Erasmus Über Krieg und Frieden

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leseprobe aus: erasmus friedensschriften

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leseprobe aus: erasmus friedensschriften

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inhalt BIBLIOTHEK HISTORISCHER DENKWÜRDIGKEITEN

Herausgegeben von Wolfgang F. Stammler

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über krieg und frieden Die Friedensschriften des Erasmus von Rotterdam Herausgegeben von Wolfgang F. Stammler Hans-Joachim Pagel und Theo Stammen Mit Beiträgen von Mariano Delgado und Volker Reinhardt Aus dem Lateinischen von Hans-Joachim Pagel, Wolfgang F. Stammler und Werner Stingl Kommentiert von Hans-Joachim Pagel

alcorde verlag 3


inhalt

Erasmus von Rotterdam Gemälde von Quentin Massys, das dieser 1517 für ein Diptychon mit den Porträts von Erasmus und seinem Freund Peter Gilles als ein Geschenk für Thomas Morus gemalt hatte, der begeistert die Ähnlichkeit lobte.

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INHALT

Vorwort des Herausgebers

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theo stammen Erasmus und die Friedensschriften Eine Einführung

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volker reinhardt Ideal und Augenmaß Erasmus und die Politik seiner Zeit

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mariano delgado Pazifisten, Bellizisten, Scholastiker Drei Grundhaltungen zu Krieg und Frieden in der Renaissance

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DIE FRIEDENSSCHRIFTEN DES E R A S M U S VO N ROT T E R DA M

rede über frieden und zwietracht oratio de pace et discordia

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papst julius vor der verschlossenen himmelstür iulius exclusus e coelis

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brief an den abt anton von bergen vom 14. märz 1514

163

«süss ist der krieg den unerfahrenen» dulce bellum inexpertis – adagium 3001

177

die erziehung eines christlichen fürsten institutio principis christiani

kapitel iii fähigkeiten für die bewahrung des friedens 5

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inhalt

kapitel x staatsgeschäfte des fürsten in friedenszeiten

258

kapitel xi überlegungen für den fall eines krieges

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die klage des friedens 277

querela pacis

aus: vertraute gespräche 335

colloquia familiaria

die soldatenbeichte 339

confessio militis

der soldat und der kartäuser 345

militis et cartusiani

charon 354

charon

höchst nützliche erörterung der frage, ob man gegen die türken krieg führen soll nebst einer auslegung des psalms 28 utilissima consultatio de bello turcis inferendo , et obiter enarratus

365

psalmus xxviii

ANHANG

anmerkungen

439

bibliographie

528

bildnachweis

534

personenregister

539 6


vorwort

VO RWO RT D E S H E R AU S G E B E R S

I

m Anfang war das Gespräch, so lautet der Titel eines jüngst erschienenen Buches aus der Feder des Zürcher reformierten Pfarrers Ueli Greminger. Der Titel ist eine Übersetzung des ersten Satzes des Johannes-Prologs nach der lateinischen Übersetzung des Erasmus aus dem Griechischen (In principio erat sermo), in der er für das griechische Wort logos das lateinische ser­ mo statt des bis dahin üblichen verbum wählte. Beides heißt zwar « Wort », doch sermo bedeutet auch « Gespräch ». Ob diese Übersetzung « richtig » ist – manche Zeitgenossen kritisierten sie heftig –, braucht uns hier nicht zu beschäftigen. Wichtig ist, dass sie uns, losgelöst aus ihrem Zusammenhang, jenes Stichwort gibt, das in besonderer Weise Leben, Denken und Schreiben des Erasmus charakterisiert : sermo, Gespräch. Wir sehen keinen Prediger vor uns, der wortgewaltig und selbstgewiss von der Kanzel herab das « Wort » verkündet, das « sie sollen lassen stahn », auch keinen weltfernen Gelehrten, der in einsamer Studierstube seine Gedankenfäden spinnt – wir sehen einen Mann im kleinen Kreis der Freunde, wo man in Rede und Gegenrede seine Gedanken austauscht. Und ist er allein, dieser Mann, dann unterhält er sich nicht mit den Büchern, die ihn umgeben, sondern mit deren Autoren, wie es der Kartäuser im Gespräch mit seinem Soldaten-Bruder beschreibt (S. 348). Und wenn er schreibt, hat er oft ein Gegenüber vor Augen, an das er schreibt : sei es ein Einzelner, wie in der « Rede über Frieden und Zwietracht », sei es die Welt, wie in der « Klage des Friedens ». Ein Mann des Gesprächs also. Es gab für Erasmus außer den Geboten Christi nichts, worüber sich um der Menschen wil7


vorwort

len nicht reden ließe. Leidenschaftlich kommt dies in seinen Friedensschriften zum Ausdruck, wo er unablässig mit der Frage nach Alternativen und Strategien ringt, wie sich das Schlimmste aller Übel, ein Krieg, am besten vermeiden ließe, und zitiert dabei bezeichnenderweise eine Konfliktlösungsstrategie, wie sie die «Heiden» praktizierten: Bei diesen nämlich «versammelten sich die Krieger, bevor sie zu den Waffen griffen, erst zu einem Gespräch. Die Römer entsandten, nachdem alle Versuche gescheitert waren, zusammen mit dem Pater patratus einen Fetialen und vollzogen rituelle Zeremonien, zweifellos deshalb, um einen Aufschub zu erlangen, der die Gemüter besänftigen sollte» (Dulce bellum, S. 217). Was Erasmus partout nicht in den Kopf wollte, war das, was er die Pax beklagen ließ: «Warum bloß verwenden die Menschen ihren Verstand lieber dazu, sich ihren Untergang zu bereiten, als dazu, ihr Glück zu bewahren? Warum sehen sie klarer, was zum Bösen als was zum Guten führt? Wer auch nur ein wenig klüger ist, prüft, überlegt und schaut sich um, bevor er sich an ein privates Geschäft macht. Aber in den Krieg stürzen sie sich kopfüber mit geschlossenen Augen, zumal, wenn er erst einmal begonnen wurde, nicht ausgeschlossen werden kann, dass aus einem winzigen Krieg ein ganz großer entsteht, aus einem einzigen bald mehrere, aus einem unblutigen ein blutiger …» (Querela pacis, S. 327). In der Tat, mit Erasmus ließ sich kein Krieg führen, er taugte nicht dafür, nicht einmal für eine Parteinahme im Streit um Luther. Als er von Papst Hadrian VI. aufgefordert wurde, ein Buch gegen Luther zu schreiben, antwortete er : « Es heißt, ich sei ein Lutheraner, weil ich Luther nicht angreife, aber von den Luthe­ranern werde ich geschmäht. Einst war ich glücklich in der Bruder­schaft der Gelehrten. Lieber würde ich sterben als so viele Freund­schaften aufkündigen. Und ich würde lieber sterben als mich einer Partei anschließen » (bei Bain­ton S. 169). Oder in einem Brief an einen gewissen Laurinus in Brügge : « Ich kann nicht 8


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anders sein als ich bin. Ich kann nicht anders als die Zwietracht verabscheuen. Ich muss nun einmal Frieden und Eintracht lieben » (bei Bainton S. 167). Seinem Wesen und Denken entsprach vielmehr das Diplomatische, die Suche nach Ausgleich und einem dritten Weg zwischen einem Entweder-Oder und SowohlAls auch. Wenn wir uns fragen, was uns die Lektüre der Friedensschriften heute lehrt, dann vor allem die ernüchternde Erkenntnis: dass die Welt seither keine bessere geworden ist – und dies trotz weltüberspannender Friedensorganisationen, gegründet aus dem Geist eines politischen, humanistisch inspirierten Idealismus, die das Zusammenleben der Völker auf friedlich schiedliche Weise zu regeln den Auftrag haben. Der Humanismus mit seinem Ideal der Schaffung einer menschenwürdigen Welt hat letztlich als wirkmächtiger Gegenpart zu einer reinen Interessenund Machtpolitik bis heute versagt und findet, noch immer, erst dann Gehör, wenn diese Politik in der Katastrophe endet. Der Humanismus hat zwar wortgewaltige Fürsprecher, aber keine Macht. Das mag in seinem Wesen begründet liegen, das aus dem Glauben an die Fähigkeit zum Gespräch und an die Überzeugungskraft von Argumenten lebt. Die Geschichte aber lehrt, dass « gerade die Menschen, die von allen Geschöpfen am ehesten zur Einmütigkeit geschaffen sind und sie am nötigsten bräuchten, [dass] ausgerechnet sie weder die sonst so wirkmächtige Natur noch die Erziehung untereinander verbindet, noch all die vielen Annehmlichkeiten sie zusammenschweißen, die aus solcher Übereinstimmung entstehen würden, und selbst die Erfahrung und das Wissen um all das Böse vermögen es nicht, sie zu gegenseitiger Liebe zu bewegen » (Klage des Friedens, S. 284). Natürlich wird man Erasmus in Vielem zustimmen, was er vor 500 Jahren geschrieben hat. Doch warum hat sich die Menschheit bei allen zivilisatorischen Fortschritten nicht in eine friedlichere verwandelt? Der Fortschritt bestand außer in einem 9


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gewachsenen Bewusstsein von der Würde des Menschen und der Menschenrechte vor allem darin, wie auch Mariano Delgado in seinem Beitrag bemerkt (S. 50), die Kriegsführung technisch wie logistisch so zu perfektionieren und die Zerstörungswucht so ins Unermessliche zu steigern, dass die Gefahr des Weltuntergangs zu einer realen Bedrohung wird. Und – wie absurd – gerade diese rasend voranschreitende Entwicklung vor allem auf technischem Gebiet bewirkt zwar einerseits eine sich ebenso rasend verbreitende Zukunftseuphorie, wie sie andererseits eine sich fast ins Hysterische steigernde Zukunftsphobie und damit Ängste erzeugt, die nach immer neuen Abwehr­mecha­nis­men verlangen. Warum also sich mit Erasmus beschäftigen und was kann er uns heute noch sagen? Vielleicht dass er uns an den Sisyphos in uns erinnert : an das unbedingte Verlangen, mit dem Stein des Friedens ebenjenen Fels den Berg hinaufzuwälzen, der, ins Tal herabstürzend, immer wieder zum zerstörenden, die Welt vernichtenden Felsen wird. Aber diese Sehnsucht nach Frieden und einer « heilen Welt », dieses Verlangen, den Fels einst doch einmal auf dem Berg verankern zu können, diese Sehn­sucht bleibt – auch und erst recht angesichts der wachsenden Zerstörungspotentiale und einer zunehmend zu beobachtendenen Irrationalität politischen Handelns. Diese Sehnsucht ist Teil von uns Menschen. Niemand hat sie und diese Welt des Friedens, die doch um so viel billiger zu haben wäre als ein Krieg, eindringlicher beschrieben als Erasmus, und gleichzeitig hat keiner ihr Scheitern an der politischen Wirklichkeit mehr erkannt und beklagt als er : « Ich sehe, wie viel Dunkelheit in allen menschlichen Dingen ist. Ich sehe, wie viel leichter es ist, Unruhe zu erregen als zu beschwichtigen» (bei Bainton S. 67). Erasmus war und ist bis heute der « Apostel des Friedens », die Verkörperung der in seinen Schriften sich spiegelnden Sehn­ sucht nach dem Ewigen Frieden. Er glaubte kompromiss­los an die andere Seite der Wirklichkeit, an das Ideal eines versöhn10


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ten Miteinanders, an eine Welt, in der, wie es in der Gottes­ verheißung bei Jesaja heißt, « Wolf und Schaf beieinander weiden und der Löwe Stroh fressen wird wie das Rind » (Jes 65,20–25). Seine Gedanken und Schriften werden auch heute noch kaum jemanden unberührt lassen. Sie rühren an ebendiese einem jeden Men­schen innewohnende Sehnsucht nach Versöhnung mit dem scheinbar Unversöhnbaren. Sie lesen sich bisweilen wie ein verzweifelter, doch nie verzweifelnder Aufruf, der nie ganz ungehört verhallte und an dem sich immer wieder neu aufkeimende, ja auflodernde Friedensbewegungen und Friedens­aktionen entzündeten. Sie erweisen sich darin letztlich auf eine geheimnisvolle Weise nicht weniger machtvoll als alles Aufrüsten mit Worten und Waffen , indem sie rational und mit Leidenschaft argumentierend an das Gute im Menschen appellieren und über die Zeiten hinweg zum wirkmächtigen Gewissen einer im Bann des Bösen sich immer wieder selbst an den Abgrund führenden Welt geworden sind. In einer Zeit, in der sich wieder einmal Abgründe auftun und der Frieden – und nicht nur der Frieden, sondern die Schöpfung als Ganzes – mehr denn je einer kaum mehr beherrschbaren Bedrohung ausgesetzt ist, fühlen wir, die Herausgeber und der Verlag, uns deshalb aufgerufen, mit diesem Band, der erstmals sämtliche Friedensschriften in sich vereinigt, diese Sehnsucht nach Frieden im und aus dem Geist des Erasmus weiter zu schüren und lebendig zu erhalten. Die Anregung dazu kam von dem Politologen und ErasmusKenner Theo Stammen, der mit diesem Vorschlag im Mai 2015 an den Verlag herantrat. Ausgangspunkt waren für ihn die in diesem Verlag erstmals auf Deutsch erschienenen wichtigsten Werke von Sebastian Castellio (1515–1563), eines Gesinnungsgenossen von Erasmus. Nach anfänglichem Zögern machte sich der Verlag die Sache jedoch schon bald ganz zueigen und entschloss sich, die 11


vorwort

zunächst vorgeschlagene Textauswahl nicht nur zu erweitern, sondern sämtliche Schriften neu, zum Teil auch erstmals ins Deutsche zu übersetzen. Mit diesen inhaltlichen Ansprüchen an das Buch wuchsen auch die gestalterischen : Obwohl die Texte für sich genommen schon sehr ausdrucksstark und lebendig sind, erschien es uns als reizvoll, ihnen aus der zeitgenössischen und modernen Malerei Beispiele an die Seite zu stellen, die sich aus zeitgenössischer wie aus moderner Sicht nicht minder eindringlich mit den Thema Krieg und Frieden befassen. Ob der Versuch gelungen ist, wird der Leser entscheiden. Hier bleibt uns nur noch der Dank an alle, die an diesem Band mit­ gewirkt haben : an den bereits erwähnten Anreger und Mit­heraus­­ geber Theo Stammen, der selbst erfreut davon überrascht war, was seine Anregung bewirkte; vor allem aber an den Lektor und Mit­ herausgeber Hans-Joachim Pagel, der die Übersetzungen nicht nur sorgfältig betreute, sondern auch akribisch und ausführ­ lich kommentierte, einleitete und selbst einige Texte übersetzte. Außerdem an den Übersetzer Werner Stingl, der bereits einige Werke Sebastian Castellios erstmals ins Deutsche übertragen hatte; an die beiden Historiker Mariano Delgado und Volker Reinhardt, die sich spontan bereit erklärten, sich mit eigenen Beiträgen zu beteiligen und den geistesgeschichtlichen Horizont dieser Schriften auszuloten. Dank auch an die Druckerei, die uns einfühlsam und beratend half, so manche Herausforderungen, vor denen wir bis zum Schluss standen, zu bewältigen. Dank aber zum Schluss auch an die vielen Freunde des Eras­ mus, die geduldig ertrugen, dass sich das Erscheinen dieses Bandes aufgrund der ständig gewachsenen Ansprüche immer wieder verzögerte – und die ihn nun endlich, nach zweieinhalb Jahren Arbeit, in Händen halten dürfen. Wolfgang F. Stammler, im November 2017

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erasmus und die friedensschriften

ERASMUS UND DIE FRIEDENSSCHRIFTEN E I N E E I N F Ü H RU N G von theo stammen DIE EPOCHE

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er Verlauf geschichtlicher Vorgänge und Ereignisse folgt erfahrungsgemäß unterschiedlichen Tempi : Ge­ schichte bewegt sich offensichtlich weder regelmäßig, kontinuierlich noch linear (wie die physikalische Zeit). Vielmehr sehen wir in ihr Phasen, die einen eher ruhigen Gang zeigen; dann wieder ganz andere, die kein Gleichmaß zu kennen scheinen, sondern Verdichtungen und Konzentrationen unterworfen sind. So erscheint uns im Rückblick das Mittelalter eher als eine Zeit der Kontinuität und Dauer. Ganz anders die Neuzeit. Sie scheint eine Epoche von ausgesprochen konzentrierter (revolutionärer) Dynamik oder Verdichtung tiefgreifender Art auf verschiedenen Lebensgebieten zu sein, sodass das vorher durch Erfahrung der Dauer charakterisierte Weltbild in Unordnung gerät und überall Neuartiges auftritt, das erst noch zu begreifen und zu deuten ist. Das Neue überlagert das Alte und löst es nicht einfach ab. Die Wandlungen, die sich um die Wende vom 15. zum 16. Jahr­hundert überall durchzusetzen begannen, wirkten umfassend und nachhaltig : Ob man dabei mit der für Europa bemerkenswerten Dynamik des Bevölkerungswachstums oder mit der wachsenden Bedeutung von Handel und Gewerbe beginnt, mit den Verän­derungs­prozessen in den Herrschaftsformen und politischen 13


theo stammen

Ver­hältnissen, dem Zunehmen der kriegerischen Konflikte zwischen den Herrschern, Fürsten und Ständen oder die Tatsache ein­ bezieht, dass die Einheit der christlichen Welt durch die entstehenden Konfessionsdifferenzen verloren ging – gleichviel. Es entstand eine vielfältige neue Weltwirklichkeit, die auch durch die Revolu­ tion des naturwissenschaftlichen Weltbildes vom geozentrischen zum heliozentrischen und durch die nicht zuletzt von Columbus 1492 entdeckte amerikanische Welt, die transatlantische Expansion Europas nach Übersee, eingeleitet wurde. Nicht zu vergessen ist die Erfindung des Buchdrucks, der seinerseits eine tiefgreifende Revolution einleitete, ohne deren Wirkung die Dynamik der Neuzeit auf allen ihren Gebieten nicht ein so rasantes und umfassendes Tempo hätte aufnehmen können. Aus späteren Zeiten der europäischen Geschichte kann man zum Strukturvergleich zwei Epochen anführen, die auf ähnlich dramatische Weise das Hamlet’sche « Die Welt ist aus den Fugen » repräsentieren : die Epoche der Französischen Revolution am Ende des 18. Jahrhunderts und – vielleicht mit ähnlichem Recht – die aktuelle Gegenwart des 21. Jahrhunderts mit ihren globalen Zerwürfnissen und Krisen. Beide Prozesse von weltgeschichtlichem Ausmaß geben ein analoges Bild der Zeit- und Epochendynamik mit ihren krisenhaften Spannungen wie die Epoche der Frühen Neuzeit, in der Erasmus lebte und wirkte.

SEIN LEBEN

In dieser von der Dynamik der neuzeitlichen Wandlungen ergriffenen und durchgeschüttelten Welt des ausgehenden 15. Jahrhunderts wird Erasmus in der niederländischen Stadt Rotterdam geboren. 1466 oder 1469 werden als Geburtsjahr angegeben und bis heute strittig diskutiert. Er ist unehelicher Abkunft, sein Vater soll Priester gewesen sein. 14


erasmus und die friedensschriften

Seine früheste Bildung erfährt Erasmus in Deventer in der Tradition der pädagogischen Bewegung der devotio moderna. Mehr auf Drängen seines Vormunds als aus freiem Entschluss tritt er in das Augustinerkloster Steyn bei Gouda ein. In den Jahren dort widmet er sich intensiven humanistischen Studien. Die enge Bindung an das strenge Klosterleben sagt ihm nicht lange zu. Er sucht seine intellektuelle Freiheit zu gewinnen. Als er die Gunst des Bischofs von Combrai gewinnt und dessen Sekretär wird, verlässt er das Kloster. Aufgrund seiner außergewöhnlichen Begabung wird er 1495 zum Studium der Theologie an die damals überragende Pariser Universität entsandt, muss sich aber seinen Lebensunterhalt überwiegend als Lehrer von Privatschülern verdienen. Mit einem von ihnen, einem englischen Adligen, reist er 1499 zum ersten Mal nach England. Dort lernt er in London den Juristen und späteren Lordkanzler Thomas Morus kennen, der ihm zum lebenslangen Freund wird, und in Oxford den englischen Humanisten John Colet und die Gedankenwelt des Pla­ tonismus. Auch wird er in die königliche Familie eingeführt und dem damals achtjährigen Prinzen Heinrich vorgestellt, dem späteren König Heinrich VIII. In diese Zeit fallen frühe schriftstellerische Versuche : Noch in den Klosterjahren entstehen neben vielen Gedichten die Oratio de pace et discordia, eine als Brief gestaltete Empfehlung klösterlichen Lebens im De contemptu mundi und die erste Fassung der Antibarbari, nach der Rückkehr aus England im Jahr 1500 dann in Paris die erste Sammlung der Sprichwörter, die Adagia, die ihn bald in Europa bekannt machen. Erasmus beginnt seine Laufbahn als Philologe und Editor, später auch als Übersetzer klassischer und biblischer Texte. An die Pariser Zeit schließt sich ein längerer Aufenthalt im burgundischen Artois und in Löwen in Brabant mit intensiven Griechischstudien an. 1503 erscheint das Enchiridion mi­ litis christiani. 1505 bis 1506 hält sich Erasmus erneut in England auf : Er besucht in London Thomas Morus, beide übersetzen Dialoge 15


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Lukians. Von 1506 bis 1509 bereist Erasmus Italien : von Turin (wo er promoviert) über Bologna nach Venedig, wo er längere Zeit im Hause des damals berühmtesten Druckers Aldus Manutius lebt und eine völlig überarbeitete Ausgabe seiner Adagia herausbringt, und nach Rom. Von 1509 bis 1514 lebt Erasmus wieder in England, vorwiegend in Cambridge, wo er einen Lehrauftrag für Griechisch erhält. In diese Zeit fällt die Entstehung sowohl vom « Lob der Torheit » (mit Widmung an Morus) als auch, gegen Ende, vom Iulius exclusus. Er arbeitet intensiv an einer Übersetzung des Neuen Testaments aus dem Griechischen und an einer Ausgabe der Briefe des Kirchenvaters Hieronymus. Im Sommer 1514 verlässt Erasmus England und lernt in Basel den einflussreichen Drucker Johannes Froben kennen, mit dem er eine Verbindung von höchster Bedeutung eingeht. Drei jeweils kurze Reisen führen ihn 1515, 1516 und 1517 noch einmal nach England. Die folgenden Jahre verbringt er im Herzogtum Burgund, ab 1517 meist in Löwen. 1516 wird Erasmus zum Rat Herzog Karls von Burgund (des späteren Kaisers Karl V.) ernannt, es entsteht seine bedeutendste politische Schrift, der Fürstenspiegel Institutio principis christiani. 1517 wird er definitiv von der Bindung an das Klosterleben befreit und kann seine Existenz als unabhängiger « Intellektueller » frei gestalten. Die späten Jahre des Erasmus sind von der Suche nach einem Alterswohnsitz, der ihm Ruhe vermitteln soll, geprägt. Erasmus glaubt ihn am Oberrhein in Basel gefunden zu haben, wohin er 1521 übersiedelt. Als aber auch dort die Reformation um sich greift, weicht er für einige Jahre ins katholische Freiburg aus. 1535 kehrt er nach Basel zurück, wo er in der Nacht von 11. zum 12. Juli 1536 stirbt. Sein Grabmal befindet sich noch heute im Basler Münster.

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erasmus und die friedensschriften W I S S E N S P RO D U K T I O N U N D Z E I T K R I T I K

Die zahlreichen Reisen in Europa konfrontieren Erasmus auf besondere Weise mit den krisenhaften und kriegerischen Zuständen seiner Zeit, die ihm stets aufs Neue die Friedlosigkeit der Epoche unmittelbar und konkret erfahrbar machen. Allein die Englandreisen bringen ihn auf vielfältige und spannungsreiche Weise mit der sozialen und politischen Wirklichkeit, aber auch mit der natürlichen Umwelt Europas um 1500 in Berührung. Angesichts der schwierigen damaligen Verkehrs- und Reisebedingungen verdient es Respekt und Hervorhebung, wie Erasmus teils zu Pferde, teils zu Schiff und auch zu Fuß Europa durchmisst – von den Niederlanden nach Frankreich und England, sodann nach Italien und durch verschiedene Territorien und Landschaften des Alten Reiches entlang des Rheins – und seinen Horizont buchstäblich erweitert. Er ist vielfach natürlichen oder von Menschen gemachten Gefahren für Leib und Leben ausgesetzt, denen er sich zu widersetzen sucht. Naturkatastrophen, aber auch räuberische Überfälle gefährden Individuen wie menschliche Gruppen und Gemeinschaften. « Alle Menschen haben von Natur aus ein Verlangen nach Wissen » – was Aristoteles im ersten Satz seiner «Metaphysik» all­ gemein formuliert, das macht sich Erasmus zum lebenslangen Pro­­­ gramm. Was er sucht, ist zunächst « Bildungswissen » auf allen damals bekannten Wissensgebieten mit Ausnahme der Natur­ wissen­schaften. Er betreibt mit Intensität und kritischem Geist das Studium der klassischen Sprachen, zuerst des Lateinischen, sodann das des damals wiederentdeckten klassischen Griechischen. Die Studien führen zur Edition und Übersetzung klassischer Texte, etwa der Kirchenväter und der biblischen Tradition, aber auch zur Philologie der klassischen lateinischen und griechischen Literatur und Philosophie, was ihn zur Ausarbeitung seiner humanistischen Philosophia christiana führt. Die Geschichte des Altertums und des 17


theo stammen

aber Stefan Zweig auch von Tragik spricht, erschließt sich nicht sofort. Der entscheidende Punkt indes, der die Tragik der erasmischen Existenz und ihrer Wirkung in seiner Zeit aufscheinen lässt, ist wohl im Scheitern des Humanismus als geistiger Bewegung in Nordeuropa zu sehen, dessen prominentester Vertreter Erasmus war – genauer in der Tatsache, dass die bald nach dem Höhepunkt des Humanismus einsetzende Reformation durch Martin Luther und die anderen Reformatoren mit Konfessionalisierung und Kirchenspaltung den Humanismus allgemein, den erasmischen Humanismus speziell um seinen epochalen Einfluss und seine Wirkung brachte. Zwar hat sich Erasmus, nach vergeblichen Vermittlungsversuchen, gegen Luther gewandt und ihm zum Beispiel in der Schrift « Über den freien Willen » Paroli zu bieten versucht. Indes blieb er in seiner Luther-Polemik eher akademisch, während Luther für seine Lehre rasch eine Massenbasis gewann. Die viel tiefer reichende Reformation spaltete schließlich auch den nordeuropäischen Humanismus in katholisch und protestantisch. Die humanistischen Autoren gerieten dadurch unter Druck und wurden vielfach genötigt, für die eine oder andere Seite des Kirchenkampfes zu optieren, und verloren so an Ein­fluss und Geltung in der Öffentlichkeit. Erasmus versuchte, den Parteiungen zu widerstehen und überparteilich zu bleiben. Das bedeutete aber Konflikt und Feindschaft mit beiden Seiten, mit negativen Folgen für seine Wirkungsgeschichte. Die Lehrstücke über Krieg und Frieden, die Erasmus uns hinterlassen hat, vermögen indes einen übergreifenden Standpunkt aufscheinen zu lassen, der bis in die heutige Gegenwart durchaus noch wachsende Geltung für sich und die humanistischen Optionen beanspruchen kann.

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ideal und augenmass

I D E A L U N D AU G E N M A S S ERASMUS UND DIE POLITIK SEINER ZEIT von volker reinhardt

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as Bild, das sich die Nachwelt bis heute von Eras­ mus von Rotterdam macht, ist das eines Gelehrten und Schöngeistes, der, bar starker Leidenschaften, den großen Kämpfen seiner Zeit tunlichst aus dem Weg zu gehen versuchte und sein stilles, geschütztes Dasein in Gesellschaft der antiken Autoren den öffentlichen Arenen vorzog. Richtig daran ist, dass der fromme Humanist Erasmus dem zerstörerischen Egoismus des Menschen, speziell der Mächtigen, misstraute, daher die Extreme hasste und statt der schnellen und gewaltsamen Aktionen langfristige und nachhaltige Lösungen bevorzugte. Doch das schloss nicht aus, da, wo ihm die Zustände unhaltbar schienen, mit beißender Kritik und ätzendem Spott zuzuschlagen – allerdings mit gewissen Vorsichtsmaßnahmen. So hat Erasmus stets bestritten, die bald nach dem Tod des Namen gebenden Papstes Julius II., also 1513 oder 1514 entstandene Satire « Julius exclusus e coelis » verfasst zu haben. Für diese Verleugnung gab es gute Gründe: Der geharnischte Text delegitimiert nicht nur einen einzelnen Papst, sondern das Papsttum seit mindestens einem Menschenalter. Julius II., der sich in diesem Dreiergespräch an der Paradiespforte unfreiwillig selbst bloßstellt, ist schließlich stolz darauf, der Neffe eines Vorgängers, Sixtus IV., zu sein, der es, wie angedeutet, mindestens ebenso schlimm getrieben hat. Da Erasmus trotz aller Fundamentalkritik nicht gesonnen war, 31


volker reinhardt

mit der Kurie und ihren Führungszirkeln zu brechen, sondern auf eine Besserung der Verhältnisse durch die typisch humanistischen Erziehungsmittel der Unterweisung durch gute Lektüre hoffte, war es ratsam, die Schrift anonym erscheinen zu lassen. Zweifel, dass der Text Erasmus’ Feder entsprang, dürfen heute als ausgeräumt gelten. Schon für die Zeitgenossen war nicht ersichtlich, wer sonst dafür in Frage kommen sollte – anarchischer Witz, gepaart mit heiligem Zorn, gravitätischem Ernst, bemerkenswertem Insiderwissen, literarischen Kunstgriffen, tiefer Sorge und als Summe des Ganzen ein Silberstreif am Reform-Horizont: Diese Kombination war unverwechselbar das Markenzeichen des Humanistenfürsten. Trotz dieser individuellen Merkmale steht der « Julius exclusus » in einer langen Gattungstradition und zugleich in einer aktuellen Debatte; in beidem geht es um die Erneuerung der Kirche an Haupt und Gliedern, um die Widerstände, die sich ihr entgegenstellen, und um die Methoden, sie dennoch durchzusetzen. Dieser Reformdiskurs begleitete die Geschichte der Kirche von Anfang an – Soll- und Ist-Zustand klafften schließlich schon sehr früh auseinander –, gewann aber seit der Mitte des 15. Jahrhunderts bei aller Einbindung in eine lange Vorgeschichte neue, schrillere Töne, die in Erasmus’ satirischer Behandlung des Themas deutlich zu vernehmen sind: Die ungeheuerlichen Missstände, die darin aufgedeckt werden, sind nicht nur eine Folge der kriminellen Amtsführung des zweiten Della Rovere-Papstes, sondern spiegeln darüber hinaus den moralischen Tiefstand der italienischen Nation wider, der die Institution Papsttum in die Hände gefallen ist. Die Italiener werten alle anderen Völkerschaften als barbarisch ab, doch ist ihre vermeintlich überlegene Zivilisation nur eine dünne Tünche, hinter der sich ein wahrer Abgrund an Lastern verbirgt. Diesen Fundamentalgegensatz zwischen dem verrotteten Italien und dem andächtigen Rest-Europa deckt Julius II. in einer seiner längsten Einlassungen mit derselben grenzenlosen Naivität auf, die für sein Auftreten insgesamt kennzeichnend 32


ideal und augenmass

ist: Wir Italiener halten Armut für ein schlimmes Vergehen, die Barbaren betrachten sie als gut christlich – und so weiter. Mit diesem Kontrast und den Anklagen, die der ungebildete und pflichtvergessene Pontifex maximus unfreiwillig gegen sich selbst vorbringt, steht Erasmus also in ausgeprägten Kon­ tinuitäten: Er nimmt Argumente auf, die seit einem Menschen­ alter die Gravamina, Klageschriften, der deutschen Nation gegen Rom füllen, aber zu diesen längst bekannten und einigermaßen abgenutzten Formeln der Juristen und Humanisten kommen überraschend neue Elemente. Schon die Textanlage ist durch die Form des Dreiergesprächs gelehrt und volkstümlich zugleich: Sankt Peter, der Wächter der Himmelspforte, der einen Möchtegern-Neuankömmling examiniert – dieses Motiv findet sich in Novellen und Schwänken reichlich.

« von der gewalt und haupt der kirchen ». Anonyme deutsche Übersetzung des «Julius». Speyer, Johann Eckhart, 1521, fol. A2r. Der untere Teil des Holzschnitts zeigt einen Teil des Wappens von Julius II. mit dem Eichenbaum.

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Von derber Komik und gespenstischem Grauen zugleich erfüllt ist die ganze Szenerie: Der frisch verstorbene Papst grölt und randaliert betrunken an der Spitze einer Geisterarmee, der vielen Tausend toten Krieger, Räuber und Marodierer, die seine endlosen Kriege das Leben gekostet haben. Ihnen allen hat er für ihre Mörderdienste Gratiskarten fürs Himmelreich versprochen – und steht nun als wortbrüchig da, für einen Söldnerführer, der den angekündigten Sold nicht auszahlen kann, nicht nur im Diesseits, sondern auch unter Toten eine peinliche Lage. Vox populi, Volkes Stimme, sind auch viele der Anklagepunkte, die der Papst gar nicht als solche versteht und daher bestätigt: Wer so aufs Geld aus war wie er, musste habgierig und geizig zugleich sein; wer junge Männer so freigebig förderte, frönte mit ihnen verbotenen Neigungen. Dass dahinter ganz andere Strategien der Macht- bzw. Hausmachtsteigerung durch Extremnepotismus standen, tritt demgegenüber in den Hintergrund. Wie aus einer commedia dell’arte entsprungen, nämlich wie der pfiffige und abgebrühte Diener seines Herrn, tritt schließlich Julius’ « Genius » auf, der so gar nichts von einem Schutzengel hat, sondern mit seinen trocken witzigen Kommentaren manchmal geradezu mephistophelisch agiert; bei einer szenischen Darstellung wären ihm die Lacher des Publikums sicher. Spätestens, als Petrus, der so lange mit wachsendem Ent­setzen dem Amts- und Selbstverständnis des bluttriefenden Krieger­ papstes zugehört hat, zu seiner umfassenden Strafpredigt ausholt, treffen unvereinbare Vorstellungen von Papsttum, Frömmigkeit, göttlichem Willen und Heilserwerb programmatisch und plakativ zugleich mit aller Härte aufeinander: meritokratisch, demütig pastoral, von Selbstaufopferung im Sinne der imitatio Christi geprägt die wahre, apostolische Kirche der frühen Christen – hedonistisch, käuflich, durch und durch materialistisch die Kirche des Papstes, die den Verlockungen dieser Welt, speziell der Macht, erlegen ist. 34


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Lässt sich dieser historische Sündenfall für Erasmus rückgängig machen? Wie die Kardinäle, so der Papst, den sie um ihres eigenen Vorteils wegen wählen – auch diese Regel deckt der unbedarfte Pontifex im Zuge seiner haarsträubenden Diskurse auf. Solange die höchsten kirchlichen Würden meistbietend versteigert wurden, war daher an eine durchgreifende Reform nicht zu denken. Doch zeigt die schier unfassbare Ignoranz des Kirchenoberhaupts indirekt, wie im Gegenlicht, die Mittel und Methoden auf, mit denen für Erasmus allein eine Abstellung der Übel denkbar war: Bildungsarbeit, die zuerst die verrohte Sprache und dadurch allmählich auch die Sitten hebt und schließlich den ganzen Menschen von innen her verwandelt. Mit der Normierung der Lebensführung allein aber war es nicht getan. Dieses um dieselbe Zeit an der Kurie vorherrschende Reform­ modell, das auf ein Ende der kirchenfürstlichen Kon­kubinate und anderer Skandale und komplementär auf eine größere Dignität im öffentlichen Auftreten ausgerichtet war, wird mit Ironie überschüttet, vor allem die in Rom seit Nikolaus V. (1447-1455) zum System ausgebildete Idee, dass man heutzutage Seelen über die Augen, also mit prunkvollen Kirchen und Bildern, fischen müsse. Im Gespräch, das sich zwischen Petrus und Julius über die res gestae, den Tatenbericht des Papstes, entspinnt, tritt eine weitere, oft unterschätzte Dimension der Satire klar hervor: ihre politische Parteinahme, und zwar pro und contra. Gut kommen vor allem die weltlichen Mächte weg, die sich dem tyrannischen Wüten des größenwahnsinnigen Pontifex entgegenstellen, also König Ludwig XII. von Frankreich, der mit den ihm ergebenen Kardinälen ein Konzil nach Pisa einberuft, das Julius absetzen soll, und der Herzog von Ferrara aus der Familie Este. Ihnen unterstellt Erasmus – wider besseres Wissen? – die ehrenhaften Motive und edlen Antriebe, die dem Papst so vollständig abgehen. Dabei pfiffen die Spatzen von den Dächern, dass es dem französischen Monarchen nicht um Kirchenreform, sondern allein um Macht 35


volker reinhardt

und Ehre in einem Streit ging, den beide Seiten aus nichtigen Motiven zum Schaden der Christenheit angezettelt hatten. Mit dem ebenso komischen wie abstoßenden « Porträt » Julius’ II. gelang Erasmus ein großer literarischer Coup, ja eine Mythen­­ bildung und Meinungsprägung auf Dauer. An seiner Schilderung eines Papstes, der alle Werte ins krude Gegenteil verkehrt, konnte sich der Luther der romfeindlichen Pamphlete und der Tisch­ reden und nach ihm die protestantische Historiographie reichlich bedienen. Die katholische Seite hat darauf, etwa in der monumentalen Papstgeschichte Ludwig von Pastors, mit übertriebener « Reinwaschung », ja Apologie reagiert: Julius II. als Retter des von den Borgia fast ruinierten Kirchenstaats. In der neuesten Forschung zeichnet sich stattdessen das Bild eines rachsüchtigen, auf Wiederherstellung seiner persönlichen Ehre bedachten alten Mannes ab, der zu diesem Zweck eine sehr irrationale und das Image des Papsttums nachhaltig schädigende Politik verfolgt. Hat Erasmus an den Wahrheitsgehalt seines « Porträts » geglaubt? Die Frage zu bejahen hieße, den großen Humanisten eklatant zu unterschätzen und die literarische Dimension des Texts zu verkennen. Für den Satiriker ist es legitim, krass zu übertreiben, um einen harten Kern an Reformbedarf umso nachdrücklicher hervortreten zu lassen. Das gilt auch für die andere Seite, das Ideal päpstlicher Amtsführung. Den Anforderungen, die Petrus dafür entwickelt, könnte selbst ein Engelspapst kaum erfüllen. Was zählt und worum es Erasmus wirklich geht, ist das Streben, das sich an hohen Zielen ausrichtet, mögen diese selbst auch unerreichbar sein. Die etwa zwei Jahre nach der Julius-Satire entstandene « Institutio principis christiani » lässt sich in mancher Hinsicht als deren Gegenstück auffassen. Der virtuelle Della Rovere-Papst eröffnete mit seinen offenherzigen Diskursen abgrundtiefe Einblicke in die Methoden der bösen Machtausübung und verkörperte damit den Prototyp des Tyrannen schlechthin. Die Gegenreden des Him­ 36


ideal und augenmass

mels­pförtners Petrus bezogen sich demgegenüber auf das Papst­ amt, wie es sein sollte, und auf die Herrschaft eines idealen Pontifex maximus. Da dessen Pflichten im Kern geistlicher Natur waren und Erasmus schon die Existenz des Kirchenstaats als unvereinbar mit den wahren Aufgaben des irdischen vicarius Christi ansah, fehlte ein eigentlicher Gegenentwurf zur Politik der Kriegstreiberei, Intrigenspinnerei und Ausbeutung, wie sie Julius als sein Programm verkündete. Diese Lücke schloss sich mit dem Traktat über die Unterweisung des christlichen Fürsten, der den Höhe- und Endpunkt des klassischen humanistischen Fürsten­ spiegels markiert. Fürstenspiegel waren politische Pädagogik; sie sollten den Mäch­tigen, vor allem den jungen, künftigen, ihre Pflichten und Rechte (in dieser Reihenfolge !) vor Augen führen und sie auf diese Weise zu Gott gefälligen und ihrem Volk nützlichen Regen­ ten heranbilden. Die Gattung und ihren Stil prägende Werke entsprangen dementsprechend regelmäßig der Feder führender Theologen wie etwa Thomas von Aquin. Die europäischen Huma­nisten nahmen das Genre freudig auf, ja, sie betrachteten es geradezu als das ihre. Abhandlungen über Erziehung und die gute Ausübung der Macht waren ihren Kerntätigkeiten Geschichts­ schreibung und Moralphilosophie so affin, dass sich der Anspruch auf überlegene Kompetenz in diesem zuvor von den Klerikern beherrschten Bereich von selbst aufdrängte. In Abgrenzung von den weltfremden Mönchen reklamierten sie für sich zusammen mit der unvergleichbar tieferen Kenntnis der Antike als Quelle des Wahren, Guten und Schönen eine größere Lebensnähe, genuines Verständnis für die Eigengesetzlichkeit von Politik, Gesellschaft und Wirtschaft und damit im Gegensatz zu den abstrakten Entwürfen der Theologen die tatsächliche Lebbarkeit, Umsetz­ barkeit, Machbarkeit ihrer Konzepte. Diese Gebrauchsanweisungen zur guten Herrschaft waren in ihren Augen nicht weniger fromm oder christlich als ihre Vor­läu­ 37


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1517 ein Konflikt aus, gegen den alle Kriege zuvor begrenzt, ja fast harmlos erschienen. Während dieser die Christenheit in ihren Grundfesten erschütternden Kontroversen zog sich Erasmus schnell die Todfeindschaft beider Seiten zu. Für Luther entpuppte er sich als ein gewissenloser Schönredner des Menschen, der die drei Grundprinzipien des sola scriptura, sola fide und sola gra­ tia und damit die Heilsbotschaft des Evangeliums selbst in Frage stellte; für die römischen Hardliner hatte er mit seiner scharfen Kritik an den sittlichen Zuständen der Kleriker die Autorität der Kurie untergraben und den Ketzern damit unschätzbare Dienste geleistet. In Wirklichkeit hinterfragte Erasmus die hochgemuten Gewissheiten derjenigen, die Gottes Willen mit unfehlbarer Sicherheit aus den Texten der Bibel abgeleitet zu haben meinten, keine andere Auslegung gelten ließen und auf diese Weise ihre Deutung zur verbindlichen Richtschnur aller Christen machen wollten, notfalls mit Feuer und Schwert. So stellt er sich in diesen Zeiten der Fanatisierung und Unduldsamkeit nicht, wie so oft zu lesen, als furchtsamer Kompromissler, sondern im Gegenteil: als ein einsamer Mahner zu Vernunft, Bescheidenheit und Duldsamkeit dar.

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pazifisten, bellizisten, scholastiker

PA Z I F I S T E N, B E L L I Z I S T E N, SCHOLASTIKER D R E I G RU N D H A LT U N G E N ZU KRIEG UND FRIEDEN IN DER RENAISSANCE von mariano delgado

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it heiligem Eifer, guten Argumenten und brillanter Feder hat Erasmus den Krieg und dessen Folgen stets angeprangert. In Süß ist der Krieg den Unerfahre­nen (1515) heißt es, den Krieg sollte man « auf jede Weise vermeiden, verdammen und verbannen […]. Denn nichts ist gott­loser, unheilvoller, bei weitem verderblicher, zählebiger, abscheu­licher und überhaupt für den Menschen, geschweige denn für den Christen, entwürdigender. »1 Und in Die Klage des Friedens (1517) werden die Folgen des Krieges schonungslos wie eine Plage « in crescendo » beschrieben – bis zur Verachtung der Religion: « Wenn du je zerstörte Städte, niedergerissene Dörfer, ausgebrannte Kirchen und brachliegende Felder gesehen hast, dann bedenke, dass dieser erbarmungswürdige Anblick die Frucht des Krieges ist. […] Wenn du Raubüberfälle verabscheust: Sie lehrt der Krieg. Wenn du den Mord verfluchst: Ihn lernt man im Krieg. […] Wenn du Vergewaltigung, Inzest und noch Schlimmeres für abscheulich hältst: Der Krieg ist der Lehrmeister alles dessen. Wenn die Quelle alles Bösen die Gottlosigkeit und die Verachtung der Religion ist: Eben sie wird durch die Kriegsstürme hinweggefegt. »2 Mit diesen Worten brachte Erasmus in der Renaissance « Eulen nach Athen ». Denn in diesem ansonsten von hegemonialen « Bru­ 47


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derkriegen » und Konfessionskriegen unter Christen, Abwehr­ kriegen gegen den türkischen Expansionismus und kolonialen Ex­ pan­sions­kriegen in Übersee geprägten, « bellizistischen » Zeit­alter leuchtete allen ein, dass der Krieg und seine Schrecken ein großes Übel sind. Die Geister schieden sich aber bei der Beantwortung der Frage, ob der Krieg angesichts der conditio humana in bestimmten Situationen nicht auch ein « notwendiges Übel » sei, ein Faktum, auf das man sich vorbereiten und das man völkerrechtlich regeln sollte, ja, ein Mittel zur Friedenssicherung durch präventive Abschreckung potentieller Aggressoren. Drei Meinungs­g ruppen sind hierfür in der Renaissance zu unterscheiden: die Pazifisten, die Bellizisten und die Scholastiker.

PA Z I F I S T E N

ERASMUS ist der bekannteste Vertreter des pazifistischen Lagers.

Seine Haltung zwischen Süß ist der Krieg den Unerfahrenen (1515) und der Erörterung der Frage eines Kriegs gegen die Türken (1530) ist alles in allem von eindrucksvoller Konsequenz. Mit Jean-Claude Margolin kann man vom « bleibenden Charakter des erasmischen Pazifismus » sprechen.3 Auch wenn sich Erasmus in der zuletzt genannten Schrift, nach der Wiener Türkenbelagerung von 1529 geschrieben, genötigt sieht, eine Tür für den Krieg gegen die Türken zu öffnen, bleibt für ihn bis zum Schluss die Sentenz aus der ersten prägend: « Ein wahrhaft christlicher Lehrer aber wird niemals den Krieg gutheißen, und wenn er ihn vielleicht doch einmal zulässt, dann nur widerwillig und nicht ohne Reue. »4 Fragt man nach den Wurzeln des erasmischen Pazifismus, so könnten wir diese drei Grundprinzipien seines Denkens nennen: eine optimis­tische Anthropologie, den Unterschied zwischen dem « Gott der Juden » und dem « Gott Christi » und schließlich die Berufung der Christen zu einem 48


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radikal-friedlichen Leben nach der Philosophia Christi der Bergpredigt. Die Anthropologie ist wichtig, weil die Unterschiede zwischen den Vertretern der verschiedenen Lager letztlich darin wurzeln. Während die Pazifisten in der Nachfolge des Pelagius anthropologische Optimisten sind, die – kontrafaktisch – von der natürlichen Neigung des Menschen zum Guten und seiner grundsätzlichen Erziehbarkeit zu den guten Sitten und der Philosophia Christi ausgehen, sind die Bellizisten abgeklärte Kenner der Abgründe der menschlichen Natur und der Faktizität der Geschichte – und die Scholastiker schließlich wissen bei jeder Betonung des freien Willens und der Fähigkeit des Menschen zum Guten, das heißt zur Nachahmung Jesu, dass die menschliche Natur auch verdorben ist und immer wieder das Böse schafft. Nur vor dem Hintergrund seines anthropologischen Opti­mis­ mus ist Erasmus’ metaphorische Sicht des Krieges als Kampf gegen die Laster zur Läuterung des Menschen verständlich, wie er im Handbüchlein eines christlichen Streiters (1503) zu verstehen gibt, ein Kampf, der – ähnlich der Meinung einiger heutiger Interpreten des islamischen Dschihad-Gedankens in spiritueller Hinsicht – mit « Gebet und Wissen » zu bestreiten ist: « Das reine Gebet leitet unsere Neigung zum Himmel, wie zu einer dem Feind unzugänglichen Burg. Das Wissen festigt den Verstand mit heilsamen Meinungen ».5 Erasmus, der feine Geist, hatte bei sich selber erfahren, dass Gebet und Wissen ihn auf dem Weg der Nachahmung Christi weiter brachten, und ging davon aus, dass diese Mittel zur Besserung des Menschengeschlechts führen werden – obwohl ihm, zum Beispiel im Lob der Torheit (1509/1511) und im Brief an Paul Volz (1518), die grundlegende Zwietracht selbst unter den Theologenschulen und den Ordensleuten nicht verborgen war. Dieser kontrafaktische Optimismus wirkt im Zeitalter der « Dialektik der Aufklärung » einerseits naiv. Denn heute können wir nicht vergessen, dass nach der biblischen Erzählung die 49


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Mensch­heit auch eine « kainitische Abstammung » hat, so dass sie aus der Gewalt und dem Brudermord hervorgegangen ist. Daher mutet sie wie eine « Höllenmaschine » an, um es mit Adornos Minima Moralia zu sagen.6 Zwischen der Stein­schleuder der Vorzeit und den Massen­vernichtungswaffen per Knopfdruck unserer Zeit gibt es zweifelsohne einen technischen Fortschritt, aber auch einen anthropologisch-moralischen? Das ist mehr als zweifelhaft. Vielmehr spricht vieles dafür, dass die Natur des Menschen bei allen Zivilisationsschüben eine Struktur­konstante der Geschichte geblieben ist. Kant ahnte deshalb, dass der Fortschritt hin zur Idee der Menschheit « gerade an der Natur des Menschen scheitern könnte ». Daher zog er diese pessimistische Schlussfolgerung: « Aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden. »7 Nicht zuletzt aus diesem Grund hat der Prozess der Zivilisation einschließlich des Beitrags der Religionen das Gewaltproblem bis heute nicht gelöst. Andererseits ist der erasmische Optimismus so etwas wie ein « Glaubensakt », ein Wachhalten der Verheißung, dass im historischen Kampf das Lamm schließlich stärker als der Drache sein wird. Erasmus war davon überzeugt, dass der Mensch mit Gebet und Wissen in der Nachfolge Jesu die Sache des Lammes in sich selbst und in der Geschichte vorantreiben kann. In seiner Ansprache an das Kardinalskollegium und die Mitglieder der römischen Kurie vom 22. Dezember 2005 drückte es der Augustinuskenner Benedikt XVI. so aus: Wenn der Mensch sich Christus und seiner göttlichen Barmherzigkeit öffne, könne die Kraft des Guten die Mächte des Bösen überwinden.8 Einer der heute sperrigsten Aspekte des erasmischen Friedens­ denkens ist seine Unterscheidung zwischen dem « Gott der Juden » und dem « Gott der Christen », denn dies kann nach Markionismus, also nach einer Ablehnung des Alten Testamentes als ­Heilige Schrift der Christen klingen – und so wurde es auch 50


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damals von einigen missverstanden. Erasmus begründet seine herme­neutische Differenzierung so: « Geradezu frivol ist es aber, wenn einige daherschwätzen, in der Bibel sei vom ‹ Gott der Heerscharen › und vom ‹ Gott der Rache › die Rede. Denn zwischen dem Gott der Juden und dem Gott der Christen besteht ein sehr großer Unterschied, auch wenn es seinem Wesen nach ein und derselbe Gott ist. »9 Sieht man genauer hin, so geht es Erasmus nicht um den Aufbau eines Gegensatzes zwischen dem Gott Israels und dem Gott Jesu. Vielmehr zeigt er auf – bezogen auf Krieg und Frieden –, dass es im Alten Testament eine Entwicklung im Gottesbild gibt, auch wenn seine Rede « von den blutigen Gemetzeln, von denen die Bücher der Juden nur so strotzen »,10 aus heutiger Sicht mehr als bedenklich ist. Erasmus bemüht sich, diese Gemetzel « allegorisch » als Kampf gegen die Laster zu deuten, und betont die Friedensbotschaft der Propheten: « Sooft die Heilige Schrift von der vollkommenen Seligkeit spricht, verkündet sie diese im Namen des Friedens. Wie Jesaja sagt: ‹ Wohnen wird mein Volk in der Herrlichkeit des Friedens. › Und ein anderer spricht vom ‹ Frieden über Israel ›. Jesaja wiederum rühmt ‹ die Füße derer, die den Frieden verkünden, die Gutes ankündigen ›. »11 Christus steht für Erasmus in dieser prophetischen Tradition, nicht in der des Herrn der Heerscharen Josuas. Daher gilt: « Wer immer Christus verkündet, verkündet den Frieden. »12 Und so ist der Friedensbringer Christus mit seiner Philo­ sophie, das heißt mit der Bergpredigt, die Erasmus als Lehre von Liebe und Eintracht versteht, die beste Schule für die christliche Friedenserziehung. Die Erwartungen, die Erasmus zunächst an sich selber, dann an die christlichen Fürsten und an alle Christen diesbezüglich stellt, sind sehr hoch. In seiner Erörterung der Frage eines Kriegs gegen die Türken versucht er einerseits an der Philosophia Christi als Richtschnur festzuhalten, andererseits eine Tür für den Krieg gegen die Türken zu öffnen, ohne ins 51


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Lager der Bellizisten zu wechseln. Und dabei erweist er sich immer wieder in seiner Kritik an den Christen und seinem Versuch, die Türken in die Humanitas einzugliedern bzw. als potentielle Christen zu betrachten, als « Meister der Ironie ». Erasmus distanziert sich sowohl von denen, die « auf Krieg mit den Türken brennen », als auch von denen, die « von einem Krieg abraten ». Beide sind für ihn « gleichermaßen im Irrtum ».13 Dass Erasmus kein Pazifist um jeden Preis war, zeigt sich an seiner Reaktion auf die Meinung, « das Recht auf Kriegführung sei den Christen überhaupt verwehrt ». Diese Meinung hält er « für zu abwegig, als dass sie einer Widerlegung bedürfte ». Was er lehrt, ist, « dass ein Krieg niemals vom Zaun gebrochen werden darf, außer wenn er sich nach Ausschöpfung aller anderen Mittel nicht mehr vermeiden lässt. »14 Ausdrücklich distanziert sich Erasmus von der Luther unterstellten Meinung, « wonach es nicht erlaubt sei, sich den Türken zu widersetzen, weil Gott durch sie die Seinen für ihre Missetaten züchtigt ». Denn das hieße, es sei auch nicht erlaubt, « bei Krankheiten den Arzt zu rufen, weil Gott ja auch die Krankheiten schickt, um die Seinen zu läutern ».15 Auf dem Boden der Theorie des gerechten Krieges steht auch Erasmus’ Meinung, die Religionsverschiedenheit allein könne niemals ein gerechter Kriegsgrund sein – womit er auf den volkstümlichen Kreuzfahrergeist anspielt. Im Endergebnis rät Erasmus nicht vom Türkenkrieg ab. Er ist sich aber nicht sicher, ob ein solcher Krieg mit den konventionellen Waffen, das heißt mit Bombarden und Arkebusen, erfolgreich begonnen und geführt werden kann; und solange man sich nicht des Sieges sicher sei, sei es besser, mit der Türkengefahr zu leben. Erasmus’ Empfehlung für den Türkenkrieg ist schließlich ein Missionsprogramm, eine Ermutigung, mit den « Waffen Christi » zu kämpfen: « Als beste Lösung von allen schiene mir, die Länder des Türkenreiches auf dieselbe Weise zu unterwerfen, wie die Apostel alle Völker der Welt Christus dem Herrn unterworfen haben. Die zweit­beste 52


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Option aber wäre, die Sache im bewaffneten Kampf so auszutragen, dass es den Türken zur Freude gereichte, besiegt worden zu sein » – weil die Christen ein höheres Ethos haben und huma­ner sind. Dazu wäre ein Dreifaches nötig: erstens, dass die Christen selbst mit gutem Beispiel vorangehen und sich nach der Philosophia Christi richten; zweitens die Aussendung von aufrechten Verkündern des Evangeliums, die für sich keinen Vorteil suchen, sondern nur für Jesus Christus; und schließlich solle man erlauben, dass diejenigen, die das Christentum (noch) nicht annehmen wollen, unter ihrem Gesetz leben können, « bis sie nach und nach mit uns verschmelzen ».16 Erasmus war von der Kraft des Christentums als der wahren Religion überzeugt. Und er dachte – kontrafaktisch und reichlich naiv im Falle des Islam als « nachchristlicher Religion » mit einem Beerbungsanspruch gegenüber dem Christentum –, dass sich die Türken dem Christentum nicht verweigern könnten, wenn dieses von den Christen als sanftes Joch und leichte Last vorgelebt und verkündet wird. Ähnlich dachte im Endergebnis auch der Spanier JUAN LUIS VIVES (1492–1540),17 vielleicht der einzige Humanist, der Erasmus

in Scharfsinn, Rhetorik und schriftstellerischer Frucht­barkeit das Wasser reichen konnte. Es gab aber zunächst eine Phase, in der beide Humanisten divergente Meinungen in Sachen Türken­krieg vertraten. Zwischen 1522 und 1526 verfasst Vives kleine, kontextuelle Schriften über den Zustand der Christenheit, in denen er den Krieg geißelt und zum Frieden (Eintracht) ermahnt, damit man die Türken besiegen und aus Europa vertreiben könne. Diese Schriften sind grundsätzlich vom Exklusions­schema geprägt, doch werden die Türken darin auch als gewiss nicht so grausam wie die Christen selbst untereinander dargestellt. Besonders einflussreich war De Europae dissidis, et bello turcico. Dialogus (Dialog über den Dissens in Europa und den Krieg gegen 53


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die Türken, 1526). Dieser Dialog, der in der Unterwelt stattfindet, wurde geschrieben unter dem Eindruck des türkischen Sieges über die Ungarn bei der Schlacht von Mohács und wird mit der Frage eröffnet, was denn hier oben geschehe, dass so viele Seelen in die Hölle wie Hagelkörner nach einem sehr starken Gewitter fallen. Es folgt eine erasmisch klingende Klage über den allgemeinen Zustand von Zwietracht und Hass, der in der Christenheit herrsche: « Der Italiener verachtet und hasst alle Transalpinen als Barbaren, der Franzose spuckt, wenn er das Wort Engländer hört; diese mögen die Schotten und die Franzosen nicht sehr; zwischen den Franzosen und den Spaniern haben in unserer Zeit Kriege mit großen Blutbädern stattgefunden, die in ihren Herzen tiefe Wurzeln der Feindschaft geschlagen haben […] In den philosophischen Schulen […] gibt es unter denjenigen, die sich dem Studium des Lateinischen und des Griechischen, der Dialektik und der Philosophie widmen, Rivalitäten, und gewiss todernste […] Dann kommen die theologischen Schulen: einige sind Anhänger des Thomas, andere des Duns Scotus, wiederum andere des Ockham […] Auch unter den Lutheranern herrscht weder Liebe noch Eintracht, obwohl sie Glaube, Evangelium und Nächstenliebe ständig im Mund führen. Und was schließlich diejenigen betrifft, die äußerste Nächstenliebe gelobt haben und daher Brüder genannt werden: welche Streitigkeiten gibt es unter ihnen und wie blutig sie manchmal sind ! Die Mönche gegen die Bettelmönche, die Minderbrüder gegen die Predigerbrüder, die konventualen Minderbrüder gegen die Observanten: welche Angriffe und Beschimpfungen, welche Drohungen und Verfolgungen ! »18 Mit beißender Ironie werden die vielen « Bruderkriege » unter Christen beschrieben, die es in Europa gab. Auf die Frage « Was taten unterdessen die Türken? Vielleicht Schlafen? »19 folgt eine Beschreibung der unaufhaltsamen türkischen Expansion seit der Eroberung Konstantinopels (Rhodos, Belgrad, Mohács) und 54


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Juan Luis Vives

eine Klage über die von den untereinander zerstrittenen Chris­ ten verpassten Chancen: « Ach, wie viel Land und Meer hätte man mit dem in den Bruderkriegen vergossenen Blut erobern können ! Man hätte nicht nur die Türken vernichtend schlagen, sondern auch das ganze Land und Meer zwischen dem Osten und dem Westen erobern können. »20 Besonders kritisch beurteilt Vives den unfrommen Nichtan­ griffs­pakt mancher christlicher Könige (er denkt natürlich an 55


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mit diesen Berichten. Die – entweder von Gott selbst ausgeführte oder von ihm angestiftete – unverhältnismäßige befreiende Gewalt gegen die unterdrückenden Ägypter sowie die erobernde Gewalt gegen die götzendienerischen Kanaaniter hält Las Casas, übrigens mit Augustinus, für ein unergründliches Rätsel, eine wundersame Tat des allmächtigen Gottes, über die wir staunen, die wir aber keineswegs nachahmen sollten, denn dies sei unwiederholbar und nicht übertragbar auf andere Völker und Zeiten84 – ein Argument, das jedem Fundamentalismus in der Bibelauslegung den Boden entzieht. Nach der universalen Anziehungskraft der Philosophia Christi klingt schließlich sein ceterum censeo: dass die Indianer sich dem Christentum nicht verschließen werden können, wenn dieses ihnen friedlich von gelehrten und untadeligen, von Herrsch-, Hab- und Ehrsucht freien Glaubensboten gepredigt wird, die ihren Verstand mit Vernunftgründen überzeugen und ihren Willen mit dem Beispiel eines guten Lebens nach Art des guten Hirten und der Apostel anlocken.85 Dies ist für Las Casas « die einzig mögliche » Option zur Eingliederung der neu entdeckten Völker in die Christianitas, denn die Spanier dürfen in der Neuen Welt nicht ein bellum iustum beanspruchen, sondern lediglich das Evangelium mit den « Waffen Christi » und der Apostel verbreiten.86 So kann man zum Abschluss sagen, dass erasmisches Friedens­ denken im Alten Europa angesichts der Kon­fessionskriege und der Türkengefahr nicht nur verhallte. Als « lascasisches » Denken verschaffte es sich auch im Schatten der Eroberung und Evangelisation der Neuen Welt nachdrücklich Gehör.

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rede über frieden und zwietracht

DIE FRIEDENSSCHRIFTEN D E S E R A S M U S VO N ROT T E R DA M

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rede über frieden und zwietracht

Gerechtigkeit und Frieden küssen sich Zeichnung von David Heidenreich, um 1618–1633

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rede über frieden und zwietracht

REDE ÜBER FRIEDEN U N D Z W I E T R AC H T G E G E N D I E PA RT E I S Ü C H T I G E N A N C O R N E L I U S AU S G O U DA O R AT I O D E PAC E E T D I S C O R D I A C O N T R A FAC T I O S O S A D C O R N E L I U M G O U DA N U M 1 ÜBERSETZT VO N H A N S - J OAC H I M PAG E L

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rede über frieden und zwietracht [EINLEITUNG]

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ie « Rede über Frieden und Zwietracht » ist ein Jugendwerk des Erasmus, sie entstand während seiner Jahre im Kloster Steyn bei Gouda. Erasmus lebte damals ganz seinen humanistischen Studien, die Klosterbibliothek war gut ausgestattet mit Werken der Klassiker, der Kirchenväter, auch neuerer Autoren. Der junge Mönch nahm diese Gedankenwelten in sich auf und reproduzierte sie : Er schrieb Gedichte nach dem Vorbild eines Catull, eines Horaz und studierte die klassische Rhetorik. Für all dies fand er Gleichgesinnte im Kloster Steyn und auch einen Mentor in einem Kloster in der Nähe von Leiden : Dort lebte damals Cornelius Gerard aus Gouda, ein Verwandter von Wilhelm Hermann, Erasmus’ Freund in Steyn. Cornelius war einige Jahre älter als Erasmus, hatte studiert, ging ganz ähnlichen Interessen wie Erasmus nach und betätigte sich auch literarisch. Mit ihm trat Erasmus brieflich in Verbindung, erzählte von seinen Studien und schickte ihm zur Begutachtung jüngst entstandene und ältere Gedichte; Cornelius ging kritisch darauf ein und antwortete mit eigenen Versen. Er war es auch, der Erasmus zu dieser « Rede über Frieden und Zwietracht » anregte. Dafür könnte es einen konkreten Anlass gegeben haben : den Junker Frans-Krieg (1488–1490). Der junge Frans van Brederode aus altem holländischen Adel war Anführer einer Revolte gegen die habsburgische Regentschaft in den Niederlanden (im Kontext des Burgundischen Erbfolge­ kriegs). Im November 1488 besetzte er Rotterdam, unternahm in der Folge Raubzüge entlang der Küste und in das Inland und verwüstete einige Städte. Im Juni 1489 überfielen seine Leute auch Gouda und legten Feuer, die halbe Stadt brannte nieder. Im Sommer darauf wurde Jonker Frans in einer Seeschlacht besiegt und starb kurz darauf an seinen Verletzungen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Erasmus diese Ereignisse 82


einleitung redezur über rede frieden über frieden und zwietracht und zwietracht

vor Augen hatte, als er gegen Ende der Oratio jüngst erlebte Kriegsgräuel schilderte. Zuvor hatte er seine Beispiele für die Vorteile des Friedens und die Nachteile der Zwietracht der Natur und antiken Überlieferungen wie der vom Goldenen Zeitalter entnommen, hatte darauf hingewiesen, dass der Mensch seiner Natur nach auf ein friedliches Zusammenleben mit anderen hin angelegt ist und sein Wesen, seine Bestimmung verfehlt, wenn er das Miteinander in ein Gegeneinander verkehrt. Erasmus argumentiert noch nicht mit dem christlichen Friedensgebot, das ihm später so wichtig werden wird, aber er entwirft schon hier Grundzüge seiner späteren Friedensethik. Erasmus hat diese Rede niemals veröffentlicht. Erhalten ist sie nur in einer einzigen Sammelhandschrift eines unbekannten Kopisten aus dem Jahr 1570, die noch weitere Jugendwerke enthält, darunter viele Gedichte und Briefe. Nach dieser Handschrift wurde sie erstmals im Jahr 1706 in Band VIII der Leidener Ausgabe gedruckt. Am Schluss der Oratio wird in der Handschrift vermerkt, Erasmus habe sie in seinem zwanzigsten Lebensjahr verfasst. Da sie höchstwahrscheinlich im Sommer oder Spätsommer 1489 geschrieben wurde, ging der Verfasser dieser Angabe wohl davon aus, Erasmus sei im Jahr 1469 geboren worden. Da das tatsächliche Geburtsjahr von Erasmus aber bis heute nicht zweifelsfrei ermittelt werden konnte, ist hinter diese Angabe ein Fragezeichen zu setzen. Die Oratio de pace et discordia wird hier zum ersten Mal in einer deutschen Übersetzung vorgelegt. Sie beruht auf der kritischen Edition des Textes durch Marc van der Poel in der Amsterdamer Ausgabe (ASD IV-7). Dessen Einleitung und Kommentierung wurden für unsere Anmerkungen dankbar herangezogen.

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rede über frieden und zwietracht

Allegorie der Künste und der Zwietracht Gemälde von Louis Counet, 1697

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ewiss bedarf es nicht erst meiner Rede, dich, lieber Cornelius, von der Liebe zum Frieden und zu seiner Bewahrung zu überzeugen, da du ja mit deinem friedfertigen Naturell von Kindheit an schon immer nach Frieden verlangt und Frieden bewahrt hast. Doch weil ich in unserer gegenwärtigen Situation2 nichts sehe, worüber jetzt zu reden nützlicher und angebrachter sein könnte, schien es mir nicht abwegig, dies kurz zu erörtern, zumal du mich nicht nur darum gebeten, sondern es mir sogar aufgetragen hast – du (mein bester Freund, dem ich so viel verdanke), dem etwas abzuschlagen mir schändlich vorkäme. Nun ist dies freilich ein so erhabenes, so umfangreiches Thema, dass es höchst schwierig wäre, ihm selbst mit der längsten Rede gerecht zu werden. Um aber nicht mit Weitschweifigkeit deine Geduld zu strapazieren, will ich mich bemühen, das Wichtigste möglichst kurz zu sagen. Doch genug der Vorrede. Für meinen Einstieg sehe ich nichts, was sich besser eignen könnte als dieser Vers Ovids : Den Menschen ziemt heiterer Frieden, den Tieren grimmiger Zorn.3 Lässt sich etwas finden, das für den Menschen würdiger, ehrenvoller, ja auch angenehmer wäre als Frieden und gegenseitige Liebe? Und umgekehrt : Was wäre für den Edelmut des Menschen unwürdiger, was schändlicher, was abträglicher, was unheilvoller, was schließlich der Lebensweise wilder Tiere gemäßer als Hass und Zwietracht? Die wilden Tiere hat die Natur, wie es scheint, für Kampf und Streit geschaffen und ihnen zu ihrer Verteidigung je eigene Waffen mitgegeben : den einen gekrümmte Krallen, den anderen hervorstehende Hörner, wieder anderen hakenförmige 85


rede über frieden und zwietracht

Zähne4 und anderen Gift. Den Menschen aber, den sie als einziges Lebewesen unbewaffnet ließ, sollte man nach ihrem Willen als ein Wesen begreifen, das gerade nicht zur Wildheit, sondern zum Wohlwollen geschaffen wurde. Muss ich erwähnen, dass sie in uns die Saat des Friedens ausgesät hat, durch die wir aus eigenem Antrieb zu Liebe und Eintracht geführt werden? Wir alle verlangen doch, wenn wir sorgfältig beobachten, wohin die Natur uns treibt, nach Geselligkeit und Gemeinschaft, suchen Freundschaft, lieben Verwandte und uns Nahestehende, erfreuen uns am Umgang in unseren Familien, leiden mit den Unglücklichen, und das meist so sehr, dass fremder Schmerz auch uns zu Tränen rührt. Wie wäre das zu verstehen, wenn nicht als Beweis für eine uns angeborene Anlage zum Wohlwollen ! In der Tat : Das weicheste Herz Gibt die Natur dem Menschengeschlecht, und daran erweist sie’s : Sie Schenkte die Tränen5 – nichts anderes trennt uns so weit von der Schar der wilden Tiere. Wohl hat auch ihnen der Schöpfer wie uns eine Seele verliehen, uns aber auch den Geist, einen seiner ganzen Natur nach sanften, edelmütigen, den vor allem nach Freundschaft verlangt, durch den die wechselseitige Zuneigung uns gebot, einander Hilfe zu leisten und von einander Hilfe zu erbitten, einander Schutz zu geben, Haus mit Haus zu verbinden, uns durch gemein­­same Mauern zu sichern und mit denselben Waffen zu verteidigen.6 Du siehst, wie ich glaube, lieber Cornelius, wovon die Laster uns abgebracht haben und wie die gütige Natur es eingerichtet hat. Hätten wir lieber ihrer Leitung folgen wollen, statt uns von Ehrsucht anstacheln zu lassen, dann hätte diese furchtbare Pest der Zwietracht die Herzen der Menschen nicht in solchem Ausmaß, nicht so unheilvoll ergriffen. Doch ach, dreister Ehrgeiz siegte 86


rede über frieden und zwietracht

über die Güte der Natur, es siegte die Gier nach Gold, es siegte die heillose Verderbnis der Sitten. Daher diese große Unmenschlichkeit unter den Menschen, daher die den Sterblichen so vertraute Treulosigkeit, das so wenig gewachsene Vertrauen, das selbst unter Brüdern so überaus selten ist. Sogar bei wilden Tieren und Schlangen ist die Eintracht weit größer als bei den Menschen. Denn wer hat je eine Schlange dabei ertappt, dass sie eine andere mit Gift angreift, oder einen Löwen, der einem schwächeren das Leben raubt? Der Wolf verschont den Wolf, « die wilden Bären vertragen sich untereinander »7, und die Indischen Tiger, obwohl für alle anderen gefährlich, wissen untereinander stets Eintracht zu bewahren. Doch wer wäre imstande aufzuzählen, wie viel Verrat es unter den Menschen gibt, wie viel Ungerechtigkeiten, wie viel Unheil? Aber das reicht wohl noch nicht : Sie schlachten einander auf tausenderlei Arten ab, und am Ende, um die Raserei der Zwietracht vollkommen zu machen, verschlingen sie sogar einander. Glaube niemand, dass ich mir das nur ausdenke und ein Märchen erzähle; etwas so Ungeheuerliches ist einst in Ägypten geschehen, falls wir dem Satiriker glauben. Der erzählt nämlich8, vor Zeiten habe es zwischen Ombos und Tentyra eine so erbitterte Feindschaft gegeben, dass jede Stadt sogar die Gottheit der jeweils anderen hasste9. [Und dann geschieht Folgendes :] Während die Leute in Ombos ein Fest vorbereiten und gerade dabei sind, die Tische nach heiligem Ritus herzurichten, eilen die Leute aus Tentyra dorthin, um Beute zu machen. Es kommt zwischen ihnen zu einem wütenden Streit, dann fliegen die Fäuste, dass sie sich gegenseitig die Gesichter zerfetzen und sich fast die Köpfe einschlagen. Doch unzufrieden mit solchen Kinderspielen, bewirft man sich mit Steinen, aber auch das genügt noch nicht, sie wollen über Leichen gehen. Mordgierig ziehen sie ihre Dolche und fallen hinterrücks über andere her, die ihr Heil in der Flucht suchen. Einer, der besonders eilig davon87


rede über frieden und zwietracht

rennt, stolpert, stürzt, stirbt. Den packen sie sofort, reißen ihn in tausend Stücke und verschlingen sie alle roh (sie zu kochen dauert den Hungrigen wohl zu lange), wer nichts abbekommt, hält das für eine Schande. Um aber nicht ganz leer auszugehen, taucht er die Finger in das Blut auf der Erde und leckt es genüsslich ab. Welche Grausamkeit wird künftig so groß sein, dass es der Zwietracht nicht gelänge, sie den Menschen einzureden, nachdem sie sich von der Sanftheit der Natur so weit entfernt hat, dass ihre Wildheit sogar noch größer ist als die der wilden Tiere? O dreimal glücklich jenes frühere Menschengeschlecht, das ohne Gold im Goldenen Zeitalter lebte10, das, von der Natur geleitet, Vertrauen und Frieden unverbrüchlich bewahrte und in bescheidenem, aber sicherem Wohlstand glücklicher lebte als irgendein König der Perser. Was wäre, wenn jenes Geschlecht gerade jetzt sich aus seinen Gräbern erheben und sehen könnte, in welch rasendem Aufruhr sich das ganze Menschengeschlecht befindet? Mit Recht würde es doch seine Stimme erheben :11 « O ihr zu Toren gewordenen Menschen !12 Ihr hättet unter einem gütigen Gott und in einer an allem reichen Natur glücklich leben dürfen ! So sehr hat eure Gier euch verblendet, dass ihr einem nicht endenden Unheil den Vorzug gebt vor dem Glück? Wir haben einst unsere Gastmähler mit Eicheln und gewöhnlichen Pflanzen ausgerichtet, nüchterne Gastmähler gewiss, aber im Geist der Freundschaft, sorglos und voller Heiterkeit. Ihr aber, nachdem ihr alles mit ungeheurem Lärm und größtem Aufwand bereitet habt, seid nicht imstande, die Stirnfalten zu glätten und die Mühen zu vergessen. Wir fanden in Felshöhlen oder hohlen Bäumen oder einfach unter freiem Himmel sanft in den Schlaf – ihr, durch Stadt und Haus geschützt, von Federn üppig umfangen, verbringt wegen der Angst eures Herzens schlaflose Nächte. Wir haben uns um Vertrauen, Freundschaft und vor allem um Frieden bemüht – ihr kehrt dem Frieden den Rücken und stürzt euch kopfüber in jede Art von Laster. Seht also, wie viel glück88


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licher unser Mangel war als eure Fülle. Die Eintracht machte unsere Armut glücklich – ihr, die ihr diese verschmäht, könnt zwar reich werden, gewiss aber nicht glücklich. Kommt deshalb wieder zur Vernunft, ihr Elenden, weil Unvernünftigen13, die ihr euch der Wildheit wilder Tiere überlassen habt, werdet wieder zu Menschen und begreift, worin die wahre Würde des Menschen besteht. Schaut euch um mit dem äußeren und dem inneren Auge, und ihr werdet finden, dass nirgends etwas Bestand hat ohne einen Friedensbund, oder lernt vom Beispiel der stummen Dinge die Eintracht. Blickt vor allem zum Himmel auf, wo alles in Liebe miteinander verbunden ist14 – welch maßvolle Harmonie, welch schöne Eintracht der Sterne, die, obwohl nicht gleich an Leuchtkraft, obwohl unzählbar, dennoch alle wechselseitig auf einander reagieren, jeder seine Aufgabe erfüllt, jeder seine eigene Bahn zieht – und das alles ohne Seele und Verstand, obwohl einige Philosophen fälschlicherweise behauptet haben, die Sterne hätten eine Seele15. Wenn also diese kunstreiche Himmelsmaschine ohne Frieden und Eintracht weder auf Dauer noch auch nur einen Tag lang existieren kann, warum schert ihr euch nicht um diese so notwendige Eintracht? » Aber kehren wir vom Himmel zurück, übergehen wir die vielen Beispiele für Frieden in äußeren Dingen (die Rede eilt nämlich vorwärts) und nehmen wir ein Beispiel aus unserem eigenen Körper, der an schöner Mischung gleich kunstreich ist, aber um vieles vertrauter mit Freundschaft. Denn wer würde nicht bewundern (sofern er darauf achtet), wie schön in ihm die einzelnen Aufgaben auf die einzelnen Glieder verteilt sind? Dennoch ist kein Teil so missgünstig, dass er die gerade ihm zugewiesene Aufgabe nicht auch den übrigen zugute kommen ließe, so dass man leicht versteht, dass er nicht für sich, sondern der eine für die anderen gemacht ist. Aufgabe der Augen ist es, zu sehen, die der Hände, zu arbeiten, die des Mundes, zu essen; doch sehen etwa die Augen für sich oder arbeiten die Hände für sich oder isst der 89


rede über frieden und zwietracht

Das Triptychon «Garten der Lüste» von Hieronymus Bosch

Mund für sich und nicht viel eher für die übrigen, die, wie sie wissen, ihre Tätigkeit unbedingt brauchen? Vortrefflich hat das einer ersonnen16 : Hände und Füße, zur Arbeit bestimmte Glieder, empören sich, wenn der Magen untätig ist, kurz, sie hören auf zu 90


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mit dem Garten Eden (links), dem Paradies (mitte) und der Hölle (rechts)

arbeiten, der Magen leidet Hunger, und nun schwinden auch den Händen die Kräfte. So geschieht es, dass, wenn die Glieder des Körpers nicht mehr miteinander harmonieren, durch den Hunger des einen alle absterben. So nötig braucht der menschliche Körper 91


rede über frieden und zwietracht

zu dem Bemühen um den Frieden. Diesen hochschätzen sollten alle, die lieber Menschen als Tiere sein wollen; ihn sollten wahren, denen an Treue und Pflichterfüllung gelegen ist; ihn sollten all die Vielen erstreben, die gern sicher und ruhig leben – ihn erhalte ihnen der Geist des Lebens. Ende der Rede über Frieden und Zwietracht, die Erasmus von Rotterdam in seinem zwanzigsten Lebensjahr verfasste.37

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papst julius vor der verschlossenen himmelstür

PA P S T J U L I U S VO R D E R V E R S C H L O S S E N E N HIMMELSTÜR IULIUS EXCLUSUS E COELIS EIN DIALOG ÜBERSETZT VO N WO L F G A N G F. S TA M M L E R

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papst julius vor der verschlossenen himmelstür [EINLEITUNG]

L

ector, risum prohibe – « Leser, verkneif dir das Lachen » – war auf der Titelseite einiger Nachdrucke einer Schrift zu lesen, die im Sommer 1517 zum ersten Mal erschienen war und alsbald vielerorts auch von anderen Druckern angeboten wurde, weil sie sich bestens verkaufen ließ. Einen richtigen Titel hatte diese Schrift nicht, man erfuhr auch nicht, von wem sie war und wer sie wo und wann gedruckt hatte. Nur eine Art Inhaltsangabe war auf den Titelseiten zu finden, der man entnehmen konnte, dass auf den folgenden Seiten der jüngst verstorbene Papst Julius II. mit dem Himmelspförtner Petrus streitet, der dem Papst die Himmelspforte partout nicht öffnen will, obwohl dieser doch Seine Heiligkeit genannt wurde und viele Kriege gewonnen hatte. Wer umblätterte, konnte lesen, dass Julius darob in Rage geriet und randalierte, während Petrus sich die Nase zuhielt, weil es da draußen so stank. Doch was stank da zum Himmel? Worum ging der Streit zwischen Julius und Petrus? Volker Reinhardt hat es in seinem Beitrag (oben S. 31 ff.) interpretierend zusammengefasst und in den zeitgeschichtlichen Kontext gestellt. Herausgehoben sei hier nur dies : Julius II. war für Erasmus das abschreckendste Beispiel für das, was er für das Verwerflichste alles Verwerflichen hielt : dass Menschen, die beanspruchen und von denen erwartet wird, das zu repräsentieren, was einst Christus in die Welt gebracht hatte, eben dies, die Lehre und das Vorbild des Lebens Christi, nicht nur in ihrer Lebensführung, sondern auch in ihrem öffentlichen Wirken mit Füßen treten, indem sie Christen gegen Christen hetzen und zu Kriegen nicht nur andere anstacheln, sondern sie auch selbst führen. Es geht in diesem Streitgespräch also nicht primär um Krieg und Frieden, sondern darum, wie eine Kirche (und ihre Reprä­ sentanten) beschaffen sein sollte, die damit Ernst macht, dass 100


einleitung papst julius zu julius vor der vor verschlossenen der verschlossenen himmelstür himmelstür

Christus ihr Haupt ist, und den Schlüssel der Macht, den ver­ goldeten (vgl. Anm. 2), entschlossen zur Seite legt und sich einzig des Schlüssels der Weisheit und Erkenntnis bedient, mit dem allein sie den Menschen die Pforten des Himmelreichs aufschließen kann. Nicht von ungefähr weicht Erasmus, als es um das von Ludwig XII. initiierte Konzil von Pisa-Milano und das von Julius dagegen einberufene Fünfte Laterankonzil geht (S. 121 ff.), von den Tatsachen ab und lässt die Pisaner Konziliaristen ein Reformprogramm für die Kirche entwerfen (Julius referiert es mit Schaudern), das durchaus nicht das ihre war, sondern sein eigenes. Erasmus hat diesen Dialog noch in England geschrieben1, aber nur wenigen vertrauten Freunden zugänglich gemacht. Für die Erstveröffentlichung im Sommer 1517 sorgte dann höchstwahrscheinlich Ulrich von Hutten, damals noch ein glühender Verehrer des großen Humanisten. In Anbetracht der raschen Verbreitung versteht es sich von selbst, dass der « Julius » dabei in die Turbulenzen der beginnenden Reformation geriet und zum Kampfmittel der Romgegner wurde. Erasmus hat sich öffentlich nie zu ihm bekannt. Der folgenden Übersetzung liegt die kritische Edition des Textes durch Silvana Seidel Menchi in der Amsterdamer Ausgabe zugrunde (ASD I-8). Für die Anmerkungen wurde dankbar von dem reichen Material Gebrauch gemacht, das sie in ihrer Einleitung und im Kommentar ausbreitet. – Zum Vergleich herangezogen wurden die Übersetzungen von Gertraud Christian (AS 5) und Werner von Koppenfels.

1 Im Frühjahr 1514 ? Vgl. die Rekonstruktion der Entstehungs- und Veröffentli­ chungsgeschichte durch Silvana Seidel Menchi in der Einleitung ihrer Textedition.

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papst julius vor der verschlossenen himmelstür

Rückseite des Titelblatts « von der gewalt und haupt der kirchen ». Der Holzschnitt zeigt den Dialog zwischen Julius und Petrus vor der Himmelstür.

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papst julius vor der verschlossenen himmelstür

J U L I U S · G E N I U S · P E T RU S JULIUS : Was für ein Mist ! Die Tür geht gar nicht auf. Da hat

wohl jemand das Schloss ausgetauscht oder kaputtgemacht ! GENIUS : Schau erst mal nach, ob du den richtigen Schlüssel mitgenommen hast. Mit dem zu deinem Geldtresor1 bekommst du diese Tür nicht auf. Warum hast du nicht beide mitgebracht? Denn der da ist der Schlüssel für die Macht, nicht für Einsicht und Verstand.2 JULIUS : Einen anderen als den hab ich noch nie gehabt. Und ich seh nicht ein, warum ein anderer nötig sein soll, wenn ich den hier habe. GENIUS : Ich ja auch nicht. Nur sind wir erst einmal ausgesperrt. JULIUS : Die Galle läuft mir über ! Gleich schlage ich die Tür ein.3 He, ihr da ! Mach sofort einer die Tür auf ! Was ist hier los? Kommt da niemand? Wo bleibt dieser Pförtner? Vermutlich ist er sturzbesoffen und schnarcht. GENIUS : Dass er doch alle an sich selber misst !4 PETRUS : Wie gut, dass unsere Pforte hart ist wie ein Diamant ! Sonst hätte der doch glatt die Tür zertrümmert. Da draußen muss irgendein Gigant sein oder ein Befehlshaber, der Städte zerstört.5 – O mein Gott, hier stinkt’s ja wie in einer Kloake !6 Ich will nicht gleich die Pforte öffnen. Erst schau ich durch das Gitterfenster, um zu sehen, was für ein Scheusal das ist. – Wer bist du? Und was willst du? JULIUS : Dass du die Tür aufmachst so weit, wie du kannst! Du weißt wohl nicht, was sich gehört. Mir entgegeneilen mitsamt den himmlischen Heerscharen wäre deine Pflicht gewesen! PETRUS : Klingt mächtig herrisch. Aber erklär du mir erst mal, wer du bist. 103


papst julius vor der verschlossenen himmelstür JULIUS : Als könntest du das nicht selber sehen ! PETRUS : Was sehen? Ein wahrhaft ungeheures, bisher noch

nie gesehenes Spektakel sehe ich, um nicht zu sagen : eine Schreckgestalt. JULIUS : Bist du denn völlig blind? Diesen Schlüssel wirst du doch wohl erkennen, falls du die goldene Eiche7 nicht kennst. Und siehst du nicht die dreifache Krone und den überall von Edelsteinen und Gold glänzenden Mantel? PETRUS : Ich kann zwar so in etwa einen silbernen Schlüssel8 erkennen, aber es ist nur ein einziger und der ist ganz anders als die Schlüssel, die mir vorzeiten der wahre Hirte der Kirche, Christus, übergeben hat. Aber woher, bitte, sollte ich diese dermaßen überhebliche Krone9 kennen? Kein Barbarenkönig hat es je gewagt, eine solche zu tragen, geschweige denn einer, der hier eingelassen werden wollte. Und dieser Mantel da, der imponiert mir ganz und gar nicht, ich habe Gold und

Wappen von Papst Julius II. mit dem goldenen Echbaum

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papst julius vor der verschlossenen himmelstür

Edelsteine immer wie Schutt und Abfall mit Füßen getreten und verachtet. Aber was ist denn das? Auf dem Schlüssel, auf der Krone, auf dem Mantel : überall die Zeichen dieses Schlimmsten aller Schacherer und Betrüger, dieses Simon ! Er hat zwar den gleichen Vornamen wie ich, aber nicht dieselbe Gesinnung. Ihn habe ich einst mit Christi Hilfe verflucht.10 JULIUS : Bist du noch gescheit? Lass gefälligst diesen Unsinn. Denn falls du es nicht weißt : Ich bin Julius, der Ligurer !11 Und diese beiden Buchstaben « P. M. » wirst du ja wohl kennen – falls du überhaupt lesen kannst. PETRUS : « Pestis Maxima », vermute ich mal. GENIUS : Ha, ha, ha ! Wie der das errät ! Er hat den Nagel auf den Kopf getroffen ! JULIUS : Ach was – « Pontifex Maximus »12. PETRUS : Und wärst du dreimal « maximus » und größer noch als Mercurius Trimegistus13, hier kommst du nicht herein – nur wenn du auch der « optimus » bist, und das heißt heilig. JULIUS : Heilig, sagst du? Was das betrifft, so ist es reichlich unverschämt, dass ausgerechnet du noch zögerst, mir diese Tür zu öffnen. Seit Jahrhunderten wirst du nur « heilig » genannt, mich aber nennen alle immer nur « hochheilig ». Es gibt Tausende von Bullen … GENIUS : … nichts als Seifenblasen ! 14 JULIUS : … in denen ich immer als « hochheiliger Herr » bezeichnet werde, also nicht nur als heilig, sondern als die Heiligkeit schlechthin. Und egal, was mir in den Kopf kam … GENIUS : … vor allem wenn du betrunken warst … JULIUS : … es hieß immer, die Heiligkeit des hochheiligen Herrn Julius hat das getan.15 PETRUS : Dann geh doch zu diesen Schmeichlern, die dich so hochheilig gemacht haben, und fordere von ihnen den Himmel ! Sollen doch die, die dir die Heiligkeit verliehen haben, dir auch die Seligkeit noch dazugeben. – Aber auch 105


papst julius vor der verschlossenen himmelstür

wenn es dich nicht zu interessieren scheint, sag mir dennoch : Wirst du nur heilig genannt, oder bist du es? JULIUS : Was ich bin? Wütend bin ich ! Wäre ich noch am Leben, würde ich auf deine ganze Heiligkeit und Seligkeit pfeifen. PETRUS : Welch ein Wort ! Wenn daraus mal keine hochheilige Gesinnung spricht … Ich betrachte dich nun schon eine ganze Weile, und was sehe ich : nichts von Heiligkeit, aber eine ganze Menge Gottlosigkeit. Und was soll dieses merkwürdige, so ganz und gar nicht päpstliche Gefolge? Fast zwanzigtausend bringst du mit, und keiner in diesem riesigen Haufen sieht mir aus, als sei er ein Christ. Was ich sehe, ist nur scheußlichster menschlicher Abschaum, der nach Bordell, Suff und Pulverdampf stinkt. Sieht aus, als seien das alles nur gekaufte Banditen oder eher noch Geister aus der Unterwelt, die man aus der Hölle hierher verschleppt hat, um mit dem Himmel Krieg zu führen. – Und was dich betrifft, je länger ich dich anschaue, desto weniger finde ich auch nur die Spur eines Apostels an dir. Angefangen mit der Ungeheuerlichkeit, dass du außen einen Priesterrock trägst, darunter aber von blutigen Waffen nur so starrst und klirrst. Und dann : der finstere Blick, der grimmige Mund, die drohende Stirn, die hochmütigen, arroganten Brauen ! Ich schäme mich, es auch nur zu auszusprechen, ja es widert mich geradezu an zu sehen, wie dein ganzer Körper besudelt und gezeichnet ist von widernatürlicher und abscheulicher Lust. Gar nicht zu reden davon, dass du die ganze Zeit rülpst und nach Suff und Wein stinkst und dich offensichtlich gerade erst so richtig ausgekotzt hast. Schließlich zeigt deine ganze Erscheinung, dass nicht so sehr das Alter oder Krankheit als vielmehr deine Laster dich morsch und schwach gemacht haben. GENIUS : Wie lebensecht und farbig er sein Bild gezeichnet hat ! PETRUS : Auch wenn mir dein finsterer Blick, mit dem du mir schon eine Weile drohst, nicht entgeht, will ich’s mir nicht 106


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verkneifen, dir zu sagen, was ich denke. Ich vermute nämlich, dass jener Julius, dieser gott­­verfluchte Heide, in deiner Per­son verkleidet aus der Unter­welt zurückgekehrt ist, um sich über mich lustig zu machen. So sehr gleichst du ihm in allem.16 JULIUS : Ma di si !17 PETRUS : Was hat er gesagt? GENIUS : Er ist wütend. Kein Kardi­ nal, der nicht aus Angst vor dieser Stimme geflohen wäre. Sonst hätte er den Knüppel des Hoch­heiligen zu spüren bekommen, besonders bei Gelagen. PETRUS : Du scheinst ja den Charak­ ter dieses Mannes gut zu kennen. Drum sag mir : Wer bist du? Papst Julius II. GENIUS : Ich bin der große Schutz­geist dieses Julius. PETRUS : Wohl ganz gewiss sein böser, denke ich. GENIUS : Egal was ich bin, ich gehöre nun mal zu Julius. JULIUS : Schluss jetzt mit diesem Geschwafel ! Öffne die Tür ! Oder willst du lieber, dass ich sie aufbrechen lasse? Dazu braucht›s nicht viel. Du siehst ja, was für Leute ich bei mir habe. PETRUS : In der Tat, ich sehe lauter ausgekochte Räuber. Aber täusch dich nicht, für diese Tür brauchst du ganz andere Waffen, um sie zu stürmen. JULIUS : Genug geredet, sage ich ! Wenn du nicht gleich tust, was ich sage, dann schleudre ich den Blitz der Exkommunikation sogar auf dich ! Mit ihm habe ich einst die mächtigsten Könige und sogar ganze Reiche in Furcht und Schrecken versetzt.18 Da, sieh die Bulle, die ich schon für dich vorbereitet habe ! PETRUS : Wovon redest du? Von welchem fürchterlichen Blitz, 107


papst julius vor der verschlossenen himmelstür

von welchem Donner, von welchen Bullen – das ist doch lauter geschwollenes Zeug19 ! Bei Christus haben wir davon nichts gehört. JULIUS : Aber du bekommst sie gleich zu spüren, wenn du nicht parierst. PETRUS : Die da unten hast du früher mit deinem Schwindel vielleicht erschreckt – hier oben funktioniert das nicht. Hier geht es nur um die Wahrheit. Mit guten Taten, nicht mit bösen Worten wird diese Burg erobert. Aber was soll das : Du drohst mir mit dem Bannstrahl? Mit welchem Recht? JULIUS : Mit dem besten! Du bist ja außer Diensten und nichts weiter als irgendein gewöhnlicher Priester – ach, von wegen Priester, nicht einmal das, du kannst ja die Wandlung nicht zelebrieren. PETRUS : Wohl weil ich tot bin, nehme ich an. JULIUS : Was denn sonst. PETRUS : Aber just aus diesem Grund hast du mir nicht mehr voraus als ein Toter einem Toten. JULIUS : Ganz im Gegenteil ! Denn solange sich die Kardinäle über die Wahl meines Nachfolgers streiten, halte noch immer ich die Fäden in der Hand.20 GENIUS : Ach dieser Träumer ! Träumt noch immer, als lebe er noch … JULIUS : Aber nun mach schon endlich auf, sage ich ! PETRUS : Ich aber sage, solange du keine Verdienste nennst, erreichst du gar nichts. JULIUS : Was für Verdienste? PETRUS : Ich will sie dir nennen : Hast du dich in der heiligen Lehre hervorgetan? JULIUS : Nicht die Spur. Hatte keine Zeit dafür, zu viel beschäftigt mit meinen Kriegen. Falls das zur Sache gehört, gibt es ja mehr als genug Ordensbrüder dafür. PETRUS : Dann hast du also viele durch einen heiligen Lebenswandel für Christus gewonnen? 108


papst julius vor der verschlossenen himmelstür GENIUS : Für die Hölle, so viele wie möglich. PETRUS : Hast du durch Wunder geglänzt? JULIUS : Du sprichst wie abgestandener Wein. PETRUS : Hast du immer fleißig und mit reinem Herzen gebe-

tet … JULIUS : Was für einen Unsinn der schwätzt ! PETRUS : … und deinen Körper durch Fasten und Nachtwachen ausgezehrt? GENIUS : Ich bitte dich, hör auf ! Bei dem erreichst du nichts. Du vergeudest nur deine Mühe. PETRUS : Ich kenne keine anderen Gaben eines hervorragenden Papstes. Wenn er welche hat, die apostolischer sind, soll er sie selber nennen. JULIUS : Es ist zwar unter seiner Würde, dass jener Julius, der bisher von niemandem besiegt wurde, nun einem Petrus nachgibt, einem Fischer und halben Bettler (um nicht mehr zu sagen). Doch damit du erkennst, was für einen Fürsten du beleidigst, hör jetzt kurz zu : Erstens bin ich ein Ligurer und nicht wie du ein Jude. Dabei ärgert mich freilich, dass wir doch etwas gemeinsam haben : denn auch ich fuhr einst ein Boot. GENIUS : Nimm’s nicht zu schwer. Denn immerhin gibt’s da noch einen großen Unterschied : Der hier fischte für seinen Lebensunterhalt, du aber hast deinen Kahn um den Lohn eines Almosens gerudert.21 JULIUS : Und zweitens bin ich von Sixtus, einem wirklich großen Papst … GENIUS : … an Lastern, wohl verstanden … JULIUS : … von seiner Schwester her ein Neffe22. Durch seine besondere Gunst und weil ich sehr hartnäckig war, erhielt ich Zugriff auf Macht und Reichtum der Kirche, dann Schritt für Schritt die Würde eines Kardinals.23 Später haben mir die Schicksalsstürme mächtig zugesetzt und mich durch grausamste Wechselfälle emporgeschleudert und hinab­ 109


papst julius vor der verschlossenen himmelstür

Papst Sixtus IV. (rechts) und Julius II. als junger Kardinal Ausschnitt aus dem Fresco «Sixtus IV. ernennt Platina zum Präfekten der Vatikanischen Bibliothek», 1477

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papst julius vor der verschlossenen himmelstür

gestürzt. Dazu kamen verschiedene Krankheiten, darunter die Fallsucht24, am Ende auch noch jene Räude, die man die französische nennt, und ich war von oben bis unten mit Geschwüren bedeckt25 – und noch dazu verbannt26, verhasst, verflucht, von allen verachtet und nahezu verloren. Trotz allem habe ich die Hoffnung auf die Papstwürde nie aufgegeben. Sie war es, die mich stark gemacht hat, während du aus Angst, als ein kleines Weib dich ansprach, sofort gekniffen hast !27 Dir hatte eine Frau den Mut geraubt; mir dagegen hatte einmal eine Frau, eine Wahrsagerin oder Seherin, das Vertrauen gestärkt. Sie hatte mir, als ich im Unglück zu versinken drohte, heimlich ins Ohr geflüstert : « Halte durch, Giuliano ! Lass dir nicht den Schneid abkaufen, was immer du tun oder erleiden musst. Einst wird dich die dreifache Krone schmücken und du wirst ‹ König aller Könige und Herr aller Herren ›28 sein ! » Weder meine Hoffnung noch ihre Prophezeiung haben mich getäuscht. Niemand hatte geglaubt, dass ich es bis ganz nach oben schaffen würde – zum Teil mit Beistand der Franzosen, die mich zuerst ablehnten, dann aber doch unterstützten, zum Teil auch durch die unschätzbare Macht des Geldes29, das sich durch ausgedehnte Zinsgeschäfte kräftig mehrte und auch durch einen genialen Einfall … PETRUS : Was meinst du mit genialem Einfall? JULIUS : … dass ich so schlau war, Pfründen zu versprechen und zahlungskräftige Bürgen dafür zu finden. Selbst Crassus hätte nicht so viel Geld in bar bezahlen können. Doch wozu erzähle ich dir, was nicht einmal alle Bankleute verstehen. Zumindest weißt du jetzt, wie ich es geschafft habe. Und als ich schließlich Papst geworden war, habe ich meine Geschäfte so geführt, dass es keinen vor mir gab, dem die Kirche und dem selbst Christus so viel zu verdanken hat wie mir – wobei ich hier nicht nur von den früheren Päpsten spreche, die, wie mir 111


« süss ist der krieg den unerfahrenen »

Papst Julius II. Gemälde von Tizian

Papst Leo X. Gemälde von Raffael

mentlich dazu berufen, um einer von langen Kriegsstürmen erschöpften Welt zu Hilfe eilen. Mag Julius seinen Kriegsruhm behalten, lassen wir ihm seine Siege und seine großartigen Triumphe.124 Ob sich das aber für einen christlichen Pontifex gehört, das zu beurteilen steht meinesglei­chen nicht zu. Mir bleibt hier nur daran zu erinnern, dass sein Ruhm, worin auch immer er bestehen mag, vom Tod und dem Leid vieler Menschen begleitet war. Unser Leo aber, der der Welt den Frieden wiedergab, wird sich weit größeren und wahrhaftigeren Ruhm erwerben, als Julius ihn sich je durch noch so viele von ihm provozierte oder glücklich geführte Kriege weltweit erworben hat. Doch mir scheint, als seien wir nun für die, die lieber etwas über Sprichwörter als über Krieg und Frieden hören wollen, doch etwas zu weit abgeschweift.

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kapitel iii: fähigkeiten für die bewahrung des friedens

DREI KAPITEL AU S D E R ERZIEHUNG EINES CHRISTLICHEN FÜRSTEN INSTITUTIO PRINCIPIS CHRISTIANI ÜBERSETZT VO N WO L F G A N G F. S TA M M L E R

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die erziehung eines christlichen fürsten [EINLEITUNG]

A

ls im Frühjahr 1516 die Institutio principis Christiani erschien, hatte sich die Lage am burgundischen Hof stark verändert : Im Jahr zuvor war der fünfzehnjährige Karl, der Enkel Kaiser Maximilians, für volljährig erklärt worden und war jetzt Herzog von Burgund. Sein Kanzler war Jean Le Sauvage. Ihn hatte Erasmus schon kennen gelernt, bevor er nach Basel reiste, und im Frühjahr 1515 besuchte er ihn erneut. Le Sauvage wollte Erasmus enger an den burgundischen Hof binden und plante, ihn in den Beraterkreis Karls berufen zu lassen, was dann, wohl zum Jahresbeginn 1516, auch geschah. In diesem Zusammenhang steht die Institutio, die Le Sauvage wahrscheinlich anregte und die Erasmus dem jungen Herzog widmete. Mit der Berufung in den « Rat » Karls waren keine besonderen Verpflichtungen verbunden. Erasmus habe denn auch, wie er später einmal schrieb, seine Aufgabe nicht darin gesehen, Ratschläge in konkreten Einzelfragen der Tagespolitik zu geben; er habe in der Institutio vielmehr auf die Quellen (fontes) hinweisen wollen, aus denen jede Beratung, jede Erziehung gespeist sein sollte, auf die Voraussetzungen für ein gutes, dem Land und seinen Bewohnern förderliches Regieren. Diese Quellen müssen dem, der einmal regieren soll, möglichst früh erschlossen werden. Deshalb widmet Erasmus der Erziehung und Ausbildung des künftigen Herrschers ein besonders ausführliches Kapitel, erst dann nimmt er den Aufgabenbereich des Regierenden im Einzelnen in den Blick. Wir haben für unsere Ausgabe daraus die beiden Kapitel gewählt, die sich mit den Aufgaben des Fürsten in Friedenszeiten befassen, und das Schlusskapitel, das sich dem Thema « Krieg » zuwendet. Als die Institutio endlich gedruckt war und ausgeliefert werden konnte, hatte sich die Situation ihres Widmungsträgers wiederum geändert : Im Januar 1516 war Karls anderer Großvater, König 242


einleitung kapitel iii: zu fähigkeiten der erziehung für die eines bewahrung christlichen des friedens fürsten

Ferdinand von Aragón, gestorben, der Herzog von Burgund wurde nun auch (als Carlos I.) König von Spanien und bereitete sich darauf vor, dorthin zu reisen, um sein Erbe anzutreten. Er war einer Institutio also in gewissem Sinn entwachsen. Erasmus eignete die zweite, überarbeitete Ausgabe, die 1518 erschien, deshalb Karls jüngerem Bruder Ferdinand zu (ohne natürlich die ursprüngliche Widmung zu ändern), der in diesem Jahr zum ersten Mal nach Burgund gekommen war (er war in Spanien geboren und aufgewachsen). Ferdinand soll sie begeistert gelesen und fast auswendig gelernt haben. Begeistert waren auch die Drucker und druckten die Institutio eifrig nach, schon 1516 in Löwen, 1517 in Paris, 1518 in Venedig, Froben in Basel musste die zweite Ausgabe von 1518 schon im Jahr darauf neu auflegen. Mehrere Übersetzungen in andere Sprachen schlossen sich an. In späteren Jahren erschienen auch einige Auswahl-Ausgaben, in denen besonders prägnante Sätze aus der Institutio zusammengestellt wurden. Die folgende Übersetzung beruht auf der textkritischen Edition der Institutio durch Otto Herding in der Amsterdamer Ausgabe (ASD IV-1), für die Anmerkungen wurden dessen Einleitung und Kommentar dankbar benutzt. Zum Vergleich herangezogen wurden die Übersetzungen von Gertraud Christian (AS 5) und Anton J. Gail.

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die erziehung eines christlichen fürsten

Titelblatt der Institutio von 1516, gedruckt in Basel.

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kapitel iii: fähigkeiten für die bewahrung des friedens

KAPITEL III

FÄ H I G K E I T E N F Ü R D I E B E WA H RU N G D E S F R I E D E N S

S

chon die frühen Autoren haben die gesamte Staats­ver­wal­ tung in zwei Bereiche aufgeteilt: in den für den Frieden und den für den Krieg. Deshalb muss sich die Erziehung des Fürsten in erster Linie auf die Unterweisung in diesen beiden Feldern konzentrieren, um ihn zu befähigen, in Zeiten des Friedens klug und maßvoll zu herrschen, und entsprechend seinen Möglichkeiten zu versuchen, einen Krieg vollständig auszuschließen. Dies legt es nahe, den Fürsten zunächst über sein Herr­schafts­ gebiet zu unterrichten, und zwar in dreierlei Hinsicht: indem er sich Kenntnisse über die Geographie und über die Geschichte seines Landes erwirbt und außerdem häufige Reisen in seine Gebiete und Städte unternimmt. Konkret bedeutet das, dass er sich vor allem mit den Verhältnissen in den einzelnen Landesteilen und Städten beschäftigen und ihre Geschichte, ihre Eigenheiten, Lebensweisen, Gewohnheiten und ihre Gesetze sowie ihre schriftlichen Überlieferungen und Privilegien studieren soll. Niemand kann einen Körper kurieren, ohne dass er ihn zuvor untersucht hat. Keiner bestellt einen Acker richtig, den er nicht kennt. Zwar bemüht sich darum auch ein Tyrann sehr gründlich, doch was ihn von einem guten Fürsten unterscheidet, ist nicht die Sache an sich, sondern die Gesinnung. Ein Arzt erforscht den menschlichen Körper, um wirkungsvoller zu helfen; dasselbe macht auch ein Giftmischer, doch nur, um desto sicherer zu töten. Zunächst soll der Fürst, der das Land, das von ihm be245


die erziehung eines christlichen fürsten

« Die gute und die schlechte Regierung », Fresko von Ambrogio Lorenzetti – hier das Leben in der Stadt unter einer guten Regierung. Im Zentrum des Marktplatzes tanzen Männer und Frauen im Reigen.

herrscht wird, wirklich liebt, es genauso behandeln wie ein guter Bauer sein väterliches Erbe oder wie ein redlicher Mann seine Familie; auch soll er sein ganzes Bestreben darauf richten, das ihm Anvertraute in einem noch besseren Zustand an seinen Nach­folger weiterzugeben, wer immer dies sei. Wenn er Kinder hat, sollte ihn väterliche Liebe dazu bewegen, hat der Fürst keine Kinder, sollte er es aus Liebe zum Vaterland tun. Wie eine Flamme sollte er in sich immer wieder die Liebe zu den Seinen entfachen und dabei bedenken, dass ein Königreich nichts anderes ist als ein riesiger Organismus, an dem er selbst ein wichtiges Glied ist. Das bedeutet, dass diejenigen seine Achtung verdienen, 246


kapitel iii: fähigkeiten für die bewahrung des friedens

Oberhalb von ihnen sieht man einen Tuchhändler, dahinter einen Goldschmiedeladen, links von dem Reigen einen Hochzeitszug, rechts einen Schuhmacher, daneben einen Magister mit seinen Studenten und eine Apotheke.

die ihr ganzes Hab und Gut und ihr Wohlergehen der Obhut eines Einzigen anvertraut haben. Und um zu erkennen, dass ein Fürst sich immer selbst schadet, wenn er dem Staat schadet, sollte er sich des Öfteren das Beispiel derer vor Augen führen, die das Wohl ihrer Bürger über ihr eigenes Leben stellten. Außerdem sollte er sich auf jede Weise darum bemühen, auch von den Seinen geliebt zu werden, doch so, dass es seine Autorität bei ihnen nicht schwächt. Manche versuchen sich das Wohlwollen auf höchst törichte Weise mit Beschwörungs­ formeln und magischen Ringen zu erwerben, obwohl doch kein Zaubermittel wirksamer sein kann als die Tugend selbst und es 247


die erziehung eines christlichen fürsten

nichts Liebenswürdigeres gibt als sie; denn wie nur sie wahrhaft gut und unsterblich ist, verleiht auch nur sie dem Menschen wahre und unvergängliche Zuneigung. Der Wirkung eines Liebestranks gleicht aber am ehesten die Liebe dessen, der liebt, um selbst geliebt zu werden, der seine Bürger auf dieselbe Weise für sich gewinnt wie Gott alle Menschen mit sich versöhnt: indem er ihnen Gutes erweist. Ein Irrtum aber ist es zu glauben, mit Geschenken, Gast­mählern und falscher Nachsicht könne man die Herzen der Menge gewinnen. Gewiss erwirbt man sich damit die Volksgunst eher als mit Wohlwollen, doch ist sie nicht echt und ohne Bestand. Damit nährt man höchstens die dreiste Begierde des Volkes, die dann meist ins Unermessliche wächst und durch nichts mehr zu befriedigen ist, sondern Aufruhr stiftet, wenn nicht in allem ihren Wünschen entsprochen wird. Auf diese Weise wird man aber seine Bürger eher verderben als für sich gewinnen. Einem Fürsten wird es dann mit seinem Volk nicht anders ergehen als einem eingebildeten Ehemann, der die Liebe seiner Frau anstatt mit honorigem Anstand und aufrechtem Tun mit Schmeicheleien, Geschenken und Willfährigkeit für sich gewinnt. Am Ende führt dies dazu, dass sie nicht nur nicht geliebt werden, sondern statt tüchtiger und gesitteter Frauen wählerische und unverträgliche, statt gehorsamer quengelnde und keifende Frauen haben. Umgekehrt ergeht es Frauen, die ihre Männer mit Liebestränken für sich gewinnen wollen und dann keine gesunden, sondern um den Verstand gebrachte Männer haben. Deshalb sollte eine Frau zuerst lernen, wie und unter welchen Bedingungen sie ihren Mann lieben soll; er wiederum sollte sich wie jemand verhalten, der es verdient, geliebt zu werden. Ebenso soll auch das Volk die Besten lieb gewinnen und der Fürst sein Bestes geben. Lange wird die Liebe derer währen, die begonnen haben, mit Einsicht zu lieben. Zuerst also soll der Fürst, der von seinen Bürgern geliebt wer248


kapitel iii: fähigkeiten für die bewahrung des friedens

den will, beweisen, dass er es verdient, geliebt zu werden. Dann ist zu überlegen, auf welche Weise man am besten die Herzen aller gewinnt. Hier kommt es zunächst darauf an, dass der Fürst um die Wertschätzung und Anerkennung derer wirbt, die in der Öffentlichkeit am meisten Respekt und Ansehen genießen. Diese soll er zu seinen Vertrauten und Ratgebern machen; ihnen soll er Ehren erweisen und sich am meisten von ihnen beeinflussen lassen. Das bringt den Vorteil mit sich, dass dann alle möglichst gut vom Fürsten denken, der ja die Quelle allen Wohlwollens ist. Ich kenne Fürsten, die für sich genommen gar nicht so schlecht waren und sich nur deshalb beim Volk verhasst machten, weil sie sich allzu nachsichtig gegenüber denen verhielten, die in der allgemeinen Öffentlichkeit einen schlechtem Ruf hatten. In solchen Fällen beurteilt das Volk den Charakter eines Fürsten nach dem Lebenswandel ebenjener Leute. Eigentlich wünschte ich mir, dass jeder Fürst unter denen geboren und erzogen würde, die er einmal regieren wird; denn Freundschaft entsteht und gedeiht am besten immer da, wo das Wohlwollen bereits in der Geburt seinen natürlichen Ursprung hat. Denn selbst das Gute scheut und hasst das gemeine Volk, wenn es dieses nicht kennt, während es Übel, die es kennt, bisweilen sogar liebt. Das bringt einen zweifachen Nutzen: Einerseits wird der Fürst gegenüber seinen Bürgern mehr Nähe zeigen und ihnen überhaupt gewogener sein, und andererseits wird das Volk seinem Fürsten umso mehr sein Herz zuwenden und ihn bereitwilliger als seinen Herrscher anerkennen. Aus diesem Grund missfallen mir auch verwandtschaftliche Beziehungen mit ausländischen Fürstenhäusern und vor allem mit weit entfernten Völkern. Denn Herkunft und Vaterland sowie ein gewisser Genius, der beide Seiten vereint, sind eine starke Kraft, wenn es gilt, Wohlwollen zu gewinnen. Vieles davon wird verloren gehen, wenn man dieses brüderliche und natürliche Gefühl der Zusammengehörigkeit durch gemischte Ehen 249


die erziehung eines christlichen fürsten

Der Ausschnitt zeigt rechts die Concordia (Eintracht) mit einem Hobel auf ihren Knien, auf dem in goldenen Buchstaben ihr Name steht.

mit Fremden verwirrt. Wo aber die Natur den Grund zu wechselseitiger Liebe gelegt hat, sollte man sie auch entsprechend fördern und festigen. Wo es nicht so ist, sollte man umso mehr Sorge und Mühe darauf verwenden, das Wohlwollen durch gegen­seitige Gefällig­keiten und Entgegenkommen zu erwerben. Was aber für die Ehe gilt, in der anfangs die Frau dem Mann gehorcht und der Mann der Frau manches zugesteht und Nachsicht übt gegenüber dem Wesen seiner Gemahlin, bis beide einander kennen und allmählich Freundschaft zwischen ihnen wächst – das gilt auch für den Fürsten, der von auswärts geholt worden ist. Mithridates1 hatte die Sprachen aller Völker erlernt, über die er herrschte – zweiundzwanzig seien es gewesen, wie überliefert wird. Und Alexander der Große, der es mit unzähligen barbarischen Völkern zu tun hatte, passte sich zunächst deren Kult und Sitten an, um auf diese Weise ihr Wohlwollen zu gewinnen. Auch Alkibiades2 wird für dasselbe gerühmt. Nichts entfremdet das Herz des Volkes einem Fürsten so sehr,

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kapitel iii: fähigkeiten für die bewahrung des friedens

Sie blickt auf eine Gruppe von 24 Männern, an die sie eine Kordel weitergibt, die sie von zwei Engeln der Justitia (Gerechtigkeit) empfangen hat.

wie wenn er sich gerne in der Fremde aufhält, weil es sich dann von ihm, dem es doch besonders am Herzen liegen will, vernachlässigt fühlt. Wenn dann Steuern erhoben werden, muss es glauben, dass diese dem Volk verloren gehen, da sie ja anderswo ausgegeben werden, und die für den Fürsten bestimmten Steuern Fremden gleichsam als Beute hingeworfen werden. Deshalb ist für das Vaterland nichts belastender und verderblicher und für den Fürsten nichts verhängnisvoller als Reisen ins ferne Ausland, besonders wenn sie lange dauern. Denn gerade dies hat uns nach aller Meinung auch Philipp3 entfremdet und hat seiner Herrschaft genauso geschadet wie der jahrelange Krieg mit Geldern4. Wie bei den Bienen die Königin stets von ihrem Bienenvolk umgeben wird und niemals ausfliegt, und wie das Herz die Mitte des Körpers bildet, so gehört es sich für einen Fürsten, stets unter den Seinen zu weilen. Aus der Politik von Aristoteles wissen wir, dass vor allem zwei Dinge die Herrschaft untergraben: Hass und Geringschätzung.5 Dem Hass entgegnet man mit Güte, der Geringschätzung mit 251


die erziehung eines christlichen fürsten

Autorität. Daher ist es Aufgabe des Fürsten, sorgfältig darauf zu achten, womit man sich das eine erwirbt und das andere vermeidet. Hass wird durch Zügellosigkeit, Gewalt, Verleumdung, Pedanterie, Eigensinn und Raubgier geschürt, wobei es leichter ist, Hass zu erzeugen, als ihn, sobald er einmal geweckt ist, zu besänftigen. Daher muss sich ein guter Fürst unbedingt davor hüten, irgendwann die Liebe seiner Bürger zu verlieren. Glaube mir, wer die Gunst des Volkes verliert, verliert einen wichtigen Bundesgenossen. Dagegen gewinnt man, allgemein gesprochen, das Wohlwollen des Volkes mit einem Verhalten, das sich grundlegend von dem einer Tyrannei unterscheidet: mit Milde, Güte, Gerechtigkeit, Leutseligkeit und Wohltätigkeit. Wohltätigkeit spornt zu Pflichteifer an, besonders wenn die Bürger erkennen, dass diejenigen vom Fürsten belohnt werden, die sich um den Staat verdient machen. Milde lädt diejenigen, die sich einer Schuld bewusst sind, dazu ein, ihr Leben zu bessern, indem sie diejenigen auf Vergebung hoffen lässt, die ihre früheren Vergehen durch neuerliches Wohlverhalten vergelten wollen, was angesichts der menschlichen Natur sogar den unbescholtensten Menschen Freude macht. Leutseligkeit erzeugt überall Liebe oder mildert zumindest den Hass; sie vor allem macht einen großen Fürsten beim Volk am meisten beliebt. Geringschätzung zieht man sich vor allem zu durch Vergnügungs­ sucht, Wollust, Trunksucht, Ausschweifungen, Spiel­sucht, Narre­ teien und Possenreißereien, vor allem aber durch Tor­heit und Gedankenlosigkeit. Wahres Ansehen erwirbt man sich dagegen durch Klugheit, Redlichkeit, Selbstbeherrschung, Nüchternheit und Fürsorglichkeit. Durch diese Eigenschaften empfiehlt sich ein Fürst, der wirklich bei seinen Bürgern angesehen sein will. Geradezu lächerlich ist es aber, wenn manche glauben, in den Augen ihrer Bürger dadurch groß zu erscheinen, wenn sie sich mit besonders großem Trara und luxuriösem Gehabe hervortun. Wer hält denn schon einen Fürsten für groß, der sich mit Gold 252


kapitel iii: fähigkeiten für die bewahrung des friedens

und Edelsteinen schmückt, wo doch jedermann weiß, dass dieser davon so viel haben kann, wie er will? Was führt er denn damit seinen Bürgern vor? Doch nichts anderes als deren eigene Not und den Verlust, mit dem sie für diesen Aufwand zahlen müssen. Und schließlich, was lehrt er sie mit diesem Verhalten anderes, als dass es der Ursprung sämtlicher Frevel ist? Ein guter Fürst soll sich so kleiden und schmücken und so leben, dass alle anderen, ob vornehm oder gering, sich an ihm ein Beispiel für sparsames und besonnenes Verhalten nehmen können. Zu Hause soll er sich so verhalten, dass er bei einem überraschenden Besuch nicht [bei etwas Unschicklichem] ertappt wird, und außerhalb seines Hauses sollte man ihn nur als jemanden wahrnehmen, der stets darum besorgt ist zu tun, was dem Staat nützt. Seine Gesinnung soll man mehr an seinen Worten als an seiner Kleidung ablesen. Denn was immer ein Fürst sagt, macht im Volk die Runde. Deshalb soll er genau darauf achten, dass alles, was er sagt, von Tugend und Charakter zeugt, die eines guten Herrschers würdig sind. Dabei sollte man auch den Rat des Aristoteles beachten, wo­ nach ein Fürst, wenn er nicht den Hass seiner Bürger auf sich ziehen, son­ dern ihr Wohl­ wollen befördern will, alles, was Hass schürt, anderen über­tragen, das aber, was Beifall verdient, selbst tun soll.6 Auf diese Weise ergießt sich ein großer Teil der Missgunst auf die, die mit den unangenehmen Dingen befasst sind, insbesondere wenn sie auch sonst beim Volk verhasst sind. Die Wohltaten hingegen wird das Volk allein dem Fürsten zurechnen und ihm dafür mit wahrer Dankbarkeit begegnen. Hinzufügen will ich aber auch, dass die Dankbarkeit umso größer sein wird, je schneller, entschlossener und freiwilliger man gibt und sich mit freundlichen Worten beliebt macht. Muss man etwas versagen, sollte es höflich und gütig geschehen. Muss etwas bestraft werden, sollte man das von den Gesetzen bestimmte 253


die klage des friedens

Textanfang der Querela Pacis in der Löwener Ausgabe von 1518

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die klage des friedens

D I E K L AG E D E S F R I E D E N S

QU E R E L A PAC I S ÜBERSETZT VO N WO L F G A N G F. S TA M M L E R

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die klage des friedens [EINLEITUNG]

D

ie « Klage des Friedens » entstand in einer Zeit besonderer diplomatischer Aktivitäten des burgundischen Hofes. Der Wechsel auf dem französischen Thron – 1515 war Ludwig XII. gestorben, sein Nachfolger war Franz I. – schien eine Verständigung mit Frankreich zu ermöglichen, und im August 1516 kam es zu dem Vertrag von Noyon. Ihm schloss sich nach längerem Zögern Anfang 1517 auch Kaiser Maximilian I. an und es gab Verhandlungen mit England, um Heinrich VIII. für ein Bündnis zu gewinnen. Im März 1517 trafen sich die Verhandlungsführer der drei Länder in Cambrai, um ein Treffen ihrer Monarchen vorzubereiten, bei dem ein Friedensabkommen unterzeichnet werden sollte. Aber die Vereinbarungen von Cambrai führten zu nichts, das Fürstentreffen fand nicht statt. Diese Friedensbemühungen sollte Erasmus publizistisch unterstützen – der Auftrag kam von Le Sauvage, dem Kanzler von Burgund, wohl in der zweiten Jahreshälfte 1516. Ob er mit dem zufrieden war, was Erasmus dann lieferte – man kann es bezweifeln. Denn wohl ist die « Klage des Friedens » eine Propagandaschrift – aber sie propagiert nicht (oder nur nebenbei) die Tagespolitik eines Fürstenhofes; ihr Verlangen nach Frieden ist von einer Unbedingtheit, die nicht nur manches Fürstenherz überforderte. Alle Argumente gegen den Krieg und für den Frieden lagen bereit, waren veröffentlicht. Aber Erasmus gibt ihnen eine neue Dringlichkeit, indem er nicht mehr, wie in den früheren Schriften, über Krieg und Frieden redet, sondern den Frieden selbst auftreten lässt. Sie selbst, die Pax, ist es, die hier durch die Welt irrt und nirgends eine Stätte findet, wo sie bleiben könnte; denn wohin sie sich auch wendet, überall wird sie durch Zank und Streit und Waffenlärm und Kriegsgeschrei vertrieben. Und das alles – das ist das Schlimmste – inmitten einer Welt, die sich nach einem Friedensfürsten nennt, wie es keinen größeren geben kann. Heißt 278


einleitung die klage zur klage des friedens des friedens

es nicht Christus gegen Christus ins Feld führen, wenn in beiden gegnerischen Truppen die Fahne mit dem Kreuz geschwungen, in beiden gegnerischen Lagern die Messe gefeiert wird? Der Appell, den die Pax am Ende ihrer Klage an die Großen dieser Welt richtet, die sie beim Namen nennt, verhallte ungehört, die Hoffnung, die darin lag, blieb unerfüllt. Ihr Autor schrieb dazu wenige Jahre später : « Jetzt sind die Dinge so weit gediehen, dass man eine Leichenrede für den Frieden schreiben müsste, denn es gibt keine Hoffnung, dass er jemals wieder siegen wird. »1 Die Querela Pacis erschien im Dezember 1517 bei Froben in Basel. Warum erst so spät, wissen wir nicht, fertig geschrieben war sie schon im Frühjahr. Den Zwecken des Hofes zu Burgund hätte sie nicht mehr dienen können, denn im Herbst dieses Jahres war Herzog Karl mit Gefolge, zu dem auch Le Sauvage gehörte, nach Spanien aufgebrochen, um sich dort als dessen neuer König zu etablieren. Die politische Landschaft hatte sich verändert. Und : Ende 1517 verbreiteten sich in Windeseile die 95 Thesen eines Wittenberger Theologieprofessors über Buße und Ablass – ein neuer Streit hob an. Auch die Querela fand weite Verbreitung : 1518 erschienen Nachdrucke in Krakau, Leipzig, Löwen und Venedig, in den nächsten Jahren in Basel, Florenz, Köln, Leiden, Paris, Straßburg und andernorts. Übersetzungen in viele Landessprachen blieben nicht aus, bis heute. Die folgende Übersetzung beruht auf der kritischen Edition der Querela durch Otto Herding in der Amsterdamer Ausgabe (ASD IV-2), dessen Einleitung und Kommentar in den Anmerkungen dankbar benutzt wurden. Zum Vergleich herangezogen wurden die Übersetzungen von Werner Hahlweg (in Raumer : Ewiger Friede) und Gertraud Christian (in AS 5). 1 Siehe Anm. 30 zu den « Vertrauten Gesprächen ».

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die klage des friedens

Darstellung der Pax aus dem Fresko « Die gute und die schlechte Regierung » (1338–1339) von Ambrogio Lorenzetti im Friedenssaal des Rathauses von Siena

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die klage des friedens

DER FRIEDEN SPRICHT :1

W

äre es vorteilhaft für die Menschen, mich zu vertreiben, zu verstoßen und zu vernichten, obwohl ich es nicht verdiene, so würde ich nur das mir zugefügte Unrecht und ihre Ungerechtigkeit beklagen. Da sie sich jetzt aber durch meine Vernichtung zugleich die Quelle aller menschlichen Glückseligkeit verschließen und ein Meer von Unheil über sich heraufbeschwören, muss ich mehr noch ihr Unglück als das an mir begangene Unrecht beweinen. Und anstatt ihnen nur zu zürnen, was mir lieber wäre, kann ich nicht anders, als ihr Los zu betrauern und Mitleid mit ihnen zu fühlen. Denn einen Liebenden zu verstoßen ist grausam, einen Wohltäter abzuweisen ist undankbar, und gottlos ist es, den Schöpfer und Bewahrer aller Dinge mit Füßen zu treten. Ist es nicht schierer Wahnsinn, sich selbst all das Schöne und Angenehme, das ich mit mir bringe, zu versagen und stattdessen freiwillig ein dermaßen abscheuliches, vielköpfiges und Verderben bringendes Ungeheuer2 heraufzubeschwören? Schurken darf man zürnen, aber die derart von Furien Gehetzten kann man nur noch beklagen. Sie sind umso beklagenswerter, als sie sich nicht einmal selbst beklagen, und umso unglücklicher, als sie ihr eigenes Unglück nicht einmal empfinden, wo doch der erste Schritt zur Heilung darin besteht, das Ausmaß seiner Krankheit zu erkennen. Wenn ich also dieser Friede bin, den Götter und Menschen gleichermaßen aus vollem Munde preisen, der Ursprung, Schöpfer, Ernährer, Mehrer und Bewahrer all des Guten, was es im Himmel und auf Erden gibt, wenn ohne mich nirgends etwas blüht, nichts 281


die klage des friedens

sicher, nichts rein, nichts heilig ist, nichts die Menschen erfreut und den Göttern wohlgefällt; wenn dagegen der Krieg gleichsam das Weltmeer sämtlicher Übel ist, die es auf Erden gibt, wenn durch seine Schuld auf einen Schlag alles Blühende welkt, alles Gewachsene zerfällt, alles Befestigte ins Wanken gerät, alles Wohlgegründete zugrunde geht, alles Süße bitter wird; wenn er schließlich eine so unheilige Sache ist, dass er zur schlimmsten Pest für Gottesfurcht und Glauben in der Gegenwart wird; wenn nichts für die Menschen unheilvoller ist als schon ein einziger Krieg, nichts den Göttern verhasster : Wer, beim unsterblichen Gott, wollte glauben, dass dies Menschen sind, wer glau­ben, dass die auch nur einen Funken gesunden Menschenverstandes besitzen, die alles daransetzen, um ausgerechnet mich zu ver­treiben – und das mit einem so riesigen Aufwand an Kosten, Mühen, maßlosen Anstrengungen, Listen, Machenschaften und Sorgen, verbunden mit so großen Gefahren – und sich all diese Übel so teuer wie möglich zu erkaufen? Würden mich wilde Tiere in dieser Weise verschmähen, würde ich es leichter ertragen und die mir zugefügte Schmach ihrem von Natur aus grausamen Wesen zurechnen; wäre ich stummem Vieh verhasst, würde ich es seiner Unwissenheit zuschreiben, weil es keinen Verstand besitzt, mit dem allein es meine Vorzüge erkennen könnte. Doch wie empörend und mehr als seltsam : Da hat die Natur ein einziges Wesen hervorgebracht, das mit Vernunft begabt und empfänglich ist für göttliche Weisheit, ein einziges, geschaffen für Güte und Ein­tracht – und dennoch, unter all diesen grausamen Wildtieren und dem stumpfsinnigen Vieh wäre für mich eher ein Ort als bei den Menschen. So viele Gestirne gibt es am Himmel und sind alle an Wirkkraft verschieden und zieht jedes seine eigene Bahn; dennoch folgt ihr Lauf seit ewigen Zeiten herrschenden Gesetzen. Auch die einander widerstrebenden Kräfte der Elemente bewahren durch 282


die klage des friedens

Gleichgewicht einen ewigen Frieden und nähren bei aller Unverträglichkeit allein durch ihren Zusammenklang und wechselseitige ihre Gemeinschaft die Eintracht. Sind nicht auch im Körper eines Lebewesens alle Glieder und Organe wunderbar aufeinander abgestimmt und bereit, sich gegenseitig zu helfen? Und wie verschieden sind Leib und Seele und erweisen dennoch erst, wenn sie sich trennen, wie unabdingbar die Natur sie beide verbunden hat. Wie also das Leben nichts anderes ist als die Gemeinschaft von Leib und Seele, so ist die Gesund­heit nichts anderes als der harmonische Einklang aller Organe des Körpers. Vernunftlose Lebewesen verhalten sich innerhalb ihrer Art umgänglich und einträchtig. In Herden leben die Elefanten, weiden Schweine und Schafe, in Scharen fliegen Kraniche und Dohlen, die Störche, Lehrmeister in fürsorglicher Liebe3, halten ihre Versammlungen, Delphine begleiten einander mit wachsamer Umsicht, sprichwörtlich sind die Ameisen und Bienen für ihren einträchtigen Staat. Aber warum noch mehr Worte verlieren über die, denen es zwar an Verstand, nicht aber an Gefühl mangelt? Auch bei Bäumen und Pflanzen lässt sich Freund­schaft erkennen. Einige sind nur fruchtbar, wenn man sie mit männlichen Exemplaren verbindet, der Wein­ stock umschlingt die Ulme4, der Pfirsich liebt den Wein­stock. Auch die, welche nichts fühlen, scheinen dennoch empfänglich für die Wohltat des Friedens. Doch auch die, welche gar kein Empfindungsvermögen haben, stehen denen nahe, welche etwas empfinden – weil sie leben. Und was die Minerale betrifft : Gibt es etwas, das so empfindungslos ist wie sie? Aber auch ihnen, könnte man sagen, wohnt ein Sinn für Frieden und Eintracht inne, wie etwa wenn ein Magnet das Eisen anzieht und festhält. Und wie verhält es sich mit dem Umgang der grausamsten Raubtiere miteinander?5 Der Löwe richtet seine Grausamkeit nicht gegen andere Löwen. Der Eber stößt seine tödlichen Hauer 283


die klage des friedens

nicht gegen einen anderen Eber, der Luchs lebt friedlich mit dem Luchs, die Schlange kämpft nicht gegen Schlangen, und geradezu sprichwörtlich ist die Eintracht unter den Wölfen. Noch viel erstaunlicher aber scheint, so will ich hinzufügen6, dass selbst die bösen Geister, die zuerst die Eintracht zwischen Göttern und Menschen zerstört haben und auch heute noch zerstören, untereinander verbündet sind und einmütig ihre Gewaltherrschaft, wie auch immer sie beschaffen sei, aufrecht erhalten. Doch nur die Men­schen, die von allen Geschöpfen am ehesten zur Einmütigkeit geschaffen sind und sie am nötigsten bräuchten, ausgerechnet sie verbindet weder die sonst so wirkmächtige Natur noch die Erziehung untereinander, noch schweißen all die vielen Annehmlichkeiten sie zusammen, die aus solcher Übereinstimmung entstehen würden, und selbst die Erfahrung und das Wissen um all das Böse vermögen es nicht, sie zu gegenseitiger Liebe zu bewegen. Während sich die übrigen Lebewesen vor allem durch ihre körperliche Gestalt voneinander unterscheiden, sind bei den Menschen Gestalt und Stimme gleich; nur ihnen ist die Kraft der Vernunft verliehen und unterscheidet sie von allen übrigen Lebewesen. Einzig diesem Lebewesen wurde die Gabe der Sprache verliehen, vor allem dafür, Freundschaften zu stiften. Die Anlagen zum Wissen und zur Tugend sind allen Menschen von Geburt an mitgegeben, ebenso ein sanftes und freundliches Wesen, dem daran liegt, anderen wohl zu wollen, so dass es den Mensch seinem Wesen nach freut, liebenswert zu sein, und er sich gern um andere Menschen kümmert – es sei denn, er wird, durch üble Begierden wie durch den Zaubertrank der Circe verdorben, aus einem Menschen zum Tier7. Daher rührt es wohl, dass man alles, was mit gegenseitigem Wohlwollen zu tun hat, ‹menschlich› nennt. Man denke nur an die Tränen, den sinnfälligsten Ausdruck für ein empfindsames Gemüt, wodurch ein Mensch, dem eine Kränkung widerfuhr und dem eine kleine Wolke die Heiterkeit 284


die klage des friedens

der Freundschaft verdüsterte, sich leicht zur Versöhnung bewegen lässt. Sieh nur, auf wie viele Weisen die Natur uns Eintracht lehrte ! Doch genügten ihr diese Verführungen zum Frieden noch nicht; sie wollte, dass Freundschaft dem Menschen nicht nur angenehm, sondern unentbehrlich sei. Deshalb verteilte sie die körperlichen und geistigen Gaben unter den Menschen so, dass niemand alle Gaben zugleich besitzt und deshalb meint, ohne die Hilfe auch eines noch so Geringen auskommen zu können. Dass aber die Natur die Menschen so ungleich mit Gaben versah, hat seinen Grund darin, dass diese Ungleichheit durch gegenseitige Freundschaften ausgeglichen werden soll. Auch bringt jedes Land andere Produkte hervor, so dass allein schon der Bedarf danach den Handel lehrt. Die anderen Lebewesen versah sie mit Waffen und Möglichkeiten, um sich zu schützen; nur den Menschen erschuf sie ohne Waffen und schwach, damit er sich durch Bündnis und gegenseitige Freundschaft schütze. Die Not erfand die Staaten, und die Not lehrte diese, sich untereinander zu verbünden, um sich mit vereinten Kräften der Gewalt wilder Tiere und Räuber zu erwehren. So gesehen gibt es in menschlichen Dingen nichts, was sich selbst genügte. Schon in den ersten Anfängen seines Lebens wäre das Menschenge­schlecht zugrunde gegangen, hätte es sich nicht auf die Eintracht der Ehe gegründet und dadurch verbreitet. Der Mensch würde nicht geboren oder stürbe schon bald nach der Ge­burt, noch an der Schwelle zum Leben, wenn nicht die gütige Hand der Hebam­men und die fürsorgliche Liebe der Ammen dem kleinen Kind zu Hilfe eilten. Damit die Eltern das Kind bereits lieben können, noch ehe es geboren wurde, hat die Natur die wärmste Glut elterlicher Liebe in sie gelegt. Dieser Liebe fügte sie noch die Liebe der Kinder zu den Eltern hinzu, damit deren Hinfälligkeit durch die Hilfe der Kinder ge285


die klage des friedens

Die Spanische Furie in Antwerpen vom 4. November 1576.

lindert werde und dadurch alle gleichermaßen zufrieden sind. Die Griechen bezeichneten diese Art der Beziehung besonders treffend als Storchenliebe8. Hinzu kommen noch die familiären Bindungen und bisweilen auch Ähnlichkeiten der Charaktere, der Interessen und der äußeren Erscheinung, die sicherlich die gegenseitige Zuneigung fördern, und nicht selten auch ein verborgenes Einverständnis im Geist und ein wundersamer Antrieb zu gegenseitiger Liebe, den die Alten bewundernd einem göttlichen Wirken zuschrieben. 286


die klage des friedens

Anonymes Gemälde aus dem späten 16. Jahrhundert (agk-images)

Auf so vielfältige Weise lehrte die Natur Frieden und Eintracht, durch so viele Anreize lädt sie dazu ein, mit so vielen Stricken zieht sie dazu hin und durch so viele Gründe nötigt sie dazu ! Und doch : Welche Furie hat dem Menschen den unersättlichen Furor zu kämp­fen ins Herz gepflanzt, die solche Macht hat zu schaden, dass sie dies alles zerreißen, zerstören und zerschlagen konnte? Wenn dem Menschen durch Gewöhnung nicht zunächst das Erschrecken vor dem Bösen und dann auch noch der Sinn dafür abhanden gekommen wäre, wer würde glauben, dass die mit 287


die klage des friedens

menschlicher Vernunft begabt sind, die sich unentwegt dermaßen zanken, streiten, Aufruhr anzetteln und in Kriegen einander bekämpfen? Am Ende stiften sie durch Raubzüge, Blutvergießen, Gemetzel und Zerstörung überall nur Unordnung, im Profanen wie im Sakra­len. Und keine Verträge sind so heilig, dass sie rasende Menschen daran hindern könnten, sich gegenseitig zu vernichten. Als aber der Mensch noch Mensch war, ohne dass etwas dazugekommen wäre, genügte der gemeinsame Name Mensch, um Menschen zu einen. Dass die Natur bei den Tieren alles, bei den Menschen aber nichts vermag – sei’s drum. Heißt das dann aber, dass bei den Christen auch Christus nichts vermag? Mag auch die Lehre der Natur, die ihren stärksten Einfluss bei denen entfaltet, die keinen Verstand haben, bei den Menschen an ihre Grenze kommen; wenn aber die Lehre Christi so viel vortrefflicher ist, warum überzeugt sie dann die, die sich zu ihr bekennen, nicht von dem, wozu sie als einziges von allem am dringlichsten rät : zum Frieden und zu gegenseitiger Güte? Oder warum treibt sie uns dann nicht wenigstens diesen gottlosen und schrecklichen Wahnsinn des Krieges aus? Höre ich das Wort ‹Mensch›, eile ich sofort dorthin wie zu einem eigens für mich geborenen Wesen, voll Vertrauen, dort Ruhe finden zu dürfen. Höre ich gar, dass von Christen gesprochen wird, fliege ich sogar nachgerade dorthin in der Hoffnung, dass ich bei ihnen gewiss werde regieren können9. Doch ich schäme und ärgere mich, sagen zu müssen, dass nicht einmal bei den Heiden die Marktplätze, Gerichtshöfe, Rathäuser und Kirchen so von zänkischem Lärm und Geschrei erfüllt sind wie bei ihnen – in einem Maße, dass selbst die Schar der Advokaten, die ansonsten einen Gutteil des menschlichen Unglücks ausmachen, verglichen mit der wogenden Menge der Streitsuchenden nur ein verlorenes Häufchen ist. Schaue ich auf eine Stadt, weckt ihr Anblick sofort in mir die 288


die klage des friedens

Hoffnung, dass dort doch wenigstens die untereinander einig sind, die innerhalb derselben Stadtmauern und unter denselben Gesetzen leben, wie Passagiere auf einem Schiff, die alle denselben Gefahren ausgesetzt sind. Aber ich Armer ! Auch da sehe ich alles in einem Maße durch Zwietracht verdorben, dass ich kaum ein Haus finde, in dem ich mich auch nur für wenige Tage aufhalten möchte. Doch ich lasse das gemeine Volk, das von den Wogen seiner Leidenschaften fortgerissen wird, und gehe an den Fürstenhöfen gleichsam wie in einem Hafen vor Anker : Bei ihnen, sage ich mir, werde ich gewiss einen Ort des Friedens finden; sie sind verständiger als das gemeine Volk, da sie doch Geist und Auge des Volkes sind. Außerdem walten sie ja als Stellvertreter des­sen, der Lehrer und Fürst der Eintracht ist, der mich zwar allen Menschen, vor allem aber ihnen anvertraut hat. Und sie machen die schönsten Versprechungen. Ich sehe sie einander höflich begrüßen und ihre Freunde umarmen, finde sie bei heiter geselligen Trinkgelagen und was zu einem menschlichen Umgang miteinander sonst noch gehört. Aber, o Schande !, nicht einmal den Schatten wah­ rer Eintracht ließ sich bei ihnen erkennen ! Alles geschminkt und erlogen, alles verdorben durch offene Cliquenwirtschaft, heimliche Zerwürfnisse und Rivalitäten. Am Ende finde ich bei ihnen eher die Quelle und Brutstätte aller Kriege als eine Wohnstatt für Frieden. Wohin also soll ich Unglücklicher mich wenden, nachdem mich meine Hoffnungen so oft getäuscht haben? Aber Fürsten sind eher groß als gebildet und lassen sich eher von ihren Begierden leiten als durch das richtige Urteil des Verstandes. So will ich meine Zuflucht zu den Gebildeten nehmen. Die Bildung schafft Menschen, die Philosophie macht sie zu mehr, die Theologie sogar zu Heiligen. Bei ihnen werde ich gewiss die Ruhe finden, nach der ich auf so vielen Irrwegen gesucht habe. Aber, o weh !, auch hier herrscht Krieg, ein ganz anderer zwar, weniger blutig, aber nicht weniger rabiat. Eine Schule 289


erörterung der frage eines kriegs gegen die türken

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erörterung der frage eines kriegs gegen die türken

Schlacht am Kahlenberg, 1683

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erörterung der frage eines kriegs gegen die türken

Der Rückzug der Osmanen ist beschlossen. Osmanische Geschichts­schreiber stellten die Belagerung Wiens 1529 als Erfolg dar und gaben als Hauptgrund für den Rückzug die Wetterlage an, so in der Überschrift dieser Miniatur: « Sultan Süleyman Chan kam von Ofen aus in Wien an; nachdem er die Vorstadt erobert und unterworfen hatte, kehrte er wegen des hinderlichen Winters zurück.» Abb. auf den vorhergehenden Seiten: Rundansicht der Stadt Wien zur Zeit der Ersten Türkenbelagerung vom 27. September bis 15. Oktober 1529.

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erörterung der frage eines kriegs gegen die türken

H Ö C H S T N Ü T Z L I C H E E RÖ RT E RU N G D E R F R AG E , OB MAN GEGEN DIE TÜRKEN KRIEG FÜHREN SOLL, N E B S T E I N E R AU S L E G U N G VO N P S A L M XXVIII U T I L I S S I M A C O N S U LTAT I O D E B E L L O T U R C I S I N F E R E N D O. E T O B I T E R E N A R R AT U S P S A L M U S X X V I I I ÜBERSETZT VO N W E R N E R S T I N G L

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erörterung der frage eines kriegs gegen die türken [EINLEITUNG]

V

on den Türken und der Gefahr, die von ihnen für die christliche Welt ausging, war seit der Eroberung von Konstantinopel 1453 durch die Osmanen in der europäischen Öffentlichkeit im­mer wieder die Rede. Wie dieser Gefahr begegnen? Die Päpste riefen zu einem Kreuzzug auf, Könige und Kaiser trugen sich mit demselben Gedanken, aber geschehen war bisher nichts. Jetzt, 1526, waren die Osmanen in Ungarn eingefallen, hatten bei Mohács einen glänzenden Sieg errungen, große Teile Ungarns besetzt und belagerten im Herbst 1529 Wien. Aber selbst diese bedrohliche Lage brachte die europäischen Herrscher nicht dazu, ihre Streitigkeiten untereinander ruhen zu lassen; und nun waren auch noch die Auseinandersetzungen zwischen den Katholiken und den sich formierenden Protestanten hinzugekommen und bestimmten die Politik der deutschen Fürsten und Reichsstädte mit. Krieg gegen die Türken? Darüber wurde in vielen Schriften kontrovers diskutiert. Wenn sich auch Erasmus zu Wort meldete, dann vielleicht auf eine Bitte jenes Johannes Rinck hin, dem er seine Schrift widmete, eines Professors der Jurisprudenz in Köln. Aber vielleicht bedurfte es einer solchen Anregung gar nicht. Erasmus hatte sich auch früher schon zum Thema « Türkenkrieg » geäußert, wenn auch eher nebenbei – nachzulesen in den « Friedensschriften ». Jetzt behandelt er es ausführlich, und wieder wird es ein Aufruf zum Frieden, der sich an die Christenheit und die in ihr Herrschenden richtet. Denn das größere Übel sind nicht die Türken, sondern die Christen, die nicht so leben, wie ihr Name es von ihnen fordert, und nicht aufhören, übereinander herzufallen. Ebendiese Zerstrittenheit und Unglaubwürdigkeit hat, wie Erasmus betont, die Türken so mächtig werden lassen, und soll als Mahnruf Gottes an die Christenheit verstanden werden. 366


erörterung der frage eines kriegs gegen die türken

Solche Mahnrufe – damit beginnt die Abhandlung – hat Gott immer wieder an die Menschen gerichtet, von den ägyptischen Plagen bis zu Seuchen der Gegenwart. Dem schließt sich eine allegorische Auslegung von Psalm 28 (29) an, einem Lied über die vox Domini, die « Stimme des Herrn. Ihr folgt ein Abriss der Geschichte der Türken, den Erasmus dem Werk eines italienischen Humanisten entnommen hat, und erörtert danach ausführlich das Für und Wider eines Krieges gegen die Türken. Sein Fazit : Ein reiner Verteidigungskrieg – ja; ein Angriffskrieg, gar ein « heiliger », ein Kreuzzug – nein. Statt Krieg gegen sie zu führen, solle man sie lieber durch eine vorbildlich christliche Lebensführung und Belehrung bekehren. Die Utilissima consultatio erschien im März 1530 bei Froben in Basel und wurde noch im selben Jahr in Paris, Wien, Köln und Antwerpen nachgedruckt. Eine anonyme deutsche Übersetzung eines Auszugs daraus wurde wahrscheinlich 1531 veröffentlicht; sie gab den Text bis zum Ende der Geschichte der Türken wieder ohne die Psalmauslegung. Die folgende Übersetzung ist mithin die erste vollständige deutsche. Ihr liegt die kritische Edition des Textes durch Anton G. Weiler in der Amsterdamer Ausgabe zugrunde (ASD V-3). Herangezogen wurde auch die englische Übersetzung von Michael J. Heath (in CWE 64). Für die Anmerkungen wurden beide dankbar benutzt. Hinweis : Erasmus zitiert die Psalmen mit deren Nummerierung in der Vulgata. Luther und spätere Übersetzungen verwenden jedoch die davon abweichende Nummerierung im hebräischen Psalter. Im Folgenden werden beide Nummern angegeben : zuerst die der Vulgata, dann (in Klammern) die heute gebräuchliche.

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PSALM 28 (29) (LUTHER 2017)

B

ringet dar dem HERRN, ihr Himmlischen, bringet dar dem HERRN Ehre und Stärke ! 2 Bringet dar dem HERRN die Ehre seines Namens, betet an den HERRN in heiligem Schmuck ! 3 Die Stimme des HERRN erschallt über den Wassern, der Gott der Ehre donnert, der HERR, über großen Wassern. 4 Die Stimme des HERRN ergeht mit Macht, die Stimme des HERRN ergeht Herrlich. 5 Die Stimme des HERRN zerbricht Zedern, der HERR zerbricht die Zedern des Libanon. 6 Er lässt hüpfen wie ein Kalb den Libanon, den Sirjon wie einen jungen Wildstier. 7 Die Stimme des HERRN sprüht Feuerflammen; 8 die Stimme des HERRN lässt die Wüste erbeben; der HERR lässt erbeben die Wüste Kadesch. 9 Die Stimme des HERRN lässt Hirschkühe kreißen und reißt Wälder kahl. In seinem Tempel ruft alles: »Ehre !« 10 Der HERR thront über der Flut; der HERR bleibt ein König in Ewigkeit. 11 Der HERR wird seinem Volk Kraft geben; der HERR wird sein Volk segnen mit Frieden.

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D

esiderius Erasmus von Rotterdam grüßt den hochverehrten Herrn und berühmten Rechtsgelehrten D. Johannes Rinck.

Da ich, hochverehrter Herr, den Eindruck hatte, dass ich Euren Schriften niemals gleichkommen würde, weder an Gelehrsamkeit noch an Eleganz noch an menschlicher Güte, so habe ich mich dazu entschlossen, Euch an Fülle oder gar an Überfülle von Worten1 ebenso sehr zu übertreffen, wie ich in jeder anderen Hinsicht hinter Euch zurückstand. Wir alle sehen, an welcher Art von Gespinst die Monarchen wirken. Viele kümmern sich darum, Geld für den Krieg2 zu sam­ meln, einige um Feldherren und Kriegsgerät, doch kaum jemand macht sich, soweit ich sehe, Gedanken um eine Besserung des Lebens­wandels, was doch ihre eigentliche Aufgabe ist und alle gleichermaßen angeht. Nicht genug kann ich mich darüber wundern, wie eine solche Gleichgültigkeit die Christenmenschen ergreifen konnte. Ob­ wohl wir nach dem Willen Gottes durch so viele Plagen gewarnt wer­den, zahlreicher als jene, von denen die Ägypter heimgesucht wurden3, und schlimmer als die, von denen in der Apokalypse des Johannes berichtet wird4, hat die Strenge des Herrn es nicht vermocht – weniger noch als einst bei den Phrygern5 –, uns zu bessern, er, der uns immer wieder anspornt, bessere Frucht hervor­zubringen. Im Gegenteil, wie elende Sklaven, abgestumpft gegen Hiebe, missbrauchen wir die Milde Gottes, um hartnäckig weiter zu sündigen, und werden umso verstockter gegen369


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über der Barmherzigkeit dessen, der uns immer wieder durch Heimsuchungen auffordert, unseren Lebenswandel zu ändern. So sehr haben wir uns inzwischen an Kriege, Räubereien, Aufruhr, Parteienhader, Plünderungen, Seuchen, Elend und Hungersnot gewöhnt, dass sie schon nicht mehr als Übel angesehen werden. Gott hat gehandelt wie ein vertrauenswürdiger Arzt: Er hat neue Gegenmittel ersonnen, hat uns heimgesucht mit einer nie da gewesenen und unheilbaren Art von Aussatz, die das gemeine Volk, ich weiß nicht weshalb, die Franzosenräude nennt, obwohl sie doch bei allen Völkern auftritt, und hat damit die Menschheit mit einem wahrhaft schrecklichen Geschwür geschlagen.6 Doch dieses furchtbare Übel hat uns so wenig Zucht und Nüchternheit gelehrt, dass wir es nachgerade in einen Scherz verkehrt haben. Es scheint sogar so weit gekommen zu sein, dass unter Höflingen, die sich für vornehm und geistreich halten, jeder als ungehobelt und bäurisch angesehen wird, der nicht mit dieser Krankheit infiziert ist. Was heißt das anderes, als den Herrn, der uns züchtigt, anzufurzen7 und ihm, wie man zu sagen pflegt, den [Stinke]Finger zu zeigen? Was folgte, war ein unversöhnlicher Dogmenstreit8, der allerdings nicht leicht zu durchschauen war und zu dem neben der theologischen Streitfrage nicht zuletzt die verdorbenen Sitten derer Anlass gaben, die mit ihrem Verstand die Dummheit des Volkes hätten salzen müssen9. Doch denken weder die, die hier angeprangert werden, darüber nach, ihr Leben zu ändern, noch gehen diejenigen, die sie anprangern, selbst mit gutem Beispiel voran. Es fehlt nicht viel, um das, was letztlich für die Christenheit eine schreckliche Katastrophe bedeutet, in ein banales Geschwätz und einen Scherz zu verkehren. Gibt es eine von den Strafen, die der Herr in Leviticus 26 und Deu­tero­nomium 28 für die Verletzung seiner Gebote androht10, die uns nicht heimgesucht hat? Was haben wir seit so vielen Jahren nicht schon alles an Kriegen gesehen?11 « Welcher 370


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Landstrich ist frei von unserm vergossenen Blut? »12 Wie oft haben wir nicht das Schwert des Türken zu spüren bekommen, zur Strafe für die Verletzung des Bundes, den wir mit Gott geschlossen haben? Welche Art von Pestilenz haben wir nicht schon durchmachen müssen, und dies in Stadt und Land gleichermaßen? Davor zu fliehen würde nichts anderes bedeuten, als eine Gefahr gegen eine andere einzutauschen. Wie oft haben wir es erlebt, dass der Stab unseres Brotes zerbrochen wurde?13 Wie viele Menschen gibt es überall, die nicht satt werden, weil ihnen das Brot nach Gewicht zugeteilt wird?14 Wie viele sind erst kürzlich in Italien, einem so überaus fruchtbaren Land, an Hunger gestorben?15 Mag sein, dass bisher noch keiner das Fleisch seiner Söhne und Töchter verzehrt hat16; und doch – leben wir denn nicht alle, indem wir uns gegenseitig zerfleischen? Die Adeligen plündern, der Bauer verkauft seine Ware zum vierfachen Preis, die Händler treiben die Preise ins Unermessliche, die Handwerker verlangen für ihre Arbeit, so viel sie nur wollen. Ein jeder hintergeht seinen Nächsten mit List und Betrug. Wir sehen, wie prächtige Gotteshäuser zerstört, Bilder zerschlagen, Priester vertrieben werden17; hat Gott nicht schon vor einiger Zeit die « Tiere des Feldes »18 gegen uns losgelassen, die alles verwüsteten, als die Bauernbanden so zügellos marodierten19? Und auch die Verfluchung, die im Deuteronomium erwähnt wird, bleibt uns nicht erspart: « Frauen werden geheiratet, und ein anderer schläft mit ihnen. »20 Es ist inzwischen nichts Neues mehr, dass wir säen, wo ein anderer erntet, Weinreben anpflanzen und von ihrem Wein nicht trinken, Fremde aufnehmen, die dann über uns herrschen.21 Scheint Gott da nicht, nachdem er gewissermaßen alle Heilmittel erfolglos angewandt hat, durch den Propheten zu uns zu sprechen: « Wohin soll man euch noch schlagen, die ihr doch weiter im Abfall verharrt? »22 Das ist nicht die Stimme der Grausamkeit, sondern die der höchsten Barmherzigkeit. Wie der Arzt, der sich väterlich über den Kranken beugt, in der Seele ge371


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quält wird, wenn er sieht, wie alle seine Bemühungen von der Kraft der Krankheit zunichte gemacht werden, so lässt dennoch die Liebe, die nach Paulus « alles hofft »23, nicht zu, dass er den Patienten als hoffnungslos Todgeweihten seinem Schicksal überlässt. Solange noch Leben ist, sagt er, ist Hoffnung24, und setzt die ganze Kraft seines Geistes daran, ob er ein unerprobtes, aber wirksames Heilmittel ersinnen kann. So ruft der allergütigste Gott, den so sehr nach unserem Heil verlangt, uns durch die unerhörtesten Arzneien auf, unser Leben in Zucht zu nehmen. Er hat eine Krankheit geschickt, die den Ärzten noch völlig unbekannt und unheilbar ist und durch wunderliche Kreisbewegungen von Kopf und Armen Männer, Frauen und sogar Mädchen in der Blüte jugendlicher Schönheit furchtbar verunstaltete und ihnen zeitweise den Verstand raubte.25 Es waren gar nicht so wenige, die in verschiedenen Ländern diese neue Art von Tobsucht oder Delirium befallen hat, gegen die bisher nichts auszurichten war. Kürzlich hat er dann eine neue Art von Seuche geschickt, eine todbringende Schweißkrankheit, die von England ausging und sich mit unglaublicher Geschwindigkeit nach allen Seiten über den ganzen Erdkreis hin ausbreitete und, da sie sehr vielen den Tod brachte, die alle in Angst und Schrecken versetzte, sei es, weil sie neu war und die Ärzte nur wenig dagegen unternehmen konnten, sei es, weil sie den Erkrankten innerhalb weniger Stunden dahinraffte, sei es, dass sie den, von dem sie gewichen ist, immer wieder ergreift, oder weil sie sich durch die Schnelligkeit der Ansteckung weithin auszubreiten pflegt.26 Man sollte endlich begreifen, dass dieses Übel vom gütigen Vater selbst gesandt worden ist, weil er lieber durch Schrecken heilen als durch völlige Vernichtung zugrunde richten möchte. Was ist dies anderes als die Stimme des Herrn, der ruft: « Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe »27? In den Psalmen spricht der Herr wie vom Überdruss ergriffen: « Vierzig Jahre bin ich die372


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sem Geschlecht ganz nahe gewesen, und ich habe gesagt: Immer gehen sie mit dem Herzen in die Irre. »28 Wir übertreffen die Hebräer sowohl in der Zahl der Jahre wie in der Schrecklichkeit der Plagen – hoffentlich nicht auch noch in der Verstocktheit des Herzens, das immer zum Schlechteren neigt und mit der Kunst und dem Eifer des Arztes im Widerstreit liegt ! Und inzwischen hört die Prophetenstimme nicht auf zu rufen: « Heute, wenn ihr seine Stimme hören werdet, verstockt eure Herzen nicht. »29 Schicksalsschläge wie diese, von denen wir immer wieder getroffen werden, sind nichts anderes als die Stimme des Herrn, mit denen er uns wieder zu sich ruft. Denn wie der Herr seine Freude nur denen verheißt, die das Gesetz befolgen30, so droht er Übel nur denen an, die es verachten. Warum er jedoch diese Katastrophen schickt, geht aus derselben Stelle hervor: « […] sie müssen die Strafe für ihre Verfehlungen abtragen, weil sie meine Rechtssatzungen verworfen und meine Gebote verachtet haben. Dennoch habe ich sie nicht völlig verworfen und nicht so verachtet, dass sie vernichtet würden und ich meinen Bund mit ihnen ungültig machen würde. »31 So wollen wir denn anerkennen, dass diese Stimmen die Geißeln des Herrn sind, den es uns zu heilen und nicht zu verderben verlangt, wie Psalm 28 lehrt: « Die Stimme des Herrn ist über den Wassern », das heißt über den Völkern, die von mancherlei Leidenschaften und Lehren hin und her geworfen werden. « Der Gott der Ehre donnert, der Herr über viele Wasser, die Stimme des Herrn ergeht mit Macht, die Stimme des Herrn ergeht voller Majestät, die Stimme des Herrn zerbricht Zedern […], die Stimme des Herrn zerteilt Feuerflammen, die Stimme des Herrn lässt die Wüste erbeben […], die Stimme des Herrn lässt Hirschkühe kreißen. »32 Selig, in denen des Herrn allmächtige Stimme dies alles wirkt, und ohne Zweifel wirkt sie es in allen, die ihre Ohren nicht ver373


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stopfen. Möge doch « die Stimme des Herrn » erschallen « mit Macht », um mit heilsamem Schrecken unsere Seelen zur Buße zu bewegen ! Möge sie « voll der Majestät » sein, auf dass aller menschliche Hochmut sich ihr unterwerfe33 in vollständigem Gehorsam ! Möge sie erschallen « über den Wassern » unserer Seelen, in denen die Liebe erkaltet ist34; sind wir doch, die wir vom einzig Wahren und Guten abgefallen sind, auseinandergeflossen wie Wasser35, zwischen menschlichen Leidenschaften schwankend, umhergetrieben von jedem erstbesten « Wind der Lehre »36. Möge die Stimme des Herrn « die Wasser sammeln an einem Ort » und uns die feste Erde des Glaubens erscheinen, die, erwärmt von der Sonne der Liebe, hervorbringen möge alle Arten von Tugenden !37 Möge die Stimme des Herrn in uns die Zedern zerbrechen, nicht irgendwelche, sondern die Zedern des Libanon !38 Die Welt hat ihre Zedern, jedoch purpurfarbene39, die Kirche hat ihre Zedern, jedoch weißgetünchte40: denn « Libanon » heißt im Hebräischen « glänzendes Weiß »41. Mittlerweile haben Ehrgeiz und trotziger Stolz sie emporwachsen lassen, und den Bürgern dieser Welt scheinen sie erhaben, verströmen sie doch den für die Menschen lieblichen Duft eines berühmten Namens und zielen auf eine gewisse Unsterblichkeit – doch vor Gott liegen sie auf dem Boden und verbreiten Gestank. Möge die Stimme des Herrn diese Zedern zerbrechen und an ihrer Stelle fruchtbare Ölbäume wachsen lassen, damit sie Licht spenden im Hause Gottes42. Doch niemand kann sie zerbrechen außer jenem « gemästeten Kalb »43, als das er [Jesus] sich dem Vater für uns geopfert hat, als einziges von allen makellos weiß und Sohn des Nashorns44, das heißt des Judenvolkes, welches bar jeden Geistes den Buchstaben des Gesetzes wie ein einzelnes Horn gegen Christus gerichtet hatte. Wenn dieser aber in uns geboren wird durch den Glauben, wird er der Sohn der Zweihörner sein, ruhmvoll und geliebt, weil wir dann beide Hörner nicht gegen ihn kehren werden, sondern gegen die Begierden des Fleisches. 374


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Möge doch die Stimme des Herrn in uns jene « Feuerflamme »45 zerteilen, mit der die Christenwelt schon seit so vielen Jahren überall in Brand steht, die Flamme der Eifersucht, des Hasses, der Begehrlichkeit und Habgier, jener Leidenschaften, durch die wir alle fortgerissen werden zu den Dingen dieser Welt46. Der Brand ist mächtig geworden und hat das ganze Menschengeschlecht ergriffen, siegreich herrscht die Flamme. Nur die Stimme des Herrn kann sie zerteilen47, und zwar so, dass der größte Teil ihrer Glut Gott, der Rest aber dem Nächsten gewidmet und nichts davon auf Zorn, Begier und Ehrgeiz verwandt wird. So mag es geschehen, dass der Herr unsere Wüste, die roh und furchtbar und voll von bösen Geschöpfen ist, erbeben lässt48: denn sie kann nicht gereinigt werden, wenn sie nicht erschüttert wird von der Stimme des Herrn. So haben auch die Jäger Hörner, mit denen sie wilde Tiere aus ihrem Lager aufscheuchen. Ein schlimmes Untier ist der Eber, ein schlimmeres aber die Habgier. Ein schlimmes Untier ist der Bär, ein schlim­meres aber das Wohlleben. Ein schlimmes Untier ist der Löwe, ein schlimmeres aber die Grausamkeit. Ein schlimmes Untier ist die Natter, ein schlimmeres aber der Neid. Wenn es nun dem Herrn gefiele, alle Schlupfwinkel unserer Wüste mit seiner Stimme zu erschüttern, durch wahrhafte Reue und Sünden­bekenntnis, so wird aus der Öde Fruchtbarkeit, aus dem Dunkel Helligkeit, aus Wegelosigkeit freier Durchgang werden, und statt Verderben bringender Bestien wird er uns Hirsche schenken mit geflügelten Läufen, die nicht dürsten nach den Dingen dieser Welt, die mit ihr vergehen, sondern nach den Quellen « des Wassers, das in das ewige Leben quillt »49. Dann werden uns die dunklen Winkel der Waldschluchten50 enthüllt werden, und wenn die üblen Begierden, die dem Geist widerstreiten51, verscheucht sind und die dogmatischen Zwistigkeiten beseitigt, so wird aus der Wüste ein Tempel werden, dem Herrn geweiht, in dem alle einmütig und mit einer Stimme ihren Erlöser 375


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preisen52. Wenn all das nicht zustande kommt, so liegt die Schuld nicht beim Herrn, sondern bei uns, die wir gleich « tau­ben Nat­ tern » die Ohren verschließen53 vor der Stimme des Herrn, der aus seiner Weisheit zu uns spricht, indem wir das eine [Ohr] an die Erde pressen und das andere mit dem Schwanz zuhalten54. Weil wir das Irdische lieben, hören wir nicht auf Himm­lisches; weil wir die Schrift verdrehen zugunsten unserer fleischlichen Begierden, machen wir, auch wenn wir etwas hören, es nutzlos für uns selbst. Doch wie können uns die Ohren geöffnet werden? Denn auch dies ist eine Gabe Gottes. Durch ein Opfer muss er besänftigt werden, auf dass er uns Ohren schenke zum Hören, und also ruft er: « Bringt dar dem Herrn, ihr Söhne Gottes, bringt dar dem Herrn die Söhne von Widdern, bringt dar dem Herrn Ehre und Ruhm, bringt dar dem Herrn die Ehre seines Namens. Betet an den Herrn in seiner heiligen Halle. »55 Söhne Gottes aber sind kraft Bekenntnis alle, die durch das Taufgeheimnis wiedergeboren sind, wenngleich die Stimme sich hier besonders an jene richtet, die an die Stelle der Apostel getreten sind. Zu ihnen spricht der Prophet: Wenn ihr wahrhaft Söhne Gottes seid, so bringt ihm dar, wonach den Herrn dürstet, was er liebt und wonach der Herr ständig verlangt. Was sollen wir darbringen? « Söhne von Widdern. » Seid selbst die Widder und rechte Anführer der Herde des Herrn, indem ihr dem Fürsten aller Hirten nacheifert: Jesus; denn er war zweifellos jener berühmte Widder, den Abraham in einer Dornenhecke hängend erblickte56; er hat sich selber dem Vater geopfert. Opfert darum auch ihr dem Vater eure irdischen Leiber57, auf dass ihr durch eure Lehre und fromme Lebensweise Lämmer männlichen Geistes58 darbringen möget und « Söhne von Widdern »; doch sollt ihr sie nicht euch darbringen, sondern dem Herrn, dem die Herde gehört. Die Pharisäer durchzogen Meer und Wüste, um Proselyten zu 376


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machen.59 Aber sie brachten sie nicht dem Herrn dar, sondern sich selber. Das Reich der Christen jedoch muss so ausgedehnt werden, dass wir nicht Hunde noch Schweine60 darbringen, sondern « Söhne von Widdern », und wir sollen sie nicht verkehren in unseren eigenen Ruhm und Vorteil, sondern als getreue Diener61 darbringen dem Herrn. Sonst wird er ausrufen: « Ihr habt das Volk vermehrt, aber nicht die Freude. »62 Daher, ihr Gottessöhne, schafft « Söhne von Widdern » herbei und strebt nicht nach dem, was euer ist, sondern nach dem, was Jesu Christi ist.63 Noch hat sich der Psalm nicht damit befasst, woher diese Ver­ der­bnis fast des ganzen Volkes rührt. Und die Stimme wendet sich auch nicht nur an die Häupter der Kirche, sondern auch an die weltlichen Fürsten. Denn fast immer folgt das Volk dem Beispiel seiner Fürsten, auch wenn der Herr bisweilen einen Heuchler regieren lässt, sofern es das Volk verdient hat64. Allerdings schadet kein Heuchler der Kirche mehr als jener, der den Hirten mimt und wie ein Wolf handelt oder der als König auftritt und herrscht wie ein Tyrann. Denn der Wahrheit Christi ist jede Form von Heuchelei verhasst, doch keine ist verderblicher und auch Gott verhasster als diese. Deshalb tut alles, ihr Gottessöhne, für Gottes Ruhm, und betrachtet das Seine auch als eure Sache. Wenn der Herr etwas durch euch vollbringt, so bildet euch nichts darauf ein und zieht daraus eigenen Gewinn, sondern « bringt dar Ehre und Ruhm dem Herrn ». Und damit nicht genug: « Bringt dar dem Herrn die Ehre seines Namens. » Er freut sich an Schlachtopfern, doch in ihnen will er seinen Namen geehrt sehen, der geschändet wird durch die gottlosen Sitten der Christen und in Verruf gebracht durch das Gezänk zwischen den Völkern. « Betet an den Herrn », nicht Reichtümer, nicht Macht, nicht den Prunk dieser Welt, sondern den Herrn. Was immer uns teurer ist als Gott, das verehren wir anstelle Gottes. Und wo? Nicht nur in Tempeln, erbaut von Menschenhand65, die den Frommen wie den Gottlosen of377


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fen stehen, sondern « in seiner heiligen Halle », das heißt in einem reinen und heiligen Gewissen. Denn erst die sind die wahren An­ beter, die den Herrn im Geist anbeten.66 Es gibt viele – und es gibt sie überall –, die das Holz des Kreuzes mit einem Kuss verehren, vor Christi Bildnis niederfallen, sich beim Abendmahl zu Boden werfen, die Knie beugen vor Jesu Namen67 – aber es gibt nicht so viele, die ihn anbeten « in seiner Halle », erbaut vom Heiligen Geist. Täten dies auch die Monarchen, die Päpste und die übrigen staatlichen Würdenträger, so würde der Herr seine Gnade in Fülle ausgießen über sein Volk; denn dies ist es, was das Wort des Propheten sagt: « Der Herr hat seinen Thron über der Flut »68, und indem er immer bei uns bleibt, bleibt er « ein König in Ewigkeit »69. Selig sind, über die jener König herrscht, denn er wird die Seinen nicht im Stich lassen in Ewigkeit. Unter diesem Schirm­ herrn hat das Volk nichts zu fürchten, sei es auch noch so klein und schwach. « Der Herr wird seinem Volk Kraft geben »70, und mag auch die ganze Welt es schmähen und bedrohen mit Blutbad und Kriegen, « der Herr wird » dennoch « sein Volk segnen mit Frieden »71, einem Frieden, den die Welt nicht geben noch wegnehmen kann72, es sei denn, einer nähme ihn sich selber weg.73 Stellen wir uns also nicht taub gegen den Herrn, der so viele Male den Ruf an uns richtet. Nun aber ergeht erneut sein Ruf an uns, und zwar durch die Barbarei der Türken, die uns allerdings nicht fremd ist. Unsere Taubheit ist umso unverzeihlicher, als wir doch so oft schon gerufen wurden und dennoch nicht aufwachen. Wie viele Niederlagen hat die Christenheit durch dieses Barbarenvolk von so obskurer Herkunft nicht bereits erlitten, welche Grausamkeiten hat es nicht bereits an uns verübt? Wie viele Staaten, Inseln und Provinzen hat es dem christlichen Machtbereich nicht schon entrissen?74 Wie weit dehnte sich einst das Reich unseres Glaubens, und wie 378


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klein hat es das Türkenvolk heute gemacht? Schon ihre ersten Schritte lassen ahnen, dass, wenn Gottes rechte Hand uns nicht beschirmt75, es binnen kurzem wohl auch den Rest des christlichen Erdkreises besetzen wird. Sollte dies eher planlos geschehen, so entspräche es dennoch christlicher Gesinnung, dass der ganze Leib der Christen­heit den Schmerz irgendeines einzelnen Gliedes mitempfindet76. Nun ist es aber un­bestreitbar, dass sie ein so ausgedehntes Reich nicht durch eigene Tüch­ tigkeit errungen, sondern wir das unsrige durch eigene Schuld verkleinert haben. Deshalb ist es die Pflicht aller, denen der Name Christen teuer ist, nicht nur zu klagen, sondern den Brudervölkern in Zeiten des Unheils beizustehen; da aber dies im Übrigen aufgrund der religiösen Zusammen­ gehörigkeit für alle gleichermaßen gilt, besteht die Gefahr, dass tatsächlich auch alle gemeinsam davon betroffen werden. « Dein Besitz steht auf dem Spiel, wenn die Nachbarwand brennt »77, oder vielmehr, sobald irgendwo ein Haus brennt, geht die Sache die ganze Bürgerschaft an. Es muss also geholfen werden, jedoch auf doppelte Weise, wenn wir wirklich bemüht sind, dem Übel zu wehren. Es muss alles vorbereitet werden, was zur Führung eines so schweren Krieges nötig ist, doch zuvor sind jene Vorbereitungen zu treffen, ohne die solche Zurüstung nutzlos ist. Oft schon haben wir die Türken bekriegt, doch bisher ohne Erfolg, sei es, weil wir das nicht verworfen haben, was Gottes Zorn erregt und weshalb er uns die Türken auf den Hals geschickt hat – so wie er einstmals den Ägyptern Frösche, Stechmücken und Heuschrecken geschickt hat78 –, sei es, weil wir unsere Siegeshoffnung nur auf unsere eigenen Kräfte gesetzt oder weil wir, statt Christi Sache zu führen, auf türkische Art gegen die Türken gekämpft haben. Die Lage erfordert es also, dass wir beide Arten von Rüstung79 ausführlich erörtern, wenn wir zu der Überzeugung gekommen sind, dass die Türken nicht durch ihre Gottesfurcht und 379


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Tapferkeit, sondern vor allem durch unsere eigene Sorglosigkeit so sehr erstarken konnten. Der Name ‹ Türken › war nämlich zunächst so unbekannt, dass er sich bei keinem antiken Autor findet, einmal abgesehen von Plinius im 6. Buch Kapitel 7, wo er neben den Thussageten und Arimphäern, deren Gebiet bis zum Rhiphäos-Gebirge reicht, auch die Türken [Turcae] erwähnt, die damals dort in Felsentälern am Rande der Wüste lebten.80 Auch Pomponius Mela erwähnt von ihnen nichts weiter als den Namen.81 Von so dunkler Herkunft war also jenes Volk, von dem vermutlich diejenigen herstammten, die heute die Grenzen ihrer unersättlichen Grausamkeit über so viele reiche und weitläufige Gebiete ausgedehnt haben. Auch Cyprianus nennt ihren Namen in seinem Buch De duplici Martyrio82, und zwar schon damals als geschworene Feinde des kaiserlichen Namens. Einige Ge­ lehrte meinen sogar, dass man statt der « Tusci », die Ptolemäus im asiatischen Teil Sarmatiens verortet83, « Turci » oder « Turcae » lesen müsse; denn welcher andere Autor hat « Tusci » in Asien lokalisiert? Über ihren Namen dürfte es inzwischen jedoch keinen Streit mehr geben; ist doch dieser Menschenschlag, durch dessen Unmenschlichkeit die Christenheit seit so vielen Jahrhunderten erschüttert und zermürbt wird, von den Küsten des Kaspischen Meeres aus – wie manche behaupten – nach Persien und Klein­ asien vorgestoßen, und zwar von heute an gerechnet vor über siebenhundert Jahren.84 Sie hatten keinen bestimmten Führer, sondern streiften einzeln und in Gruppen umher und verwüsteten die Provinzen mehr durch Raubzüge als durch Krieg85. In solchen Praktiken wohlgeübt, fanden sie einen Söldner­führer in dem Sarazenen­fürsten Machumet86, von dem es heißt, « dass er wie ein Deckel auf den Kochtopf passte »87. Nachdem sie unter seinem Oberbefehl ein ums andere Mal erfolgreich waren, ergriff die angeworbenen Sklaven die Gier nach eigener Macht. Sie griffen die Sarazenen an, überwältigten Machumet auf dem 380


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Schlachtfeld und machten ihn nieder.88 So sehen die Anfänge der Türkenherrschaft aus. Der Oberbefehl wurde nun auf Trangolipix Muscaletus übertragen, einen früheren Türkenfeldherrn. Dieser rief eine andere Schar Türken herbei, ließ seinen Neffen Cucumetius in Arabien einfallen und durch seinen anderen Neffen Asanus Teile Mediens angreifen, wo er bald mit den Römern in Kämpfe geriet. Obwohl keiner der beiden Neffen erfolgreich war, ließ er seinen Bruder Aleimus erneut in römisches Gebiet einmarschieren, und da jenem sein Unternehmen nicht völlig misslang, wartete Trangolipix wenig später einen günstigen Moment gegen die Römer ab und brachte ganz Asien bis zum Schwarzen Meer teils in seine Gewalt, teils verwüstete er es.89

Mahmud (Machumet) von Ghazni und Ayaz: Mahmud steht rechts und schüttelt die Hand des Scheichs, während Ayaz hinter ihm steht. Die Figur, die rechts von den dreien steht, ist Schah Abbas I., der aber erst 600 Jahre später regierte.

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Doch wiederum musste die türkische Politik durch die Tapferkeit der Franzosen einen schweren Rückschlag hinnehmen90, bis schließlich Othomanus auftrat91 (dessen zehnter Nach­ folger, nach Berechnungen mancher Autoren, der jetzige Macht­ haber Solymanus ist92), ein Mann von unklarer Herkunft und bäuerlicher Abstammung, jedoch wie geschaffen für Raubzüge, der anlässlich innerer Unruhen die türkische Heeresmacht unter sein Kommando brachte und mit den eigenen Leuten nicht milder verfuhr als mit Fremden. Dieser erschien ungefähr im Jahr 1300 unseres Heils und dehnte im Laufe von achtundzwanzig Jahren die türkische Tyrannenherrschaft beträchtlich aus, indem er sich den größten Teil Bithyniens unterwarf und eine ganze Reihe von Schwarzmeerstädten eroberte. Sein Nachfolger wurde sein Sohn Orchanes93, der, begünstigt durch innergriechische Streitigkeiten, die Stadt Prusia [= Bursa]

Orhan I. (Orchanes), reg. 1326–1359

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den Griechen entriss und erstmals nach Europa übersetzte, nachdem ihn Kantakuzenus, der mit der Dynastie der Paläologen rivalisierte, zu Hilfe gerufen hatte.94 Dabei vergrößerte er seine Machtstellung noch durch einen Verwandtenmord: Er hatte nämlich Karamans Tochter zur Frau genommen, und nachdem er den Sohn seines Schwiegervaters beseitigt hatte, besetzte er einen großen Teil von dessen Herrschaftsgebiet.95 Nach zweiundzwanzigjähriger Herrschaft96 übertrug er den Fürstenthron seinem Sohn Ammurat97, der, von Paläologos aufgewiegelt, mit zwölftausend Türken nach Europa übersetzte und nach ziemlich erfolgreichem Kriegszug gegen die Bulgaren und den Fürsten der Peloponnes nach den Reichtümern Europas zu trachten begann98. Während er so tat, als nehme er Rache an den Feinden des Kaisers, wie er es ursprünglich getan hatte, überquerte er (auf Schiffen, welche die Genueser ihm zur Verfügung stellten) den

Murad I. (Ammurat), reg. 1359–1389

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Hellespont, griff Abydos an und nahm Gallipoli nebst weiteren Städten ein.99 Bald darauf drang er in Serbien und Bulgarien ein, besetzte Adrianopel und schlug die feindlichen Truppen, die sich ihm entgegenstellten, in einer gewaltigen Schlacht100, und nach­ dem er den Serbenfürsten Lazarus hatte hinrichten lassen, wurde Ammurat selbst wenig später von einem der Diener des Lazarus umgebracht101. Er hinterließ zwei Söhne, von denen Pazaites seinen Bruder Solyman heimtückisch umbrachte102 und sich dann, nachdem auch der Fürst von Bulgarien getötet worden war, den größten Teil von dessen Herrschafts­gebiet aneignete103. Von diesem Er­ folg seiner Unternehmungen beflügelt, verwüstete er Bosnien, Kroatien und die jenseitigen Teile Illyriens, belagerte Konstanti­ nopel acht Jahre lang und hätte es leicht erobert, hätten nicht die Heere der Franzosen und Ungarn ihn von seinem Vorhaben ab­

Sultan Bayezid I. (Pazaites)

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personenregister

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leseprobe aus: erasmus friedensschriften

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leseprobe aus: erasmus friedensschriften

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