9 minute read

Alle Einwohner sind eine große Familie (Henryk Grzybowski

Alle Einwohner sind eine große Familie1

Henryk Grzybowski, Aus dem Polnischen übersetzt von Susanne Wycisk-Müller, Ehniweg 31A, 70439 Stuttgart

Advertisement

Zuerst waren es lose Notizen zum Essay „Bezimienny krajobraz“ (dt. Übersetzung: „Namenlose Landschaft“) von Olga Tokarczuk. Dieser Essay sollte Thema einer Veranstaltung mit dem Titel „Tkanie krajobrazu. Rozmowa o tożsamości lokalnej Dolnego Śląska“ (dt. „Das Weben einer Landschaft. Gespräch über die lokale Identität Niederschlesiens“) im Museum des Glatzer Landes am 20. Oktober 2016 sein. Nach der Veranstaltung schrieb ich meine Reflexionen nieder, bereichert um die Anregungen aus der Diskussion, und legte sie in die Schublade. Einige Wochen später machte mich Prof. Dieter Bingen, Direktor des Deutschen Polen-Instituts in Darmstadt, aufmerksam auf die Rede von Prof. Krzysztof Ruchniewicz, Direktor des Willy-Brandt-Zentrums der Universität Breslau, die dieser während des „Marsches der Gegenseitigen Achtung“ anlässlich des Jahrestages der „Kristallnacht“ in Breslau gehalten hatte. Ich fand darin eine Bestätigung2, aber auch eine wichtige Ergänzung - die Religion. Und wieder in die Schublade. Jetzt, nach den Ereignissen des vergangenen Jahres, möchte man gerne die offenkundige, wenn auch sicher idealistische Feststellung hinzufügen, dass wir durch die Gemeinsamkeit, dass wir alle in dieser Region wohnen, eine Familie bilden, und das unabhängig von politischen Ansichten.

Wer sind für uns die ehemaligen Einwohner und was verbindet uns mit ihnen? Ich habe den Eindruck, dass man sich schon an die Tradition gewöhnt hat, denn in verschiedenen Publikationen zur regionalen Geschichte werden Schicksale von Menschen erwähnt, die früher in Niederschlesien lebten. Und trotz des uns trennenden Zeitraums, verschiedener Nationalität und Religionszugehörigkeit bilden die ehemaligen Einwohner mit uns eine Familie, gebildet nicht durch Verwandtschaft – Blutsbande (Nation), sondern durch Wahlverwandtschaft – Bindung durch Wahl. In solch eine Familie kommen wir durch Liebe und Verlobung – an den Geburtsort des Partners, und oft auch durch eine bewusstere Wahl – die des Wohnortes. Vielleicht sind wir nicht immer von der Familie unseres Partners begeistert, aber eine Wahl gibt es dann nicht mehr. Uns alle verbindet die Geschichte des Ortes, und wie Prof. Krzysztof Ruchniewicz richtig bemerkte, nach der Zeit der Verdrängung dieses Faktes aus dem Bewusstsein akzeptieren wir auch, dass in Wrocław/Breslau, Dolny Śląsk/ Niederschlesien und der Ziemia Kłodzka/Grafschaft Glatz Menschen verschiedener Nationalitäten und Religionsgemeinschaften lebten.

1 Der Beitrag wurde in Polnisch publiziert. Henryk Grzybowski, Wszyscy mieszkańcy to jedna rodzina, in Monatschrift „Ziemia Kłodzka -Grafschaft Glatz“, Nr. 270–272, Jan.-

März 2017, S. 44–45. Red. 2 Laut Autor des Beitrages handelt es sich hier um die Bestätigung, dass auch Andersgläubige – seien es nun Katholiken, Protestanten, Juden oder andere - Mitbewohner sind, eine Familie. Red.

Phantasienamen - oder phantasielose Namen?

Die Auseinandersetzung mit und ggf. Annahme der Tradition und Kultur all dieser Menschen – derer, die vor uns hier waren, seien es nun Tschechen, Deutschen oder Juden, derer, die heute hier wohnen und derer, die sich in Zukunft hier ansiedeln werden - zieht auch die Anerkennung ihres Rechts auf eigene Ortsnamen nach sich. So darf es nicht vorkommen, dass Reiseführer (wie z.B. von Führungen auf der Glatzer Festung berichtet) aus vermeintlich patriotischer Haltung heraus deutschen Touristen einen Rüffel erteilen, wenn sie die deutschen Ortsnamen Glatz oder Breslau hören. Hier ist nicht der Platz für einen Vortrag über Exonyme und Endonyme, aber Kłodzko ist ein Endonym und Glatz ein Exonym, welches früher ein Endonym war. Und so, wie die Polen das Recht haben, einerseits von Lwów, Wilno und Stanisławów zu sprechen statt die einheimischen Bezeichnungen Lviv, Vilnius, Iwano-Frankiwsk zu benutzen und andererseits auch von Lipsk und Drezno zu reden statt die deutschen Namen Leipzig und Dresden zu benutzen, müssen wir es umgekehrt auch anderen zugestehen, die in ihrer Sprache üblichen Ortsnamen zu benutzen. Dabei sind natürlich auch sensible Nuancen zu beachten. Ich denke hierbei an die Germanisierung slawischer Ortsnamen, die aus ideologischen Gründen in den 30er Jahren durchgeführt wurde. In diesem Fall bleiben wir – und so wird es auch von offizieller Stelle in Deutschland aus empfohlen - lieber bei den traditionellen Namen wie Lewin und Tscherbeney (Czermna), nicht Hummelstadt und Grenzeck3 .

An der Namensgebung der Orte in den sogenannten „wiedergewonnenen“ Gebieten arbeiteten die Sprachwissenschaftler der Kommission zur Festlegung der Ortsnamen nach einem festgelegten Zeitplan. Zuerst gaben sie den Städten (über 5.000 Einwohner) einen Namen, danach kleineren Städten, Dörfern und Siedlungen. Was erstere betrifft, so hatte man einige schon vor dem Krieg festgelegt. Ich erinnere an den Atlas geographischer Namen der westlichen slawischen Länder in vier Bänden von Pfarrer Stanisław Kozierowski (1919), der einer der engen Mitbegründer der heutigen Adam-Mickiewicz-Universität in Poznań/Posen war und nach dem Zweiten Weltkrieg Vorsitzender der Kommission zur Wiedereinführung slawischer Namen im Odergebiet. Zum Schluss blieben die Namen der Flüsse und Gipfel und anderer topographischer Objekte. Die Experten waren am Ende vielleicht schon erschöpft, zumindest hatten sie in einigen Fällen keine Idee. Ein Beispiel ist der Ort, den die Deutschen umgangssprachlich Bad Altheide nannten. In der Amtssprache und im Marketing

3 Letztere waren jedoch bis 1945 die amtlichen Ortsnamen.

Exonym und Endonym sind zwei Begriffe der Ethnolinguistik zur Unterscheidung von lokalen Bezeichnungen beispielsweise für Orte, Sprachen, Personen und Personengruppen und Bezeichnungen, die in anderen Sprachen dafür verwendet werden.

lautet der Name Altheide Bad, es ist der einzige Ort im deutschen Sprachraum mit Bad am Ende.

Diesen Ort tauften polnische Eisenbahner auf Wrześniów nach Heide – wrzos/Heidekraut, die polnischen Behörden auf Puszczykowo nach Heide – puszcza/Wildnis und ein Jahr später die Wissenschaftler der Sprachkommission auf Polanica nach Heide – pustać/sandige Heide, polana/Lichtung, Waldwiese. Als der Vorsitzende der Kommission, Prof. Stanisław Srokowski, starb, eine schillernde Persönlichkeit, denn während der II. Polnischen Republik war er Woiwode in Wolynien und Konsul in Königsberg, benannte man eine Ortschaft in Masuren nach seinem Namen.

Beschäftigung und Versöhnung mit der Geschichte

Regionale Vereine, selbst kleine – als Beispiel (es gibt derer nicht so viele) mag hier der Verein der Liebhaber von Bad Altheide/Polanica dienen, der kürzlich das Ehrenabzeichen des Kreises Glatz verliehen bekam –, setzen sich für die Bildung einer lokalen und regionalen Identität ein, indem sie die Region als die eigene behandeln und ihr Respekt entgegenbringen, auch wenn dieselbe früher als deutsche Region eher verachtet wurde. Schlösser und Paläste der Region betrachtet die junge Generation – vielleicht nicht ganz als die eigenen, aber doch als die „hiesigen“. In diesen gab es eine Schule, einen Lesesaal, einen Laden, ein Genossenschaftslager, oder - noch schlimmer - in ihren Ruinen wurde Ball und Schnitzeljagd gespielt oder man machte Bekanntschaft mit den ersten Liebesgefühlen.

Als mit dem Generationswechsel die (durch den Albtraum des Kriegs begründeten) antideutschen Stereotype4, in den Anfangsjahren nicht selten begleitet durch das Gefühl der Vorläufigkeit des Aufenthalts in den sogenannten wiedergewonnenen Gebieten und geschürt durch die Propaganda

Die hier aufgewachsenen Generationen lesen und hören, was die ehemaligen deutschen Einwohner denken, die noch zu der Generation gehören, welche die Region aufgrund der Völkerverschiebung nach dem Krieg verlassen mussten5, und suchen Informationen über die Menschen, die einst diese Landschaft

4 Die Aussiedlung der deutschen Bevölkerung betrachtete man als gerechte Strafe für die Verbrechen sowie für die Aussiedlung der polnischen Bevölkerung aus den Regionen Posen, Pommern, Schlesien und Zamość und die Vertreibung aus Warschau.

Vergl. Tomasz Przerwa, Zmiana gospodarzy (freie Übersetzung: Wechsel der Hausherren), in: Piotr Pregiel, Tomasz Przerwa, Dzieje Śląska (Geschichte Schlesiens),

Wrocław 2005, S. 176, ISBN 9788391761649. 5 Noch unlängst schien es, als wenn dies weit entfernte Geschichte ist. Die Flut von Flüchtlingen nach Europa hat bewirkt, dass wir durch die aktuellen Ereignisse wieder einen direkteren Zugang zu den Erinnerungen an die damalige

Zeit bekommen.

geprägt haben. Noch vor etlichen Jahren war dies die Domäne von Historikern und ehrgeizigen Reiseführern. Heute suchen in fast jedem Ort Liebhaber nach Spuren der Vergangenheit, sammeln Materialien und geben, je nach ihren finanziellen Möglichkeiten, mehr oder weniger teure Publikationen heraus.

Bereichertes Erbe

Als Schlüssel zum Verständnis und zur Erweiterung der regionalen Identität der Grafschaft Glatz (und Niederschlesiens) ist somit ein Geschichtsverständnis anzusehen, das sowohl aus den Quellen der Vergangenheit als auch aus denen der Gegenwart schöpft. Es gilt sich dessen zu erinnern, dass hier immer wieder andere Völker und Gruppen wohnten: Tschechen, Mähren, Siedler aus dem deutschsprachigen Raum (Thüringer, Franken, Sachsen, Hessen) und danach schon Schlesier, mit der Zeit Deutsche, und erst seit 70 Jahren Polen. Vergessen wir dabei nicht die deutschen und polnischen Juden.

Spielball der Despoten

Die Frage der Zugehörigkeit der Grafschaft Glatz zu Polen lässt sich auch weniger malerisch beschreiben, als das Olga Tokarczuk während der Veranstaltung im Museum tat. Sie führte nämlich eine Anekdote an, die besagt, dass wir die in Richtung Tschechien gekrümmte Form der Grenze dem Umriss von Stalins Finger auf der Landkarte zu verdanken haben. Die hiesige Grenze war vielmehr seit Jahrhunderten unverändert und die Ablehnung des Antrags der Tschechoslowakei auf Zuerkennung der Grafschaft Glatz beruhte – wie Tomasz Przerwa schreibt – auf Stalins Kalkül, der mit einer Stärkung der in Warschau regierenden Kommunisten und einer größeren Abhängigkeit derselben von der Sowjetunion als Garant der Grenzen rechnete6. In dieser Zeit regierten in Prag die bei dem Diktator unbeliebten Sozialisten (aus demselben Grunde beharrte Stalin darauf, dass die Westgrenze entlang der Lausitzer Neisse verlaufen sollte und nicht, wie zuerst geplant, entlang der Glatzer Neisse). Stalin übertrug die Grafschaft Glatz den polnischen Kommunisten und nicht den tschechischen Sozialdemokraten unter Masaryk. Deswegen gehört die Grafschaft Glatz heute zu Polen. Es ist jedoch an der Zeit sich dessen bewusst zu werden, dass wir dies der Laune zweier den Polen verhasster Herrscher zu verdanken haben – dem preußischen König Friedrich II. (der Große genannt) und dem kommunistischen Diktator Stalin. Ersterer eroberte 1742 Schlesien sowie die Grafschaft Glatz, die eine eigenständige Verwaltung hatte und einst ein Gebiet unter böhmischer Krone war, nicht umsonst „Tor zu Schlesien“ genannt. Ohne den Schutz der Glatzer Berge hätte Maria Theresia problemlos Breslau erreichen und Schlesien zurückerobern können. Deshalb verlangte Friedrich,

dass das Kaiserreich im Breslauer Friedensvertrag auch auf die Grafschaft verzichtet. 1815 wurde die Grafschaft Glatz dem Regierungsbezirk Reichenbach in der Provinz Schlesien zugeordnet (fünf Jahre später dem Regierungsbezirk Breslau) und seitdem teilte sie das Schicksal Schlesiens. Unabhängig von dem oben erwähnten politischen Kalkül Stalins war dies ein großer Trumpf bei der Ablehnung des tschechischen Anspruchs auf das Glatzer Land nach dem Zweiten Weltkrieg. Dies betrifft sogar ganz Schlesien, denn wenn Preußen es nicht erobert hätte, wäre es heute höchstwahrscheinlich tschechisch.

Propagandaerbe oder Kriegsentschädigung des Aggressors?

Die „wiedergewonnenen“ Gebiete waren jedoch vor allem Kriegsentschädigung für die früheren polnischen Ostgebiete, die die Großen Vier Polen abgenommen haben. Der große Gewinner war allerdings der Hauptalliierte, der am schwersten unter Hitlers Aggression zu leiden hatte, und spätere Befreier Osteuropas (dem er dann sein politisches System aufgezwungen hat) sowie Eroberer von Berlin. Der Tausch der Territorien wurde legitimiert durch einen historischen Anspruch auf diese Gebiete. Aus heutiger Sicht lässt sich aber nicht behaupten, dass Niederschlesien Polen aufgrund des Piastenerbes zusteht. Wie soll man aber umgehen mit der Germanisierung der schlesischen Piasten, ihren Bemühungen zur Bewirtschaftung und Bereicherung des Landes mithilfe deutschsprachiger Siedler sowie den Verträgen von Trentschin und Visegrád von 1335, in denen der polnische König Kasimir der Große rechtskräftig auf den Großteil Schlesiens verzichtete? Der erwähnte preußische König eroberte Schlesien, das zu Böhmen und dem Habsburgerreich gehörte, und nicht zu Polen. Die „wiedergewonnenen“ Gebiete muss man aber (so steht es auch im Potsdamer Abkommen) als eine Art Kriegsentschädigung für die Kriegszerstörungen betrachten für das in Schutt und Asche gelegte Warschau und Hunderte polnischer Städte und Dörfer, für die Ermordung von Millionen polnischer Bürger, die Zwangsarbeit für das „Großdeutsche Reich“ sowie die Entführung und Germanisierung von 200.000 polnischen Kindern. Im Grunde hat Polen dennoch dabei verloren, denn durch die sogenannten „wiedergewonnenen“ Gebiete wurde Polen im Grunde für zwei Dinge entschädigt: Zum einen für den Verlust seiner Ostgebiete an Litauen, Weißrussland und die Ukraine7, gleichzeitig aber auch für die durch Hitlerdeutschland verursachten Kriegsschäden.

7 Infolge der neuen Grenzregelung nach dem Zweiten Weltkrieg verlor Polen 177,8 Tausend km²an die Sowjetunion, was ungefähr der Hälfte (ca. 45,7 Prozent) seines Vorkriegsterritoriums entspricht. Auf Kosten Deutschlands erhielt es im Gegenzug 102,9 Tausend km2, also ein Drittel seines heutigen Gebiets.

This article is from: