wichteln. Wie aus dem Nichts tauchte eine Mütze auf. Jeder warf einen Zettel mit seinem Namen hinein – ich musste mich ebenfalls beteiligen. Dann sollte ich mit der Mütze durch die Klasse spazieren und Zettel ziehen lassen. Ich hatte ein ungutes Gefühl. Nähere Einzelheiten darüber, was und wie geschenkt bzw. gewichtelt wurde, schien für achtzehn- bis zwanzigjährige Fachoberschüler unwichtig zu sein. Das regle sich von selbst, hieß es. Ich staunte. Wenn es in der Klasse um Regeln ging, brachen regelmäßig Glaubenskämpfe aus. Auf meinem Zettel stand „Ali“. Ali war Türke. Moslem. Muslime feiern nicht Weihnachten. Aber Ali hatte kürzlich vom Bummel auf dem Weihnachtsmarkt geschwärmt. Seiner Schwester habe er einen Stern gekauft. Der habe ihm gut gefallen. Für Ali kaufte ich einen großen Stern. Natürlich fragte ich mich, wer meinen Namen gezogen hatte. Die Mienen meiner Schüler kannte ich auswendig. Vieles konnte ich darin lesen. Manchmal ersetzten sie mir lange Gespräche. Wer meinen Namen gezogen hatte, konnte ich nicht darin lesen. Der letzte Schultag verlief wie immer. Aber es wurde gewichtelt. Es verschlug mir die Sprache. Die Klasse mit dem nicht lupenreinen Ruf hatte den Raum umfunktioniert in eine Lametta-Stube. Mitten darin standen zwei zusammengerückte Tische als Gabentisch. Die Kratzer und Inschriften waren notdürftig mit Servietten verdeckt. Ich stellte mein Ali-Päckchen ab – neben einen kleinen Briefumschlag, auf dem

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mein Name stand. Ein sperriges Geschenk war das nicht. Coole Hände, lässige Hände schnürten Päckchen auf. Ich glaubte es nicht. Papier wurde nicht einfach aufgerissen. Vorsichtig entfernte man Tesafilm und wickelte PC-Zubehör aus. Manchmal unbeholfen, aber mit unverkennbarer Neugier. Irgendwie war das wie Weihnachten. Ali war happy. Den Stern werde er in sein Auto hängen. Logisch, dachte ich. Einen Christbaum werden die nicht zu Hause haben. Meinen Briefumschlag musste ich vor allen öffnen. Die Schülerin, die meinen Namen gezogen hatte, hatte mir im Namen der Klasse einen Brief geschrieben, von allen unterschrieben. Ganz zum Schluss stand der Wunsch, ich möge auch im neuen Schuljahr Klassenlehrer bleiben. Ein anstrengender Wunsch. Aber ich fühlte mich geehrt.

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Ein bisschen Glückseligkeit Sonderzüge nach Nürnberg und Dresden. Glühwein und Reibekuchen. Original Erzgebirge und Frankfurter Würstchen. Frömmelnde Krippenfiguren. Weihnachtsmänner. Weihnachtsfrauen. Duftströme. Es riecht und klingelt. Glöckchen klingeln. Kassen klingeln. Lichter auf dem Markt, über dem Markt. Lichterglanz und Lichterketten. Geschiebe und Gedränge. Taschen und Tüten. Schnickschnack und Shoppingwelt. Weihnachten? Weihnachtsmarkt ist Leben, weckt Emotionen. Man geht nicht über den Markt, man lässt sich schieben. Keine verklärten Nächte mit Sternenhimmel. Zu „Weihnachten im Untergeschoss“ lädt ein AngebotsAllerlei ins Tiefparterre ein. Verlockende Idee? Wahrscheinlich nicht. Weihnachten geschieht oberirdisch, ebenerdig; zwischen Anderem, mit Anderen. Die junge Frau kommt sich verloren vor. Ein Bürotag liegt hinter ihr – Telefon und Faxgerät, Computer und Bildschirm. Jetzt der Abstecher über den Weihnachtsmarkt. Das soll sie auf andere Gedanken bringen. Eigentlich graut ihr vor Tannengrün und Lametta, vor Friede und Freude, vor Stille Nacht-Familienszenen, vor verordnetem Weihnachtsfrieden. Endlich die Last der Regeln abschütteln; keine Geschenke, keine Gans, kein Baum, keine Lieder. Wenn man sich sonst nichts zu sagen hat, dann auch nicht zu Weihnachten. Seit einem halben Jahr ist sie allein. Wem soll sie etwas sagen? Was sucht sie hier? Glückseligkeit? Sie weiß es nicht. „Mama, guck mal, der Stern“, ruft ein Kind. „Zwei Stück für drei Euro“, ruft jemand. Sie will nichts hören. Hört dennoch. „Drei Euro für zwei Windlichter.“ Braucht sie nicht. Nicht für den Garten, nicht für den Balkon. „Drei Euro.“ Hat sie nicht Nein gesagt? Sie sieht die Lichter. „Weihnachten braucht man Licht“, sagt der Verkäufer. Sie reagiert nicht. Dann doch.

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Sie wollte nichts kaufen. Jetzt muss sie die Windlichter durch das Gedränge bugsieren. Wo soll sie die hinstellen? Mal sehen. Ein bisschen Licht braucht man vielleicht. Lebensfreude, hat der Mann gesagt, als er ihr die Tüte mit den Lichtern in die Hand drückte. Lebensfreude? Im Büro hat sie davon nichts gespürt. Lebensfreude vom Weihnachtsmarkt. Fahler Dezemberhimmel, aber sie hat die Lichter. Einen Tannenbaum wird sie nicht aufstellen.

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Windlichter Im Gedränge musste ich auf meine Windlichter achten, damit sie nicht zertreten wurden. Kein einziges hatte ich verkauft. Einpacken wollte ich, um nicht länger in der Kälte ausharren zu müssen. Dann stand die Frau vor mir. Gesehen hatte ich sie nicht. Alle fünf Lichter wollte sie haben. Sie drückte mir einen Geldschein in die Hand; fort war sie. Ich wollte ihr noch erklären, wie man die Lichter vor Wind und Regen schützt. Außerdem bekam sie noch Geld zurück. Ich sah sie nicht mehr. Einen Hauch von Mitleid spürte ich. Warum war sie verschwunden? Eine halbe Ewigkeit stand ich schon da. Fast hatte ich vergessen, dass ich Windlichter verkaufen wollte. Mir gefiel die Musik, obwohl ich die Lieder schon tausend Mal gehört hatte. Mir gefielen die Düfte, die um meine Nase wehten. Mir gefielen die Gesichter, die sich neugierig meinen Lichtern zuwandten. Ich genoss das. Schade, dass es so kalt war und ich nirgendwo meine kalten Füße wärmen konnte. Die Frau schien davon nichts zu bemerken. Warum war sie hier? Wofür brauchte sie Windlichter? Richtig interessiert zeigte sie sich nicht. Wo wollte sie die aufstellen? Überall funkelt und leuchtet und blinkt es in diesen Tagen. Lichterketten an Türen und Fenstern. An Dächern und Häuserfronten strahlen und glitzern sie in buntem Licht. Wir lassen Sie nicht im Dunkeln stehen, verspricht die grelle Reklame. Auch ausgefallene Wünsche werden erfüllt. Alles soll ins rechte Licht gerückt werden. Meine Windlichter können mit dem Gefunkel nicht konkurrieren. Hoffentlich war die Frau nicht enttäuscht, als sie die Lichter auspackte. Ich weiß nicht, wo sie die hingestellt hat. Ich weiß nicht, ob es dunkel genug ist, wenn sie leuchten. Aber das weiß ich: Meine Lichter machen es heller. Nicht taghell, aber hell. Mehr braucht man vielleicht nicht.

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Stille Nacht Stille Nacht Unruhige Nacht Das Baby raubt ihr den Schlaf Stille Nacht Schlaflose Nacht Um Fünf klingelt der Wecker Stille Nacht Unerträgliche Nacht Er hat sie mit einer Anderen verbracht Stille Nacht Auf Erden Friede In dieser Nacht? Stille Nacht Friede gesucht Wann ist heilige Nacht?

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Wo wohnt das Christkind? Das Mädchen hatte gefragt, wo das Christkind wohnt. Irgendwo musste es zu Hause sein und sich ausruhen können, wenn es den ganzen Tag unterwegs gewesen war. „Im Himmel“, hatte die Tante geantwortet. „Wo ist der Himmel?“ wollte das Mädchen fragen. Aber die Tante hatte es eilig. Für eine Antwort fehlte die Zeit. Vielleicht wusste sie es auch nicht. „Es kann so weit nicht sein“, tröstete ich das Mädchen. „Wenn du willst, machen wir uns zusammen auf den Weg.“ Das hätte ich nicht sagen sollen; denn inzwischen waren wir schon lange unterwegs. Wo war der Himmel? Viele Menschen waren uns begegnet. „Wissen Sie, wo der Himmel ist? Das Christkind soll dort wohnen.“ Immer wieder hatte das Mädchen gefragt. Statt einer Antwort ein Achselzucken. Niemand schien es zu wissen. Vielleicht da oder dort oder da oben – die Leute zeigten in alle Himmelsrichtungen. Niemand konnte es genau sagen. Der Himmel war nicht in Sicht. “Wo ist der Himmel?“ fragte das Mädchen den Mann, der Zuckerwatte verkaufte. „Bei mir nicht“, sagte er missmutig. Den ganzen Tag stand er schon auf dem Weihnachtsmarkt. Seine Hände waren kalt geworden, und das Mädchen merkte ihm an, wie unzufrieden er war. „Die Leute nerven mich“, murrte der Zuckerwattenverkäufer. Meine Zuckerwatte ist den einen zu süß, den anderen zu weich, wieder anderen zu klebrig. Mal sind die Portionen zu groß, mal sind sie zu klein. Ich werde nach Hause fahren, damit ich nichts mehr davon höre.“ „Bestellst du die Zuckerwatte beim Christkind?“ wollte das Mädchen wissen. „Es soll hier wohnen. Oder ist hier nicht der Himmel?“ „Der Himmel ist hier bestimmt nicht.“ Die Antwort des Zuckerwattenverkäufers klang nicht sehr freundlich. „Der Weihnachtsmarkt ist hier. Außerdem habe ich selbst die Zuckerwatte mit meiner Zuckerwattenmaschine hergestellt, nicht das Christkind. Schön weich ist meine Zuckerwatte, aus reinem Zucker.“

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Das Mädchen war enttäuscht. Das Christkind wohnte nicht auf dem Weihnachtsmarkt. Die Zuckerwatte stammte nicht vom Christkind. Hier war nicht der Himmel. Der Mann hatte ihr zwar eine Portion Zuckerwatte geschenkt, aber glücklich war sie nicht. Außerdem musste sie dringend auf die Toilette. Die Dame an der Eingangstür zählte Geldstücke. „Hast du Geld dabei? Du kannst sonst hier nicht aufs Klo gehen.“ Die Frage nach dem Himmel und nach dem Christkind wagte das Mädchen nicht zu stellen. Außerdem roch es eigenartig. Der Himmel konnte hier nicht sein. Wahrscheinlich gab es ihn nicht und das Christkind auch nicht. Fast wäre sie über den langen weißen Stab gestolpert. Ein blinder Mann tastete sich mit ihm über den Weg. „Können Sie mit dem Stab sehen?“ fragte das Mädchen. „Nein“, sagte der Blinde. „Aber der Stab macht mich sicher. Auf ihn kann ich mich verlassen, wenn ich unterwegs bin.“ „Weißt du, wo der Himmel ist?“ fragte sie ihn unvermittelt. Das Christkind soll dort wohnen. Oder weißt du das nicht, weil du nicht sehen kannst?“ „Das kann ich dir natürlich nicht genau sagen. Ich glaube aber, dass der Himmel da ist, wo ich mich sicher fühle, wenn mir niemand den Weg abschneidet und wenn ich an der roten Ampel sicher über die Straße komme. Dann fühle ich mich wie im Himmel.“ Das Mädchen war überrascht. So hatte sie sich den Himmel nicht vorgestellt. Oben über den Wolken hatte sie ihn vermutet. Jetzt aber konnte er auch woanders sein, sogar ganz in seiner Nähe. Wenn das Christkind im Himmel zu Hause war, dann wohnte es vielleicht gar nicht weit von hier.

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Sterne lügen nicht Seit undenklichen Zeiten ziehe ich meine Bahn. Ich bin einer von vielen. Man weiß nicht, wie viel Sternlein ziehen, wird gesagt. Mich kennen nicht viele. Tagsüber ist es zu hell, um mich sehen zu können. Nachts bin ich zu klein, um mich gegen das Gefunkel am Himmel und gegen die Lichter auf der Erde behaupten zu können. Wer mich jedoch entdeckt, dem zeige ich den Weg, selbst in tiefster Nacht. In jener Nacht konnte man mich nicht übersehen. So hell hatte ich noch nie geschienen. Ansonsten übersieht man mich meistens. „Sterne lügen“, sagte mir einer. Von denen lasse er sich nicht den Weg zeigen. Er wisse selbst, wo es lang gehe. Er sei seines eigenen Glückes Schmied. „Wir suchen den Superstar“, sagen andere und quälen sich von einer Ausscheidungsrunde in die nächste. Ihr Stern erscheint nicht am Himmel, sondern vorne auf der Bühne. Grelles Scheinwerferlicht richtet sich auf den Kandidaten. Er soll im Rampenlicht stehen und leuchten. Dagegen komme ich nicht an. „Sterne?“ fragte mich jemand. Die seien als Taler vom Himmel gefallen, habe man ihm erzählt. „Wer nach den Sternen greift, wird bald auf der Nase liegen“, fügte er hinzu. Er verlasse sich lieber auf sich selbst. Ich hatte mich damit abgefunden, noch eine Ewigkeit unbeachtet meine Bahn zu ziehen. Dann aber entdeckte mich einer. Er hatte seinen Blick nach oben gerichtet. Aus alten Gewohnheiten wollte er aufbrechen; aus Verletzungen, die ihn lähmten und ihn nicht das Schöne im Leben erkennen ließen. Er nahm sich vor, nicht mehr allabendlich den Fernseher einzuschalten, um abschalten zu können. Er wollte nicht jeden Frust mit Alkohol oder Tabletten herunter spülen. Er suchte neue Perspektiven für sein Leben. Ich machte ihm keine falschen Versprechungen und ließ ihn nicht im Ungewissen, wie lang der Weg sein könne, den er gehen müsse. Aber er machte sich auf den Weg. Seitdem ziehe ich vor ihm her, weit über ihm und dennoch ihm nahe. Ich bin der Stern über seinem Leben und wünsche ihm, dass er ans Ziel kommt. 122


Krippenkind

Klappe zu

Mutter Vater Kind Kind in der Krippe du hast es gut umhegt gepflegt beh端tet umsorgt Krippe im Stall nicht Traumherberge aber Herberge Heu und Stroh Geburt im Stall unbehaust aber umsorgt Engel auf den Feldern Freude auf den Feldern

Kind geboren Babyklappe Klappe auf Klappe zu

Krippenkind in Windeln gewickelt gestillt gewollt Kind im Stall nicht heile Welt verlassenes Nest offene T端ren offene Fenster kein Himmelbett aber geborgen umsorgt geliebt Krippenkind du hast es gut

Kind geboren Kind gefunden Kind in Not Kind im Angebot Kind geboren namenlos mutterlos vaterlos Kind geboren in der Klappe liegt ein Kind Kind geboren Klappe zu woher das Kind wohin das Kind Kind geboren in der Klappe fragt ein Kind wer bin ich?

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Das Kinderfahrrad Anja war stolz auf ihr Fahrrad. Opa hatte es ihr zum Geburtstag geschenkt. Mit dem neuen Kinderfahrrad konnte sie sogar bremsen, wenn sie an der roten Ampel anhalten musste. Vier Jahre war Anja alt. Sie konnte schon bis „zehn“ zählen. Opa konnte noch weiter zählen, obwohl auch er nur zehn Finger an seinen beiden Händen hatte. Das verstand sie nicht, aber Opa würde es ihr bestimmt erklären. Neben dem großen Haus mit dem hohen Turm wohnten sie. Das war die Kirche, in der Anja mit Opa manchmal eine Kerze anzündete. Jetzt fuhren sie von der Kirche aus bis zu dem Weg an der großen Straße. Auf ihm konnten sie ganz sicher fahren, weil man hier nur mit dem Fahrrad fahren durfte. Autos mussten auf der Straße bleiben. „Wo fahren wir hin?“ fragte Anja. „Geradeaus“, rief Opa. Anja wusste nicht, wo das war. Aber bisher hatten sie immer den Weg zurück nach Hause gefunden. Außerdem konnten sie den hohen Turm neben der Kirche sehen; daneben wohnten sie. Ob Opa heute müde war? Bald waren sie wieder an der Kirche angekommen. Opa stellte das Fahrrad in den Ständer vor der Tür; Anja machte es genau so. „Warum sind wir wieder hier?“ fragte sie. Man merkte es ihrer Stimme an, dass sie enttäuscht war. „Wir wollen die Krippe besuchen“, erklärte Opa. Jetzt in der Weihnachtszeit hatten sie zu Hause auch eine Krippe unter dem Weihnachtsbaum stehen. Die Figuren in der Kirche waren jedoch viel größer, fast so groß wie Anja. Vor Freude klatschte sie in die Hände. Am liebsten hätte sie das Jesuskind, das in der Krippe lag, gestreichelt. Opa musste ihr die Geschichte erzählen, wie es Maria und Josef ergangen war, als sie in dem Ort ankamen, wo das Baby geboren wurde. Eine lange Reise hatten sie hinter sich. Meistens mussten sie zu Fuß gehen, weil es noch kein Auto und keinen Bus gab. Unfreundlich waren die Leute. Niemand bot ihnen ein Zimmer an. Eine Hütte fanden sie schließlich, die ähnlich aussah

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wie diese Krippe. „Wie lange sind sie da geblieben?“ wollte Anja wissen. „Das weiß ich nicht“, erwiderte Opa. „Sehr lange aber nicht, da sie den weiten Weg wieder zurückgehen mussten.“ „Zu Fuß?“ fragte Anja. Sie wusste, wie weit es vom Kindergarten bis nach Hause war. „Wahrscheinlich zu Fuß“, bestätigte Opa. „Das Baby war natürlich auch dabei.“ Anja schwieg. Opa wunderte sich, dass sie keine ihrer vielen Fragen stellte wie sonst immer. Ein paar Tage später schellte es an der Haustür. Opa war da. Ziemlich aufgeregt war er. Anja schien sich heute nicht für Opa zu interessieren und wollte sich ins Kinderzimmer verdrücken. „Bleib du bitte hier und zeige mir dein Fahrrad.“ So hatte Opa noch nie mit ihr geredet. Das Fahrrad war nicht da. Gestern Nachmittag hatte sich Anja heimlich mit ihrem Fahrrad aus dem Haus geschlichen und war zur Kirche gefahren. Ohne, dass es jemand bemerkte, hatte sie das Rad an die Krippe gestellt und war schnell wieder nach Hause gelaufen. „Ist das dein Fahrrad, das an der Krippe in der Kirche steht?“ fragte Opa. Böse sah er nicht aus. „Ich habe es der Maria gebracht, damit sie nicht zu Fuß nach Hause gehen muss.“ Opa sagte nichts. Aber Anja glaubte bemerkt zu haben, dass er lächelte.

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Ich will brennen Ich liege im Karton. Es ist eng hier; die Luft ist schlecht. Über einander, neben einander, wild durch einander liegen wir. Ich kann kaum atmen. Die dicke Weihnachtskugel macht sich sehr breit. Sie hält sich für etwas Besonderes. In die Ecke will sie mich drängen; aber da liegt die lange Weihnachtsbaumspitze. „Komm mir nicht zu nahe, ich bin zerbrechlich“, hat sie mich gewarnt. Am liebsten möchte ich Wachstränen weinen, aber ich brenne nicht. Ein ganzes Jahr lang warte ich darauf, dass mich jemand herausholt und mich anzündet. Warten soll ich, bis ich an der Reihe bin, hat man gesagt. Warum muss ich warten? Wenn es dunkel wird, braucht man Licht. Oder soll es dunkel bleiben? Ich habe das Warten satt. Vom langen Warten und Liegen werde ich krumm. Niemand mag eine krumme Kerze. Krumme Kerzen werfen krumme Schatten. Behaglich einrichten kann ich mich hier nicht; es ist viel zu eng. Sehen kann ich auch nichts. Stockdunkel ist es. Brennen möchte ich. Wer zündet mich an? Wer es hell haben will, braucht Licht. Mein Licht kann nicht die ganze Welt hell machen; das weiß ich. Aber für das, was jemand sehen muss, reicht es aus. Und je dunkler es ist, desto heller scheine ich. Wer sich an mein Licht gewöhnt hat, wird staunen, was er alles sehen kann. Er wird erkennen, wie viele Lichtblicke es in seinem Leben gibt – viel mehr, als er vermutet hat. Beklagt euch nicht, wenn es dunkel wird. Zündet ein Licht an. Dann ist es mit der Dunkelheit vorbei. Aber beeilt euch. Mein Licht brennt nur für kurze Zeit. Mir geht es so wie euch: Es gibt mich nicht für immer. Wenn mein Licht zu flackern beginnt, dann erlischt es bald. Jetzt freue ich mich, wenn ich leuchten kann. Auch ihr seid froh, wenn Ihr jemandem Licht in sein Leben bringt. Euer Licht hinterlässt Spuren. Aber wartet nicht, bis ihr nicht mehr leuchten könnt; dann könnt ihr anderen nicht von eurem Licht weitergeben. Ich will brennen. Wer zündet mich an?

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Krippengang „Fahren wir wieder zu den Krippen?“ In der Weihnachtszeit mache ich Krippengänge, am liebsten zusammen mit Kindern. Auch einige Eltern der Kinder begleiten uns in der Regel. Meine Antwort auf die Frage ist eindeutig: „Ja“. Überall stehen Krippen in dieser Stadt. In Kirchen, auf Weihnachtsmärkten, im Bahnhof, in Schaufenstern, in Türeingängen. Romantisch oder abstrakt, liebevoll dekoriert oder in die Gegenwart versetzt. Eine Krippe im ehemaligen Hafenviertel der Stadt gefällt den Kindern besonders gut. Sie veranschaulicht, wie Menschen in diesem Bezirk einmal gelebt haben und was sie teilweise erlebt haben. Ein vor Jahren verstorbener Pfarrer der Kirchengemeinde gab die Initiative zu dieser ungewöhnlichen Krippe. Sie verkörpert das damalige „Milieu“ der Gemeinde in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Viele Not leidende Menschen lebten hier im Hafenviertel am Rhein. Ihre Not und manche leid-, aber auch liebevolle Erfahrung der Menschen wurden in die Figuren der Krippe hinein projiziert. Die Kinder fragen nach der Frau in dem schwarzen Gewand - eine franziskanische Ordensfrau, die ein kleines Mädchen an der Hand hält. Die Franziskanerinnen betreuten damals sozial Schwache und unterhielten einen Kindergarten in diesem Stadtviertel. Uns wird bewusst, dass auch das Kind in der Krippe ein „Sozialfall“ war. „War Josef auch arbeitslos wie mein Vater?“ Die Frage eines Kindes aus der Gruppe ist sehr direkt. Der betroffene Vater steht dabei und schweigt. Je näher wir hinschauen, desto mehr sehen wir. Auch die Frau mit dem Matrosen fällt den Kindern auf. „War das seine Freundin?“ Die Frage beantwortete ich mit einem vorsichtigen „Ja“. Freundin für eine Stunde vielleicht. Die Familien- und Partnergeschichten von damals unterscheiden sich nicht viel von den heutigen. Die Krippenfiguren führen von der Vergangenheit in die Gegenwart. Damals ist ein Teil von heute. Wie Weihnachten.

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Keine besondere Nachricht Mitten in der Nacht musste ich die Nachricht überbringen. Schlafen die Hirten dann nicht? Nachts lassen sie ihre Herde von Hunden bewachen. Warum sollte ich sie wecken und aus ihren Träumen reißen? Von himmlischen Boten träumten sie sicher nicht, und sie erwarteten wohl auch keinen. Dass in ihrer Hütte ein Kind geboren worden war, würde sie kaum bewegen aufzustehen, um das Neugeborene zu bewundern. Überall auf der Welt werden Kinder geboren. Was soll daran Besonderes sein? Warum also mitten in der Nacht meine Flügel ausbreiten, wenn niemand mich erwartete? Aber Boten werden nicht gefragt. Oft habe ich vergeblich geklingelt, wenn ich eine Nachricht überbringen musste. „Bitte nicht stören“, stand auf dem Schild. Bote der Hoffnung wollte ich sein, wenn ich auch nicht alle Erwartungen erfüllen konnte. Warum ließ man mich nicht herein? Aus Angst vor schlechten Nachrichten? Ich weiß es nicht. Boten verkünden alles Mögliche, um sich Gehör zu verschaffen. Oft wirbeln sie nur Staub auf mit unwichtigen Meldungen. Oder sie wollen sich nur wichtig machen. Die Nachricht in jener Nacht war keine außergewöhnliche. „Euch ist ein Kind geboren.“ „Na und?“ würden sie fragen. Es wäre leichter gewesen, den Hirten eine bessere Unterkunft in Aussicht zu stellen, statt ihnen die Geburt eines Kindes mitzuteilen. Ich musste mich anstrengen, um sie neugierig zu machen. „Euch ist ein Kind geboren.“ Kein Wort davon, wer die Mutter war. Keine Rede vom Vater. Was sollte ich antworten, wenn ich danach gefragt wurde?

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„Fürchtet Euch nicht“, rief ich ihnen zu. Ein Kind sei eine riskante Angelegenheit, höre ich sagen. Es gebe nicht genug Kindergeld. Man wisse nicht, was die Zukunft bringt. Lieber wollen sie sich ein Auto kaufen, ein Haus bauen oder die eigene Existenz sichern. „Fürchtet Euch nicht“, wiederholte ich. „Seid nicht mutlos. Kümmert euch um das Kind. Es ist euer Kind. Es ist für euch geboren.“ Aufrütteln wollte ich sie und ihre Schritte beflügeln, damit sie sich lösen konnten von ihren Alltagsproblemen. Sie sollten Ja sagen zum Kind. Mehr nicht. Und mitten in der Nacht brachen sie auf. Sie machten sich auf den Weg zum Kind, zu ihrem Kind.

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Hunde müssen draußen bleiben Ich war enttäuscht. Jeden Baum und jeden Stein am Weg hatte ich mit tief herabhängender Nase beschnüffelt, um die Fährte meines Herrn nicht zu verlieren. Wegen der Dunkelheit konnte ich mich nicht auf meine guten Augen verlassen. Endlich hatte ich die Hütte gefunden, zu der er sich mitten in der Nacht davon gemacht hatte. Vermutlich war er nicht damit einverstanden, dass ich die Schafe im Stich gelassen hatte, die ich bewachen sollte. Die Schafherde halte ich zusammen, damit die Tiere nicht ausbrechen und eigene Weg gehen. Das ist meine Aufgabe. Mein Herr kann sich darauf verlassen, dass ich sie erfülle. In jener Nacht verspürte ich einen unwiderstehlichen Drang. Unvorhergesehenes musste geschehen sein. Warum hatte mein Herr mich nicht informiert? Wenn er etwas sagt, verstehe ich ihn. Auch er versteht mich, wenn ich belle. Ich wollte ihm erklären, warum ich nicht bei den Tieren bleiben konnte, und ich war mir sicher, dass er mich verstehen würde. Doch was stand auf dem Schild an der Tür? „Hunde dürfen nicht hinein.“ Ausgesperrt, ausgegrenzt wurde ich. Hatte ich dafür die Strapazen des langen Weges auf mich genommen? Nie habe ich mir etwas zu Schulden kommen lassen; denn ich bin gut erzogen. Warum ließ man mich nicht hinein? Diskriminierend fand ich das. Kläffer müssen draußen bleiben. Raucher müssen draußen bleiben. Das weiß ich. Fliegengitter halten Insekten fern. Auto-Stinker dürfen nicht in die Umweltzonen. Aber das hat doch nichts mit mir zu tun. Mir ist bekannt, dass ich nicht überall willkommen bin. Neulich wollte ich mir den Kinderspielplatz ansehen. War verboten, obwohl ich gerne mit Kindern spiele. Auf der Hundewiese nebenan war ich willkommen. Das verstehe ich zwar nicht, aber ich habe mich darüber gefreut.

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Jetzt saß ich vor der Tür und verstand die Welt nicht. Allein gelassen fühlte ich mich. Nicht beachtet. Hatte ich das verdient? Ich weiß nicht, wie es kam, aber irgendwann begann ich zu heulen – zuerst still, nach und nach muss es lauter geworden sein. Mein Herr sagte mir später, es sei unerträglich laut gewesen. Gejault hätte ich. Warum ich auf das neugeborene Kind keine Rücksicht genommen hätte, fragte er vorwurfsvoll. Von einem Kind wusste ich nichts. Auch konnte ich nicht ahnen, dass es zu weinen begann, als es mich jammern hörte. Ganz leise habe es zuerst geweint, allmählich aber lauter, sagte mein Herr. Plötzlich öffnete sich die Tür. Davon jagen wollten sie mich. „Stören­ fried“, hörte ich, aber ich war schon in der Hütte und begrüßte voller Freude meinen Herrn. Er schimpfte nicht. Von einem weinenden Kind habe ich nichts bemerkt. Im Gegenteil: Es lag friedlich da und lächelte, als es mich sah. Es hätte eher lächeln können, wenn man mich herein gelassen hätte.

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Jesuskind mit Ochs Niemand hatte Notiz von mir genommen, als sich das heilige Geschehen ankündigte. Ich hatte hinten im Stall geschlafen. Als Ochs wird man in die hinterste Reihe gedrängt, wenn sich wichtige Dinge ankündigen. Für das Gruppenbild sei ich nicht fotogen genug, hieß es. Meinen eckigen, kantigen Körper wollten sie nicht auf dem Bild haben. Außerdem rieche ich nach Schweiß, und manchmal kleben ein paar Dreckklumpen an meiner Hinterseite. Ochsen müssen demütig sein, hat man uns beigebracht. Anderen stehe es zu, sich nach vorne zu drängen, um neben dem Neugeborenen und den stolzen Eltern groß im Bild zu sein. Plötzlich wurde ich wach und blinzelte mit den Augen. Viel sehen konnte ich nicht, weil mir die Sicht versperrt wurde von denen, die sich im Glanz des göttlichen Kindes sonnten. Ich war beeindruckt, wie viele sich für das Kind interessierten – Kinder und alte Leute, Schafhirten und geschäftige Kaufleute, Mütter mit ihren kleinen Kindern auf dem Arm. Alle gehörten zu den himmlischen Heerscharen und schrieen aufgeregt durcheinander. Ich war überrascht. Im Halbdunkel konnte ich erkennen, wie sie sich für das Gruppenfoto in Positur stellten. Ich bin ein Arbeitstier, das nicht zu den feinen Leuten passt. Die standen oder knieten direkt neben dem Kind. Jeder versuchte dem Josef die Hand auf die Schulter zu legen, um ihm zu zeigen, dass er anwesend war. Jeder wollte Mutter Maria in den Arm nehmen, als sei sie jedermanns Lieblingstante. Hinten in der Reihe hob ich meinen Schwanz zur Begrüßung des Kindes hoch – wenn ich ehrlich bin, um die Fliegen zu verjagen. Neben mir stand mein Freund, der Esel. Er hielt die Ohren gesenkt, weil auch er für einen Platz ganz vorn nicht in Frage kam. Zwar hatte er sich durch die Hintertür in die Nähe des Kindes geschlichen, aber er war wieder nach hinten geschickt worden.

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Plötzlich hatte ich freie Sicht. Denn kaum war das Foto gemacht worden, da waren die meisten schon wieder verschwunden. Sie mussten noch Geschenke einpacken. Die Kinder sollten ins Bett. Einige mussten noch einkaufen, weil zufällig Gäste gekommen waren. Oma musste für zwei Wochen ins Altersheim gebracht werden, weil Sohn und Schwiegertochter in den Weihnachtsurlaub fahren wollten. Alle waren sie weg. Ohne es richtig zu begreifen, stand ich neben dem Kind, das sie in die Futterkiste gelegt hatten. Vorne in der ersten Reihe stand ich. Alles konnte ich sehen, und alle konnten mich sehen. Als der Esel das bemerkte, trabte er auch nach vorn. Platz war genug für uns beide vorhanden. Der Fototermin war leider vorbei. Auf einem Bild mit mir hätte man sehen können, wer wirklich zum Kind und zu seinen Eltern gehörte und wer ihnen Wärme und Behaglichkeit schenkte. Jesuskind mit Ochs – dieses Bild müsste in die Zeitung, vorne auf die erste Seite. Aber wer will das schon?

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Freude macht mir mein Hund Ich bin ohne festen Wohnsitz, weil ich als Hirte immer bei der Herde bleibe und sie woanders hinführe, wenn die Tiere das Gras abgeweidet haben. Selbst nachts kann ich meine Tiere nicht allein lassen, weil ich sie vor Räubern oder Raubtieren schützen muss. Einen großen Stock habe ich, um mich wehren zu können. Oft reicht er nicht aus, und ich bin machtlos. Ein paar Schafe und Ziegen gehören mir. Neulich ist mir ein Esel zugelaufen, der lahmte und ziemlich verkommen aussah. Sein Herr wollte ihn wahrscheinlich loswerden, weil er zu alt für ihn war. Das Tier tat mir leid, daher habe ich es aufgenommen. Jetzt läuft mir der Esel nach, als sei er immer bei mir gewesen. Nomaden nennt man uns, nicht Sesshafte – Leute, die immer auf Achse sind und auf die man sich angeblich nicht verlassen kann. Ein wenig korrupt sollen wir sein, da wir uns anders als andere Menschen verhalten. Keiner traut uns über den Weg. Keiner will wirklich etwas mit uns zu tun haben. Neulich war es anders. Mitten in der Nacht wurde ich wach, da ich meinte, Diebe wollten über meine Tiere herfallen. Ich glaubte zu träumen, weil ich eine Stimme hörte: „Ich verkünde Euch eine große Freude.“ So etwas hatte uns noch niemand gesagt. Worüber sollen wir uns freuen? Dass man auf Leute, die ohne festen Wohnsitz sind, mit dem Finger zeigt? Dass viele uns nicht in ihrer Nähe haben wollen und uns behandeln, als hätten wir eine ansteckende Krankheit? „Ich verkünde Euch große Freude.“ Dass ich nicht lache. Benachteiligt werden wir. An den Rand werden wir gedrückt. Der Einzige, der mir Freude macht, ist mein Hund. Er hilft mir, meine Tiere zusammenzuhalten. Er wittert Gefahren. Er leistet mir Gesellschaft. Er ist mein Freund.

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Aber ich hatte richtig gehört. Ich sollte mich freuen. Verstanden habe ich das anfangs nicht. Aber ich bin den anderen hinterher gelaufen. Sie hatten es auch gehört und waren losgegangen. An meine Tiere habe ich vor Aufregung nicht gedacht. Später fiel mir ein, dass sich mein Hund um sie kümmern werde. Einfach losgerannt bin ich. Alles habe ich stehen und liegen lassen, weil mir jemand eine Freude machen wollte. Sehr oft kommt das in meinem Leben nicht vor. Verstehen kann ich das bis heute nicht. Es konnte sein, dass ich wieder enttäuscht wurde wie so oft in der Vergangenheit. Aber vielleicht war es diesmal anders. Auf etwas freuen sollte ich mich. Nicht mein Hund war gemeint, sondern ich. Ich konnte mich nicht erinnern, wann das zuletzt der Fall gewesen war.

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Das Gastgeschenk Ein Kamel sei ich, behaupten die Leute. Dabei heiße ich mit rich­ tigem Namen Dromedar. Ich ärgere mich, wenn man mich mit meinen Verwandten, den Trampeltieren, verwechselt. Die haben zwei Höcker. Ich begnüge mich mit einem. Mein Herr hat nie einen zweiten Höcker vermisst, wenn ich mit ihm durch den Wüstensand galoppiere. Die schweren Lasten, die ich oft transportieren muss, verteilt mein Herr so gut auf meinem Rücken, dass sie nicht herunterfallen können. Die Reise, die wir bald antreten wollen, kommt überraschend für uns. Es soll ein Ereignis geben, das nicht alle Tage vorkommt. Ein neuer König ist geboren worden. Mein Herr will ihm seine Ehrerbietung erweisen und ihm persönlich Glück und Segen wünschen. Allerdings weiß er nicht, wo genau er auf die Welt kam. Nichts davon steht in der Zeitung; auch in den Nachrichten wurde nichts mitgeteilt. Wir können niemanden anrufen, um uns zu erkundigen. Selbst im Internet ist nichts zu finden, was auf ein außergewöhnliches Geschehen hindeutet. Es scheint so, als soll die Nachricht geheim gehalten werden. Dennoch haben wir beschlossen, uns auf den Weg zu machen. Nähere Anweisungen erhalten wir noch. Das wurde uns zugesagt. Mein Herr ist allerdings skeptisch, da er nicht weiß, wie lange wir unterwegs sein werden. Ich jedoch traue mir die Reise zu, selbst wenn sie lange dauern sollte. Ich komme, wenn es sein muss, mehrere Wochen ohne Wasser aus. Auch macht es mir nichts aus, harte oder dornige Pflanzen fressen zu müssen, um satt zu werden. Schnell und ausdauernd bin ich. Achtzig Kilometer schaffe ich am Tag – allerdings nur, wenn mein Herr nicht neben mir herlaufen muss, weil ich bis zum Höckerrand voll beladen bin. Das Gastgeschenk, das mein Herr für den jungen König mitnehmen will, ist zum Glück nicht sperrig. Er macht gute Geschäfte mit dem Harz, das von den Beeren eines großen Strauchs gewonnen wird. Es soll desinfizierend wirken und Schleim lösen. Das Zahnfleisch soll es stärken und Parodontose verhindern. Weinfässer sollen damit ausgeräuchert werden, um den Wein haltbar zu machen. Ich brauche so 136


etwas nicht. Mein Herr weiß jedoch, wie begehrt es bei vielen Menschen ist. Frauen sollen die Myrrhe, so nennen sie das Harz, gegen unreine Haut benutzen. Sie beräuchern sich damit, wenn sie erkältet sind. Was der erst wenige Tage alte König mit dem Harz anfangen soll, weiß ich nicht. Wenn ich auch nichts sagen darf – merkwürdig finde ich es dennoch, das einem jungen König zu schenken. Wenn ich mich am Abend vor unserer Abreise im Sand schlafen lege, werde ich etwas Wüstensand zusammenscharren und ihn in einer Kokosschale verstecken. Den will ich dem Kind mitnehmen. „Aus einer Gegend mit diesem Sand komme ich“, werde ich ihm sagen. „In dem Sand lebe ich. Mehr brauche ich nicht zum Leben.“ Das Kind soll wissen, wie wenig ich benötige, um glücklich zu sein. Meinem Herrn sage ich nichts davon. Er will dem neuen König Myrrhe-Balsam schenken. Das sei ein alter Brauch, meinte er. Herrlichen Wohlgeruch soll er verbreiten. Die Toten würden damit einbalsamiert, damit sie im Grab Wohlbefinden verspüren. Das hat er gesagt. Ich will mich dazu nicht weiter äußern. Ich bleibe bei einer Portion Sand. Ich brauche nur Sand, und ich hoffe, dass der junge König das versteht.

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Melchior nennen sie mich Woher ich komme, fragen sie. Ob ich Sterndeuter oder ein König bin. Warum ich mich auf den Weg machte. Welche Geschenke ich mitgebracht habe. Wie lange ich bleiben will. Mein Kamel, das mich her brachte, wartet vor der Hütte und möchte die Heimreise antreten. Aber ich will noch bleiben. Ich darf mich nicht davon machen. Je länger ich hier bin, desto mehr spüre ich, dass mich etwas hier hält. Melchior nennen sie mich. Ich fühlte mich wohl daheim, und ich war zufrieden. Eine große Familie sind wir, ehrbare Leute. Meine Mutter konnte es nicht verstehen, als ich ihr sagte, ich müsse aufbrechen. „Wo willst du hin?“ Ich konnte es nicht mit Bestimmtheit sagen. „Bist du nicht mehr zufrieden mit unserem Leben? Hier hast du festen Boden unter den Füßen. Was willst du in der Fremde?“ Ihre Augen verrieten Enttäuschung. Bleibe im Land und nähre dich redlich, stand in ihnen geschrieben. Dem wollte ich nicht widersprechen. Unser Leben verlief in geordneten Bahnen. Unsere Welt war überschaubar. Warum sollte ich sie verlassen? Dennoch konnte ich mir mein Leben anders und woanders vorstellen. Wer sich nicht ändert, hat nicht gelebt – ein weiser Mensch hat das gesagt und hinzugefügt, das Leben bestehe aus Abschied und Aufbruch. „Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um“, warnten mich meine Brüder. „Gott wird bei mir sein“, entgegnete ich; „neue Erfahrungen will ich machen und sehen, wie ich damit fertig werde.“ Kein Weg war mir zu weit dazu. Meiner Mutter sagte ich nichts davon. Ich liebe sie, und ich wollte sie nicht verletzen. Aber ich musste sie los lassen. Auch sie will, dass sich einiges in meinem Leben ändert. Aber gleichzeitig soll möglichst viel so bleiben, wie es ist. „Warte auf bessere Zeiten“, schlug mein Vater vor. „Bist dahin kannst du noch träumen und Pläne schmieden.“ „Vater“, entgegnete ich, „besser als bisher muss es nicht werden. Jetzt ist es an der Zeit, mich auf den Weg zu machen. Wenn ich nur Pläne schmiede und träume, dann verschlafe ich sie. Wer heute etwas vorhat,

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soll nicht bis morgen warten, wird gesagt.“ „Dann wage dein Leben“, forderte er mich auf. „Mach dich auf den Weg.“ Er sagte es und segnete mich. Unterwegs traf ich Gefährten. Ich blieb nicht allein. Man muss aufbrechen, um zu erfahren, wer mit einem geht. Auch dass hat ein weiser Mensch gesagt. Ich hatte keine Wegweiser, aber ich fand Freunde. Zu dritt machten wir uns auf den Weg. Ich wusste jedoch, dass ich etwas von mir selbst fordern musste, ehe ich mich auf meine Freunde verlassen durfte. Dass wir unterwegs waren zu einem Kind und dass dieses Kind unser Leben verändern würde, merkten wir erst, als wir am Ziel waren. „Wo ist deine Krone“, fragen mich jene, die mich einen König nennen. Meine Krone sind die Menschen, die mir begegnet sind und mir Mut gemacht haben. Meine Krone gehört dem Kind, das mein Leben verändert hat. Meinem Vater, meiner Mutter gebührt eine Krone. Ohne sie hätte ich nicht aufbrechen können. Ohne sie wäre ich nicht hier.

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Esel haben keine Lobby Ich stehe schon lange an der Krippe. Von Natur aus bin ich geduldig und beschwere mich nicht. Meine langen Ohren hängen schlapp herunter. Ich fühle mich meistens ganz entspannt. Seit ein paar Tagen ist das anders. Es kommen nicht mehr so viele Leute zum Kind. Von mir nehmen sie keine Notiz. Esel haben keine Lobby. Wir sind zu bescheiden und genügsam. In der vergangenen Nacht jedoch habe ich meine Ohren gespitzt. Senkrecht hoch standen sie, damit ihnen nicht entging, was geflüstert wurde. Wir sollen schleunigst weg von hier. Das Kind soll entführt werden. So etwas habe ich noch nicht erlebt. Wo sollen wir denn hin? Seit dreißig Jahren wohne ich hier in der Gegend. Jeden Grashalm und jede Wasserpfütze kenne ich. Und jetzt sollen wir weg? Nach Ägypten, habe ich verstanden. Was wollen wir in Ägypten? Meine Vorfahren waren dort, als die Pyramiden gebaut wurden. Soll ich da wieder Steine schleppen und die schwer beladenen Karren durch den Sand ziehen? Ich weigere mich, habe ich der Mutter zugeflüstert. Sie weiß, wie störrisch ich sein kann. Wir brauchen dich, raunte sie mir zu. Du kennst dich hier aus. Außerdem kannst du das Kind tragen und mich, wenn ich müde bin. Du hast eine große Verantwortung. Sie schien dass ernst zu meinen. Tragen soll ich sie. Sie und das Kind. Hat mich jemand um so etwas schon einmal gebeten? Ich kann mich nicht erinnern. Steine mussten meine Vorfahren schleppen. Anderen die Karre aus dem Dreck ziehen. Jetzt soll ich die Frau tragen. Und das Kind. Ich sei verantwortlich, hat sie gesagt. Wann war ich jemals für etwas verantwortlich? Dummer Esel, sagen viele. Dass ich ein gutes Gedächtnis habe, dass ich genügsam bin und für andere die schweren Lasten schleppe – wen interessiert das? Wir Esel können uns nicht wehren. Wir haben keine Lobby.

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Jetzt soll ich Verantwortung tragen. Nach Ägypten sollen wir gehen. Ich weiß nicht, wie viele Kilometer das sind. Ich werde die Ohren spitzen und auf meine gute Nase vertrauen. Sie wollen sich auf mich verlassen – auf mich, einen Esel. Sie trauen mir das zu, weil ich gutmütig bin. Sie trauen es mir zu, weil ich das Kind liebe und mich von ihm streicheln lasse. Esel sind verantwortlich. Gewusst habe ich es immer. Gesagt hat es mir noch keiner.

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Peter Josef Dickers beschreibt in seinen Texten alltägliche Begegnungen und Erfahrungen – hinter­gründig, kritisch, mitfühlend und humor­voll. Es ist nicht nur der Nahbereich des Lebens, der uns herausfordert und Stellung beziehen lässt. Unversehens sehen wir uns mit Begegnungen und Erfahrungen in der „Ferne“ kon­fron­tiert. Nicht selten weitet sich unser Horizont bis zu jenen Sphären, die wir „Himmel“ nennen. „Esel haben keine Lobby“ ist zunächst der Titel einer weihnacht­lichen Er­zählung, aber sie verdeut­licht auch, dass Anerkennung und Respekt nicht angeboren sind, sondern erworben werden müssen. Diese Erfahrung zieht sich wie ein roter Faden durch viele Texte dieses Buches. Die Sehnsucht des Esels nach Glück und Geborgenheit sowie nach Befrei­ung von den Widrigkeiten im Leben ist auch Sehnsucht vieler Menschen.

ISBN 978-3-939052-04-3 EUR 12,00

„Ich lebe nicht vom Schreiben, aber ich schreibe, weil es viel über das Leben und die Menschen zu schreiben gibt.“

Peter Josef Dickers


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