LAURIAN LODOABĂ
ÜBER DREI GRENZEN
Über dieses Buch
Der Banater Arzt, Maler und Grafiker LAURIAN LODOABĂ veröffentlichte ab 1984 in seiner Heimat Rumänien eine Reihe von Lyrik- und Prosabänden. Im Sommer 1989 gelang ihm die Flucht über die Donau aus Ceauşescus kommunistischem Rumänien. Der Autor schildert in seinem Prosaband „Über drei Grenzen” („Trei Frontiere“) die dramatischen Szenen seiner Flucht, die Be- bzw. Misshandlungen in serbischen Auffanglagern sowie die abenteuerliche Flucht über Österreich nach Deutschland, wo er, im Grenzgebiet aufgegriffen und nach Salzburg abgeschoben, von dort den abermaligen Fluchtversuch wagte, der ihm diesmal auch gelingen sollte. Milieuschilderungen aus vier Staaten – Rumänien, dem damaligen Jugoslawien, Österreich und Deutschland – mit zum Teil tragischen Folgen ergänzen die eigenen Erlebnisse. Die in diesem Buch geradlinig präsentierten Charaktere, die abwechslungsreichen Eröffnungen, die sozialen und wirtschaftlichen Bezugnahmen mittels einer flüssigen Sprache bieten eine fesselndmitreißende, zugleich auch leicht lesbare Lektüre.
Anmerkungen zur deutschen Übersetzung
Homonyme Ortsnamen in beiden Sprachen werden in deutscher Lautung geschrieben (z. B. Orawitza); bei abweichender Schreibweise wird jeweils die rumänische gebraucht und in Klammern (nur bei der Erstnennung) auch die deutsche Schreibweise angeführt (Pojarevac – Passarowitz, Timişoara – Temeswar). Wenn kein entsprechender deutscher Ortsname besteht, scheint im Text die betreffende rumänische oder anderssprachige Originalbezeichnung auf (z. B. Stamora-Moraviţa). Bei bekannten Ortsbezeichnungen steht mitunter entweder die deutsche oder die Bezeichnung in der Landessprache (z. B. Bukarest, Beograd). Erforderliche Erklärungen scheinen in Klammern oder in Fußnoten auf. Abkürzungen in der Originalausgabe werden, so sie bekannt sind, in der deutschen Ausgabe ausgeschrieben.
INHALT
Ăœber drei Grenzen .......................................................... 9 Am anderen Ufer .......................................................... 17 Padinska Skela . ............................................................. 29 Der Ausweg ....................................................................... 38 Im Wunderland ............................................................... 46 Nach Wien .......................................................................... 52 In der MozartstraĂ&#x;e .................................................... 63 Die letzte Flucht ............................................................. 74
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Über drei Grenzen Es war im Winter des Jahres 1988, eine kalte und rabenschwarze Nacht am rumänischen Donauufer. Nahe einer Straße, unweit von Orschowa, warteten, im Wald versteckt, Emmerich Genzinger und seine Frau auf ihre Schlepper, zwei Brüder aus Orschowa. Diese forderten 2.000 DM sowie zusätzlich 100.000 Lei – für die damalige Zeit eine horrende Summe –, um dem Ehepaar bei der Donauüberquerung behilflich zu sein. Nachstehend die Schilderung von Emmerich Genzinger: Beim Herannahen des Lkws verließen wir, auf dem Bauch robbend, den Wald; meine Frau nahm in der Fahrerkabine Platz und ich oben, auf der Ladefläche. Es war Dezember; tausende Nadeln drangen mir ins Fleisch. Nach kurzer Zeit spürte ich etwas Feuchtes und Kaltes neben mir – ein Schlauchboot – das uns zu unserer Befreiung aus dem kommunistischen Ostblock verhelfen sollte. Langsam und gemächlich, als ob wir uns vorgenommen hätten, die Ruhe der Fische nicht zu stören, näherten wir uns dem Staudamm. Auf
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einem nach links abbiegenden Weg, der von Orschowa in Richtung Turnu Severin führte, gelangten wir an einen Wasserlauf mit steil abfallenden Ufern, in den wir letztlich mit dem Schlauchboot hinab ins Wasser gelassen wurden. Es war uns bekannt, dass sich auf der linken Seite des Flusses, kurz vor der Eisenbahnbrücke der Trasse Timişoara (Temeswar) – Bukarest, die Kaserne der Grenzwache befand. So bewegten wir uns lautlos und ohne jegliches Hindernis auf dem Wasser des kleinen Flusses, der sich den Weg zur Donau hin bahnte. Ich watete zwecks Geräuschverminderung neben dem viel zu engen Schlauchboot, in dem meine Frau gerade noch Platz gefunden hatte. Ergänzend möchte ich festhalten, dass ich in einem wasserdichten Neopren-Anzug steckte, den ich aus Deutschland erhalten hatte; vor Aufbruch zu unserer Flucht hatte ich mich zwecks Kälteschutzes mit Revulsin eingerieben. Die Schilderung der damaligen spannungsgeladenen Augenblicke fällt mir nicht leicht. Endlich gelangten wir unter den Viadukt an der Donau, wo wir in der Stille jener nächtlichen Stunde, ohne Schwierigkeiten die klobigen Soldatenschuhe der patrouillierenden Grenzwache vernehmen konnten. Bisher verlief unser Weg ohne sonderliche Zwischenfälle, doch nun wurden wir von Soldaten ins Visier genommen, die uns zum Anhalten aufforderten. Sofort fielen Schüsse, und als sich
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alles zu beruhigen schien, setzte Schneefall ein. Plötzlich war nichts mehr zu sehen, doch Gott war uns gnädig. Gewaltige Eisblöcke trieben auf der Donau, und wir waren völlig orientierungslos: Falls wir zwischen Eisblöcke geraten sollten, wäre im Nu wohl alles vorbei. Am serbischen Ufer wird ein gewaltiger Scheinwerfer nicht zu übersehen sein, nach dem wir uns zu orientieren hätten – so schärften es uns jedenfalls die Schlepper ein. In jenen verzweifelten Augenblicken konnten wir jedoch lediglich die völlige Dunkelheit ausmachen, und die Kälte und Nässe verursachten uns fortwährendes Zähneklappern. Es schneite, es schneite ohne Unterlass, und meine einzige Hoffnung war es, dass am 1. Dezember die Spähboote der Grenzwache aus dem Verkehr gezogen worden waren. Wir mussten nur noch der beißenden Zange der Natur entkommen. Zwar erreichten wir das andere Ufer, doch keine Spur von einem Scheinwerfer, der vermutlich funktionsuntauglich geworden war, und unsere Freude, das serbische Ufer bestiegen zu haben, sollte bald getrübt werden. Das Schlauchboot ließen wir liegen und brachen plangemäß auf. Ein Stück Weges trug ich meine Frau Huckepack auf dem Rücken, weil sie total erschöpft und gehunfähig war. Wir legten ein ansehnliches Wegstück zurück, bis etwa gegenüber der Stadt Moldowa-Nouă. Bei Milanovac wurden wir dann aufgegriffen. Mit geschul-
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terten Kalaschnikows wurden wir zum Gericht nach Milanovac und anschließend geradewegs ins Gefängnis nach Negotin eskortiert. Dort landeten wir in einer drei-mal-vier-Meter-Zelle, in der insgesamt vierzehn Menschen – je zwei pro Bett – zusammengepfercht waren. Wir schliefen neben dem Kotkübel, von Wanzen befallen, doch viel ärger war der Mangel an frischer Luft, was zu unserer Bewusstlosigkeit führte. So verharrten wir zusammengekauert vor dem winzigen Zellenfenster. In der Zelle befand sich ein stiefelförmiger Ofen, der uns eher einräucherte als erwärmte, so dass wir die ganze Zeit hindurch, seinen Abgasen ausgesetzt und nächtens wegen des drohenden Kohlenmonoxyds und des Erstickungsrisikos zu Tode erschrocken waren, falls wir das Feuer hätten erlöschen lassen. Unsere Zelle teilten wir mit zwei Lugoschern, einer Sechsergruppe aus Sibiu (Hermannstadt) und sechs Delinquenten aus Jugoslawien. Allesamt wurden wir zu Arbeiten herangezogen und mussten Waggontransporte mit Zementsäcken entladen: Zwei Waggons pro Tag war die Norm für zwei Personen. Dabei hungerten wir entsetzlich: Morgens verabreichte man uns ein halbes Brot zum Tee – eine Mahlzeit für Schwerarbeiter tagsüber. Manchmal wurden uns zu Mittag Bohnen mit Schweinszehen vorgesetzt, die tagsüber einen gewaltigen Durchfall auslösten.
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Ein junger Mann aus der Hermannstädter Gruppe litt an einer Nierenentzündung, schrie den ganzen Tag vor Schmerzen, doch niemand kam zu Hilfe; obwohl sich sein Zustand über Nacht verschlechtert hatte, wurde er zu keinem Arzt gebracht. Die Norm musste erfüllt werden – also die zwei Waggons Zement ausgeladen – selbst wenn es bis Mitternacht hätte dauern müssen. Wir waren nur noch Haut und Knochen: Der Schrecken fand kein Ende. Zwanzig Tage steckte ich in denselben Klamotten – die Unterhosen wirkten nach drei Arbeitstagen im höllischen Zementstaub wie aus Blech. Nacht für Nacht waren wir auf Wanzenjagd, um zumindest eine Stunde schlafen zu können. Die zwanzig Tage Gefängnis schienen wie zwanzig Jahre. Nach dieser entsetzlichen Zeit wurden wir nach Padinska Skela überstellt, doch unterwegs wussten wir es noch nicht, ob es zurück nach Rumänien oder in Richtung Belgrad ging. Abgemagert erreichten wir Padinska Skela, doch es gab zumindest ein Wiedersehen mit meiner Frau, die ebenfalls nicht gut aussah, aber mir zu verstehen gab, dass sie vor Vergewaltigungen verschont geblieben war. Wäsche bzw. Wechselkleidung hatte man uns keine zukommen lassen, die Jeans waren zwischen den Beinen derart durchgewetzt, dass die Hoden herauslugten. Unmenschlich, doch
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das ist die nackte Wahrheit, die von den dort Zuständigen heute verschönt wird. Es ist mir sogar zu Ohren gekommen, dass man die Grenzgänger mittels Errichtung eines Denkmals am Donauufer würdigen möchte. Dazu scheint mir jeder Kommentar überflüssig. Der von den Zellenverriegelungen verursachte metallische Höllenlärm kündigte die Ankunft von Transportfahrzeugen an. Es war an einem Mittwoch nach dem Mittagessen, als wir – mit Schlagstöcken gestoßen – zum raschen Einsteigen in unsere völlig im Dunkeln liegenden Zellen getrieben wurden, sehr zur Zufriedenheit der uniformierten Wachen. Wir wussten, dass einige von uns den Morgen in Padinska Skela nicht mehr erleben sollten. An jenem Tag wurde ich, durch das kleine Zellenfenster blickend, Augenzeuge eines sadistischen Vorgangs, der mir auch heute noch, nach zwanzig Jahren, einen kalten Schauer über den Rücken laufen und meine Augen feucht werden lässt. An jenem Mittwoch-Nachmittag, setzte Emmerich Genzinger seine Schilderung fort, wurde eine im achten Monat hochschwangere Frau, die ich vor ein paar Tagen im Lager kennengelernt hatte, aus der Zelle gezerrt. Während man sie gestoßen hatte, warf sie sich zu Boden und schrie: „Ich will nicht zurück …“ Nach wenigen Augenblicken näherte sich ihr ein Unteroffizier, der sie mit Tritten in den Bauch zu traktieren begann; anschließend eilten zwei bis drei Wachsoldaten herbei und trugen sie davon.
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Ein weiteres Ereignis, das mich sehr berührt hatte, war der Zwischenfall mit einem jungen Baptisten, der, wie ich aus unseren vorausge gangenen Gesprächen schlussfolgerte, kein ernstes Motiv für ein politisches Asyl vorbringen konnte. Ich hatte ihm geraten, etwas vorzutäuschen, nämlich, dass er von einem rumänischen Milizmann arg verprügelt worden sei; doch er wiederholte gebetsmühlenartig, dass er nicht lügen könnte. Letzten Endes wurde er dann auch zurück nach Rumänien abgeschoben. Seine Blicke sind mir bis heute allgegenwärtig geblieben. Wer allerdings glaubhafte Lügen vorbringen konnte, dem eröffnete sich die Chance, ins „Hotel“ überstellt zu werden. Weihnachten und Silvester – den Jahresausklang – beging ich, wenn man es so nennen möchte, in Padinska Skela und entsinne mich, dass ein Bukarester am Silvesterabend Ceauşescus lispelhafte Redeweise in einer seiner endlosen Darstellungen imitierte. Von den Wachen abgeholt, wurde er vermutlich nach Rumänien abgeschoben, denn ich vernahm nichts mehr von ihm. Als ich – später endlich – nach Nürnberg gelangte, sah ich genauso aus wie in Belgrad: mit zerrissenen Jeans, an denen die Hoden heraushingen. Außerdem stank ich bestialisch wie ein Aas. Wir wurden zum Duschen gebracht und entlaust. Nachdem wir eingekleidet worden waren, führte man uns zur ausforschenden Befragung.
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Die CIA wollte alles erfahren, begonnen mit der Einheit meines abgeleisteten Militärdienstes. Man wusste, dass der Sitz der Securitate1 sich auf der Straße nach Bocşa (Bokschan) befindet, begehrte jedoch Einzelheiten. Sechs lange Wochen musste ich diese Plage ertragen und alterte um zehn Jahre, doch sollte ich abermals im Kommunismus leben müssen, würde ich das Fluchtrisiko erneut auf mich nehmen. Nach meiner Entlassung aus der Nürnberger Durchgangsstelle begab ich mich zum Roten Kreuz, um die Ausreise meines Kindes in die Wege zu leiten, was mir jedoch erst nach einem Hungerstreik vor der rumänischen Botschaft in Bonn, Legionsweg 4, gelingen sollte. Heute lebt Emmerich Genzinger mit seiner Frau im Raum Stuttgart und ist im Fremdenverkehrswesen beschäftigt, doch er vergaß das Auffanglager für Flüchtlinge aus Rumänien in Padinska Skela nicht und wird es wohl auch niemals vergessen.
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Geheimdienst, Sicherheitspolizei im kommunistischen Rumänien.
AM ANDEREN UFER
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Am anderen Ufer Es ereignen sich Dinge, auf die wir schlicht und einfach keinen Einfluss nehmen können. Ich befand mich – vielleicht zum letzten Mal – in meiner kleinen Wohnung im neuen Stadtteil von Anina, in der ich drei Jahre gewohnt und auf einem alten Plattenspieler eine Vinyl-Schallplatte Mozart gehört hatte. Es war, wenn ich mich recht entsinne, das Konzert für Flöte, Harfe und Orchester. Als ich mir damals diese Einspielung zu Gemüte führen durfte, erlebte ich das außergewöhnlich seltsame Gefühl, dass sich die Zeit für mich dramatisch komprimiert hätte, dass meine Geduld vermutlich am Ende war oder vielleicht etwas Ähnliches, was man im Augenblick des Abschieds von einem geliebten Menschen empfindet, dem man sich zu offenbaren vermag, gerade weil man ihm so viel mitzuteilen hätte. Bis dahin fuhr ich wöchentlich nach Hause zu meinen Eltern, die in einer Stadt an der Temesch (Timiş) lebten – für mich eine Entfernung von 80 km – und manchmal fuhr ich auch öfter dorthin, um sie mit Lebensmitteln zu versorgen, für die sie stundenlang hätten Schlange stehen müssen vor den
Laurian Lodoabă (*1953 in Lugosch/ Rumänien), Arzt, Schriftsteller, Maler und Grafiker, veröffentlichte schon ab 1984 in seiner Heimat eine Reihe von Lyrik- und Prosabänden. Gedichtbände: Die Einsamkeit unter der Brooklyn Bridge. Gedichte (Singurătatea sub Brooklyn Bridge. Poeme. Marineasa-Verlag, 2005); Am Rande des Himmels. Gedichte (La Marginea Cerului. Poeme. Anthropos-Verlag, 2005); Terra Incognita. Gedichte (Terra Incognita. Poeme. Anthropos-Verlag, 2006); Krater. Gedichte (Cratere. Poeme. Anthropos-Verlag, 2008); Blütenlese. Gedichte (Florilegiu. Poeme. Emma-Verlag, 2010); Asche des Mondes. Gedichtanthologie (Cenuşa Lunii. Poeme.) Gedichtsammlung: Paleoclimatic (Antologia de poeme Paleoclimat, 2011). Prosa: Über drei Grenzen. Prosa (Trei Frontiere. Proză. AnthroposVerlag, 2007); Lexington Avenue. Prosa (Lexington Avenue. Proză. Hestia-Verlag, 2008). Veröffentlichungen auch in zahlreichen Zeitschriften und Anthologien. Mitglied des Rumänischen Schriftstellerverbandes, Zweigstelle Temeswar/Timişoara, Mitglied der Vereinigung der Zahnärzte Rumänien, seit 1979 Mitglied der National Geographic Society, Kanada. Preise: Landespreis Lucian Blaga 1988, Mühldorf/Siebenbürgen (Premiul Naţional Lucian Blaga 1988, Sebeş-Alba). Internationaler Lyrik-Preis der Rumänisch-KanadischAmerikanischen Zeitschrift Starpress 2012.